Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
371-2
KODIKAS / CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 37 (2014) No. 1-2 Themenheft / Special Issue Imagination: Funktionen des virtuellen Erlebens Imagination: Functions of Virtual Experience Herausgegeben von Daniel Jacob und Thomas Klinkert Daniel Jacob Einleitung: Begriffe, Facetten, Formen der Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I. Imagination als epistemologisches Problem Markus Firchow Bildlichkeit und Wissen. Zur Funktion der Oszillation in Schleiermachers Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Ulrich Richtmeyer Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Thomas Klinkert Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Mimesis und Virtualität Patrick Rupert-Kruse Aufmarsch der Phantome. Mentale Präsenz und das Empathisieren abwesender Figuren im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Sven Schmalfuß Schwirrende Fragen/ Antworten. Subjekt-Wahrnehmung und Imagination in/ an den digitalen Spielen des Studios Quantic Dream . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 III. Episteme und Imagination in der Narration Dina Aboul Fotouh Salama Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit: Konrads von Würzburg Der Welt Lohn und Engelhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Michael Neecke Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung: Imagination und Virtualität in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Dalia Aboul Fotouh Salama Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die Autoren / The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Anschriften der Autoren / Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . 164 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 128,- (special price for private persons 102,-) plus postage. Single copy (double issue) 82,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2015 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: Docupoint GmbH, Magdeburg ISSN 0171-0834 1 Vgl. die Beiträge in Markman/ Klein/ Suhr eds. (2009), besonders Decety/ Stevens (2009) und Beilock/ Lyons (2009), in denen simulation mit motor imagery gleichgesetzt wird, bestimmt als “ability to mentally simulate an action without overt execution” (Beilock/ Lyons 2009: 22). Einleitung: Begriffe, Facetten, Formen der Imagination Daniel Jacob (Freiburg i. Br.) Der vorliegende Band enthält die Beiträge zu einer Kongresssektion, die 2011 beim 13. Internationalen Semiotik-Kongress in Potsdam stattgefunden hat. Der Kongress stand unter dem Motto Repräsentation, Virtualität, Praxis; diesem Thema trug die Sektion Rechnung mit dem Titel Imagination - Funktionen des virtuellen Erlebens. Lässt man nun die Reihe der hier versammelten Aufsätze Revue passieren, könnte dieser Titel übermäßig restriktiv erscheinen für die imaginative Vielfalt, mit der die Sektionsteilnehmer auf die Sektionsausschreibung reagiert haben. So könnte z.B. ‘virtuell’ als die Negation von ‘real’ verstanden werden: dass eine solche Unterscheidung jedoch zu kurz greift, soll in Abschnitt 1 dieser Einleitung diskutiert werden. Auch der Begriff des ‘Erlebens’ könnte verengt verstanden werden; zum einen als ausschließlich individuell-kognitiver Begriff (siehe hierzu Abschnitt 2), zum anderen als rein passives Konzept, wohingegen die Beiträge zu diesem Band weitgehend überindividuelle Imaginarien besprechen und durchgehend das kreativ-produktive Element der Imagination herausarbeiten (dazu Abschnitt 5). Es besteht somit Klärungsbedarf: 1 Imagination: “Denken” ohne “Realität”? Es gibt eine Primärerfahrung, dass der Mensch in der Lage ist, Sachverhalte mental wahrzunehmen, kognitiv zu verarbeiten und zu versprachlichen, denen kein ‘Substrat’ jenseits des mentalen Geschehens entspricht: Träume, Tagträume, Wünsche, Pläne, das Reden im Irrealis oder Optativ und vieles Weitere. Eine bestimmte Richtung der Kognitionswissenschaft greift hierfür auf den Begriff der mental simulation zurück, 1 ein Begriff, der die Annahme der ‘Uneigentlichkeit’ solcher Prozesse in sich trägt. Tatsächlich gelten in unserer aufgeklärtrationalistischen Perspektive der Traum, die “Einbildung” und das “Wunschdenken”, oder in der Grammatik der modus irrealis als abgeleitete, defizitäre, weil mit der primären Welt nicht kompatible Erscheinungen. Dies, obwohl gerade all diese Erscheinungen und Erfahrungen eigentlich geeignet wären, die grundlegende Funktion imaginären oder imaginierten Erlebens aufzuzeigen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Daniel Jacob 4 2 Der Vollständigkeit halber sei auf J. Lacans Triade le symbolique - l’imaginaire - le réel hingewiesen (siehe hierzu noch kurz Abschnitt 7), die als direkte Bezugnahme auf den französischen Strukturalismus in der Folge Saussures gilt und somit auch als Bezugnahme auf das semiotische Dreieck angesehen werden kann (Lacan 1966; siehe besonders den Index p. 895). Als philosophisches Problem ist die Frage nach dem Verhältnis von mentalen Vorgängen oder “Gedankenwelt” und einer eventuellen “Wirklichkeit”, die hiervon unabhängig wäre, hier natürlich nicht lösbar, handelt es sich doch um die Grundfrage der abendländischen Philosophie überhaupt, wobei von Beginn an eine weitere Ebene als mögliche Grundlage der mentalen Prozesse, Zustände und Entitäten ins Spiel gebracht wurde, nämlich die Ebene der Sprache oder des Sprechens. In der Diskussion um die Triade von Sprachlich-Diskursivem, von Gedanklichem und einer - wie auch immer zu verstehenden - Ebene von Referenten, auf die die ersteren beiden sich beziehen (es handelt sich im Grunde um die Ecken des berühmten “semiotischen Dreiecks”, dessen bekannteste Version von C.K. Ogden und I.A. Richards 1923 zwischen symbol, thought und reference unterscheidet), 2 ging und geht es darum, ob einer - und welcher - dieser Ebenen Autonomie und damit ein Primat vor den anderen zukommt. Hier hat es mehrere “kopernikanische Wenden” gegeben; in der Tendenz aber führte die Abkehr von einem religiös begründeten theozentrischen Weltbild zugunsten anthropozentrischer oder materialistischer Weltbilder zur Abkehr von solchen Theorien, die in einer autonomen Ideenwelt den metaphysischen Ausgangspunkt der Erfahrungswelt sehen, und zu einer sukzessiven Aufwertung einerseits des menschlichen Anteils an der Triade (durch die Psychologisierung der Gedankenwelt und durch die Betonung des Sprachlichen als deren Garant oder Medium), parallel dazu aber auch zu einer Autonomisierung und letztlichen Verabsolutierung der objektiven (Außen-)Welt. Im Gegenzug wird das Gedankliche reduziert zur Wahrnehmung bzw. zum abstrahierten Resultat der Erfahrung (dies markiert z.B. den Übergang vom Rationalismus zum Empirismus im 18. Jh.). Die anthropozentrische Sichtweise hat sich hierbei auf Sprache und Diskurs als den einzigen Zugang zur Gedankenwelt geworfen, mit einer Tendenz, das Sprachliche auch zum eigentlichen Ursprung der gedanklichen Welt zu erklären. Nominalismus, idealistische Sprachbeschreibung, Sprachlicher Relativismus, Strukturalismus und Linguistic Turn können als Etappen dieser Spekulation gelten; erst die poststrukturalistisch-diskursanalytische Wende des späten 20. Jh. (als Vorgänger könnte man Wittgenstein nennen, und in gewisser Weise auch schon den antiken Sophismus) ging allerdings so weit, die Trennung von Gedanklich- Sprachlichem einerseits und einer jenseits davon gelagerten ‘Realität’ mit radikaler Emphase in Abrede zu stellen und das Gedankliche völlig auf den Diskurs zu reduzieren, wodurch sich als Domäne der Referenz nur noch der vorgängige Diskurs selbst bietet. Die materialistische Perspektive, und damit die vorläufig jüngste Phase moderner Erkenntnistheorie versucht, die gesamte Triade von der materiell-biologischen Seite her wieder zu rekonstruieren, wo die Träger von Wahrnehmung/ Gedanken/ Erleben selbst nur höhere Organisationsformen der objektiven Welt sind (als neuronale, psychische, soziale “Systeme”) und sich die Relation zwischen Gedanken und Objekt als Dichotomie von Systemimmanenz und Umwelt konstituiert und wo die Sprache die Rolle eines Mediums zur Systemkoppelung erhält (in den Kognitions- und Neurowissenschaften, der Psycholinguistik, der Evolutionären Erkenntnistheorie und der Systemtheorie). Einleitung 5 Paradoxerweise sind es gerade neurobiologische und evolutionäre Ansätze, die auch die von jeher erkannte Subjektivität (und somit tendenzielle Autonomie) der Wahrnehmung herausgearbeitet haben: wie sehr Wahrnehmung und deren mentale Verarbeitung nicht nur von der Konditionierung der Sinnesrezeptoren, sondern von Erfahrungen, Kategorien, Schemata, aber auch von aktuellen Aufmerksamkeiten (Relevanz, Aktivation), von Zwecken, Wünschen, Ängsten abhängt, ist aus der Psychologie, und bei weitem nicht nur dorther, hinreichend bekannt (Überblick bei Roth 2005). Dies gilt umso mehr, als das Wahrgenommene einem ständigen Abstraktions-, Interpretations- und Inferenzprozess unterliegt, in dem es mit nicht wahrgenommenen, sondern vorgängig vorhandenen, kontextuellen oder im Wissen/ der Erinnerung verankerten Tatsachen verknüpft, verrechnet und daran angepasst wird. Es ist bezeichnend, dass die einflussreichste Theorie, die sich explizit einer Trennung von diskursiver Gedankenwelt und referentiellem Substrat verweigert hat, nämlich die Diskursanalyse von Michel Foucault, aus der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Geisteskrankheit entstanden ist, womit die metaphysische Frage nach dem Realitätsgehalt eines Diskurses durch die Frage abweichender Interpretationen und Bezugsetzungen, bzw. durch die Frage nach der Legitimität/ Autorität des Diskurses abgelöst wird. Die Nicht-Hintergehbarkeit diskursiver Muster und Interpretationsschemata selbst für eine emphatisch um “Wahrheit” ringende Disziplin wie die Geschichtsschreibung hat insbesondere Hayden White in den berühmten Slogan “auch Klio dichtet” gefasst (1986). Die Einsicht um den relativ geringen Einfluss einer widerständigen Außenwelt auf unser Bild von derselben, die Einsicht, dass Realität, Vorstellungswelt und Diskurs in der Anwendung auf die Geschichte von Denken und Kultur und deren Produkte empirisch oft kaum zu trennen sind und dass deren Trennung zur Betrachtung bestimmter Gegebenheiten (und zwar nicht nur historischer Fakten und sozialer Phänomene, sondern sogar naturwissenschaftlicher Befunde, cf. Heisenberg 1959) nicht zu leisten ist, hat somit nicht nur Philologie, Philosophie und Wissenssoziologie, sondern auch Psychologie und Neurowissenschaften erreicht. Dabei gehen die verschiedenen Disziplinen komplementär vor: während Neuro- und Kognitionswissenschaft zeigen, wie Vorgestelltes im Individuum zur Handlung wird, auch wenn diese nicht pragmatisch auf die Außenwelt gemünzt ist (u.v.a. Glenberg/ Kaschak 2002, Grush 2004, Pulvermüller 2005, 2007, Rizzolatti/ Sinigaglia 2008, Decety/ Stevens 2009), bemühen sich geisteswissenschaftliche Theorieansätze wie Phänomenologie, Diskursanalyse, Konstruktivismus, Systemtheorie darum, den zwar überindividuellen, aber “konstruktiven” und somit im weitesten Sinne imaginären Charakter der angeblich “objektiven” Welt nachzuweisen. Es ist kein Zufall, dass der Streit um Objektivität und Konstruktion an solchen Punkten besonders erbittert geführt wird, wo es um das Zusammenspiel von biologisch/ physikalischen und sozialen Gegebenheiten geht, also z.B. an der Debatte um sex und gender, um Klimawandel oder - nach wie vor - um ethnische Abstammung. Unabhängig von den religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen Weltbildern und den sich daraus ergebenden Annahmen über die Gegebenheit und Priorität einer objektiven Wirklichkeit, und unabhängig davon, dass diese Frage aus erkenntnistheoretischer Sicht unentscheidbar ist, scheinen allerdings Begriffe wie ‘Imagination’ oder ‘Simulation’ per se eine solche vom Denken getrennte Wirklichkeit, ein “out there” vorauszusetzen, ebenso wie die genannten Phänomenbereiche Traum, Wunsch, kontrafaktisches oder fiktionales Sprechen etc. offensichtlich von anderen, wirklichkeitsbezogeneren Modi des Erlebens oder Denkens unterscheidbar sind. Als Menschen operieren wir mit dieser Annahme: wir glauben zumindest, etwas zu sehen, zu hören, zu bedenken, zu besprechen und die Wahrheit zu sagen, solange wir nicht träumen, spinnen, dichten, lügen. Daniel Jacob 6 Dass genau diese Spannung sehr oft die Grundlage künstlerischer Arbeit wie Literatur, Film und Malerei ist, wird weiter unten noch zu behandeln sein; vor allem aber zeigen dies auch eindrücklich die Beiträge des vorliegenden Bandes. Man kann somit unabhängig von dem erkenntnistheoretischen Status, den wir den Diskursen, den mentalen Modi und deren Referenten zuweisen, Imagination fassen als ein Ereignis auf der Ebene des Gedanklichen ohne zugehöriges referenzielles Substrat (also ohne Bezug auf ‘Realität’ oder unmittelbare Erfahrung). Allerdings bedarf dies weiterer Präzisierungen: 2 Prozess oder Bestand? Individuum oder Kollektiv? Es wurde bereits hingewiesen auf die mögliche Diskrepanz zwischen dem Begriff des “Erlebens” im Sektionstitel, der primär einen aufs Individuum gemünzten Vorgang zu benennen scheint, und der Ausrichtung der Beiträge, die mehrheitlich einen kollektiven Sachverhalt beschreiben, der zudem eher als Inventar von Kategorien, Schemata und Regeln denn als Prozess erscheint. Es handelt sich hier genaugenommen um eine zweifache Unterscheidung, deren jeweilige Alternativen nicht unbedingt miteinander einhergehen, aber starke Affinitäten aufweisen: Zum einen ist zu klären, ob wir über den Prozess des Denkens bzw. Erlebens sprechen oder über den Bestand an Ideen, Begriffen, Kategorien, Bildern, ob wir das semiotische Dreieck also als Modell des Diskurses bzw. der parole oder als Modell des kognitiven oder kulturellen Inventars (also der langue) interpretieren. Tatsächlich lässt sich die Präsenz/ Absenz von Bezugsobjekten für beide Sichtweisen diskutieren und somit ein imaginärer Charakter des Denkens/ Sprechens auf beiden Ebenen postulieren; ohnehin ist diese Unterscheidung in einer konsequent diskursanalytischen Perspektive aufgehoben. Eng damit verknüpft ist die zweite Frage, nämlich danach, ob wir über Prozesse/ Entitäten der individuellen Kognition oder über solche der sozialen Konstruktion sprechen. Besonders der Structural Functionalism in der Folge von Talcott Parsons (und der Tradition von Auguste Comte, Emile Durkheim und Max Weber) und die daran anknüpfende Evolutionäre Erkenntnistheorie und Systemtheorie (Berger/ Luckmann 1966, Maturana/ Varela 1992, Luhmann 1984) haben sich um die Frage bemüht, wie sich aus den kognitiven Operationen der Individuen kollektive Strukturen ergeben. Es sind die der kollektiven Dimension innewohnenden Prozesse der Wiederholung, der Routinisierung, der Interaktion, der Institutionalisierung und gegebenenfalls der Ritualisierung, die einerseits dazu führen, dass aus kognitiv-kommunikativen Prozessen tendenziell Entitäten eines Bestandes werden (nämlich Kategorien, Regeln); hieraus ergibt sich die konstatierte Überlappung der hier aufgeworfenen Fragen. Man könnte für diesen Bestand an imaginären, d.h. auf kollektiver Imagination beruhenden Kategorien und Entitäten den Begriff des Imaginariums verwenden, um damit den eher diffusen Begriff des Imaginären (cf. hierzu Abschnitt 7) zu meiden. Vor allem aber ist es erst die sozial-überindividuelle Dimension, die es ermöglicht, dass aus individuellen kognitiven Zuständen/ Inhalten über Prozesse der sozialen Strukturkoppelung und der “Koontogenese” (Maturana/ Varela 1992) externe, objektive Gegebenheiten, Strukturgegebenheiten der “Umwelt” werden, und zwar trotz ihres abstrakten, nicht-physischen Charakters. Hier zeigt sich einmal mehr, dass aus kognitivistisch-systemtheoretischer Sicht die Unterscheidung zwischen Gedanken und Realität schwer aufrecht zu erhalten ist. Am evidentesten kann dies gezeigt werden für soziale Institutionen (Berger/ Luckmann 1966, Einleitung 7 Luhmann 1984, Schmidt 1991). Vor allem bei Cornelius Castoriadis ist der Begriff der Imagination selbst da, wo er als imagination radicale dem “être psychique” zugeordnet ist, nicht psychologisch zu verstehen, sondern als Kondition für das imaginaire social instituant, und er erwächst aus einer soziologischen Erwägung mit dem Ziel, die historische Evolution einer Gesellschaft in nicht-deterministischer Weise zu fassen (siehe unten Abschnitt 4), und dem Endergebnis, Gesellschaft und ihre Strukturen per se als imaginäre Institution zu beschreiben. 3 Phantasie, Empathie, Suggestion: Quellen der Imagination Indirekt verknüpft mit den vorherigen Fragen ist die Frage danach, wodurch ein Denken oder Erleben, das nicht auf eine externe Referenz- oder Erfahrungswelt gerichtet ist, eigentlich induziert wird. Tatsächlich findet man unter den Prozessen, die man landläufig mit dem Begriff der Imagination verbindet, Auslöser auf allen drei Ebenen des semiotischen Dreiecks wieder: Die Imagination kann sich von selbst induzieren, im Traum, im Tagtraum, im assoziativ schweifenden oder auch im deduktiv-regelhaft projizierenden Gedanken, etwa einem Zukunftsentwurf (wir könnten dies mit dem aristotelischen Term der Phantasie bezeichnen; zum Aspekt der Freiheit der Imagination cf. Abschnitt 4). Daneben empfinden wir aber paradoxerweise auch manche Prozesse als ‘imaginär’, die durch sensorische Wahrnehmung äußerer Stimuli ausgelöst sind: so z.B. das Empfinden von Empathie. Die intuitive Erfahrung, dass der Mensch “sich in andere hineinversetzen” kann, dass er mit anderen “mitfühlt”, dass er gegebenenfalls die Handlungen selbst nachvollzieht, die er bei anderen beobachtet, wird spätestens seit der Debatte um die sogenannten Spiegelneuronen bei Affen, von denen man auf ein ähnliches System beim Menschen schloss (Gallese/ Goldman 1998), auch in den Neurowissenschaften beschrieben, in dem Sinne, dass Zustände und Handlungen, die der Mensch bei anderen Menschen beobachtet, bei ihm z.T. analoge neuronale Zustände auslösen, wie sie für handelnde Personen festzustellen sind (Gallese 2008; Rizzolatti/ Sinigaglia 2008; Decety/ Stevens 2009). Dass wir dieses als Fall von Imagination auffassen können, obwohl ein externer Stimulus im Spiel ist, liegt daran, dass der Stimulus nicht gleichzeitig der Referent, das Gemeinte der mentalen Vorstellung ist, die er auslöst. Angesichts dieser Dissoziation von Stimulus und Referent spielt es auch keine Rolle, ob die wahrgenommene Situation eine authentische ist oder ihrerseits nur eine mimetisch inszenierte: auch mimetisches Handeln, selbst da, wo es als solches erkannt ist, kann bekanntlich Empathie (eleos, “Mitleid” in aristotelischer Terminologie) auslösen, die der imaginär Erlebende durchaus auf sich selbst bezieht (phobos, “Furcht”). Auch wenn wir nicht selbst unter der Dusche stehen, sondern im Kinosessel sitzen, versetzt uns Norman Bates’ gezücktes Messer in Angst und verursacht uns Herzklopfen. Schließlich ist es eine Binsenweisheit und Alltagserfahrung, dass auch sprachlich-diskursive Ereignisse, das Hören von Wörtern oder Sätzen ebenso wie ein gelesener Text, die Eigenschaft haben, beim Rezipienten ein Erleben auszulösen, dem keine externe Realität entspricht und bei dem die zugehörige Referenz nur projiziert und nicht perzipiert ist. Wiederum müssen wir hier auf die Aufarbeitung einer zweieinhalbtausendjährigen Diskussion über den Abbildcharakter der Sprache verzichten; es sei hier nur auf jüngere neuropsychologische Untersuchungen verwiesen, die zeigen, dass das Hören oder Produzieren von Wörtern und Sätzen ähnliche “neuronale Korrelate” hat wie das Durchführen bestimmter Handlungen Daniel Jacob 8 3 Blending meint die Überlagerung von nicht-kompatiblen mental spaces (vereinfacht: Situationsvorstellungen), wie sie in der alltäglichen Rede ständig stattfindet, siehe auch Fauconnier/ Turner (2003). (Glenberg/ Kaschak 2002; Buccino et al. 2005; Pulvermüller 2005, 2007); auch die “Transportation into Narratives” (Green/ Donahue 2009) ist ein psychologisch gut untersuchtes Feld; dies betrifft selbstverständlich auch Geschriebenes (Nell 1988; Gerrig 1993; Appel et al. 2002). Unbearbeitet ist m.W. bis heute die Frage, wie ein nicht ikonisch darstellendes, sondern abstraktes, arbiträres, nicht-analoges Symbolsystem eine solche Suggestionskraft entfalten kann. Es erscheint evident, dass die Idee vom abbildenden Charakter der Sprache hier durch eine Analyse der evokativ-assoziativen Eigenschaften dieses Mediums ersetzt werden muss: die Suggestionskraft haftet den sprachlichen Entitäten nicht einfach an, sondern sie speist sich aus den Erfahrungen der Benutzer. Dies ist vielleicht auch der Schlüssel für das Paradoxon, dass fiktionale Rede nicht etwa weniger, sondern eher stärkere Suggestionskraft entfaltet als solche, die mit dem Anspruch auf ‘Wahrheit’ und Referenz in einer objektiven Welt verknüpft ist (siehe hierzu noch Abschnitt 5). 4 Freiheit und Kreativität Wie gesehen, ist die Unterscheidung zwischen Imagination und Wahrnehmung des Reellen keine, die absolut zu treffen ist, sondern eine Frage der jeweiligen Auffassung des Denkenden/ Wahrnehmenden oder Beobachters über den jeweiligen gedanklichen Prozess. Unter dieser Prämisse wäre Imagination eher zu fassen als das Erleben/ Denken, das frei ist vom Anspruch auf Wahrheit, wohingegen das Denken des Reellen oder des Wahren sich als ein Denken erweist, das sich gewissen Kontrollmechanismen wie Kausalität, Wahrscheinlichkeit, Regelhaftigkeit unterwirft (so formuliert es bereits Aristoteles in De Anima III.3). Tatsächlich hatte die eingangs erwähnte Sichtweise von Imagination als defizitär-weltentrücktem Modus immer auch eine Kehrseite: die Betonung der Freiheit von der Faktizität und Gesetzlichkeit der realen Welt, die mit dieser Loslösung einhergeht. Während in einer (neo)platonisch-christlichen Ideologie die Loslösung vom Weltlichen die Chance zur anagogischen Annäherung an die höhere Wahrheit der metaphysischen Ideenwelt bietet (u.a. kraft eines dichterischen furor divinus), interessieren sich die post-platonischen Ansätze für die Möglichkeit der gedanklichen Redisposition der Gegebenheiten der Außenwelt. Einen Schlüssel aus moderner Perspektive zu dem bekannten Paradoxon, dass imaginäre Konstrukte, z.B. ein fiktionaler Text, nicht nur vielfältigere mögliche Sachverhalte bieten können als die Realität, sondern dass sie gerade dadurch sogar eine ‘tiefere’ (oder ‘höhere’ …) Wahrheit transportieren können, geben Fauconnier/ Turner (1998: 133) mit dem Hinweis auf den kognitiven Mehrwert, den das blending 3 haben kann: “(…) the blend can have effect in cognition, leading us to modify the initial inputs and to change our view of the corresponding situations”. Allerdings wird aus diesem Zitat auch ersichtlich, dass, wie auch von jeher festgestellt, die Freiheit keine absolute ist, sondern dass es sich um die Redisposition von gegebener Welterfahrung oder Weltwissen handelt. René Descartes hat dies, mit Blick auf den Traum, folgendermaßen formuliert: Einleitung 9 4 “Nam sane pictores ipsi, ne tum quidem, cum Sirenas & Satyriscos maxime inusitatis formis fingere student, naturas omni ex parte novas iis possunt assignare, sed tantummodo diversorum animalium membra permiscent” (Descartes, Meditationes I,6; Übersetzung DJ; den Hinweis verdanke ich Hans-Martin Gauger). Denn nicht einmal die Maler können, wenn sie Sirenen oder Satyrisken mit maximal ungewohnten Formen vortäuschen wollen, diesen in jeder Hinsicht neue Naturen zuweisen, sondern sie vermischen bestenfalls die Glieder verschiedener Tiere. 4 Nach dieser Auffassung ist absolute Freiheit des Denkens von Erfahrung und deren Regeln schon mit Blick auf das Individuum eine Aporie. Auch Imagination, soll sie denn überhaupt als solche identifiziert werden und mehr sein als eine diffuse Ahnung oder völlig offenes Potential, hängt also von vorgängiger Erfahrung, Kategorisierung und Regelwissen ab; dies gilt umso mehr für die sozial-kollektive Ebene, etwa das mythisch-diskursive oder ikonographische Imaginarium: Sirenen, Sphingen, Basilisken, Einhörner und Jedi-Ritter sind komposit aus Elementen vorgängiger Erfahrung gebildet oder extrapoliert; ein Selbstgespräch benutzt nicht nur die Regeln der realen Sprache, sondern bespricht Dinge, die man einem realen Gesprächspartner gerne sagen würde; ein Bildungsroman operiert kaum mit weniger historischen oder universellen Alltagswahrheiten als ein historischer (zum Verhältnis von Realität und Fiktion siehe noch unten). Vehement in Abrede gestellt wird solche Gebundenheit von Imagination durch Cornelius Castoriadis. Sein Begriff der imagination radicale benennt eben gerade die völlige Freiheit, genauer, das grundsätzliche Potential des Menschen (qua Individuum) zur a priori uneingeschränkten Kreativität beim Schaffen von Kategorien des Denk- und Darstellbaren (“vis formandi”, wobei er sich mit der Idee der Imagination als “Kraft” auf Aristoteles’ De Anima III.3 beruft) und ist, wie oben schon bemerkt, somit Garant der Offenheit und Freiheit der individuellen und historisch-sozialen Entwicklung fern einer deterministischen Logik. 5 Fiktion und ‘Wahrheit’ Die Feststellung größerer Freiheit eines nicht auf Empirie bezogenen Denkens lässt sich somit auch auf diskursiv induzierte Imagination unmittelbar übertragen: da, wo er ohne Anspruch auf Referenz in einer objektiven Welt, also auf Abbildung von Realität und Behauptung von Wahrheit, ist, besitzt der Diskurs größere Freiheit. Aber wiederum gilt auch, dass diese Freiheit nur relativ ist; um überhaupt vom Leser in irgendeiner Weise ‘verstanden’ zu werden, muss ein Text auf einem gewissen Bestand von gemeinsamen Annahmen, Bezugspunkten, generellem Hintergrundwissen aufbauen, der größtenteils aus Alltagserfahrung und ‘Weltwissen’ konstituiert ist und nur zu einem kleinen Teil aus explizit fiktiven, mythischen Referenten oder gar Regeln. Dieses Aufruhen auf generellem Weltwissen auch bei explizit fiktionalen Texten gilt besonders im Bereich der Präsuppositionen, mehr als im Bereich der assertierten Sachverhalte: dem allgemeinen Weltwissen entnommen sind oft bestimmte (meist dem Texthintergrund angehörige) Identitäten, Orte, allgemeines Regelwissen wie Annahmen über menschliche Zwecke und Bedürfnisse, zu üblichem Verhalten von Dingen und Lebewesen, insbesondere im Bereich des Physischen. Wie im vorhergehenden Abschnitt angesprochen, unterscheidet sich der quantitative Anteil von ‘wahren’ und ‘unwahren’, fiktionalen Annahmen in Diskursformen wie dem Märchen, dem historischen Roman, dem Schlüsselroman bestenfalls graduell, während selbst die Daniel Jacob 10 5 Iser (1991: 37). Isers Begriff des “Imaginären” steht hier übrigens nicht zur Debatte: während wir in Abschnitt 3 Fiktionalität als eine spezielle Form der diskursiv ausgelösten Imagination gedeutet haben, ist das Imaginäre bei Iser etwas, worauf das “Fiktionale” durch sein Abweichen von der empirischen Welt verweist. Siehe hierzu noch kurz Abschnitt 7 sowie den Beitrag von Thomas Klinkert im vorliegenden Band. wissenschaftliche Historiographie in ihrer Narrativität nicht ohne Interpretations- und Darstellungsschemata jenseits einer reinen Faktenlogik auskommt (Hayden White 1973, 1986). Allerdings legt bereits diese Reihung wiederum nahe, dass, wie oben schon ausgeführt, die Frage von Imagination (hier als Fiktionalität) und ‘Wahrheit’ eher eine des Anspruchs ist als eine feststellbare Gegebenheit. Dieser Anspruch kann sogar sprachlich markiert sein: Für Wolfgang Iser wird [i]m Kenntlichmachen des Fingierens […] alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob. Die Einklammerung [i.e. die Markierung eines Textes als fiktional] zeigt an, daß nun alle ‘natürlichen’ Einstellungen zu dieser dargestellten Welt zu suspendieren sind. 5 So gesehen dürfte auch die ‘Skala’ der genannten Gattungen kaum quantitativ nach dem jeweiligen Anteil von ‘Wahrheit’ und Fiktion zu beurteilen sein, sondern nach den unterschiedlichen Weisen, in denen diese Einstellungen gehandhabt werden: Während der fiktionale Roman schlicht nicht auf den Wissenshintergrund und die Relevanzhorizonte des Lesers verzichten kann, die dieser größtenteils aus der Erfahrung bezogen hat, und deshalb die Fiktionalität auf die explizit assertierten Aussagen beschränken muss, signalisiert der historische Roman zwar Fiktionalität, um die nicht-garantierbaren Teile des Diskurses gegen die Verpflichtung auf die Grice’sche Maxime der Wahrheit abzusichern, bezieht seine Faszination aber aus der Plausibilität der gemachten fiktiven Behauptungen als mögliche historische Wahrheit (was ihm zudem die Möglichkeit einer ausmalenden Detailfreude gibt, während der historiographische Diskurs nicht nur der Grice’schen Qualitätssondern auch der Quantitätsmaxime verpflichtet ist). Der historiographische Diskurs schließlich stellt sich der Qualitätsmaxime “Sage nichts, was Du für falsch hältst oder wofür du keine angemessene Evidenz hast” und vertraut auf die deduktive Ableitbarkeit und Überzeugungskraft der getroffenen interpretativen Aussagen. Während hier also einfach unterschiedliche Grenzen bezüglich der Akzeptabilität von ‘wahrheitsbefreiten’ Aussagen gezogen werden, treiben andere Gattungen mit der zweifachen Natur fiktionaler Literatur ihr doppeltes Spiel: So will z.B. der Schlüsselroman hinter der vorgegebenen Attitüde der Fiktionalität Wahrheit, d.h. reale, externe Referenz durchscheinen lassen; andere Gattungen nehmen zwar eine grundlegend fiktionale Haltung ein, experimentieren aber explizit damit, wie weit der fiktionale Text sich tatsächlich von den Regeln des Weltwissens entfernen kann (phantastische Literatur, Science Fiction), oder sie konfrontieren unterschiedliche, inkompatible Wissensbestände miteinander (z.B. im sogenannten Magischen Realismus). Es zeigt sich, dass nicht nur die größere Freiheit des referenzfreien, wahrheitsunabhängigen Diskurses diesem mehr inhaltliche Möglichkeiten bietet; vielmehr erweist sich die Spannung zwischen alltäglichem Wahrheitsanspruch und fiktionaler Freiheit selbst als Potential zum Herstellen von poetisch-ästhetischen, symbolisch-signifikativen oder pragmatischen Effekten. Einleitung 11 6 Vom Spiel zur Illusion: virtuelle und mimetische Realitäten Zu erwähnen sind abschließend eine Reihe von Situationen, die ebenfalls einen Modus des “Als-Ob” aufweisen, denen aber ein referenzielles Substrat oder eine objektive Handlungseinbettung nicht abzusprechen ist. Da ist zum einen das Rollenspiel - als Kinderspiel, als mentales Training (etwa im Sport), als therapeutische Maßnahme (in Sozialpädagogik und Psychotherapie). Das “Als-Ob” liegt hierbei nicht in der Reduktion auf das Mentale - es wird ja gehandelt und interagiert - sondern in der Loslösung des Handelns von der pragmatischen Situation: im Spiel werden bestimmte pragmatische Prämissen (etwa: Regeln, Handlungslogiken) außer Kraft gesetzt bzw. durch willkürliche andere ersetzt, die nicht der pragmatischen Situation entsprechen. Diese Loslösung eröffnet ähnliche kreative Möglichkeiten wie bei der Imagination; das Rollenspiel ermöglicht zudem antizipierende Vorbereitung erwarteter Situationen, und es kann einen kathartisch-therapeutischen Wert gegenüber pragmatisch eingebundenen vorgängigen oder parallelen Situationen haben. Zu den Formen des von außen induzierten Erlebens nicht-‘realer’ Situationen gehören auch die verschiedenen Stufen der virtual reality: moderne Informationstechnologie bietet uns zunehmend komplexere und flexiblere Stimuli, die von denjenigen traditionell erworbener interaktiver Handlungsabläufe immer weniger zu unterscheiden sind, sodass die Grenzen zwischen dem Handeln in einer physischen und sozialen Umwelt und dem Handeln in einer ‘virtuellen’ oder simulierten, d.h. hier, elektronisch basierten, programmierten und so als ‘konstruiert’ aufzufassenden Welt sich zunehmend aufzulösen scheinen. Genaugenommen sind solche Situationen überhaupt nur aus einer abgehobenen Beobachtersicht zum Bereich der Imagination zu rechnen; aus der Sicht des wahrnehmenden Individuums hingegen handelt es sich um eine objektive, extern sensomotorisch induzierte Erfahrung, unabhängig davon, inwieweit der Wahrnehmende den Stimulus nun als real oder virtuell erkennt. In dieser Hinsicht ist diese Situation vergleichbar mit derjenigen, wo die Simulation/ Illusion nicht durch einen elektronisch generierten Stimulus, sondern durch einen physischen Interaktionspartner hervorgerufen wird, der eine Rolle spielt, ohne dass der Wahrnehmende dessen gewahr ist (Unsichtbares Theater, versteckte Kamera, Orson Welles’ War of the Worlds, …). Auch hier liegt das “Als-Ob” bestenfalls beim mimetisch Handelnden, nicht beim intendierten ‘Publikum’ vor. Allerdings zeigen gleich zwei Beiträge dieses Bandes (Rupert-Kruse, Schmalfuß) eindrücklich, dass die Illusion erst durch die oben angesprochene subjektiv-aktive Rolle des Rezipienten, durch dessen massive Interpretations- und Inferenzleistung ermöglicht wird: die Wirkmacht des Gesehenen oder virtuell Erfahrenen entsteht erst dadurch, dass das zu Erlebende in der Imagination des Rezipienten zu einem Gesamtbild zusammengesetzt wird, indem es mit Wissen und vorgängigen Erfahrungen ergänzt und verrechnet wird. Hier zeigt sich, dass die Wahrnehmung der Realität nicht weniger Imagination beansprucht als die Wahrnehmung dessen, was wir aus höherer Perspektive, oder sogar als Rezipienten, als ‘nicht wahres’, illusives Erleben erachten; es sind somit gerade die illusiven Konstellationen, die uns den Anteil der Imagination auch bei der Wahrnehmung der ‘Wirklichkeit’ vor Augen führen. Situationen völliger Illusion sind ungewöhnlich und man kennt sie eher aus der kinematographischen oder literarischen Fiktion, etwa im Film Matrix, wo sich die Welt als eine rein virtuelle erweist, in Calderóns La vida es sueño, einem barocken Vexierspiel zwischen Realität, inszenierter Realität und angeblichem Traum, oder in Cervantes’ Don Quijote, in dem die Umwelt des Protagonisten sich mal mehr, mal weniger auf dessen Wahnvorstel- Daniel Jacob 12 6 Vgl. hierzu z.B. die entsprechenden Zitate aus Iser (1991: 21) und Foucault (1964: 297f.) im Artikel von Thomas Klinkert. lungen einlässt und sein Spiel mitspielt. Dass eine solche Situation auch ohne den Wahn des Wahrnehmenden vorstellbar ist, zeigen Plots vom Strickmuster des Films Good bye Lenin. All diese Werke haben ein Moment der Absurdität, und es handelt es sich um künstlerischfiktionale Bearbeitungen des eingangs bereits als philosophisch-theologisches Thema benannten Grundproblems der conditio humana: dass der Mensch sich der ‘Realität’ des Wahrgenommenen niemals sicher sein kann. Wichtig für die hier beschriebenen Fälle der mimetischen oder virtuellen Illusion ist, dass hier keine Losgelöstheit zwischen der gedanklichen Welt und der Referenz- oder Erfahrungswelt besteht; vielmehr ergibt sich ein Bruch zur ‘Wirklichkeit’ erst in der Metabetrachtung, und zwar aus dem irrealen Status des externen Stimulus, der den gedanklichen Prozess auslöst. Insofern ist im Fall der Illusion nicht mehr Imagination im Spiel, als es bei jedem Wahrnehmungsprozess der Fall ist. Andererseits verleiht die erst aus der Metaperspektive erkennbare Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität der Situation überhaupt ihr literarisches und philosophisches Potential. 7 Imagination, Imaginarien und “das Imaginäre”: die Beiträge dieses Bandes Die Potsdamer Arbeitssektion trug im Titel den Begriff Imagination. Die meisten Aufsätze verwenden - zusätzlich oder stattdessen - den Begriff des Imaginären, teilweise als generalisierendes Synonym, teilweise aber auch in Absetzung zum ersteren Begriff. Damit stellen sie sich (eher implizit) in eine Tradition existenzphilosophischer Ansätze, an deren Anfang Jean-Paul Sartres auf Husserls Phänomenologie aufbauende Essays zur imagination (1936) und zum imaginaire (1940) stehen, zu der man aber auch Jacques Lacans psychoanalytisch gefassten Begriff des imaginaire im Rahmen seiner schon erwähnten Grundtriade “RSI” (le réel, le symbolique, l’imaginaire, vgl. Fn. 2), Cornelius Castoriadis’ ebenfalls schon erwähnte Begrifflichkeit (die ebenfalls imagination und l’imaginaire nebeneinander stellt) und schließlich Wolfgang Isers Begriff des Imaginären rechnen kann. Rahmen und Denkstil dieser Einleitung machen es unmöglich, hier auch nur ansatzweise die extrem aufgeladenen und voraussetzungsreichen Begriffsverwendungen zu analysieren, die nicht nur einen diffusen und oszillierenden Charakter des Imaginären unterstellen 6 , sondern dies auch in ihrem sprachlichen Duktus so inszenieren (bei gleichzeitig beeindruckender apodiktischer Sicherheit). Während Sartres Begriff der imagination relativ nahe an unseren bisherigen Ausführungen steht, nämlich als psychologischer, von der Realität losgelöster Prozess oder “Akt”, ist die imagination radicale bei Castoriadis eine allgemeine Disposition des Menschen, aus der das imaginaire constituant als soziales Potential abzuleiten ist. Lacans imaginaire bietet, wie in Abschnitt 1 erwähnt, einerseits Anklänge an das semiotische Dreieck, wird andererseits aber zum Schauplatz einer stark topologisch-strukturalistisch gefassten Subjekt-Objekt- Ausdifferenzierung des individuellen Bewusstseins und stellt somit starke generalisierende Hypothesen über die psychische Ontogenese auf. Bei Iser wird das Imaginäre aus der Differenz zwischen dem Realen und Fiktiven abgeleitet als etwas Drittes, worauf diese Differenz verweist. Entsprechend der existenzphilosophischen bzw. psychoanalytischen Grundlage fungiert das Imaginäre bei allen genannten Autoren somit als wichtige Ebene Einleitung 13 menschlichen “Seins” bzw. Bewusstseins, eine - eher projektive - Benennung einer Grundgegebenheit der conditio humana abseits der Niederungen der materiellen Welt. Zur Oszillation der Begrifflichkeit trägt auch die Zweideutigkeit des französischen Ausdrucks l’imaginaire bei, der nicht nur deutbar ist als substantivisch verwendetes Adjektiv (und somit als Abstraktion - oder Hypostase - der potentiellen Eigenschaft von Gedanken, imaginär zu sein), sondern auch als genuin substantivisches Kollektivum (Imaginarium), also im Sinne eines sich sozial aufbauenden Bestandes an Vorstellungen, Ideen, Entitäten, Kategorien, Annahmen, Bildern; somit nicht als Potential oder Ebene menschlicher Kognition, sondern als deren Ergebnis und Inhalt (cf. Abschnitt 2). Gemeinsam haben beide, dass damit die Ebene des Denkbaren benannt ist, im Gegensatz zur Ebene des Epistemischen, also dessen, was man weiß oder wissen kann, sei es aus der Erfahrung, der Schlussfolgerung, dem für wahr Gehaltenen, das den Regeln des Für-Wahr-Haltens unterliegt. Imagination als Prozess, Imaginarien als individuelle oder auch und besonders als gesellschaftliche Motiv- und Vorstellungsbestände und “das Imaginäre” als menschliches Potential des Denkbaren bilden den Rahmen, in dem sich die Beiträge des vorliegenden Bandes bewegen. Sie alle verhandeln diese Frage allerdings im Kontext einer semiotischen Fragestellung, d.h. sie behandeln das Imaginäre oder die Imagination mit Blick auf kommunikative Prozesse oder auf den Zeichencharakter der als imaginär erkannten Entitäten. Dabei bewegen sich drei der Beiträge (Richtmeyer, Klinkert, Firchow) auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Reflexion über Wahrnehmen, Wissen, Imaginieren und Mitteilen des Gewussten/ Imaginierten, indem sie von philosophischer (Schleiermacher, Wittgenstein) oder von literaturwissenschaftlicher Seite (Iser, Warning, Walton) vorgeschlagene Begrifflichkeiten aufarbeiten. Zwei Beiträge (Rupert-Kruse, Schmalfuß) behandeln das, was oben als Illusion ausgewiesen ist, nämlich das Nachvollziehen von visuell wahrgenommenem, aber als Mimesis bzw. virtual reality von der Realität abgekoppeltem Input am Beispiel von Kino und Computerspiel. Die drei verbleibenden Beiträge (Dina Salama, Neecke und Dalia Salama) schließlich behandeln literarisch-narrative Darstellungen von imaginärem Erleben vor ihrem jeweiligen epistemischen Hintergrund, der in den ersten beiden Fällen in der mittelalterlichen Mystik, im dritten Fall in den symbolistisch-tiefenpsychologischen Präokkupationen des Wiens der 1920er Jahre zu situieren ist. Mitten im Zentrum der oben angesprochenen erkenntnistheoretischen Debatte bewegt sich das Denkgebäude, das Markus Firchow in dem Beitrag Bildlichkeit und Wissen. Zur Funktion der Oszillation in Schleiermachers Dialektik vorstellt. Oszillation ist eine Denkfigur, bei der einander gegenübergestellte Prinzipien nicht durch eine statische Mitte ausgeglichen werden oder sich gegenseitig aufheben, sondern sich durch ihre Spannung erst bedingen und sich “in der Schwebe” halten als “eine Bewegung, die erst im Vollzug einer wechselseitigen Bezogenheit ihrer Pole Stabilität generiert”. Diese Figur wird angewendet auf ein komplexes System von dialektischen Polaritäten: Organisation vs. Vernunft (direkt korreliert mit Stoff vs. Form des Denkens), organische vs. intellektuelle Tätigkeit, sinnlich-konkret vs. abstraktallgemein, organisierendes vs. symbolisierendes Handeln, Bild vs. Begriff u.v.m. Die “schwebende Identität” zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Besonderem und Allgemeinem ist der Begriff, dessen sinnlich-bildlicher Charakter durch seine Schematizität gewährleistet bleibt, dessen abstrakt-allgemeiner Charakter aber auf Kosten der Bestimmtheit gegenüber dem einzelnen Bild geht. Die Wahrnehmung des Einzelnen ist nicht möglich ohne den Rekurs auf den Begriff (die Vernunft “bildet” dem Sinnlichen “die allgemeinen Begriffe für jede Form ein”); der Begriff seinerseits hängt wiederum ab von der Fixierung durch sprachliche Zeichen (wodurch sich Schleiermacher als Vertreter des idealistischen Glosso- Daniel Jacob 14 zentrismus im Stile Humboldts erweist). Der oszillierende Charakter von Wissen zwischen der Bestimmtheit des Bildes und der Diffusität des Begriffs führt dazu, dass Wissen und Wahrheit, soweit sie nicht rein begrifflicher Natur sind, nicht objektiv sein können, sondern sich als Denken in der intersubjektiven Kommunikation bewähren müssen; dies zumal, da das wissende Subjekt den individuellen Ort seines Wissens/ Denkens/ Wahrnehmens nicht überwinden kann. Von einem “radikalen Relativismus oder Konstruktivismus” unterscheidet sich dieses Konzept dadurch, dass Wissen nicht in einer “Potenzierung von Allgemeinheit und Abstraktion” (ebenso wenig wie von Sinnlichkeit und Konkretion) liegt; vielmehr liegt die “schwebende Einheit” des Wissens in der Ausgewogenheit zwischen konkretisierender Sinnlichkeit und verallgemeinernder Abstraktion, zwischen Bild und Begriff. Im engen Sinne semiotisch ist Ulrich Richtmeyers Untersuchung zu Ludwig Wittgensteins Begriff der Intransitivität in verschiedenen Zeichenformen (Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis). Richtmeyer analysiert die für Wittgenstein typische Denkfigur, aus einer sprachkritischen Reflexion eine über das Sprachliche hinausgehende Situation zu analysieren. Das sprachliche Zeichen ist in dem Maße intransitiv, in dem seine Bedeutung unartikuliert ist, es aber dafür “Nachdruck” besitzt. Im gegebenen Beispiel ist der doppelte Gebrauch von Adjektiven wie bestimmt oder eigenartig (entweder zur Vorbereitung einer genaueren Beschreibung oder eines Vergleichs oder aber gerade, um die Unbeschreibbarkeit einer Gegebenheit zu signalisieren) ein “Hinweis auf die sprachliche Uneinholbarkeit besonderer Wahrnehmungen”. Die Intransitivität, die Unbeschreibbarkeit, Nicht-Artikuliertheit und der Hervorhebungscharakter (“das was Nachdruck auf sich zieht”) kommt also dem Wahrgenommenen zu. Wittgenstein selbst ist es auch, der den (scheiternden) Versuch sprachlicher Artikulation des intransitiv Wahrgenommenen neben den Versuch der bildlichen Artikulation stellt. Dem Bild kommt, paradoxerweise möchte man sagen, per se ein intransitiver Charakter als mediale Spezifik zu: das Bild verweist nicht, sondern es ist, was es ist (“das Bild sagt mir sich selbst”). Insofern ist das bildlich Wahrgenommene auch in keiner Weise imaginär oder virtuell. Imagination ist in Wittgensteins Überlegungen zum sprachlichen oder bildlichen Zeigen gar nicht vorgesehen, und wenngleich Richtmeyer mehrfach die Idee des “geistigen Bildes” auch bei Wittgenstein auffindet, wird “[…] die implizite Bildlichkeit des Imaginären in einer medienspezifischen Praxis [begründet]”. Hier erweist sich Wittgenstein in seinen Spätschriften (dem Braunen und dem Blauen Buch) in dem oben schon angedeuteten Sinne als Vorläufer der diskursiven Wende des späten 20. Jh. Thomas Klinkert, Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien, kommt auf die Frage nach der Funktionsweise fiktionaler Texte zurück. Er diskutiert mehrere Ansätze, die die unfruchtbare Dichotomie des Oppositionspaars “Urbild” - “Abbild” (der platonischen Tradition) bzw. “wahr” - “unwahr” (in vorwissenschaftlichen Vorstellungen, aber auch noch in Searles Definitionsversuch von Fiktion) überwinden wollen. Hierbei finden sich beide der oben thematisierten Sichtweisen von Fiktion wieder: zum einen die bereits angesprochene Auffassung Wolfgang Isers, wonach das Fiktive Teil einer Triade ist, in der es zwischen dem Realen und dem Imaginären vermittelt und wo es, in seinem Hinausgehen über das Reale, auf das Imaginäre verweist; zum anderen die Vorstellung, wonach fiktionaler Diskurs ein Auslöser eines Imaginationsprozesses ist, ein “game of makebelieve”, vergleichbar mit dem mimetischen Spiel von Kindern, dem Tagtraum o.ä., in der Theorie von Kendall L. Walton. Einen dritten Weg beschreitet Rainer Warning, der Cornelius Castoriadis’ Begriff des Imaginären mit Michel Foucaults Idee von der Literatur als contrediscours verknüpft und zeigt, dass der Konterdiskus - wie das Imaginäre, das er transportiert - nicht losgelöst vom Epistemischen gefasst werden kann, dass eine Unterscheidung zwischen Einleitung 15 epistemischem Diskurs und poetischem Konterdiskurs nicht als semantische, sondern als pragmatische Operation aufgefasst werden muss. Ausgehend von der kreativ-vermittelnden Funktion des Fiktiven in allen drei Ansätzen zieht Klinkert den Schluss, “dass der auf Imagination basierende fiktionale Verarbeitungs- und Transformationsmodus der elementare ist, der bei jeder Form zeichengesteuerter Kommunikation zuallererst zum Tragen kommt”, und erkennt den Unterschied von “Realem” und “Fiktivem” als Frage einer sekundären “Statuszuschreibung”. Der Beitrag von Patrick Rupert-Kruse, Aufmarsch der Phantome. Mentale Präsenz und das Empathisieren abwesender Figuren im Film behandelt den mehrfach (Abschnitt 1 u. 6) angesprochenen Verrechnungs- und Inferenzprozess, nach dem das Wahrgenommene durch Rückbezug auf Erfahrenes und Gewusstes selektiert, interpretiert und vor allem ergänzt wird. Rupert-Kruse verweist auf Wolfgang Isers Begriff der “Verweisungsganzheit”, unterscheidet aber auch verschiedene Ebenen solcher Verweisungsgefüge wie etwa die physikalische Welt, die Wahrnehmungswelt, die soziale Welt und die moralische Welt (H.-J. Wulff). Hilfsmittel hierbei sind bestimmte “Spuren” (“körpernahe Artefakte, diegetische Objekte, Erzählungen”), die “wie Vektoren einen Schnittpunkt im Raum, ein Figurenmodell innerhalb des mentalen Gesamtmodells des Films” umreißen. Dabei sind ganz unterschiedliche Prozesse im Spiel, die an verschiedenen kinematographischen Beispielen demonstriert werden. So gibt es zwei Phasen des kognitiven Prozesses: die “somatische Empathie” (verstanden als neuronaler Prozess) ist die Verschmelzung der Kognition des Rezipienten mit der beobachteten Figur zu einem “cinästhetischen Körper”. Eine besondere Rolle spielt dabei die Fusion der optischen Perspektive des Zuschauers mit der einer Figur (“Erste-Person-Perspektive”). Im zweiten Schritt der “Perspektiveninduktion” wird ein wissensgesteuertes Modell der Figuren aufgebaut. Rupert-Kruse zeigt an verschiedenen Beispielen, wie es gelingt, durch das filmisch erzählte Geschehen Leerstellen empathisch-projektiv zu füllen. So wird in Lars und die Frauen einer Puppe durch die soziale Interaktion und den Diskurs ihrer Umgebung die Lebensgeschichte einer Person eingeschrieben; in Der unsichtbare Dritte werden Spuren gelegt, die eine Figur konstruieren lassen, die überhaupt nicht existiert. In beiden Fällen gehen somit explizit nicht-existente Figuren (“Phantome”) in das mentale Situationsmodell ein, das der Rezipient imaginär aufbaut und empathisch füllt. Eine ähnliche Form von Empathie beschreibt Sven Schmalfuß in seinem Beitrag Schwirrende Fragen/ Antworten. Subjekt-Wahrnehmung und Imagination in/ an den digitalen Spielen des Studios Q UANTIC D REAM . Den imaginativen Identifikationsprozess mit einer oder mehreren Spielfiguren (Avataren) analysiert Schmalfuß unter dem Schlagwort Immersion, ein Begriff, der insbesondere das integrative Zusammenspiel von Narration, Spiel und Illusion beschreibt. Die von Schmalfuß beschriebenen Spiele zeichnen sich durch besondere Komplexion der Identifikationsperspektiven aus (der Spieler wechselt die Avatare und muss z.T. gegen sich selbst arbeiten, oder er wird durch bestimmte Phasen bewusst aus der Immersion gerissen). Der entscheidende Unterschied zum Film ist aber natürlich die interaktive Dynamik, deren Komplexität und Offenheit der Artikel anhand einer Reihe von Spielen bzw. Spielgattungen untersucht, wobei er die sich abhängig von den Aktionen der Spieler verzweigenden Spielverläufe beschreibt, analog zum Labyrinth, in Anlehnung an Jorge Luis Borges und Umberto Eco. Ein anderer Unterschied zu mimetischen Formen ist die - begrenzte - Natürlichkeit der physischen Bewegungen der Figuren; deren situationelle Adäquatheit oder aber notwendige oder sogar kalkulierte Defizite werden mit dem Begriff des Uncanny Valley umschrieben; die Kondensation solcher komplexer Verhaltensweisen in einfachen Steueraktionen des Spielers vergleicht Schmalfuß mit einer Metapher. Das dritte Daniel Jacob 16 “Attraktionselement” neben dem Ludischen und dem Simulativen ist die Narration; auch sie bietet durch die Offenheit des Spiels andere Möglichkeiten als andere narrative oder mimetische Gattungen, auch in dieser Frage gibt es bezeichnende Strukturunterschiede zwischen den untersuchten Spielen. Narrative Darstellungen von imaginativen, nämlich visionären Vorgängen bearbeiten die Beiträge von Dina Salama, Michael Neecke und Dalia Salama; sie sind, respective, dem Hochmittelalter, dem Spätmittelalter und dem Beginn des 20. Jh. zuzuordnen; dabei spiegeln sie nicht nur fast idealtypisch sowohl die epistemischen wie epistemologischen Hintergründe ihrer Epochen wider, sondern auch die jeweils dazugehörigen narrativen Verfahren. Sie sind hier nicht chronologisch angeordnet, sondern nach dem unterschiedlichen Verhältnis von ‘Wahrheit’ und ‘Fiktion’ im Sinne der oben in Abschnitt 5 skizzierten ‘Typologie’ narrativer Texte. Der Beitrag von Dina Salama, Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit: Konrads von Würzburg ‘Der Welt Lohn’ und ‘Engelhard’ untersucht zwei unterschiedliche Visions-Erzählungen aus dem 13. Jh. Imagination ist hier doppelt im Spiel: zum einen auf der diegetischen Ebene durch das Verhandeln der visionären Erlebnisse; vor allem aber nähert sich Dina Salama der Narration in diesen Texten mit dem auf Roland Barthes zurückgehenden (und von Gerhard Neumann aufgenommenen) Begriff der Szenographie, womit die Imagination des Textrezipienten ins Spiel kommt, was durch die narrativen Dispositive der beiden Texte auch jeweils stark bedient wird. Für beide, Rezipient und Protagonisten, gilt, dass die jeweils gezeichneten visionären Welten (die zugewandte Frontpartie der Frau Welt ebenso wie die das Traum-Setting im Engelhard) und die jeweiligen idealen Dialoge eine auf vorgängigen Imaginarien (Minnedichtung im einen Fall, christlich-eschatologische Motivik im anderen) beruhende Konstruktion sind, die auf dem Weg des Blending (Fauconnier/ Turner) mit anderen diskursiven Motiven angereichert wird. In beiden Texten wird eine Opposition zwischen einer (überirdisch-)schönen Idealwelt und abstoßend-ekelerregender Morbidität inszeniert; hier allerdings mit unterschiedlichen Wahrheitszuschreibungen: Während im Fall von Frau Welt die Dichotomie zwischen Sein und Schein Anlass für einen fast platonisch zu nennenden Welt- und Kunstpessimismus ist und somit insgesamt zum Erkennen einer ‘höheren’ Wahrheit in der allegorischen Vision führt, erfährt im Engelhard die Engelserscheinung unmittelbar die Qualifikation als ‘höhere Wahrheit’. In beiden Fällen hat das imaginierte Geschehen einen handlungsorientierenden Charakter für Protagonisten und Rezipienten. Auch der Beitrag von Michael Neecke zu Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung: Imagination und Virtualität in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts behandelt Visionserzählungen; anders als bei Konrad aber, wo die Frage der Wahrheit von vorneherein nur das allegorisch Gemeinte betrifft, ist im 14. Jh. die Authentizität der Vision ein Problem; während die Zeitgenoss(inn)en in ihrem inquisitorischen Zweifel an der visionären Erfahrung sich zunehmend auf “das äußerlich Sichtbare” fixieren, diskutiert die moderne Kritik, inwieweit in der mystischen Literatur der literarische Topos an die Stelle der authentischen mystischen Erfahrung tritt, bzw. mystische Erfahrung überhaupt nur als literarischer Gegenstand aufzufassen ist, bzw. welchen Status eine sinnliche mystische Erfahrung als Konstrukt hat. Die Reduktion mystischer Erfahrung auf Sichtbares, an welcher der Erfahrungsverlust festgemacht wird, veranlasst Neecke zu einer grundsätzlichen Diskussion der Frage, inwieweit die Substitution des Erlebten durch das Sichtbare, das Bildliche, als ein zivilisatorischer Prozess, nämlich als Affektverschiebung im Sinne von Norbert Elias aufzufassen ist. Nach einem Exkurs auf das Beispiel der Pornographie kommt Neecke auf den Einleitung 17 Präzeptor und Beichtvater der dominikanischen Schwestern, Heinrich Seuse zu sprechen. Dessen eigene Vita ist zu lesen als Anleitung, von exzessiven Askesepraktiken zu einer höheren gottesbezogeneren Leidensfähigkeit und einer “bildlosen Gotteserkenntnis” vorzudringen; allerdings ist dieses “Hinaussteigen” über das Sinnliche nur möglich um den Preis, wiederum auf Bildhaftes zurückzugreifen, das visuelle Bild mittels eines literarisch-sprachlichen Bildes zu überwinden. Es bleibt, wie Neecke abschließend feststellt, aus konstruktivistischer Perspektive ein Moment der “Unreinheit”. Einen Sprung in der Zeit, nicht aber in der epistemologischen Frage nach dem Wahrheitsgehalt in der Narration über-realen Erlebens stellt der letzte Aufsatz des Bandes, der Beitrag von Dalia Salama, Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers T RAUMNOVELLE dar. Die narrative Pragmatik der Traumnovelle liegt, wie Dalia Salama eingehend zeigt, zum einen in der fast provokanten Mischung von hochgradigem ‘Realismus’ (Bezüge zum Wien der 20er Jahre bei freilich fiktionalen Personen) und phantastischem Geschehen. Aber auch inhaltlich gehört die Darstellung des imaginativen Prozesses ganz in die Episteme ihrer Zeit: Anders als im Mittelalter, wo der Traum als von außen gegebene anagogische Erfahrung und Zugang zur höheren Wahrheit (die es allerdings zu deuten gilt) erscheint, anders auch als im Barock, wo der Traum als mise en abîme, als Vexierspiegel, als trompe-l’œil die Aufmerksamkeit auf den Status der Realität lenken will und als memento von deren Nichtigkeit fungiert, lässt Schnitzlers Text, wie Dalia Salama ebenfalls eindrücklich vorführt, die Ambiguität zwischen Realität und Traum offen. Die Traumnovelle steht damit in der Tradition der Novellenliteratur des 19. Jh., wo Traum und Wahn die Schlupflöcher für das Phantastische sind im szientistischen Kontext des in Abschnitt 1 benannten materialistischen Weltbildes, wo also die Psychologie für Erklärung des Über-Realen herhalten muss. Allerdings ist es in diesem Fall eher eine ‘tiefere’ als eine ‘höhere’ Wahrheit, die der Traum transportiert. Wie Dalia Salama ausführt, repräsentiert die Traumnovelle fast idealtypisch die Epistemologie der Wiener Tiefenpsychologie, wonach im onirischen Geschehen das unausgelebte Begehren sich eine Bahn an die Oberfläche des Erlebens bricht. Das konstruktive Potential dieses Begehrens zeigt Dalia Salama eindrücklich in einem minutiösen Durchlauf durch die Novelle, in dem sie schildert, wie sich in der Phantasie des Protagonisten Fridolin reale Begegnungen mit - durchaus wechselnden und widersprüchlichen - Wunschbildern, aber auch mit traditionellen Typisierungen bzw. Zuschreibungen von Frauengestalten und Männerrollen vermischen und überlagern; wobei auch die der Tiefenpsychologie wichtige kathartisch-bewältigende Erzählhandlung nicht fehlt. Bei aller Vielfalt der angesprochenen Themen und Perspektiven der Beiträge zum vorliegenden Band ergibt sich somit ein sehr klares und einfaches Fazit für die eingangs dieser Einleitung aufgeworfene Frage, die auch der Sektionsausschreibung zugrunde lag: Die Trennung zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung, zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen realem Erleben und Einbildung mag als heuristische Unterscheidung unumgänglich sein; die nähere Betrachtung zeigt, dass die conditio humana darin besteht, hier gerade KEINE Abgrenzung zuzulassen. Imagination ist ein unerlässlicher Bestandteil aller kognitiven und kommunikativen Prozesse, auf individualpsychologischer ebenso wie auf kollektivsozialer Ebene. Daniel Jacob 18 Bibliographie Appel, Markus, Koch, Erik, Schreier, Margrit & Groeben, Norbert 2002: “Aspekte des Leseerlebens: Skalenentwicklung”, in: Zeitschrift für Medienpsychologie, 14.4 (2002): 149-154. 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KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Sabine Pohl Albert Schweitzers Ethik als Kulturphilosophie Kann die Ehrfurcht vor dem Leben Maßstab einer Bioethik sein Tübinger Studien zur Ethik - Tübingen Studies in Ethics 326 Seiten €[D] 59,00 / SFR 76,00 ISBN 978-3-7720-8548-2 Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist vielen Menschen als Schlagwort bekannt. Obwohl Schweitzers Werk in der philosophischen Forschung eher eine Randstellung einnimmt, haben sich insbesondere in der bioethischen Debatte der letzten Jahre immer wieder Autoren mit seinem Ethikentwurf auseinandergesetzt. Hierbei war zu beobachten, dass eine grundlegende Analyse von Schweitzers Gedankengebäude und seiner Terminologie nicht vorgenommen wurde. Dies führte besonders in der Rezeption von Schweitzers Schriften zu Missdeutungen und Interpretationen, die bei einer genauen Analyse nicht aufrechterhalten werden können. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, dieses Forschungsdefizit zu beseitigen, indem Schweitzers Ethik analysiert, interpretiert und authentisch rekonstruiert wird. Die Leitfrage der Untersuchung ist, ob eine Anwendung der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben auf bioethische Probleme möglich ist und wenn ja, wie. Dabei werden aus der Ethik Schweitzers Anwendungskriterien herausgearbeitet, die auf ein konkretes Beispiel aus der Biotechnologie angewendet werden. 2014, 1 Die gesamte Passage lautet: “Du siehst, lieber Reinhold, daß ich noch immer derselbe bin, durchaus ein Heide mit dem Verstande, mit dem ganzen Gemüthe ein Christ, schwimme ich zwischen zwei Wassern, die sich mir nicht vereinigen wollen so, daß sie gemeinschaftlich mich trügen; sondern wie das eine mich unaufhörlich hebt, so versenkt zugleich auch unaufhörlich mich das andere” (Jacobi 1817: 393). Schleiermacher greift die Metaphern der zwei Wasser und des Versenktwerdens auf (s. Fn. 3). 2 Tillich versteht die Grenze allerdings dialektischer, als es die Metapher selbst anmuten lässt: “Das ist das Dialektische der Existenz, daß jede ihrer Möglichkeiten durch sich selbst zu ihrer Grenze und über die Grenze hinaus zu ihrem Begrenzenden treibt” (Tillich 1962: 57). Bildlichkeit und Wissen Zur Funktion der Oszillation in Schleiermachers Dialektik Markus Firchow (Hamburg) Friedrich Schleiermacher (1768-1834) points to the concept of oscillation as a basic principle for the generation of knowledge, which is constituted by an interrelation of sensation and reason, as well as the individual image in perception and the general term in thinking. Within the knowledge process, the sensory image represents an individual factor, which is not resolvable in the field of general validity. The oscillation between image and concept generates a contingency within the notion of knowledge stemming from the individual and sensory subject and its particular place in the world. Considered in this way, the image - a metaphor for instance - represents a peculiar point of inconsistency in conceptual discourses. Die “Oszillation ist ja die allgemeine Form alles endlichen Daseins” (Schleiermacher 1818: 209), schreibt Friedrich Schleiermacher in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi hinsichtlich des Verhältnisses von Glauben und Wissen, dem er in seiner Doppelrolle als Theologe und Philosoph gleichermaßen gerecht zu werden versuchte. Konnte etwa Jacobi sich nur dann ungestört dem Philosophieren hingeben, wenn er “ein Heide mit dem Verstande” und “mit dem ganzen Gemüthe ein Christ” 1 (Jacobi 1817: 393) sei, so versucht Schleiermacher eine wechselseitige produktive Bestimmung beider Welten, die sich zwar unterscheiden, aber eben auch durchdringen. Wird in ähnlicher Weise Paul Tillich die eigene Existenz ‘auf der Grenze’ beschreiben (cf. Tillich 1962), so wählt Schleiermacher mit der Oszillation eine Metapher, die das Wechselverhältnis zweier aufeinander bezogener Pole zum Ausdruck bringt. Während die Grenze eine statische Differenz zweier Gebiete markiert - sodass der Grenzgänger zwar jederzeit das Terrain wechseln, sich aber eben auch nur jeweils auf einer Seite aufhalten kann -, 2 ermöglicht die Bewegungsmetaphorik eine eigentümliche Dynamik beider Seiten, die jedoch für das Subjekt Standschwierigkeiten mit sich bringt - wie es in der weiteren Bestimmung der genannten Oszillation bei Schleiermacher zum Ausdruck kommt: K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Markus Firchow 22 3 Die Rede von den zwei Wassern gewinnt erst durch das Gegenlesen der entsprechenden Passage des Briefes von Jacobi an Reinhold, der Schleiermacher in Kopie vorlag, ihren Sinn (s. Fn. 1). 4 “Der metaphorische Gebrauch von polarer Oszillation durchzieht fast das Ganze von Schleiermachers Schriften” (Clayton 1985: 905). 5 Es sei hier darauf verwiesen, dass in der Jacobi-Ausgabe von Rudolf Zoeppritz an entsprechender Stelle nicht vom Schwanken und Schweben, sondern zweimal vom Schweben die Rede ist (cf. Zoeppritz 1869: 142). Ob es sich um einen Druckfehler dieser Ausgabe oder um eine andere Brieffassung handelt, ist im Rahmen der Edition nicht nachvollziehbar. Erstaunlicherweise bezeugt der Quellenband Religionsphilosophie und spekulative Theologie an dieser Stelle eine weitere Variante: zweimal Schwanken (cf. Jaeschke 1994: 396). Martin Cordes, aus dessen Brief-Abdruck ich zitiere, verweist in seinem entsprechenden Aufsatz auf eine komplizierte Veröffentlichungsgeschichte dieses Briefes (cf. Cordes 1971). Eine textkritische Bearbeitung der o.g. Stelle ist im Rahmen dieser kurzen Abhandlung nicht möglich. Dies ist meine Art von Gleichgewicht in den beiden Wassern; sie ist freilich auch nichts anderes als ein Wechselweise von dem einen gehoben und von dem anderen versenkt werden […] und es giebt doch ein unmittelbares Bewußtsein, daß es nur die beiden Brennpunkte meiner eigenen Ellipse sind, aus denen dieses Schwanken hervorgeht, und ich habe in diesem Schweben die ganze Fülle meines irdischen Lebens (Schleiermacher 1818: 209). 3 Was Schleiermacher hier als Selbstbeschreibung anführt, ist zugleich Ausdruck der Grundstruktur seines Denkens, das von relativen Gegensätzen und ihrer wechselseitigen Verschränkung geprägt ist. 4 In seiner Dialektik wendet er die Figur der Oszillation auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand bzw. Organisation und Intellekt sowie Bild und Begriff an, um die Genese von Denken und Wissen aufzuzeigen. Von Interesse ist dabei die Rolle der Bildlichkeit. Es wird sich zeigen, dass das Bild eine genuine Widerständigkeit im Wissen repräsentiert, die dessen Unvollkommenheit gleichsam selbst präsent hält. Damit ist vor dem Hintergrund der Imagination jenes Verhältnis von individuell-sinnlicher Wahrnehmung und allgemein-sprachlicher Diskursivität im Blick, das die Fragestellung des vorliegenden Bandes leitet. 1 Oszillation und Wirklichkeit 1.1 Oszillation als kultursemiotische Kategorie Oszillationen sind Formen in Bewegung. Sie markieren eine Stabilität in der Flüchtigkeit von Ereignissen. Sie konstituieren bestimmte Unbestimmtheiten, die sich in mehrfacher Hinsicht verketten und dadurch rekursiv Halt gewinnen (Rustemeyer 2006: 11). Die Leistungsfähigkeit der physikalischen Metapher der Oszillation für epistemische Sachverhalte ist in ihrer Funktionalität begründet. Sie generiert eine gleichsam kontingente wie stabile Relation, deren je für sich unbestimmte Relate erst in der Wechselbeziehung zueinander Bestimmtheit erlangen. In seiner umfangreichen Studie Oszillationen diskutiert Dirk Rustemeyer diese Metapher unter ‘kultursemiotischen Perspektiven’. Zwar diskutiert er andernorts Schleiermachers Denkansatz vor dem Hintergrund von dessen Hermeneutik und Dialektik (cf. Rustemeyer 2001: 24f.), rekurriert im Blick auf die Metapher der Oszillation jedoch nicht auf diesen. Insofern dienen Rustemeyers Beobachtungen an dieser Stelle als Rekurs auf die Metapher selbst - die bei Schleiermacher selbst fehlt. Die Paradoxie der von Rustemeyer genannten ‘bestimmten Unbestimmtheit’ findet sich bei Schleiermacher etwa im Gebrauch der Metaphern des Schwankens und Schwebens. 5 Bildlichkeit und Wissen 23 6 So auch Rustemeyer im Blick auf Schleiermacher: “Hermeneutik etabliert sich als Methode für die unendliche Aufgabe, die Differenz des Sinns zur Identität zu bringen. Darin trifft sie sich mit der Dialektik, die das zerfallene Denken zur Einheit des Wissens befördert. Beide verlassen sich auf eine Gemeinsamkeit des Sinns, die durch die Komplementarität von Begriffen und Vorstellungen sowie durch die Struktur des Denkens als eines Prozessierens von Gegensätzen begründet ist. Die Einheit des Sinns basiert auf der Identität von Denken und Sein” (Rustemeyer 2001: 25). Während das Schwanken die Instabilität eines ‘Wanderns zwischen den Welten’ intendiert, verweist das Schweben hingegen auf eine Stabilität, die gerade ohne Bodenhaftung Ruhe und Bewegung in gleicher Weise zum Ausdruck bringt. Rustemeyers Rede von der Stabilität in der Flüchtigkeit und dem Halt in der Rekursivität bestimmt die Oszillation als eine Bewegung, die erst im Vollzug einer wechselseitigen Bezogenheit ihrer Pole Stabilität generiert. Es werden demnach nicht Entitäten vorausgesetzt, die dann sekundär in Beziehung gesetzt würden, sondern umgekehrt: Die Relation gibt Aufschluss über die Relate. Dieser Ansatz unterscheidet sich vom klassischen identitätslogischen Repräsentationsmodell, in dem Denken und Sein unter ontologischen Prämissen miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Eine “semiotische Reformulierung des Modells der Repräsentation” bedeutet in dieser Hinsicht: “[D]ie Figur der Identität wird durch diejenige der Oszillation abgelöst” (Rustemeyer 2006: 15; 12) - während hingegen bei Schleiermacher die Identität zumindest als transzendentale Voraussetzung bestehen bleibt; als ideeller Grund dafür, dass zwei Relate sich überhaupt aufeinander beziehen können. 6 Dieser Ansatz hat Folgen für den Begriff des Wissens, das nicht eindimensional über ein Entsprechungsverhältnis konstituiert wird, sondern im Kontext semiotischer Formbildungen eine ‘kontingente Eigenstruktur’ aufweist: Kontingenzen, die im klassischen Repräsentationsmodell stillgestellt werden müssen, erhalten nun eine produktive Funktion […]. Wissen beschreibt keine exklusive Repräsentation, sondern eine eingespielte, aber kontingente und stets dynamische Ordnung der Transformation zwischen Dingen, Perzeptionen, Gewohnheiten, Symbolisierungen und Operationen (Rustemeyer 2006: 42). Wissen ist in diesem Sinne keine Bestimmung ontologischer Ähnlichkeitsverhältnisse, sondern eine Dynamik von Zeichenordnungen, die “sich keiner adäquaten Entsprechung von Wissen und Sein […] verdanken” (Rustemeyer 2006: 45). Ersteres würde der gegebenen Wirklichkeit eine “zeitlose Ordnung der Homologie von Denken, Begriffen und Sein nach dem Modell der Repräsentation” (Rustemeyer 2006: 47) zugrunde legen, die Oszillation als Paradigma hingegen eine “symbolische Ordnung des Ein- und Ausschlusses sinnhafter Bestimmungen […]. Wissen, so verstanden, liefert weniger ein System der Repräsentation von Bestimmungselementen als eine operative Matrix sinnhafter Anschlußbildung durch die Präfiguration von Erwartungen” (Rustemeyer 2006: 51). Die Metapher der Oszillation bringt den kontingenten und prozessualen Charakter der Genese von Wissen zum Ausdruck - eine Konsequenz, die auch Schleiermacher in seiner Dialektik zum Programm erhebt. 1.2 Oszillation als Strukturprinzip in Schleiermachers Denken Im eingangs zitierten Brief an Jacobi verwendet Schleiermacher neben der Oszillation auch die Ellipse zur Beschreibung seines Lebens- und Wirklichkeitsverständnisses - ebenso wie Markus Firchow 24 7 Nicht nur Tillich greift zur Darstellung seines ‘theologischen Zirkels’ auf die Metapher der Ellipse mit ihren beiden Brennpunkten zurück (cf. Tillich 1958: 21), auch der Bibliotheksraum des Hamburger Warburg-Hauses ist aus gutem Grund in Form einer Ellipse gestaltet: Im Gespräch mit Ernst Cassirer erläutert Aby Warburg die zwei Pole der Ellipse als “Symbol des Menschen mit seiner polaren Struktur von Geist und Leben. Überall, wo Leben sei, zeige sich die Zweiheit der Pole” (zit. nach Michels 2007: 92); vgl. dazu auch: Kany (2011: 113). 8 Cf. Cassirer (1910). 9 Andreas Arndt verweist auf eine problematische Textwiedergabe der hier zitierten Kritischen Gesamtausgabe, da “die dort vorgenommene Konjektur - ‘Aneignen’ statt ‘Anneigen’ - […] den wissenschaftshistorischen Hintergrund der Schleiermacherschen Konstruktion, die im Gefolge der Newtonschen Gravitationstheorie auf das Zusammenspiel von Attraktivkraft - ‘Anneigen’ - und Repulsivkraft - ‘Abstoßen’ - abhebt [verwischt]” (Arndt 1996: 1146). später Paul Tillich und Aby Warburg. 7 Obwohl beide Metaphern es mit polaren Wechselverhältnissen zu tun haben, sind sie nicht äquivalent zu gebrauchen. Eine Ellipse bringt mit ihren beiden Brennpunkten zwar ebenso eine wechselseitige Bezogenheit zum Ausdruck, ist jedoch statischer gefasst. Die eigentümliche Dynamik der Oszillation - vor allem, was den (idealen) Durchgangspunkt zwischen den beiden Polen betrifft - scheint als Metapher für den hier verhandelten Sachverhalt leistungsstärker zu sein, zumal Schleiermacher selbst bevorzugt auf die Oszillation als grundlegendes Strukturprinzip zurückgreift. Die Voraussetzung eines oszillierenden Wirklichkeitsverständnisses ist die Annahme zweier wechselseitig aufeinander einwirkender Kräfte, die als je isolierte Größen gar nicht in Betracht kommen können, sondern erst in ihrer Bestimmung durch die je andere beschreibbar sind. Darin ist bereits intendiert, was sich philosophiegeschichtlich später als Übergang vom Substanzzum Funktionsbegriff beschreiben lässt. 8 Bereits in Schleiermachers Frühschrift Über die Religion findet sich dieses Prinzip: Die ganze körperliche Welt […] erscheint […] als ein ewig fortgesetztes Spiel entgegengesetzter Kräfte. Jedes Leben ist nur das Resultat eines beständiges Aneignens 9 und Abstoßens, jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält (Schleiermacher 1799: 191). Was hier als Lebensprinzip beschrieben wird, ist auch im Denken gesetzt, nämlich als ein je “zyklische[s] Insichzurücklaufen der Denkbewegung” (cf. Reble 1907: 266f.). Das auf Dauer gestellte Wechselverhältnis bringt zum Ausdruck, dass wir es mit einer im Endlichen unabschließbaren Approximation zu tun haben, der die Idee einer Einheitsfigur im Unendlichen zugrunde liegt. Dieser transzendente Einheitsgrund, der im Gefühl bzw. im unmittelbaren Selbstbewusstsein seinen entsprechenden anthropologischen Ankerpunkt hat, ist für Schleiermachers Denken eine strukturelle und formale Grundprämisse. Dass diese Einheitsfigur keine Verwirklichung in der Zeit finden kann, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Bestimmtheit der relativen Gegensätze, die im Endlichen gerade keine Synthese bilden können, sondern diese als Grund und Grenze der Möglichkeit von Denken und Wissen voraussetzen. Im Vergleich zu Hegel ist Schleiermachers Dialektik somit weitaus harmonistischer gehalten: Die beiden Größen “bilden gleichsam mehr sich gegenüberstehende Potenzen als wirkliche und echte Polaritäten” (Reble 1907: 264). Die Dynamik des Lebendigen ist eine permanente Spannung zweier Kräfte, die sich ebenso anziehen wie abstoßen. In diesem Sinne handelt es sich auch niemals um ein mechanisches Gleichgewicht von Kräften, sondern um ein Übergewicht mal der einen und mal der anderen Seite. Ein Nullpunkt dieser Kräfte ist ein real ebenso unerreichbarer Moment, wie der absolute Nullpunkt für die Thermodynamik Bildlichkeit und Wissen 25 10 Der Nullpunkt ist der Tiefstwert der Kelvin-Skala (-273,15 ° Celsius). Die Thermodynamik entspricht der Teilchenbewegung, so dass sich im absoluten Nullpunkt gar nichts mehr bewegte. Dieser kann real jedoch nie erreicht werden, sondern es kann sich ihm nur beliebig angenähert werden (3. Hauptsatz der Thermodynamik). In ähnlicher Weise versteht Schleiermacher die Oszillation als eine Bewegung, die einen idealen Identitätspunkt voraussetzt, zu dem man sich nur approximativ bzw. in unendlicher Annäherung verhalten kann. Sowohl für das Wissen und die Anschauung als “vollkommenste mittlere Form” zwischen Wahrnehmung und Denken als auch für die “Vollendung der Erlösung” (Schleiermacher 1821/ 22: 66) auf religiöser Seite gilt, dass “das absolute Gleichgewicht nirgends gegeben ist” (Schleiermacher 1818/ 19: 153). 11 Schleiermacher gebraucht ‘transzendent’ und ‘transzendental’ synonym, was mit der genuinen Doppelstruktur des unmittelbaren Selbstbewusstseins zusammenhängt; vgl. dazu Schmidt (2005: 146f.). unerreichbar ist. 10 Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist dementsprechend ‘Null’, weil es als solches nicht zeitlich ist, sondern ist als sinnliches Bewusstsein immer schon jenseits des Nullpunktes; “könnte es wieder Null werden, so verschwände uns alle Zeit, denn sie ist der allgemeine Träger aller Functionen” (Schleiermacher 1822 b: 568). Nicht nur an diesem Beispiel zeigt sich, wie stark Schleiermachers Denken an mathematischen und physikalischen Figuren orientiert ist (cf. Dittmer 2001: 180ff.). Für unsere Frage nach der Funktion des Bildes in der Wahrnehmung und im Prozess des Wissens folgt daraus zunächst eine methodische Anwendung der Oszillation auf das Verhältnis von Denken und Sein, das Schleiermacher wie Fichte als Verhältnis von Denken und Wollen im Anschluss an die Kantische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft weiterbildet - jedoch mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Schleiermacher fokussiert Denken und Wollen im Horizont ihrer Darstellungsweisen: So wie das Reden die Entäußerung des Denkens ist, so ist es das Tun für das Wollen. Der Übergangspunkt dieser beiden Funktionen ist das Gefühl, dem in Schleiermachers Konzeption eine Schlüsselfunktion zukommt. 1.2.1 Das Gefühl und der transzendente Grund Für Schleiermacher ist eine Oszillation von Denken und Wollen überhaupt nur deshalb möglich, weil beide einen transzendentalen Grund 11 voraussetzen; eine ideale Indifferenz, die beide Relate miteinander ins Spiel setzt und im Spiel hält: “Dem gemäß nun haben wir auch den transcendentalen Grund nur in der relativen Identität des Denkens und Wollens nemlich im Gefühl” (Schleiermacher 1814/ 15: 142). Dieses Gefühl verweist auf das Personenzentrum, in dem Denken und Sein immer schon zur Einheit gebracht sind: “Die Identität des Seins und Denkens tragen wir aber in uns selbst, wir selbst sind Sein und Denken, das denkende Sein und das seiende Denken” (Schleiermacher 1822 b: 553). Weil der Mensch immer schon beides ist, kann er sich auch zu dem verhalten, was er nicht ist - im Verhältnis von Denken und Wollen: Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. Also: Sofern nicht mehr das Sein der Dinge in uns gesezt wird wird unser Sein in die Dinge gesezt. Aber unser Sein ist das sezende und dieses bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein als sezend in der Indifferenz beider Formen (Schleiermacher 1822 a: 266). Markus Firchow 26 Der doppelte Verweis ‘auf unsere Weise’ unterstreicht den Anschluss an das kantische Paradigma, die Dinge nur in der Weise zur Sprache zu bringen, wie sie uns affizieren und wie wir sie demnach in der Vernunft ‘haben’. Das, was im Denken und Sein gleichsam als besagter Nullpunkt alle Prozesse begleitet, ist das reine Selbst. Dieses Selbst ist zwar keine gegenständliche Entität, als regulatives Prinzip für das Bewusstsein jedoch unhintergehbar, weil es dessen Identität konstituiert. Als Movens für das nach Indifferenz in der Differenz strebende Denken ist der Einheitsgrund sowohl transzendental als auch transzendent verfasst, indem es den Einheitsgrund der eigenen Bewusstseinstätigkeit auch als Seinsgrund voraussetzt, der als transzendenter Grund freilich unbestimmt sein muss. Er kann weder von der Seite des Denkens noch des Wollens erreicht werden, sondern nur “durch die Identität des Denkens und Wollens erkannt werden” (Schleiermacher 1822 b: 563). Diese Identität selbst ist als Übergangspunkt nur im und als Gefühl präsent: Der Übergang beider Funktionen in einander muß ein solches Mitgesetztsein eines anderen ausschließen, als das reine, unmittelbare Selbstbewußtsein gesetzt sein. Dies wollen wir als eine wirklich erfüllte Zeit durch den Ausdruck Gefühl bezeichnen (Schleiermacher 1822 b: 566). Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist zu unterscheiden vom mittelbaren bzw. “reflectirten Selbstbewußtsein = Ich” (Schleiermacher 1822 a: 266). Der Gefühlsbegriff ist in Bezug auf ersteres vom affektiven Charakter des letzteren zu unterscheiden. Es handelt sich bei ihm um ein reines Selbstgefühl, das keinen Gegenstand hat - auch nicht das empirische Ich - und somit jedem begrifflich reflektierten Selbstverhältnis vorausgeht. Die Verwiesenheit des Gefühls auf den transzendenten Grund ist für den Übergang zu Schleiermachers Religionsverständnis wesentlich, weil sich dieser unbestimmte Grund als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl im Bewusstsein auf seine Alterität hin transzendiert, von der sich dieses als gesetzt erfährt. Dieses Gefühl mit dem “Ausdrukk Gott” zu unterlegen ist als religiöser Akt gleichsam ein “Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls” (Schleiermacher 1830/ 31: 39). “Diese transcendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins nun ist die religiöse Seite desselben oder das religiöse Gefühl, und in diesem also ist der transcendente Grund oder das höchste Wesen selbst repräsentirt” (Schleiermacher 1822 a: 267). Das Gefühl ist somit der Umschlags- und Kulminationspunkt zwischen Philosophie und Religion - werkgeschichtlich betrachtet: zwischen Dialektik und Glaubenslehre (cf. Schleiermacher 1822 b: 573ff.). Für unser Unternehmen reicht dieser kurze Hinweis, um die Relevanz des Gefühlsbegriffs für das Denken Schleiermachers deutlich zu machen. Als Übergang von Sinnlichkeit und Verstand ist er für das Verständnis dessen, was mit der Metapher der Oszillation zum Ausdruck kommen soll, ebenso wesentlich. 1.2.2 Oszillation und Dialektik Unser Verhältnis zur Welt wird bei Schleiermacher als Wechselspiel von organischer und intellektueller Tätigkeit verstanden. Wahrnehmung und Wissen sind nur Teilgebiete, die von dieser Grundrelation beherrscht werden. Was bereits als Denken und Wollen und als Ein- und Ausatmen in Schleiermachers Reden zur Sprache gekommen ist, findet sich in der Ethik als symbolisierendes und organisierendes Handeln. Die Wirklichkeit ist bei Schleiermacher grundlegend polar konstituiert; die Begriffe und die Ebenen wechseln, das Prinzip bleibt stets dasselbe: Die Relate sind nur in der Relation und stehen in einem asymmetrischen Wechselverhältnis, bei dem stets eines der beiden ein Übergewicht hat. Dieses stets einander Bildlichkeit und Wissen 27 12 Was ebenso für die Dualität von Idealität und Realität gilt: “Der ursprüngliche Gegensaz kann keine gänzliche Trennung des idealen und realen sein, sondern nur eine relative” (Schleiermacher 1811: 22). ablösende Übergewicht ist Voraussetzung von Bewegung, dessen Nullpunkt zugleich Erstarrung wäre - womit Zeit und Leben aufhörten. In der Wahrnehmung haben wir es mit Alteritäten zu tun, zu denen wir uns in doppelter Weise verhalten: rezeptiv, als Einwirkung dieses Gegebenen auf uns, und spontan, als unsere Einwirkung auf das Gegebene. Die organisierende Tätigkeit ist die sinnlich-konkrete Seite und die intellektuelle Tätigkeit die abstrakt-allgemeine Seite des menschlichen Vermögens: “Was durch die Organisation entsteht, ist der Stoff zum Denken; was die Vernunft hinzuthut, ist die Form des Denkens” (Schleiermacher 1822 b: 458). Die Unterscheidung von Form und Inhalt ist hier genauso wenig ein absoluter Gegensatz wie die sie generierenden Tätigkeiten: “Den Gegensatz zwischen Receptivität und Spontaneität können wir nur als einen relativen, nicht als einen absoluten denken” (Schleiermacher 1822 b: 542) 12 . Form und Inhalt unterscheiden sich lediglich hinsichtlich ihres Übergewichtes in einer der beiden Tätigkeiten. Dies ist für die Bestimmung des Bildes und der sich daran anschließenden Frage nach dem Wissen von entscheidender Bedeutung. Die sinnliche Konkretion ist immer eine besondere, während die intellektuelle Abstraktion eine allgemeine ist. Für die Gesamtkonstitution des Denkens und des Wissens ist es wichtig, dieses Gefälle bzw. diese Grundzuordnung im Blick zu behalten. 2 Das einzelne und das allgemeine Bild: Schematismus und Einbildung Schleiermacher unterscheidet den Polaritäten entsprechend zwei Formen: Bild und Begriff. Das Bild ist grundlegend sinnlich bestimmt und gehört dem Bereich der organischen Tätigkeit an, während der Begriff grundlegend allgemein bestimmt ist und somit dem Bereich der intellektuellen Funktion zugeordnet ist: Dementsprechend versteht Schleiermacher das Bild vorwiegend als Medium der Innerlichkeit, während die Sprache das Medium der Entäußerung ist: Zwischen dem allgemeinen Schema des Begriffs und dem Worte, welche beide Zeichen sind, ist nun also die Differenz, daß das Schema überwiegend passiv, das Wort überwiegend activ ist […]. Eine andere Differenz ist diese, […] daß nämlich das innere Bild für sich immer ein Innerliches bleibt, und das Wort durchaus immer ein Äußerliches ist […]. Es liegt also im Wesen des Wortes, daß es heraus will, und das thut es um gehört zu werden (Schleiermacher 1818/ 19: 304). Dies wiederum hängt mit Schleiermachers Verständnis von Geselligkeit zusammen, die grundlegend sprachlich konstituiert ist, denn “erst die Sprache gibt die Gemeinschaftlichkeit” (Schleiermacher 1818/ 19: 305). Nun wäre es jedoch ein Missverständnis, wollte man die Genese des Begriffes als Entäußerung von Innerlichkeit als einlinigen Abstraktionsprozess verstehen, der die sinnlichen Elemente zunehmend abstreifte, wie es etwa Hegel vorschwebt: Das reproduzierende Gedächtnis hat es für ihn “nicht mehr mit dem Bilde zu tun […], sondern mit einem Dasein, welches das Produkt der Intelligenz selbst ist” (Hegel 1830: 278f.). Für Schleiermacher ist der Begriff dagegen Repräsentant einer auf Dauer gestellten Relation von Sinnlichkeit und Verstand bzw. eine “schwebende Identität des Allgemeinen und Besonderen” (Schleiermacher 1814/ 15: 168). Mit der erneuten Verwendung der Metapher Markus Firchow 28 13 Sarah Schmidt hat bereits auf die Bedeutung des Schematismus in Schleiermachers Dialektik hingewiesen, vor allem im Blick auf seine “Aufwertung des bildlichen Denkens” (Schmidt 2006: 90) im Verhältnis zu Kant. Zudem arbeitet sie heraus, dass bei aller Konzentration auf das Bild eine Auseinandersetzung des Bildes als Darstellungsform bei Schleiermacher fehlt bzw. nur zurückhaltend angedeutet wird (cf. Schmidt 2006: 89). Meine These ist, dass Schleiermacher methodisch konsequent die Disziplinen in ihren Darstellungsweisen unterscheidet. So wie die Theologie es mit der “zerlegende[n] Betrachtung der ursprünglichen frommen Gemüthszustände” (Schleiermacher 1821/ 22: 16) zu tun hat (im Bewusstsein der Inadäquatheit dieses Unternehmens), so hat es die Ästhetik mit der besonnenen Entladung der Urbildlichkeit zu tun, die als solche nur in der sinnlichen Darstellung ist (cf. Schleiermacher 1819: 11; 14; 20; 28). des Schwebens wird darauf verwiesen, dass alle fixierten Zeichen eine Vermittlungsfunktion von Sinnlichkeit und Verstand haben, die sich weder auf der Seite der Sinnlichkeit noch des Verstandes verorten lassen. Durch den Schematismus behält der Begriff seine sinnliche Seite - nämlich den Charakter des Besonderen, also des Sinnlich-Bildlichen. Seine grundlegende Funktion besteht jedoch darin, dieses Besondere als Allgemeines, als ein fixiertes Zeichen zur Darstellung zu bringen und damit eine relative Selbstständigkeit in Kommunikationsprozessen zu ermöglichen. Ohne Allgemeines blieben die Bilder immer an ihren konkreten Ort in der Welt gebunden und ohne das Besondere hätten die Begriffe ihren Ort in der Welt verloren. Dieser vermittelnde Übergang zwischen Sinnlichkeit und Verstand wird - wie es der Terminus bereits nahelegt - in Anlehnung an Kant durch das Schema geleistet. Indem Schleiermacher äquivalent vom allgemeinen Bild sprechen kann, kommt auch hier zum Vorschein, was den Begriff auszeichnet; nämlich ein ‘individuelles Allgemeines’ (cf. Frank 1985: 196) zu sein. Das allgemeine Bild ist kein sinnliches Bild mehr in dem Sinne, dass es ein bestimmtes Objekt in der Welt repräsentiert bzw. Abbild eines konkreten Gegenstandes ist, sondern sich bereits im Wechselspiel von Organisation und Vernunft von diesem Ort losgelöst hat und auf dem Wege ist ein Begriff zu werden: Das Bild wird “in die Sprache übertragen, das Wort zu einem Zeichen dafür fixirt” (Schleiermacher 1831: 732). Dennoch - und das unterstreicht den genannten Unterschied zu Hegel - verfügen wir über keinen Begriff, “dem nicht ein sinnliches Bild, ein Schema entspräche” (Schleiermacher 1818/ 19: 287). Hier zeigt sich bei Schleiermacher eine gewisse terminologische Unschärfe, indem er sinnliches Bild und Schema äquivalent gebraucht. Es wäre jedoch ein Missverständnis, wollte man meinen, sinnliches und einzelnes Bild wären identisch oder nur graduell unterschieden 13 , denn der wesentliche Unterschied liegt in der Funktion und in der Frage der Darstellbarkeit (vergleichbar mit dem Urbild in Schleiermachers Kunsttheorie). Dies soll im Folgenden deutlich werden. Das Zusammenspiel von organischer und intellektueller Tätigkeit ist an die Vermittlungsleistung des Schemas gekoppelt. Die reine unvermischte Sinnlichkeit hätte es nur mit einer chaotischen Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken zu tun - was freilich nicht möglich ist, da jeder Akt einer ersten Formgebung, und sei sie noch so primitiv, bereits ein Handeln der Vernunft in der Organisation, Bilder als innere Bilder zu generieren, ist. Es gibt keine rein passive Einbildung, sondern lediglich ein Maximum der organischen Tätigkeit: Eine sinnliche Unmittelbarkeit ist ausgeschlossen, da bereits der erste sinnliche Eindruck schematisiert ist: “Eine einzelne Gestalt als gegebene Erscheinung kommt nicht in den Sinn ohne ihre allgemeinen Schemata, und das Schema nicht ohne einzelne Gestaltung; beides wird gleichzeitig im oscillirenden Verfahren” (Schleiermacher 1814/ 15: 171). Der Verweis auf die Oszillation schließt aus, das allgemeine Bild gegenüber dem einzelnen als etwas Sekundäres zu ver- Bildlichkeit und Wissen 29 14 “Der gesammte Proceß der Hineinbildung der allgemeinen Bilder in den Sinn und der Beziehung der einzelnen Bilder darauf ist das Gebiet der gemeinen Erkenntnis d.h. der Erfahrung” (Schleiermacher 1822 b: 620). stehen. Vielmehr wird zum Ausdruck gebracht, dass im Wahrnehmungsprozess sich beide Grundtätigkeiten immer schon wechselseitig voraussetzen, weshalb “jenes Bild […] mit dem Begriff selbst zugleich und in Einem Moment da” (Schleiermacher 1814/ 15: 172) ist. Die vermittelnde Funktion des Schemas zeigt sich auch darin, dass Schleiermacher es nicht nur als allgemeines Bild, sondern auch als sinnliche Seite des Begriffs bezeichnet. Das Schema ist Vermittlungs- und Übergangspunkt der Allgemeinheit des Bildes und der Sinnlichkeit des Begriffs. Die als Oszillation vorgestellte Simultaneität von Bild und Begriff im Schema ist strukturell auch im Verhältnis von sinnlichem und allgemeinem Bild vorausgesetzt. Die rezeptive Einbildungskraft ist keine sekundäre Kombination sinnlicher Einzelbilder: Viele haben gemeint: das allgemeine Bild entstehe erst, nachdem man eine Menge einzelner Bilder der Art gehabt habe, es sei also bloß das Zusammenfassen der einzelnen Bilder, das Residuum aus der öftern Wiederholung der einzelnen Bilder. Das ist ganz falsch, weil das einzelne Bild sich nicht im Gedächtniß fixirt ohne daß es Bewußtsein geworden ist, und Bewußtsein wird es nicht ohne jenes allgemeine Bild […]. Das Bild also, das Schema des Begriffs ist, ist nicht Wiederholung des einzelnen Bildes, sondern es entsteht nur auf Veranlassung des einzelnen Bildes (Schleiermacher 1818/ 19: 288). Das intellektuelle Vermögen besteht somit gerade nicht darin, nach einer bestimmten Anzahl bildhafter Sinneseindrücke Gemeinsamkeiten festzustellen, aus denen sich ein Schema und hernach ein Begriff basteln ließe. Die Fähigkeit des Intellekts zeigt sich vielmehr darin, bereits in einem allerersten Bild eine allgemeine Form zu erkennen, die er auf Folgeeindrücke anwenden kann. In jedem sinnlichen Einzelbild - bei Schleiermacher im Beispiel eines Turmes veranschaulicht - ist “doch gleich ein Bild der Art” mitgesetzt (Schleiermacher 1818/ 19: 289; cf. 1814/ 15: 172f.). Dieses Mitgesetztsein des Schemas im Bild ist weder Identität noch sekundäres Element, sondern - und hier greift Schleiermacher wiederum auf die Figur der Oszillation zurück - eine wechselseitige Bedingtheit: [I]n dem gesetzten Fall [sc. des Turmes] ist das einzelne Bild allerdings das früher Vorhandene, und das allgemeine Bild, das Schema wird erst gesetzt, indem die intellectuelle Function das einzene Bild ergreift, allein genauer betrachtet müssen wir wieder sagen: das einzelne Bild ist nicht vorher in seiner ganzen Bestimmtheit aufgenommen, und dann erst erzeugt sich das allgemeine Bild, sondern im Bewußtsein entsteht beides zugleich, d.h. in einer Oscillation, in der beständigen Richtung auf das Einzelne und das Allgemeine zusammen, so daß momentan bald das eine bald das andere früher erscheint. So scheint es also als zufällig, daß wir das einzelne Bild im Werden als vorangehend setzen (Schleiermacher 1818/ 19: 289). Wollte man für diesen Vorgang den klassischen Begriff der Einbildungskraft verwenden - was Schleiermacher selbst nur zurückhaltend tut -, müsste man von einer doppelten Einbildung sprechen bzw. von einer Verschränkung von rezeptiver und produktiver Einbildungskraft im Schema. Es ist nicht allein die organische Tätigkeit, die der Vernunft gewissermaßen äußere Eindrücke einbildet, sondern ebenso die Vernunft, die dem Sinn “die allgemeinen Begriffe für jede Form einbilden will, und jedes einzelne Bild ist ein Theil der Operation, daß die Vernunft die allgemeinen Begriffe einbildet” (Schleiermacher 1818/ 19: 288). 14 Der wesentliche Unterschied zwischen einzelnem und allgemeinem Bild ist einzig in ihrer Funktion im Wahrnehmungsprozess und der Wissensbildung begründet: “Das allgemeine Bild Markus Firchow 30 ist das einzelne Bild selbst, aber in der Verschiebbarkeit gedacht” (Schleiermacher 1818/ 19: 289). Im Schema wird das Bild von seinem konkreten Ort in der Welt losgelöst und erlangt dadurch repräsentativen Charakter: Es kann als Allgemeines auch für etwas anderes stehen. Gänzlich ausgebildet ist dies jedoch erst dann, wenn das Bild im Begriff zu einem Zeichen fixiert wird. Das Verschiebbare im Bild ist das “sich immer GleichBleibende”, nämlich “das Allgemeine im Bilde” (Schleiermacher 1822 b: 617). Der Unterschied macht sich zudem darin bemerkbar, dass der Status der Allgemeinheit einen Verlust an Bestimmtheit mit sich führt, was im Folgenden die Rolle des Bildes in der Konstitution von Wissen verdeutlichen soll. 3 Zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit: Zur Funktion des Bildes in der Konstitution von Wissen Das bislang Dargestellte ist in der Konzeption der Dialektik nur ein methodischer Zwischenschritt - geht es Schleiermacher hier doch vornehmlich um “den innern Zusammenhang alles Wissens” (Schleiermacher 1814/ 15: 75). Denken und Wissen unterscheiden sich folgendermaßen: “Jedes Wissen ist ein Denken, aber nicht jedes Denken ist ein Wissen” (Schleiermacher 1814/ 15: 90). Die Dialektik ist in diesem Sinne das Unternehmen einer Rekonstruktion des Denkens auf dem Wege, ein Wissen zu werden, bzw. ist selbst “Ausdruck des inneren Werdeganges des reinen Denkens” (Pohl 1954/ 55: 303). Das Grundmovens des Denkens ist das Wissenwollen, das “allem Denken vorhergeht” (Schleiermacher 1831, 731). Es gibt nun zwei Voraussetzungen, die ein Wissen überhaupt erst zum Wissen machen: ein allgemeiner gleichförmiger Prozess der Generierung von Wissen in allen denkenden Subjekten und die klassische Übereinstimmung von Denken und Gedachtem: “Dasjenige Denken ist ein Wissen, welches a. […] von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde; und welches b. vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend” (Schleiermacher 1814/ 15: 90). 3.1 Vom individuellen Denken zum allgemeinen Wissen Zunächst eine terminologische Bemerkung im Verhältnis zu Kant: Was in dessen Erkenntnistheorie die Anschauung leistet, ist bei Schleiermacher mit dem Begriff der Wahrnehmung belegt. Sie zeichnet sich durch ein Übergewicht der organischen Funktion aus, während das Übergewicht der intellektuellen Funktion ein Denken im engeren Sinne ist. (Denken im weitesten Sinn bezeichnet den Gesamtvorgang des Denkens.) Den Begriff der Anschauung verwendet Schleiermacher dagegen zur Bestimmung des relativen Gleichgewichtes beider Seiten, ein Gleichgewicht, zu dem sich das Denken nur approximativ verhalten kann bzw. das ein (idealer) Mittelpunkt des Zusammenspiels von Wahrnehmung und Denken ist: “Diese mittlere Form ist nur als werdend in der Oscillation der beiden ersten” (Schleiermacher 1814/ 15: 96). Ein vollkommenes Gleichgewicht bestünde in der Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft bzw. von Besonderem und Allgemeinem, was gleichsam ein absolutes, vollkommenes Wissen wäre. Ein solches ist in den innerzeitlichen Bezügen jedoch unmöglich. Dennoch fungiert es im Sinne eines Postulates als Annahme einer Idealität des absoluten Wissens, das jedem Denken und Wissen intentional im Wissenwollen zugrunde- und vorausliegt. Das Wissen ist somit eine unendliche Aufgabe unter endlichen Bedingungen bzw. ein “Verfahren Bildlichkeit und Wissen 31 15 Darauf hat Michael Moxter bereits mehrfach hingewiesen (2011 a: 81ff.). der Approximation” (Schleiermacher 1814/ 15: 165). Die Annäherung ist nicht als linearer Prozess zu denken, sondern als Oszillation um ein ideales Zentrum, das gleichsam ein real unerreichbares Gleichgewicht aller Dualitäten ist: Wissen strebt nicht nach Kumulation, sondern nach dem Ausgleich eines relativen Gegensatzes im Denken. Dieser Prozess ist wesentlich an die Sprache “als allgemeines Bezeichnungssystem” (Schleiermacher 1822 b: 628) geknüpft, da es ein Denken ohne Sprechen nicht geben kann. Dieses Paradigma teilt Schleiermacher mit seinem bildungspolitischen Partner im Zuge der Gründung der Berliner Universität, Wilhelm von Humboldt 15 : “Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken” (von Humboldt 1830-35: 191). Dies bedeutet gerade nicht, dass sie ein Instrument zur Darstellung reiner Innerlichkeit ist, sondern “dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken” (von Humboldt 1820: 19f.). Schleiermacher unterscheidet demgemäß: “Denken und Sprechen ist so Eins, daß man es nur als Inneres und Aeußeres unterscheiden kann, ja auch innerlich ist jeder Gedanke schon Wort” (Schleiermacher 1828: 284). Ein vorsprachliches Denken ist unter dieser Prämisse nicht möglich - was jedoch nicht bedeutet, dass im Denken nicht auch etwas präsent ist, das sich nicht unter die Kategorie der Sprache subsumieren ließe: “Ehe sich der Mensch die Sprache aneignet, hat er auch noch kein Denken. In dem Denken aber, welches sich auf einen Empfindungszustand bezieht, unterscheiden wir etwas, was kein sprechendes Denken aber mit in dem Denken enthalten ist, nämlich das Bild” (Schleiermacher 1831: 731f.). Bereits hier begegnet ein erster Hinweis darauf, dass das Bild der Sprache gegenüber eine Widerständigkeit entfaltet, auf die am Ende noch zurückzukommen ist. Die Sprachbildung vollzieht sich in “Fixirungen der allgemeinen Bilder. […] Ihr Entstehen hängt an diesem Schematisirungsprocesse, und ist durch ihn bestimmt” (Schleiermacher 1822 b: 628). Die Sprache ermöglicht eine Repräsentation der Schemata in der Kommunikation: “Jeder sucht das allgemeine Bild für sich und andre zu fixiren […]. Das Heraustreten der allgemeinen Bilder in der Sprache für alle ist das 1ste Mittel, streitige Vorstellungen abzuwenden” (Schleiermacher 1822 b: 628). Die Besonderheit der Sprache ist nicht die Entsinnlichung des Wahrnehmungsmaterials, sondern die Fähigkeit der Überführung sinnlicher Besonderheiten in den Status allgemeiner Zeichen: “Die Action, verschiedene Momente zusammenstellen zu können, bringt schon ein Bezeichnungssystem hervor, sei das Zeichen ein Wort oder wieder ein Bild” (Schleiermacher 1822 b: 628). Der Übergang vom individuellen Denken zum allgemeinen Wissen vollzieht sich über die Sprachbildung. 3.2 Die Unbestimmtheit des Bildes und die Bewährung des Wissens Für den weiteren und abschließenden Gedankengang ist die folgende Prämisse entscheidend: Das allgemeine Bild, das wir uns entwerfen, ist in seiner Allgemeinheit wesentlich ein unbestimmtes; es ist aber nicht außerhalb des Einzelnen gesetzt, und die ganze Vorstellung ist eine Oscillation zwischen der Bestimmtheit des Einzelnen und der Unbestimmtheit des allgemeinen Bildes (Schleiermacher 1822 b: 628). Die Verallgemeinerung des Bildes im Schema vollzieht sich um den Preis der Bestimmtheit, die ein einzelnes Bild an seinem sinnlich-konkreten Ort in der Welt aufweist. Indem Schleier- Markus Firchow 32 macher dieses Verhältnis wiederum als Oszillation bestimmt, bleibt jeder Begriff auf seinen ursprünglich bildlichen Charakter verwiesen, anstatt einen fortlaufenden Abstraktions- und Verallgemeinerungsprozess zu durchlaufen: “So wenig wir einen Begriff hervorrufen können ohne das Wort […], so wenig geht es ohne Hervorrufung des Bildes. Ist das Bild dunkel, so ist auch der Begriff dunkel, und wird der Begriff als reines Bewußtsein recht hell, so muß auch das Bild hell werden” (Schleiermacher 1818/ 19: 287f.). Von hier aus wird nun deutlich, weshalb Schleiermacher Wissen approximativ denken muss. Denn die unhintergehbare Verflechtung von Verstand und Sinnlichkeit im Schema verunmöglicht die Generierung von objektiver Wahrheit im Sinne der Mathematik, die sich ganz ohne Rückbezug auf sinnliche Gegebenheiten rein aus den eigenen logischen Bezügen fortbestimmen kann. Was die Wahrheitsfähigkeit der Lebenswelt betrifft - um einen modernen Begriff einzuspielen - so sieht es gänzlich anders aus. Hier muss sich im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand in der Urteilsbildung sowie der Intersubjektivität ‘beständig bewähren’, was in der Sprache zur Darstellung kommt. Insofern sind Wissen und Wahrheit nicht nur unabschließbar, sondern in der Mitteilung auch stets nur “ein provisorisches Wissen”: Jeder weiß nur vermittelst des Processes des Denkens und in demselben, und also bringt er den andern nur zu einer Vorstellung seines Wissens, indem er ihn nöthigt, seinen Proceß zu machen. Wenn das Wissen sich so bewährt, müssen wir dasjenige Denken für ein Wissen halten, in welchem die Identität des Processes aller enthalten ist, die das denken (Schleiermacher 1822 b: 450). In diesem Sinne spielt bei Schleiermacher das Überzeugungsgefühl eine konstitutive Rolle im Werden des Wissens. Bereits das Wissenwollen ist eine für die Vollzüge des Wissens grundlegende Affektion, das Überzeugungsgefühl ermöglicht gewissermaßen affektive Raststätten auf dem langen Weg des Wissens. Gerade die Einsicht in die Unerreichbarkeit des absoluten Wissens verlangt im einzelnen nach Wissen strebenden Denken eine punktuelle Befriedigung, denn das “Ausbleiben dieses Gefühls ist verbunden mit der Fortsetzung der innern Bewegung. Haben wir jenes Gefühl, so fangen wir einen neuen Act an” (Schleiermacher 1822 b: 592). Auch hier zeigt sich, dass das denkende Subjekt als solches in einer Theorie des Wissens berücksichtigt werden muss, wenn man das Wissen nicht als abstrakten Selbstzweck bereits von vornherein verfehlen will. Dies im Blick zu haben, ist ein besonderer Charakter von Schleiermachers Ansatz. Das gilt auch für den Aspekt der individuellen Bestimmtheit der Wahrnehmung: Der Rückgang auf die Subjektivität, auf den einzelnen sinnlichen Akt der Wahrnehmung - die sich nicht in Allgemeinheit auflösen lässt - sondern konkret und ortsgebunden ist, hat eine entscheidende Folge für das Verständnis von Wissen schlechthin: [S]o hat doch jeder Mensch einen Ort in der Totalität des Seins, und jeder repräsentirt das Sein, nicht getrennt von seinem Ort. […] Die Identität drückt die Zusammenstimmung des Menschen mit dem Sein in dem Orte aus, wo er sich befindet, die Differenz die Verschiedenheit des Denkens vom Sein in dem Orte (Schleiermacher 1822 b: 632). Schleiermachers Ansatz verweigert sich einer Theorie des Wissens, die sich dieses individuellen Faktors zu entledigen sucht, oder ihn gar nicht erst in den Blick nimmt. Er unternimmt es, das Besondere des individuellen Zugriffs auf die Wirklichkeit in eine Theorie des Wissens konstitutiv einzubeziehen und den Anspruch einer ‘Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft’ von hier aus zu kritisieren: Bildlichkeit und Wissen 33 Ist der Kanon richtig, daß nur so viel Annäherung an Wissen ist, als das individuelle Denken aufgesucht wird, so sehen wir, wie es mit der Forderung der Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft steht. Sie kann nur entstehen, wenn der individuelle Factor ganz vernichtet wird. Absolute Identität des Wissens ist nur unter der Voraussetzung einer allgemeinen Sprache möglich. Nun aber giebt es kein Mittel, eine solche Sprache zu Stande zu bringen (Schleiermacher 1822 b: 633). Weil Sprache immer nur in der konkreten und geschichtlich gewachsenen Sprache allgemein ist, muss eine Erkenntnistheorie diesen unhintergehbaren Faktor des Individuellen berücksichtigen. Dieses Zusammenspiel von Individualität des sinnlichen Ortes und der Allgemeinheit eines Zeichensystems ist jene oszillierende Dynamik, die Rustemeyer im Blick hat. Denn für das Wissen bedeutet diese Struktur eine immanente Kontingenz, die im Werden des Wissens nicht jenseits von diesem zurückbleibt, sondern in ihm selbst präsent ist. Der letzte Grund dafür ist das Bild. 4 Die Widerständigkeit des Bildes und die Kontingenz im Wissen Von Kontingenz im Wissen zu reden bedeutet, Wissen nicht als Arbeit an der Kontingenz so zu verstehen, dass ein Mehr an Wissen eine imaginäre Masse von Nicht-Wissen und Unbestimmtheit prozessual zurückdrängte, um gleichsam ein sicheres Wissen zu generieren, sondern seine eigenen kontingenten Grundlagen durchsichtig zu machen. Dies im Sinne eines radikalen Relativismus oder Konstruktivismus zu verstehen, wäre ein grobes Missverständnis. Gewissheit bedeutet nicht sicheres Wissen, sondern ein Höchstmaß an Ausgeglichenheit im Blick auf die beiden von Schleiermacher genannten Bedingungen von Wissen (s.u.). Zunächst gilt es, die These zu begründen, dass Wissen es nur dann mit Bestimmtheit zu tun hat, wenn es gleichzeitig auch die eigene Unbestimmtheit im Blick hat. Diese beiden Faktoren begründen sich in der Konstitution von Bildlichkeit und Sprachlichkeit, wie sie hier dargestellt worden sind. Zwar verweist Schleiermacher auch auf die unhintergehbare Positivität der verschiedenen Sprachgemeinschaften, die einen Widerhaken im Prozess des Wissens markieren und die den Traum einer Universalsprache als utopischen Widerspruch entlarven: Alle Bestrebungen, zu einer allgemeinen Sprache zu gelangen, sind mißlungen, denn die Verständigung über die allgemeine Sprache selbst ist den einzelnen Sprachen unterworfen, und das Innere ist da doch in allen Menschen nicht dasselbe. Diese Begrenzung durch die Sprache bildet die Relativität des Wissens (Schleiermacher 1822 b: 630). Das Faktum der verschiedenen Sprachen ist jedoch nur der äußere Grund der Relativität des Wissens, denn das nicht verallgemeinerbare Innere, von dem Schleiermacher spricht, ist im Medium des Bildes gegeben. Im Übergang vom Bild zum Begriff bleibt ein unauflösbarer Rest: [D]as Dominirende bleibt aber doch das Bild, und dies kann nicht vollkommen in der Sprache wiedergegeben werden. Überhaupt können wir jedes Individuelle nie rein in der Sprache ausdrücken, allenfalls durch eine Reihe Bilder (Schleiermacher 1822 b: 634). Die Unvollkommenheit des Wissens ist im Übergang vom Individuell-Bildlichen zum Allgemein-Sprachlichen bzw. in ihrer bleibenden Verwiesenheit aufeinander begründet. Es ist die Widerständigkeit des Bildlichen selbst, sich nicht vollständig in Sprache überführen zu lassen, die ein unhintergehbares Grundmoment von Vorbehalt in der Konstitution von Wissen etabliert: “Die letzte Ergänzung der Unvollkommenheit des Wissens liegt also hier auf der Markus Firchow 34 Seite des Bildes, und der gesamte Cyclus von individuellen Bildern soll die Unvollkommenheit des allgemeinen Wissens ergänzen” (Schleiermacher 1822 b: 634). Das Sinnlich-Bildliche repräsentiert also ein im Wissen mitgesetztes und unauflöslich Kontingentes, das ein statisches Konzept von Wissen und Nicht-Wissen aufbricht. Vielmehr verweist es auf das sprachlich Unverrechenbare des individuellen Ortes des wissenden Subjekts, das sich zur Welt einzig von seinem Ort in der Welt aus verhalten kann. Was Welt ist und was wir von ihr zu wissen glauben, muss sich in der Oszillation von individueller Ein- und allgemeiner Sprachbildung bewähren und immerfort neu justieren, “weil ja das Allgemeine in der Totalität alles Einzelnen gegeben ist” (1818/ 19: 215). Als allgemeine Welt ist sie immer nur so bestimmt, wie sie gleichsam am Ort des Individuums zur Geltung kommt - weil Bestimmtheit stets an Besonderheit gekoppelt ist. Die bestimmte Unbestimmtheit, die in der Oszillation zum Ausdruck kommt, eignet sich zur Beschreibung des Menschen als individuelles Wesen, das stets auf ein Allgemeines bezogen ist, um sich als Individuelles zu setzen. Weil diese beiden Merkmale oszillierend verbunden sind, ist er als lebendiges Wesen beides zugleich: bestimmt und unbestimmt. Die Herausforderung besteht darin, beides stets aufs Neue im Denken zusammenzuhalten und produktiv aufeinander zu beziehen. Der Mensch kann dies überhaupt nur deshalb, weil er als er selbst Subjektivität und Objektivität, Ideales und Reales, Vernunft und Sinnlichkeit in seinem Selbst- und Weltverhältnis immer schon voraussetzt. Stabilität und Identität gewinnt der Mensch weder aus sich selbst noch aus einer vorgängigen Wirklichkeit. Was das Sein an sich ist, ist ebenso wenig Gegenstand des Wissens wie die Frage, was das Denken an sich ist. Inhalt und Form sind keine Entitäten, sondern zwei Pole einer als Oszillation verstandenen Wirklichkeitsstruktur. Die von Schleiermacher beschriebene Notwendigkeit, Zeichen zu produzieren, um den Überschritt vom individuellen sinnlichen Ort zu einer allgemeinen Verständigung zu ermöglichen, ist nur unter der Voraussetzung zu verstehen, dass jedes allgemeine Zeichen immer seinen sinnlich-bildlichen Charakter unverlierbar in sich trägt: Ein Zeichen, das diesen Charakter nicht mehr kenntlich macht, verliert seine lebensweltliche Relevanz. Ein Wissen, das sich seiner eigenen Absolutheit enthalten muss und sich als endliches Wissen in der Zeit versteht, ist nicht das Gegenteil von Nicht-Wissen und dementsprechend nicht defizitär. Es gibt lediglich unterschiedliche Gradualitäten der relativen Identität in der Konstruktion von Wissen, das deshalb kontingent ist, weil der individuelle Ort als Ort der Generierung sinnlicher Bilder sich nicht als allgemeiner darstellen lässt. Dabei handelt es sich um eine produktive Kontingenz, die wissenstheoretische Dogmatismen zu verhindern in der Lage ist, indem es die Komponente des Unverrechenbaren menschlicher Individualität präsent hält. Neben der Bestimmtheit des sinnlichen Individuums ist es die Qualität des Bildlichen selbst, das eine andere Form des Wissens repräsentiert bzw. das Potential von Nichtwissen und ungenauem Denken in unseren Diskursen am Leben erhält. Dies lässt sich etwa an der Funktion der Metapher aufweisen, die als “Störung” im begrifflichen Denken “den Reichtum ihrer Herkunft [konserviert], den die Abstraktion verleugnen muß” (Blumenberg 1983: 88; 90). Sie durchbricht die begriffliche Struktur und verweist auf ein Unbestimmtes inmitten der Bestimmtheit begrifflicher Kommunikation und schafft Raum für das, was diesseits wissenschaftlicher Präzision nicht zu haben ist: “Der Bereich des Kreativen oder des Innovativen beginnt erst dort, wo Verstöße gegen das Logische, wo also Fehler vorliegen” (Zimmerli 2003: 262). Das Bildliche ist nicht nur als das Andere der sprachlichen Wirklichkeitserschließung negativ bestimmt, sondern ist ein Generator kreativen Potentials, das als das Bildlichkeit und Wissen 35 Unerwartete und das Innovative in die sprachlichen Diskurse einbricht: “Kreativität ist die Kunst der Herstellung des Unerwarteten” (Zimmerli 2003: 264). Das Bildliche in der Sprache ist eine Erinnerung an die sinnliche Individualität und an die Grunderfahrung eines Mehr, das unverrechenbar ist und fortlaufend Überschüsse produziert, die wiederum ohne Imaginationen, ohne Bilder und Metaphern nicht darstellbar bzw. repräsentierbar wären. Das Bild ist das Außerordentliche der Sprache, indem es sich den Regeln ihrer Semantik verweigert und diese selbst in Form der Metapher transzendiert: “Metaphern sind geleitete Regelverstöße” (Zimmerli 2003: 266). Auch bildtheoretisch ist die Kategorie der Unbestimmtheit ein wesentlicher Moment in der Rezeption von Bildern gerade in der Differenz zur Bestimmtheit begrifflicher Diskurse. Das hat Gottfried Boehm in seinem Aufsatz Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes zu zeigen versucht. Der Reichtum an Unbestimmtheit in der Betrachtung von Bildern ist die ihnen eigene “Potentialität […], durch die der Mangel an Bestimmtheit in einen Überschuss an Sinn umschlägt” (Boehm 2006: 204). Sie setzt “den Akten der Vernunft Grenzen, indem sie als das vorsprachliche Potential erscheint, aus dem sich auch unsere Begriffe und unsere rationalen Konzepte mobilisieren” (Boehm 2006: 208). Das Bild wird auch hier als primäres Medium verstanden, dessen Unbestimmtheit der Sprache zugrundeliegt, indem es “jene Spielräume und Potentialitäten [schafft], die das Faktische in die Lage versetzen, sich zu zeigen und etwas zu zeigen” (Boehm 2006: 211). Unbestimmtheit - so die These - ist kein Mangel, sondern Voraussetzung für Bestimmtheit und Präsenz potentiellen Sinns. Das gilt gerade auch für die Imagination, “Wege der Erkenntnis zu eröffnen, wo keine Wege sind” (Boehm 2006: 208). Diese genuine Unbestimmtheit - so scheint mir - ist Grund für die deutliche Zurückhaltung Schleiermachers, das Bild als Medium der Entäußerung kommunikationstheoretisch neben die Sprache zu stellen. Auch wenn das Bild zum Medium werden kann, so nur im Horizont seines sprachlichen Charakters: “Das Bild können wir zwar auch außer uns hinstellen, aber dies bezieht sich doch immer auf die Sprache zurück, und setzt die Sprache immer voraus” (Schleiermacher 1818/ 19: 305). Welche Art von Bild Schleiermacher hier vor Augen hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Dimension der Kunst, die bei Schleiermacher als eigentümlicher Ausdruck von Welterfahrung eine vorzügliche Rolle spielt, konnte im Rahmen dieser Abhandlung ebenso wenig berücksichtigt werden wie die der Religion. Der entscheidende Hinweis scheint mir zu sein, dass Bild und Begriff je für sich eine unverzichtbare Funktion in der Konstitution von Wirklichkeit und Wissen innehaben. Sie sind als Formen zugleich Erinnerungen an etwas anderes, durch das sie sind, was sie sind. Der Begriff ist als solcher kein allgemeines Abstraktum und die Sprache kein Baukastensystem von Zeichen, mit denen ein intelligibles Wesen eine sinnliche Außenwelt benennt, sondern das Produkt von Bewusstseinsvorgängen, die als Oszillationen von Sinnlichkeit und Verstand zu verstehen sind. Das mentale Bild als solches ist nicht die innere Abbildung äußerer Bilder, also Kopien der Dinge im Bewusstsein, sondern es sind bereits durch den Zugriff der formgebenden Vernunft konstituierte Gestalten. Bilder, die nicht zumindest einen minimalen Grad an Allgemeinheit erlangen, sind ebenso wenig Bewusstseinsinhalt wie Begriffe, die nicht zumindest einen minimalen Grad an Besonderheit bewahren. Diejenigen Zeichen, die ein Höchstmaß an ‘Gleichgewicht’ erreichen können, sind demnach für die lebensweltlichen Kommunikationsprozesse am leistungsstärksten. Folgt man Schleiermacher, dann ist die Idee des absoluten Wissens die Idealität dieses Gleichgewichts, das beide Kriterien des Wissens in absoluter Identität vereinigt. Die genannte Übereinstimmung der Wissensproduktion unter den Individuen lässt sich einerseits durch ein Höchstmaß an Allgemeinheit in der Sprache erreichen, die genannte Übereinstimmung von Denken und Gedachtem ist andererseits durch Markus Firchow 36 ein Höchstmaß an Individualität des Bildes bestimmt. Insofern bestehen Wissensvollzüge in eben jenem von Schleiermacher eingangs erwähnten Schwanken zwischen zwei Übergewichten, die in ein relatives Gleichgewicht zu überführen die wesentliche Herausforderung ist, die einer Theorie und Praxis des Wissens inhärent ist. Das Wissen als absolutes Wissen ist demnach weder in einer Potenzierung von Allgemeinheit und Abstraktion noch in einer Potenzierung von Sinnlichkeit und Konkretion zu haben. Den Ausgleich beider Ansprüche des Wissens zu suchen, ist der Motor des Wissens selbst, der weder das individuelle Subjekt noch die allgemeine Welt außer Acht lässt. Die Stabilität dieses Grundverhältnisses lässt sich nur durchführen, wenn dieses Verhältnis bereits im Gange ist. Die Oszillation gewinnt diese Stabilität in der Bewegung und nicht durch die Pole, die in ihr als bestimmbare Größen überhaupt erst generiert werden. Eine Theorie des Wissens ist nach Schleiermacher immer schon Praxis, immer schon zwischen Bild und Begriff, zwischen Subjekt und Welt in Aktion. Die höchste Identität im Wissen zu finden, ohne sie jemals erreichen zu können, bedeutet, einen epistemischen Ort einzunehmen, der wiederum eine relative Einheit aus Identität und Differenz sowie aus Ruhe und Bewegung ist; denn - so lässt sich nicht nur im Blick auf die Funktion des Begriffes als ‘schwebende Einheit’, sondern auch im Blick auf den Anfang unserer Untersuchung sagen - “in diesem Schweben [ist] die ganze Fülle meines irdischen Lebens” (Schleiermacher 1818 a: 209). 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KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Heike Ortner Text und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse Europäische Studien zur Textlinguistik 15 2014, X, 485 Seiten €[D] 78,00 / SFR 101,40 ISBN 978-3-8233-6910-3 Der Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion wird in der Linguistik aus vielen verschiedenen Perspektiven untersucht. Dieser Band dient als Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu dem komplexen Thema. Berücksichtigt werden Erkenntnisse aus verschiedenen Teildisziplinen, z.B. Semiotik, Lexikologie, Pragmatik, Kognitive Linguistik und Textlinguistik. Im methodischen Teil wird gezeigt, wie eine emotionslinguistische Analyse emotive Strukturen in Texten offenlegt, wobei die vorgeschlagene Methode leicht an verschiedene Fragestellungen angepasst werden kann. Ihre Anwendung und empirische Überprüfung findet an sehr unterschiedlichen Textkorpora statt: Briefe von Franz Kafka als Beispiel für einen Individualstil sowie Nachrichtenartikel von verschiedenen Online-Plattformen als Beispiel für Medientexte. Forschende, Lehrende und Studierende finden hier sowohl einen umfassenden Überblick über theoretische Grundlagen als auch Anregungen für die Anwendung in der eigenen Forschung und Lehre. 1 Vgl. Wittgenstein (1984 a: 19) und zur Rezeption Mitchell (2008: 46). Dem oben als Motto wiedergegebenen Zitat folgt eine ausführlichere Darstellung: “Wenn die Bedeutung eines Zeichens (beiläufig gesprochen, das, was in Bezug auf das Zeichen wichtig ist) ein Bild ist, das in unserem Geist entsteht, wenn wir das Zeichen sehen oder hören, dann wollen wir zuerst die eben beschriebene Methode anwenden, nach der wir dieses geistige Bild Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis Ulrich Richtmeyer (Potsdam) This paper investigates the term intransitive as used by Ludwig Wittgenstein in his Brown Book and its modified German version. Wittgenstein’s notion of iconic intransitivity is based on a profound distinction between the medium of language and the medium of pictorial representation. While a picture is intransitive as such, representing first and foremost itself, linguistic expressions can be used either in a transitive way (preparing a specification, a description, or a comparison), or in an emphatic, intransitive, self-referential way. Starting from a critical discussion of language usage, Wittgenstein establishes a phenomenology of visual perception that leads to an analysis of pictorial representation. Imagination is concerned as far as Wittgenstein tries to explain mental representation via its analogy, the act of producing or perceiving a picture. “Für unsere Zwecke könnten wir sehr wohl jeden Vorstellungsvorgang durch den Vorgang, einen Gegenstand anzuschauen, oder durch Malen, Zeichnen oder Modellieren ersetzen […]” (Wittgenstein). Der folgende Beitrag untersucht Wittgensteins Gebrauchsweisen des Ausdrucks intransitiv, die sich vor allem im posthum publizierten Brown Book und dem Versuch seiner Umarbeitung (Wittgenstein 1984 b) finden lassen. Es soll in drei Schritten nachgezeichnet werden, wie Wittgenstein seine eigenständige Auffassung der ikonischen Intransitivität entwickelt, die sich sowohl vom mathematischen als auch vom sprachwissenschaftlichen Verständnis des Ausdrucks deutlich unterscheidet. Diese bildphilosophische Auffassung von Intransitivität thematisiert ein genuin bildliches Zeigen und hebt damit zugleich eine medienspezifische Differenz zwischen Sprache und Bild hervor. Offensichtlich erweitert der Begriff der ikonischen Intransitivität so auch das Thema der Imagination, weil er die mit ihm verbundenen Begriffe des Vorstellungsvorganges und des Vorstellungsbildes korrigiert. In zeitlicher Nähe zu den hier diskutierten Textpassagen empfahl Wittgenstein, man solle sich den Begriff des Vorstellungsbildes besser durch ein zeichnerisches Handeln ersetzt denken. 1 In diesem Sinne erfolgt auch die Diskussion des Themas der ikonischen Intransiti- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrich Richtmeyer 40 durch irgendeinen äußeren Gegenstand ersetzen, den wir sehen, z.B. ein gemaltes oder modelliertes Bild. […] Sobald du daran denkst, das geistige Bild durch, sagen wir, ein gemaltes zu ersetzen und sobald das Bild dadurch seinen geheimnisvollen Charakter verliert, erscheint es in der Tat nicht mehr so, als ob es dem Satz irgendwelches Leben verleihen könnte. (Es war ja gerade der geheimnisvolle Charakter des geistigen Vorganges, den du für deine Zwecke nötig hattest.)” (Wittgenstein 1984 a: 20) 2 Z.B.: “Der Denker gleicht sehr dem Zeichner, der alle Zusammenhänge nachzeichnen will.” (Wittgenstein 1984 f.: 466). 3 Vgl. hierzu auch Richtmeyer 2014. 4 Hobuß geht es in der Diskussion des Brown Book vorrangig um eine “Anwendung von Wittgensteins Unterscheidung transitiver von intransitiven Redeweisen auf das Gebiet des Ausdrucks”, und damit darum, einen “Teil der Systematik des Ausdrucksbegriffs aufzudecken” (Hobuß 1998: 9). Dieses sprachphilosophische Thema wird, wie ich zeigen möchte, von Wittgenstein jedoch bildphilosophisch fundiert. 5 Friedrich Kittler hat 1985 am Beispiel Nietzsches von der “Urszene intransitiven Schreibens” gesprochen, und damit Materialität und Medialität des Schreibens betont. Vgl. ders. (1995: 228ff.). 6 Z.B. Mersch (2005: 150); vgl. ders. (2010). 7 Roland Barthes verwandte die negative Formulierung “nicht transitiv”, um an künstlerischen Bildproduktionen die Unverfügbarkeit des Neuen hervorzuheben, vgl. Barthes (1990: 168). vität jenseits einer psychologischen oder mentalistischen Erörterung dessen, was sich mit Bildern vorstellen oder imaginieren lässt, sondern vielmehr in der Perspektivierung eines wahrnehmenden Zeichnens, das ja für Wittgensteins Werk insgesamt wichtig ist, wie seine zahlreichen aphoristischen Analogiesetzungen des Denkens mit dem Zeichnen belegen. 2 Zu unterscheiden wäre das Thema der Intransitivität zudem von Fiktionalität und Imagination, Virtualität und Simulation, obwohl es dem Kreis dieser Begriffe durchaus zugehört. Denn das Intransitive wird hier als ein Ausdruck konzipiert, der das, was in Bildern auf spezifisch bildmediale Weise sichtbar wird, anzugeben versucht. Wittgensteins Überlegungen zum Begriff der ikonischen Intransitivität eröffnen so die Dimension einer Medienspezifik, die das Spektrum der Theorien des Imaginären in eine sowohl bildrezeptive (‘einen Gegenstand anschauen’) als auch bildproduktive (‘malen, zeichnen, modellieren’) Richtung erweitert. Imagination wird dann quasi wortwörtlich als Einbildung thematisiert, also als ein Vorgang, der sowohl bildrezeptiv als auch bildproduktiv denkbar ist. Im ersten Fall wird er dabei aber nicht von kulturellen Auslegeordnungen oder den Konventionen und Universalismen der Sprache bestimmt. Im zweiten Fall wird Einbildung nicht als intendierte und souveräne Ausführung einer bildlichen Darstellungsabsicht verstanden. Vielmehr entwickelt Wittgenstein beide Spielarten der Imagination, indem er von der Spezifik des bildlichen Zeigens ausgeht, also von der Art und Weise, wie Bilder ansprechen, auf sich aufmerksam machen und etwas präsentieren bzw. wie sie in den Prozessen ihrer Hervorbringung etwas sichtbar werden lassen. Imagination wird damit nicht mehr als ein subjektives Vermögen verstanden, obwohl Subjektivität unvermeidlich beteiligt ist; 3 sie ist aber auch nicht das Gegenteil, ein Effekt materieller Konstellationen. Vielmehr wird sie als ein Geschehen konzipiert, als die Möglichkeit bildbasierter Ereignisse, Sinn zu generieren. Die Rezeptionslage zu Wittgensteins eigentümlichem Gebrauch des Ausdrucks intransitiv ist vergleichsweise dünn. In der philosophischen Wittgenstein-Rezeption gibt es nur vereinzelte Anknüpfungen an seine Überlegungen, etwa bei Hobuß 1998 und Johannessen 1990, die die Differenz zwischen intransitivem und transitivem Verstehen als Differenz zwischen Ausdrucks- und Sprachverstehen behandeln. 4 Ebenso selten wurde der Ausdruck intransitiv in der Kulturwissenschaft, 5 in der Medienphilosophie, 6 oder den interdisziplinären Bildwissenschaften verwendet. 7 Vor allem jüngere bildtheoretische Publikationen haben das Prädikat intransitiv für die Analyse des genuin bildlichen Zeigens oder auch der bildlichen Evidenz Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis 41 8 “Es [sc. das Sich-zeigen] ist selbst voller Möglichkeiten, intransitiv, ein Potential” (Boehm 2007 b: 31). 9 “Aber ist das (intransitive) Sichzeigen des Bildes bereits schon ein ‘Zeigen als’? ” (Stoellger 2008: 210), siehe auch Stoellger (2011: 22). 10 Als ästhetisches Problem vgl.: Gmür (2000); mit Bildbezug: Gebauer (2010); und zur Differenzierung des Zeigens auch: Goppelsröder (2007). verwendet - dabei wird allerdings durchgängig auf eine ausführlichere Begründung seines begrifflichen Eigensinns, die systematische Abgrenzung von den etablierten Verständnisweisen in Mathematik und Sprachwissenschaft oder auch den Hinweis auf seine philosophische Herkunft verzichtet, die gerade in ihrem Bildbezug ausschließlich auf Wittgenstein zurückgeführt werden muss. So hat etwa Gottfried Boehm 2007 das Prädikat intransitiv mit der Potentialität des zeigenden Bildes verknüpft. 8 Da er aber eine “das Bild konstituierende Differenz als Akt des Zeigens” (Boehm 2007 a: 16) auffasst, wird Intransitivität entsprechend nur auf einer der beiden Seiten einer Doppelfigur angenommen, wodurch das Motiv des Intransitiven, anders als bei Wittgenstein, nicht mehr insgesamt für das Zeigen des Bildes und seine Varianten zuständig ist, sondern Eigenschaften eines Teils einer Differenzstruktur charakterisiert. Da Boehm “die zur These verfestigte Vermutung [vertritt], dass Bilder ihrer eigenen Natur nach auf einem doppelten Zeigen beruhen, nämlich etwas zu zeigen und sich zu zeigen” (Boehm 2007 b: 19), steht intransitiv hier für die nicht näher beschriebene Eigenschaft von Bildern, sich selbst zu zeigen oder zu sagen - wie dies auch Wittgenstein in einem vielzitierten Passus des Brown Book und der Philosophischen Untersuchungen formulierte (s.u.). Die Intransitivität des Bildes wäre demnach gleichbedeutend mit seiner Selbstreflexivität. Entsprechend hat auch Philipp Stoellger jüngst das Prädikat intransitiv für die Bezeichnung solch eines Selbstverweises eines Bildes verwendet und damit vom bildlichen Verweis auf etwas unterschieden. 9 Obwohl auch Wittgenstein diese Dichotomie zwischen dem Sich- Zeigen und dem Etwas-Zeigen des Bildes vertritt, 10 kann bei ihm Intransitivität jedoch beide Modi umfassen oder auch in beiden fehlen. Der Grundkonflikt aller Bildzugänge entwickelt sich bei Wittgenstein also aus der Differenz zwischen transitiven, d.h. sprachlich verweisenden, immer relationalen Bildzugängen und intransitiven, d.h. bildlich zeigenden, nicht jedoch zwischen dem Sich- und dem Etwas-Zeigen des Bildes. In den intransitiven Bildzugängen werden, weil es sich bei ihrer Darstellung oder vielmehr fortwährenden Befragung seitens Wittgensteins um einen Untersuchungsprozess handelt, also ganz verschiedene Formen des bildlichen Zeigens problematisiert. Sie reichen vom Phänomen eines trivialen, unproblematischen Bildverstehens in der Philosophischen Grammatik, das dem Alltagsgebrauch der Bilder entspricht, über exklusivere, d.h. seltenere Momente des Sich-Zeigens des bildlichen Zeigens im Brown Book, bis hin zu Formen des Überzeugens in der wissenschaftlich argumentativen oder künstlerischen Bildproduktion, wie sie in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik diskutiert werden. Die ikonische Intransitivität problematisiert das Zeigen (Sich und Etwas) des Bildes im Unterschied zu seinem auslegenden, deutenden Sagen bzw. Gesagt-werden. Im Folgenden stelle ich dieses Motiv als Erweiterung oder auch Kontrast des Konzepts der Imagination in drei Schritten vor, die insbesondere Fragen der sprachlichen Repräsentation, der Virtualität von Wahrnehmungsakten und der bildgebenden Praxis umfassen. So möchte ich zeigen, wie sich das Motiv der Intransitivität ausgehend von einer scheinbaren Sprachkritik (1.) in eine Betrachtung über die Phänomenologie visueller Wahrnehmungen wandelt (2.) und dann in der Dimension des zeichnerischen Bildermachens das einzig angemessene mediale Format erhält (3.). Ulrich Richtmeyer 42 Illustration 1, Emil Nolde, Knecht, Holzschnitt 1912 1 Von der Sprachkritik zur Intransitivität der Wahrnehmung In Wittgensteins sogenanntem Brown Book und seiner Überarbeitung, die posthum unter dem Titel Eine philosophische Betrachtung (Versuch einer deutschen Umarbeitung des Brown Book) veröffentlicht wurde, findet sich eine Textpassage, an der man zunächst den Eindruck gewinnt, der anerkannte Sprachphilosoph versuche an solchen Worten, die angesichts vertrauter Gegenstände gebraucht werden, eine Form der Sprachkritik zu betreiben: “Die Probleme, mit denen wir uns seit § 134 beschäftigt haben, sind alle eng mit dem Wort bestimmt verbunden. Wir waren geneigt zu sagen, dass wir ein bestimmtes Gefühl haben, wenn wir vertraute Gegenstände sehen […]”. (Wittgenstein 1984 b: 145) Tatsächlich sind die Ausführungen zum Wort bestimmt aber keineswegs spezifisch auf dieses selbst bezogen, vielmehr kommt an ihm ein grundsätzlicheres Prinzip zur Anwendung, das Wittgenstein auf den folgenden Seiten und bis zum Ende des Brown Book als das Thema der Intransitivität variiert: Nun ist das Wort ‘bestimmt’ dazu angetan, eine Art Täuschung hervorzurufen, und diese Täuschung wird, beiläufig gesprochen, durch den doppelten Gebrauch dieses Wortes hervorgerufen. Einerseits, so können wir sagen, wird es in Vorbereitung einer Spezifizierung, einer Beschreibung, eines Vergleiches gebraucht, andrerseits wird es als das gebraucht, was wir als eine Hervorhebung beschreiben können. Den ersten Gebrauch werde ich den transitiven, den zweiten den intransitiven nennen. So sage ich ‘Dieses Gesicht macht einen bestimmten Eindruck auf mich, den ich nicht beschreiben kann.’ Dieser Satz kann bedeuten: ‘Dieses Gesicht macht einen starken Eindruck auf mich’. (Wittgenstein 1984 b: 245, Herv. UR) Wittgenstein weicht damit von der linguistischen Verwendung der Termini transitiv/ intransitiv deutlich ab. Erstens bezieht er die Ausdrücke nicht auf Verben im Satzverband, sondern zunächst und exemplarisch auf ein besonderes Prädikat. Zweitens werden sie dann aber auch auf Worte, auf ganze Sätze sowie auf vollständige Redewendungen bezogen. Und drittens benennen sie komplexe Gebrauchssituationen der Sprache, in denen ein sprachliches Ereignis immer mit einem artikulativen Bezug auf eine besondere, zumeist visuelle Wahrnehmung auftritt. Abgesehen von seiner ungewöhnlichen Verwendungsweise zweier sprachwissenschaftlicher Termini bringt das Zitat also auch schon Wittgensteins besondere Interessen am Thema der Intransitivität zum Ausdruck. Denn die Annahme, dass ausgewählte Worte oder Redewendungen doppelt gebraucht werden können, nämlich im Sinne eines transitiven Vergleichs, den sie “vorbereiten”, oder aber im Sinne einer intran- Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis 43 11 Wittgenstein vertritt aber keineswegs eine generelle Deklassierung der Sprache gegenüber Visualität und Bildlichkeit. Vielmehr macht er ihre mediale Differenz produktiv, etwa wenn in den eigenen Aufzeichnungen sprachliche Formulierungen und zeichnerische Skizzen wechselseitig Themen entwickeln und Kontexte verschieben. Zu einem Fallbeispiel aus den nachgelassenen Manuskripten vgl. Richtmeyer (2012 c). 12 Dem entspricht eine Textstelle aus dem vorhergehenden Blauen Buch, in dem Wittgenstein zwar die Prädikate “transitiv” und “intransitiv” noch explizit auf Verben bezieht, ihre Referentialität aber bereits als aufgehoben gilt, da sie sich “nicht auf Gegenstände beziehen” (Wittgenstein 1984 a: 44). sitiven Hervorhebung, demonstriert zunächst nur, wie manche sprachlichen Missverständnisse zustande kommen. Wenn hierbei nun von “einer Art Täuschung” gesprochen wird, so kann diese grundsätzlich in zwei verschiedenen Versionen auftreten: Erstens kann ein sprachlicher Ausdruck, der beschreibend oder vergleichend gebraucht wird, fälschlich als eine intransitive Hervorhebung gelten und zweitens kann ein Ausdruck, der Intransitives artikuliert, umgekehrt als eine vergleichende Äußerung missverstanden werden. Offensichtlich interessiert sich Wittgenstein aber ausschließlich für die zweite Form dieser Täuschung, so dass an dieser thematischen Einseitigkeit erkennbar wird, dass er genaugenommen keine Sprachkritik mehr betreibt, weil sprachliche Vorkommnisse hier nicht einer wertfreien Analyse unterzogen werden. Denn es geht nicht um das Benennen und Erkennen sprachimmanenter Indeterminismen, vielmehr stellt das, was als sprachkritische Erörterung erscheint, schon eine sehr ambitionierte und spezialisierte Auseinandersetzung mit nicht-sprachlichen Phänomenen dar. Die vermeintliche Sprachkritik ist hier immer schon auf eine jenseits der Sprache liegende visuelle Wahrnehmung bezogen. An ihrem Überschuss wird Sprache gemessen und dabei als versagende beschrieben. 11 Die quasi sprachkritischen Erörterungen, die Wittgenstein im Brown Book und dem Versuch seiner Umarbeitung entwickelt, verweisen dabei allerdings keineswegs auf das Sprachjenseitige schlechthin. Vielmehr fokussiert Wittgenstein hier ganz konkret auf die Erfahrung der Wahrnehmung von Singulärem, womit er sich zugleich auf das ausgesprochen provokante Paradox bezieht, dass ausgerechnet etwas Bestimmtes sprachlich nicht einholbar sein soll. Eben deshalb kann er sagen, dass “die Probleme, mit denen wir uns seit § 134 beschäftigt haben, […] alle eng mit dem Wort ‘bestimmt’ verbunden” sind (siehe oben stehendes Zitat aus Wittgenstein 1984 b: 145), also mit einem Ausdruck, der sich exemplarisch auf Konkretes und Singuläres bezieht, ohne es in seinen Eigenschaften tatsächlich benennen zu können. Und aus dem gleichen Grund wird aus der Gesamtheit möglicher sprachlicher Täuschungen eben nur “eine Art der Täuschung” herausgegriffen, und zwar jene, bei der Hervorhebungen als Vergleiche aufgefasst werden. Die Differenz zwischen transitiven und intransitiven Gebrauchsformen spricht also das Problem an, wie sich ungewöhnliche, mehrheitlich visuelle Wahrnehmungen adäquat verbalisieren lassen. Es geht dabei genaugenommen um die Bedingungen der Artikulation eines “starken Eindrucks”, zu dessen Wahrnehmungsspezifik es offenbar gehört, dass er weder in “Spezifizierungen”, “Beschreibungen” oder “Vergleiche” führt (siehe oben stehendes Zitat aus Wittgenstein, 1984 b: 245), noch aus diesen hervorgeht. Vielmehr hebt die Perspektive der Intransitivität seine vor-sprachliche Autonomie hervor. 12 Wittgenstein führt im Text weitere Synonyme für die Artikulation solch singulärer Wahrnehmungen an: Die Beispiele wären vielleicht eindringlicher, wenn wir das Wort ‘bestimmt’ durch ‘eigenartig’ ersetzen würden, denn dieselben Bemerkungen gelten auch für ‘eigenartig’. Wenn ich sage ‘Diese Seife hat einen eigenartigen Geruch: solche Seife haben wir als Kinder benutzt’, dann Ulrich Richtmeyer 44 13 Diese irritierende Konstellation ist weder in der Geschichte der Ästhetik noch in der Bildtheorie unbekannt. Man findet sie als Charakteristikum von Kants “reinen Geschmacksurteilen”, die nicht auf einen Begriff zu bringen sind und gleichwohl mit dem Anspruch auf eine “subjektiv allgemeine Zustimmung”, einen “Beifall oder Zuspruch” ausgestattet werden, der sich nur artikulativ einholen lässt. Die gleiche Konstellation lässt sich für Barthes’ photographietheoretischen Begriff des “punctum” feststellen, das vom “Druck des Unsagbaren” handelt, “das gesagt werden will” (vgl. Barthes 1989: 26; Richtmeyer 2009: Kap.6), sowie auch in den Bildtheorien beobachten, wenn dort etwa die “Unsagbarkeit des Nur-Sichtbaren” mit einem “paradoxen Zwang zur Rede” verbunden ist (Frank 2008: 486). kann das Wort ‘eigenartig’ lediglich als Einleitung zu dem Vergleich gebraucht sein, der ihm folgt, - so, als ob ich sagte: ‘Ich sage dir, wie diese Seife riecht: …’ Wenn ich andrerseits sage: ‘Diese Seife hat einen eigenartigen Geruch’ oder ‘Sie hat einen äußerst eigenartigen Geruch’, dann steht ‘eigenartig’ hier für einen Ausdruck wie ‘abweichend vom Normalen’, ‘ungewöhnlich’, ‘auffallend’. (Wittgenstein 1984 b: 245) Bei der Auswahl der beispielhaft angeführten sprachlichen Prädikate bestimmt und eigenartig handelt es sich weder um die gesamte Gruppe von Worten und Formulierungen, für die sich ein doppelter Gebrauch oder spezieller eine transitive und eine intransitive Verwendung angeben lassen, noch handelt es sich um Ausdrücke, die Wahrnehmungsvollzüge insgesamt thematisieren. Vielmehr sind sie bereits thematisch gewichtet. Denn wenn Wittgenstein das Thema der Intransitivität an seltenen und nach ihrer Wahrnehmungsspezifik ausgewählten sprachlichen Vorkommnissen diskutiert, so interessiert er sich offenbar dafür, woraus bestimmte Artikulationen hervorgehen, worauf sie reagieren. Die Überlegungen über das angeführte Vokabular versuchen also eigentlich etwas anderes einzukreisen als die Gebrauchsformen einzelner sprachlicher Prädikate. Thematisiert wird vielmehr die sprachliche Uneinholbarkeit besonderer Wahrnehmungen, auf die mit Ausdrücken wie bestimmt und eigenartig hingewiesen wird und in denen etwas als “abweichend vom Normalen, ungewöhnlich und auffallend” in Erscheinung tritt. Fragen der Sprachlichkeit werden somit als Indizien eines anders nicht zu fassenden wahrnehmungstheoretischen Themas diskutiert. 2 Von der intransitiven (Bild-) Wahrnehmung zu ihrer Artikulation Wittgenstein nimmt an, dass intransitiv Wahrgenommenes, also das, worauf mit den intransitiv gebrauchten Ausdrücken hingewiesen wird, nicht nur mit dem Problem seiner adäquaten Artikulation ausgestattet ist, sondern dass es auch artikulative Hervorhebungen produziert und seine tendenzielle Sprachlosigkeit zugleich mit einem kommunikativen Nachdruck auftritt. 13 So wird das intransitiv Wahrgenommene ausgedrückt, “[…] weil ich auf Grund meiner Einstellung dem Phänomen gegenüber besonderen Nachdruck auf es lege: ich konzentriere mich darauf, oder ich verfolge es im Geiste zurück, oder ich zeichne es, etc.” (Wittgenstein 1984 b: 248) Laut Wittgenstein erwecken aber die Versuche, intransitive Wahrnehmungen sprachlich auszudrücken, häufig und offenbar unvermeidlich den Eindruck, von Transitivem zu handeln, weil sie in dem sprachlichen Beharren, das auf ihre Nachdrücklichkeit reagiert, Wiederholungen und Aufzählungen erzeugen, die selbst scheinbar reflexiv strukturiert sind, weil sie Aussagen auf Aussagen beziehen. Wittgenstein nimmt aber keineswegs an, dass eine solche Reflexivität hier tatsächlich auch vorliegt, vielmehr geht er von der Faktizität intransitiver Wahrnehmungen und von authentischen Bemühungen ihrer Artikulation aus, sodass für eine Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis 45 Anzahl unterscheidbarer sprachlicher Vorkommnisse die Bezeichnung “intransitiver Gebrauch” weiterhin angemessen ist: Doch es gibt auch den intransitiven Gebrauch: ‘Ich sagte, dass ich genug davon habe, und meinte es.’ Meinen, was du sagst, könnte hier wieder ‘wiederholen’, ‘Nachdruck darauf legen’ genannt werden. Jedoch erweckt der Gebrauch des Wortes ‘meinen’ in diesem Satz den Anschein, dass es sinnvoll sei zu fragen ‘Was hast du gemeint? ’ und zu antworten: ‘Mit dem, was ich sagte, meinte ich, was ich sagte’, und damit den Fall von ‘Ich meine, was ich sage’ so zu behandeln, als sei er ein Sonderfall von ‘Wenn ich A sage, meine ich ‘B’‘. Tatsächlich gebraucht man den Ausdruck ‘Ich meine, was ich meine’, um zu sagen: ‘Ich habe keine Erklärung dafür.’ (Wittgenstein 1984 b: 249, Herv. UR) Das hier zitierte “Meinen” des Sagens führt Wiederholungen, Umschreibungen, Synonyme und Vergleiche nicht in der Absicht an, Gesagtes zu präzisieren, es auszubreiten, zu differenzieren oder in verschiedenen Relationen anzugeben. Auch verwendet es die Repetition offenbar nicht mit dem Ziel der rhetorischen Durchsetzung ungeklärter Positionen. Diese Äußerungen werden von Wittgenstein also nicht als ‘Mittel zum Zweck’ aufgefasst, wie er es an transitiven Ausdrücken konstatiert, die im A-Sagen eigentlich B meinen. Entgegen der empirischen Sprachpraxis, die hier durchaus mehrdeutig ist, führt Wittgenstein den exemplarisch intransitiven Ausdruck “Ich meine, was ich meine” vielmehr als die Artikulation einer sprachlichen Grenzerfahrung vor, die vor der Intransitivität des Wahrgenommenen sprachlich kapituliert. Wittgenstein gibt den intransitiv gebrauchten Artikulationen damit aber auch einen spezifischen Inhalt, wenn er sagt: “Tatsächlich gebraucht man den Ausdruck ‘Ich meine, was ich meine’, um zu sagen: ‘Ich habe keine Erklärung dafür.’” Dass das intransitiv Wahrgenommene der Art ist, dass sich keine Erklärung dafür gewinnen lässt, führt zu einem widersprüchlichen Verhältnis zur Sprache oder auch anderen Artikulationsweisen (s.u.), das sich Wittgensteins Ausführungen sehr genau entnehmen lässt: Wir gebrauchen die reflexive Form der Rede oft, um Nachdruck auf etwas zu legen. Und in allen solchen Fällen können unsere reflexiven Ausdrücke ‘begradigt’ werden. So gebrauchen wir den Ausdruck ‘Wenn ich nicht kann, dann kann ich nicht’, ‘Ich bin, wie ich bin’, ‘Es ist eben, was es ist’, auch ‘Das ist das’. Dieser letzte Ausdruck bedeutet so viel wie ‘Das ist erledigt’, doch warum würden wir ‘Das ist erledigt’ durch ‘Das ist das’ ausdrücken? (Wittgenstein 1984 b: 249) Aber nicht nur das Ungenügen der Wortsprache gegenüber der Intransitivität des Wahrgenommenen führt zu einem Konflikt, auch die hermeneutische Abgeschlossenheit bei gleichzeitig forderndem Nachdruck widerspricht sich im intransitiven Verstehen. Wenn ich für das, was ich eventuell als Meinung artikulieren möchte, “keine Erklärung” habe, und das, worauf ich Nachdruck legen möchte, als “erledigt” gilt, dann wäre Sprachlosigkeit und das Ausbleiben von Artikulationen letztlich die einzig angemessene Reaktion. Das intransitiv Wahrgenommene weist aber hinsichtlich seiner kommunikativen und diskursiven Konsequenzen eine geradezu konträre Qualität auf: Es ist das, was Nachdruck auf sich zieht, was Hervorhebungen provoziert und worauf wir auch andere aufmerksam machen möchten. So will ich für ‘Das ist erledigt’ sagen ‘Die Sache ist abgeschlossen’. Und dieser Ausdruck ordnet die Sache gleichsam ein und legt sie zu den Akten. Und das Einordnen ist, als ob man eine Linie um die Sache herum zieht, so wie man manchmal eine Linie um die Ergebnisse einer Berechnung zieht, um sie dadurch als endgültig zu kennzeichnen. Aber das lässt sie auch auffallen; es ist eine Weise, Nachdruck auf sie zu legen. Und das ist es, was der Ausdruck ‘Das ist das’ tut: Nachdruck auf das ‘das’ legen. (Wittgenstein 1984 b: 250) Ulrich Richtmeyer 46 Wenn der intransitive Gebrauch der Sprache auf Wahrnehmungen aufmerksam macht, für die wir “keine Erklärung haben” und die uns deshalb hinsichtlich ihrer artikulativen Deutungen als “erledigt” und “abgeschlossen” erscheinen, so zeichnet er sich laut Wittgenstein doch zugleich durch eine Eigenschaft aus, die dem transitiven Gebrauch zu fehlen scheint: Das Wahrgenommene soll möglichst auch kommunikativ auffallen, weil es phänomenologisch auffällt. Der diskutierte Konflikt besteht also darin: Obwohl die Sache als erledigt gilt, wird zugleich größter Nachdruck auf sie gelegt. Der Nachdruck richtet sich dabei aber nicht auf die Abgeschlossenheit, sondern auf das Abgeschlossene, auf das “das”. Die Abgeschlossenheit besteht gewissermaßen im Ungenügen eines sprachlichen Ausdrucksvermögens, das wiederholt Artikulationen hervorbringt, die allenfalls in der Funktion einer Rahmung auftreten können, wie bei Wittgenstein überhaupt der Übergang zum Zeichnen und Bildermachen fortwährend an der Grenze der sprachlichen Möglichkeiten aufscheint. Die beispielhaft erwähnte Handlung, eine Linie um das Ergebnis einer Rechnung zu ziehen, führt die beiden widerstrebenden Aspekte in einem sprachlichen Bild zusammen, denn man kreist ein Ergebnis ein, um das zu separieren, was für andere Anwendungen zur Verfügung steht. Du bist unter einem Eindruck. Das veranlasst dich zu sagen ‘Ich bin unter einem bestimmten Eindruck’ und dieser Satz scheint, zumindest dir, zu sagen, unter welchem Eindruck du bist. Als ob du dich auf ein Bild bezögest, das in deinem Geist bereit wäre, und sagtest ‘Derart ist mein Eindruck’. Während du doch nur auf deinen Eindruck gezeigt hast. Wenn man in unserem Fall […] sagt ‘Ich bemerke die bestimmte Farbe dieser Wand’, so ist das, wie wenn man, sagen wir, ein schwarzes Rechteck zeichnet, das einen kleinen Flecken der Wand einschließt und dadurch jenen Flecken als ein Muster für weiteren Gebrauch bestimmt. (Wittgenstein 1984 b: 271) Illustration 2, Jan Dibbets, Perspective Correction - My Studio I, 1 : Square on Wall, 1969 Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis 47 Wittgenstein umschreibt mit dieser neuerlichen Exemplifikation des intransitiven Ausdrucks bestimmt aber nur, dass das Hervorstechende und Besondere einer Wahrnehmung auch in einem zeichnerischen Modus betont werden könnte. Er will damit aber nicht unterstellen, dass die Absicht besteht, es tatsächlich in entsprechende Vergleichshandlungen einzubringen. Vielmehr geht es ihm weiterhin darum, die mit intransitiv Wahrgenommenem verbundene “Aufmerksamkeit” zu erfassen: Ich kehre zu unserem Satz zurück: ‘Dieses Gesicht hat einen bestimmten Ausdruck.’ Auch in diesem Fall habe ich meinen Eindruck nicht mit irgendetwas verglichen, oder ihn im Gegensatz zu etwas anderem betrachtet, ich habe keinen Gebrauch von dem Muster vor mir gemacht. Der Satz war eine Äußerung eines Zustandes der Aufmerksamkeit. (Wittgenstein 1984 b: 270f.) Auch wenn bildhafte Muster für den kommunikativen Nachdruck des intransitiv Wahrgenommenen aufgeboten werden, so geht es nicht darum, transitive Vergleiche zu etablieren. Vielmehr gilt es auch im Muster die Qualität der Hervorhebung zu betonen, die allererst Aufmerksamkeit schafft. Die Spezifik des intransitiven Wahrnehmens betrifft so nicht allein den Bildgegenstand oder das Wahrnehmungsobjekt, sondern ebenfalls den Moment der Begegnung, weil sie den “Zustand der Aufmerksamkeit” apostrophiert. Es findet eine Bildproduktion statt, um diesen Zustand hervorzuheben, nicht jedoch um von dem bildlichen Muster einen evaluativen Gebrauch zu machen, denn dieser wäre wiederum mit der Etablierung transitiver Relationen verbunden: Ich durchlaufe die Handlungen der Aufmerksamkeit, die den Gebrauch eines Musters begleiten könnten. Und das ist es, was den Anschein erweckt, dass wir Gebrauch von einem Muster machen. Dieser Irrtum ist verwandt mit dem Glauben, eine hinweisende Definition sage etwas über den Gegenstand, auf den sie unsere Aufmerksamkeit lenkt. (Wittgenstein 1984 b: 268) Gezeichnet werden deshalb in den oben genannten Beispielen Bilder ohne bildliche Darstellungen, Rahmen um vorhandene Farbflächen oder lineare Einkreisungen bereits vorliegender Ergebnisse, sodass sich zusammenfassend also von bildlichen Hervorhebungen sprechen lässt, die ohne ein eigens anzufertigendes oder noch auszudrückendes bildlich Hervorgehobenes auszukommen versuchen, sondern vielmehr dem Wunsch nach einer Aufmerksamkeitsbildung folgen, für etwas, das aufmerksam macht. Das dabei Wahrgenommene ist weder virtuell, fiktiv noch imaginär. Es ist nach Wittgenstein vielmehr intransitiv. Der Versuch seiner Darstellung lässt zugleich eine bildliche Medienspezifik erkennen. 3 Vom sprachlichen Sagen zum bildlichen Zeigen intransitiver Hervorhebungen In Wittgensteins Beispielen lassen sich zwei verschiedene Medien der Artikulation intransitiver Wahrnehmungen unterscheiden, denn die Reflexionen über Formen der sprachlichen Zirkularität sind von zahlreichen Hinweisen auf die Anfertigung von Bildern durchzogen. Neben sprachlichen führt Wittgenstein damit also auch bildliche Artikulationsversuche intransitiver Wahrnehmungen an. Parallel zur sprachkritischen Untersuchung entwickelt sich so eine bildkritische Argumentation, die sich offenbar zu der Schwierigkeit des Ausdrucks intransitiver Wahrnehmungen ganz anders verhält, als dies bei sprachlichen Ausdrücken der Fall ist. Denn die zeichnerische Artikulationsweise scheint gegen eine Verwechslung mit transitiven Ausdrücken immun. Das Bilder-machen wird als eine alternative Option zur Versprachlichung singulärer Wahrnehmungen vorgestellt. Gilt das zeigende Bild als der adäquate Ausdruck intransitiver Wahrnehmungen, weil es selbst auf intransitive Weise Ulrich Richtmeyer 48 Illustration 3, Fritz Rahmann, Leute in der U-Bahn, 2001 Unvergleichbares erzeugt? Wiederholt sich in oder mit der Herstellung eines Bildes das, was in der intransitiven Wahrnehmung geschieht, analog jener Grundthese Wittgensteins, wonach ein Vorstellungsbild am ehesten als jener Vorgang angesehen werden sollte, in dem Bilder zeichnerisch oder malerisch entstehen? Zunächst werden Zeichnungen beispielhaft in jenen Überlegungen angeführt, die intransitive Wahrnehmungsperspektiven wiedergeben: Betrachte andererseits folgende Behauptung: ‘Ich habe nun beobachtet, in welcher Weise A sitzt und raucht.’ Ich will ihn so zeichnen. In diesem Fall brauche ich nicht bereit zu sein, irgendeine Beschreibung eines bestimmten Merkmals seiner Haltung zu geben und meine Aussage braucht nichts weiter zu bedeuten als: ‘Ich habe A beobachtet, als er saß und rauchte.’ - ‘Die Weise’ kann in diesem Fall nicht von ihm getrennt werden. Würde ich ihn nun so zeichnen wollen, wie er da saß, und würde ich seine Haltung betrachten, studieren, dann wäre ich wohl dabei geneigt zu sagen und mir zu wiederholen: ‘Er hat eine bestimmte Weise zu sitzen! ’ (Wittgenstein 1984 b: 248) Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis 49 Die zeichnerische Wiedergabe der wahrgenommenen Eigenheiten des Sitzenden - also jene mit dem Schlagwort der Intransitivität beschriebene “bestimmte Weise” - macht eine parallele sprachliche Darstellung offenbar überflüssig. Die Zeichnung tritt mit großem Selbstverständnis an die Stelle der zirkulären Sätze, sodass man sich fragen muss, inwieweit und wodurch sie diese vertreten kann, beziehungsweise was das Bild der sprachlichen Artikulation überhaupt voraus hat und warum es mit der Wahrnehmung von Intransitivem so kompatibel ist. Einige seiner Qualitäten werden in der Fortführung des Zitats angeführt und von der Zirkularität der Sprache abgehoben: ‘Er hat eine bestimmte Weise zu sitzen! ’ Aber die Antwort auf die Frage: ‘Welche Weise? ’ würde sein: ‘Nun, diese Weise’, und vielleicht würde man sie angeben, indem man die charakteristischen Umrisse seiner Haltung zeichnet. Andrerseits könnte es sein, dass mein Ausdruck ‘Er hat eine bestimmte Weise …’ nur in ‘Ich betrachte seine Haltung’ übersetzt zu werden bräuchte. Dadurch, dass wir ihn in diese Form gebracht haben, haben wir den Satz (proposition) gleichsam begradigt; während seine Bedeutung in der ersten Form eine Schleife zu beschreiben scheint, - in anderen Worten, das Wort ‘bestimmt’ scheint hier transitiv, genauer noch, reflexiv gebraucht zu sein, d.h., wir sehen seine Anwendung hier als einen besonderen Fall des transitiven Gebrauches an. (Wittgenstein 1984 b: 248) Der zeichnerische Ausdruck einer intransitiven visuellen Wahrnehmung beendet alle Nachfragen, oder sie werden durch den Verweis auf die Zeichnung selbst zum Schweigen gebracht, weil sich in ihm eine deiktisch zeigende Sprache (diese Weise) mit dem Zeigen des Bildes ergänzt. Umgekehrt führen die gleichen sprachlichen Ausführungen, wenn sie bildlos bleiben, in ein expandierendes Feld vermeintlich transitiver Relationen. Die intransitive Wahrnehmung erscheint demnach immer dort fälschlich als transitiv, wo sie sich sprachlich artikuliert. Tatsächlich korrigiert Wittgenstein diesen Eindruck aber mit dem Hinweis darauf, dass die Äußerungen zum Gesehenen nicht etwa “irgendeine Beschreibung eines bestimmten Merkmals […] geben” (Wittgenstein 1984 b: 248). Die Sprache detailliert nicht, sie teilt offenbar nicht das jeweils Wahrgenommene mit, sondern nur den spezifischen Zustand, in dem dieses vergleichslos Nachdruck verlangt. Die Äußerungen werden zudem auf entsprechende Nachfragen gegeben, die wiederum auf die Indifferenz vorangegangener Äußerungen reagieren: Wir sind geneigt, die Frage: ‘Welche Weise meinst du? ’ mit ‘Diese Weise’ zu beantworten, statt mit ‘Ich habe kein bestimmtes Merkmal gemeint; ich habe nur seine Haltung betrachtet.’ Mein Ausdruck erweckte den Anschein, als ob ich auf etwas über seine Weise zu sitzen hinwies […]. (Wittgenstein 1984 b: 248) Dieser Anschein verfehlt jedoch das eigentliche Motiv der Rede. Die zirkulären Figuren artikulieren nicht nur das Intransitive im direkten Anschluss an seine Wahrnehmung. Sie dominieren offenbar auch weitere kommunikative Akte, selbst dort, wo konkret nach Detaillierungen gefragt wird. Aber obwohl diese nachträgliche Verlagerung ins Kommunikative in der wechselseitigen Verbalisierung eine Distanz zu schaffen scheint, muss diese laut Wittgenstein misslingen. Denn der Ausdruck, der vermeintlich über das intransitiv Wahrgenommene spricht, tut dies nur dem Anschein nach in einer distanzierten und souveränen Verfügung: “In Wirklichkeit spreche ich nicht über das, was ich sehe, sondern zu dem, was ich sehe.” (Wittgenstein 1984 b: 268) Der Unterschied kommt einem gravierenden Autoritätsverlust des Wahrnehmenden gleich. Die Sprache nimmt sich hier zurück, sie kann nur ergänzen oder hinweisen, aber eine distanzierte Verfügung über das intransitiv Wahrgenommene gelingt ihr nicht, denn dazu müsste sie ihren Gegenstand beschreiben können und auf ein Repertoire an Vergleichsmöglichkeiten zurückgreifen. Reduktion und Relativierung scheitern jedoch: Ulrich Richtmeyer 50 14 Diese Differenz wird ausführlicher in Wittgensteins Philosophischer Grammatik besprochen, wo das Motiv der Intransitivität auf das Bildverstehen bezogen ist. Verkürzt gesprochen, unterscheidet Wittgenstein dort ein transitives Bilddeuten von einem intransitiven Bildverstehen. Es kommt uns vor, als seien wir nur um ein Geringes davon entfernt, die Weise zu beschreiben, während wir sie doch keiner anderen Weise wirklich gegenüberstellen. Wir heben hervor, wir vergleichen nicht, aber wir drücken uns so aus, als ob diese Hervorhebung in Wahrheit ein Vergleich des Gegenstandes mit sich selbst sei; es scheint da einen reflexiven Vergleich zu geben. (Wittgenstein 1984 b: 247) Die genannten Probleme der sprachlichen Artikulationen lassen nun umgekehrt die Qualifikationsmerkmale des zeichnerischen Ausdrucks erkennen. Wenn die Sprache sich in deiktischen Ausdrücken verrennt und nur noch auf “diese Weise” insistiert, so versucht sie ein Zeigen zu praktizieren, über das das Bild bereits verfügt. Was geschieht aber, wenn man in Erwiderung einer Nachfrage nach dem intransitiv Wahrgenommenen ein Bild anbietet oder eine Zeichnung anfertigt? Und wie wirkt sich das auf die im Missverständnis nivellierte Differenz von Hervorhebung und Vergleich aus? Zeichnungen und Bilder sind doch nicht eindeutiger als wortsprachliche Gebilde. Was leistet also ein zeichnerischer Ausdruck des Intransitiven? “Aber die Antwort auf die Frage: ‘Welche Weise? ’ würde sein: ‘Nun, diese Weise’, und vielleicht würde man sie angeben, indem man die charakteristischen Umrisse seiner Haltung zeichnet.”, hieß es. Einem sprachlichen Ausdruck wird die Zeichnung des Wahrgenommenen als alternative Option seiner Artikulation gegenübergestellt. Mit der Möglichkeit einer Zeichnung des Auffallenden wird eine Wiederholung in einem anderen medialen Format thematisiert und damit auch eine andere Form der Zirkularität angesprochen. So ergibt sich nun eine zweischichtige Argumentation, die auf der Seite der Sprache die Reflexivität hervorhebt und auf der Seite des Bildes dessen Zeigen kontrastierend einsetzt. Wittgenstein stellt sich dabei selbst die bildkritische Frage, ob nicht in der beispielhaft gegebenen Zeichnung nun der gleiche Zirkel auftritt wie zwischen den redundanten, quasi transitiven Ausdrücken. Wir wollen nun einen sehr lehrreichen Fall von jenem Gebrauch des Wortes ‘bestimmt’ betrachten, in dem es nicht auf einen Vergleich weist und dennoch den starken Anschein erweckt, als tue es gerade das, - den Fall, wenn wir den Ausdruck eines Gesichtes betrachten, das primitiv in dieser Weise gezeichnet ist: (Wittgenstein 1984 b: 250f.) Auch dieser “lehrreiche Fall” wird zunächst als ein Beitrag zur Sprachkritik angeboten und doch problematisiert Wittgenstein mit der Wiedergabe einer zeichnerischen Gesichtsdarstellung nicht nur jene leitende Differenz zwischen dem transitiven und dem intransitiven Sprachgebrauch, sondern darüber hinaus auch jene zwischen einer transitiven und einer intransitiven Bildlektüre. 14 Denn erstens zeigt er, wie sie sich in der Sprache abbildet, und zweitens wird ein anscheinend zirkulärer Status des Bildes als Gegenstand einer intransitiven Wahrnehmung thematisiert: ‘Worte können es nicht genau beschreiben’, sagt man manchmal. Und doch hat man das Gefühl, dass das, was man den Ausdruck des Gesichtes nennt, etwas ist, was man von der Zeichnung des Gesichts trennen kann. Es ist, als ob wir sagen könnten: ‘Dieses Gesicht hat einen bestimmten Ausdruck, nämlich diesen’ (indem man auf etwas zeigt). Doch wenn ich an dieser Stelle auf etwas zeigen müsste, so müsste es die Zeichnung sein, die ich ansehe. (Wir sind gleichsam unter Ikonische Intransitivität: Repräsentation, Virtualität, Praxis 51 15 In den Philosophischen Bemerkungen heißt es etwa: “[…] wie immer das Bild geschaffen ist, immer kann es auf verschiedene Weise gemeint sein.” (Wittgenstein 1984 c: 65) 16 “‘Das Bild sagt mir sich selbst’ - möchte ich sagen. D.h., dass es mir etwas sagt, besteht in seiner eigenen Struktur, in seinen Formen und Farben.” (Wittgenstein 1984 e: 438 (§ 523)) Diese Formulierung hat ihre textuelle und inhaltliche Herkunft in der Philosophischen Grammatik (Wittgenstein 1984 d: §§ 115 u. 121) und dem Brown Book bzw. seiner Umarbeitung (Wittgenstein 1984 b: 272). 17 Zur bildlichen Konstitution von Sinn bei Wittgenstein vgl. Richtmeyer (2012 b). 18 Auch eine musikalische Exemplifikation des Prädikats intransitiv ist in Wittgensteins Braunem Buch möglich. Hierzu äußert sich Peter Hacker folgendermaßen: “Weder werden hier Grenzen der Sprache kundgetan noch Andeutungen gemacht, man habe etwas Unsagbares erfasst, sondern es wird lediglich emphatisch zum Ausdruck gebracht, dass einen die Melodie wirklich beeindruckt hat.” (Hacker 1999: 116f.) dem Einfluss einer optischen Täuschung, die uns durch eine Art Reflexion zu denken veranlasst, dass es zwei Gegenstände gibt, wo in Wirklichkeit nur einer ist. Die Täuschung wird durch unseren Gebrauch des Wortes ‘haben’ unterstützt, indem wir sagen: ‘Das Gesicht hat einen bestimmten Ausdruck.’ Die Sache sieht anders aus, wenn wir stattdessen sagen: ‘Dies ist ein eigenartiges Gesicht.’ Was ein Gegenstand ist, meinen wir, ist mit ihm verbunden; was er hat, kann von ihm getrennt werden.) (Wittgenstein 1984 b: 251) Im Wechsel vom Haben zum Sein widerfährt dem Wahrgenommenen damit also ein Statuswechsel, der von der attributiven zu einer substantiellen Dimension weist, die ihm eigentlich zusteht. Wir haben es bei der intransitiven Bildwahrnehmung deshalb auch nicht mit einem virtuellen Erleben zu tun. Dies ist ein eigenartiges Gesicht, heißt, dass das wahrgenommene Bild hier insofern als intransitiv aufgefasst wird, als es innerhalb des Bildes zu keinerlei Detaillierung kommt, sondern vielmehr sein Entgegenkommen, seine Nachdrücklichkeit in die artikulativen Täuschungen führt. Wittgensteins sprachkritische Untersuchung der notorischen Missverständlichkeit intransitiver Artikulationen wandelt sich so letztlich in eine bildtheoretische Darstellung intransitiver Wahrnehmungsgehalte um. Obwohl die intransitive Bildwahrnehmung mit einem differenzierbaren Gegenstand konfrontiert ist, kann sie ihn nur einstellig wahrnehmen. So versteht sie das Bild auf bestimmte Weise, weil sie auf die bildliche Art des Hervorhebens reagiert. Die Trennung von Ausdruck und Gesicht ist eine sprachlich strukturierte Maßnahme, die die genuine Kraft des Bildes, sich selbst als sinnhaftes Ganzes hervorzuheben und damit Aufmerksamkeit zu evozieren, bereits in zirkulären Figuren der Rede wiederzugeben versucht. Zwar geht auch Wittgenstein ganz selbstverständlich davon aus, dass Bilder immer auf verschiedene Weise gedeutet werden können und dass man sie kriteriell gesicherten Bewertungen unterziehen kann. 15 Die Perspektive des Bilddeutens gründet aber schon auf einem Vergleich, den es vom Verstehen bildlich gesetzter Hervorhebungen grundsätzlich zu unterscheiden gilt, weil diese angeben, wie sich das, was im Einzelfall jeweils verglichen wird, im Medium des wahrgenommenen Bildes allererst konstituiert. Deshalb führt das Thema und die Diskussion der Intransitivität in Wittgensteins Brown Book sowie seiner Umarbeitung letztlich zu jener Feststellung, wonach das Bild sich mir selbst sage, 16 das einzelne Artefakt also, auf eine medienspezifische Weise des Zeigens, jeweils Singuläres, das heißt Bestimmtes hervorbringt. 17 Die verschiedenen und nachdrücklichen Anläufe, die der Sprachphilosoph braucht, um letztlich ein bildphilosophisches Thema zu konturieren, 18 begründen die implizite Bildlichkeit des Imaginären in einer medienspezifischen Praxis und verschieben damit auch die Geographie seines Begriffsfeldes. Denkt man Imagination von der ikonischen Intransitivität aus, so führt sie tatsächlich zu jener Auffassung des Vorstellungsbildes, das wir uns am besten als gemaltes oder gezeichnetes denken. Die Ulrich Richtmeyer 52 damit verbundene Kritik an seiner rein psychologisch/ mentalistischen oder auch sprachlich/ zeichentheoretischen Exegese verbindet sich bei Wittgenstein mit einer Betonung des genuin bildlichen Zeigens, einer Aufwertung des hervorbringenden Handelns und einer Anerkennung der Unverfügbarkeit von Singulärem, das uns als wahrnehmenden und handelnden Wesen sinnhaft widerfährt. Bibliographie Barthes, Roland 1989: Die Helle Kammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Barthes, Roland 1990: “Cy Twombly oder non multa sed multum”, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 165-183. Boehm, Gottfried 2007 a: “Einführung”, in: ders.: 9-18. Boehm, Gottfried 2007 b: “Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes”, in: ders.: 19-33. Boehm Gottfried 2007: Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin: Berlin Univ. Press. Frank, Gustav 2008: “Pictorial und Iconic Turn. Ein Bild von zwei Kontroversen”, in: Mitchell: 445-487. 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Richtmeyer, Ulrich 2012 b: “Paradoxe Paradigmen. Wittgenstein zur Konstitution und Wirkung von Vorbildern”, in: Elisabeth Fritz, Rita Rieger, Nils Kasper und Stefan Köchel (eds.), Kategorien zwischen Denkform, Analysewerkzeug und historischem Diskurs, Heidelberg: Universitätsverlag: 85-103. Richtmeyer, Ulrich 2012 c: “Ziele des Zeigens - Die Fliegenglasmetapher als Lösungsbild”, in: Hajo Greif und Martin G. Weiss (eds.), Ethik, Gesellschaft, Politik. Papers des 35. Internationalen Wittgenstein Symposium, Kirchberg: Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft: 280-283. Richtmeyer, Ulrich 2014: “Zum Begriff der Bildevidenz in wissenschaftlichen Visualisierungen - vier Anmerkungen zu Michael Lynch”, in: Fabian Goppelsröder, Martin Beck (eds.), Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Publikationsreihe Sichtbarkeiten, Bd. 2, Zürich/ Berlin: Diaphanes: 167-189. Stoellger, Philipp 2008: “Das Bild als unbewegter Beweger? 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Wittgenstein, Ludwig 1984 d: Philosophische Grammatik, Werkausgabe Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig 1984 e: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 225-580. Wittgenstein, Ludwig 1984 f.: Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 445-573. Abbildungsnachweise Emil Nolde, Knecht, Holzschnitt, 1912, aus: Thiem, Gunther (ed.), 1984: Der deutsche Holzschnitt im 20. Jahrhundert, Berlin, 44: Reimer Verlag. Jan Dibbets, Perspective Correction - My Studio I, 1 : Square on Wall, 1969, aus: Boehm u.a. (ed.), 2010: Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München: Wilhelm Fink Verlag, 168. Fritz Rahmann, Leute in der U-Bahn, 2001, aus: Haus am Lützowplatz (ed.), 2003: Fritz Rahmann. Mehrere Arbeiten 1970-2002, Berlin, 51. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Susanne Göpferich Text Competence and Academic Multiliteracy From Text Linguistics to Literacy Development Europäische Studien zur Textlinguistik 16 XXII, 321 Seiten € 68,-/ SFr 88,40 ISBN 978-3-8233-6934-9 How can text competence be fostered in a more efficient and effective manner? This is one of the central questions of this book, which combines the Anglo-American with the German discourse. The topics covered range from text linguistic foundations via text comprehension and comprehensibility to text production, writing skills development and writing in a second or foreign language. Students interested in writing research will be introduced to the pertinent models and theories. Writing instructors, writing centre staff and subject-domain teachers will find guidance on how to improve their assignments and feedback. University administrators and program coordinators can inform themselves about bestpractice approaches to writing instruction and support at different levels ranging from individual courses to central support structures. 2015, 1 Zum Zusammenhang zwischen antiken Mimesis-Theorien und Fiktionstheorien vgl. Petersen (2000). Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien Thomas Klinkert (Freiburg i. Br.) This article presents an analysis of three recent theories of fiction, which differ from traditional theories of fiction, by conceiving fiction as a ternary relationship. Instead of construing a binary opposition between fiction and reality, in the manner of traditional theories (Plato), the authors considered here start from the premise that fiction can be theorized by the integration of imagination or the imaginary. Wolfgang Iser and Rainer Warning consider fiction as a kind of discourse, in which the imaginary is dealt with and in which there is a coupling of processes of imagination and knowledge. Whereas Iser follows Aristotle, in saying that in fictional discourse there is a “reformulation of the formulated world”, which helps to better understand the world, Warning adopts a Foucaultian perspective, which is combined with the conception of the “radical imaginary” proposed by Castoriadis. Kendall L. Walton defines fiction as a “game of make-believe”, based on the transformative power of imagination. In all three conceptions, imagination or the imaginary widen the traditional perspective on fiction as opposed to reality. This presents the advantage of defining fiction positively and not negatively, as a deficient type of discourse. 1 Die binäre Logik traditioneller Fiktionstheorien Seit der Antike gibt es Theorien der Fiktion, welche auf der binären Opposition zwischen Wirklichkeit und Erfindung, Urbild und Abbild, Wahrheit und Nicht-Wahrheit beruhen. So begründet Platon bekanntlich im zehnten Buch der Politeia den Ausschluss der Dichter aus dem idealen Staat durch eine Kritik der Mimesis. 1 Die Maler und Dichter seien Nachahmer von Seiendem. Dadurch stehen sie für Platons Dialogfigur Sokrates noch unter den Werkmeistern, die ihre Gegenstände immerhin als Nachahmung der Ideen erschaffen. Die mimetischen Künstler ahmen dagegen nur diese von der Wahrheit der Ideen bereits entfernten Gegenstände nach, sind also Nachahmer des Nachgeahmten. In beiden Fällen liegt ein Urbild- Abbild-Verhältnis vor, mithin eine binäre Opposition. Mimesis wird als scheinhafte, minderwertige Verdoppelung der Wirklichkeit abgewertet. So sagt Sokrates zu Glaukon: “Oder merkst du nicht, daß auch du selbst imstande wärest dies [sc. die sichtbaren Dinge der Schöpfung] auf gewisse Weise hervorzubringen? ” und antwortet auf Glaukons Frage: “Und welches wäre diese Weise? ” folgendermaßen: Es hat mit ihr gar keine Schwierigkeit, sondern man hat sie vielfältig und rasch zur Hand; am schnellsten wohl, wenn du ohne Umstände einen Spiegel nimmst und ihn überall herumträgst: K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Thomas Klinkert 56 alsbald wirst du da eine Sonne machen und was sonst am Himmel ist, alsbald auch eine Erde, alsbald auch dich selbst und die übrigen Geschöpfe, Geräte, Gewächse und alles vorhin Genannte. (Platon 1998: 390 [596 d]) Wie derjenige, der mithilfe eines Spiegels die Wirklichkeit schlicht verdoppele, sei auch der Maler. Zwar mache auch er ein Bett, aber nur ein scheinbares, wie sich Sokrates und Glaukon schnell einig werden. Ein solcher auf der binären Opposition von Urbild und Abbild, von Sein und Schein beruhender Fiktionsbegriff beherrscht die Diskussion bis heute. So gilt er beispielsweise im aktuellen deutschen Rechtssystem, wie man anhand des berühmt gewordenen Falles Esra von Maxim Biller zeigen kann. Dieser im Jahr 2003 erschienene Roman erzählt die Liebesgeschichte zwischen Adam und Esra, einem Schriftsteller und einer Schauspielerin. Die Romanhandlung beruht auf einer realen Liebesbeziehung zwischen dem Autor des Textes und einer Frau, die sich in der Figur der Esra wiederzuerkennen glaubte und sich - aufgrund der Preisgabe intimer Details durch ihren ehemaligen Geliebten - in ihrem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt fühlte, weshalb sie vor Gericht ging. Der Rechtsstreit zwischen der ehemaligen Geliebten des Autors und dem Verlag, in dem das Buch erschienen war, wurde in verschiedenen Instanzen geführt und endete vor dem Bundesverfassungsgericht in Form eines Beschlusses des Ersten Senats vom 13. Juni 2007 (Bundesverfassungsgericht 2007). Dem Beschluss des Verfassungsgerichts sind vier Leitsätze vorangestellt, von denen drei für die dem Urteil zugrunde liegende Auffassung von Fiktionalität besonders aussagekräftig sind: […] 2. Die Kunstfreiheit verlangt für ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, eine kunstspezifische Betrachtung. Daraus folgt insbesondere eine Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes. 3. Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit ein. 4. Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste, ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen. Aufschlussreich ist, dass das Bundesverfassungsgericht einen engen Zusammenhang zwischen kunstspezifischer Betrachtung und Fiktionalität postuliert. Fiktionalität fungiert gewissermaßen als Legitimationsinstanz für die Kunst, wobei der Grad der Freiheit, den die Kunst genießt, mit dem Grad ihrer Fiktionalität korreliert. In der Argumentation, die sich in dem Beschluss findet, ist folglich immer wieder die Rede von Übereinstimmungen zwischen der Romanhandlung und der Wirklichkeit. So heißt es beispielweise in den Gründen des Beschlusses unter Punkt A.II.18: “Eine Verselbständigung des Abbilds vom Urbild sei vorliegend nicht zu erkennen. Bis auf die Namen habe der Autor in dem Buch die familiären Beziehungen ‘1: 1’ der Wirklichkeit entnommen.” In Satz 21 liest man: “Eine genügende Verfremdung des Abbilds vom Urbild fehle.” Man erkennt an dieser juristischen Argumentation sehr deutlich die dichotomische Gegenüberstellung von Urbild (Wirklichkeit) und Abbild (Fiktion), wobei der Grad der Übereinstimmung zwischen Fiktion und Wirklichkeit variieren kann. So wird einerseits von der Möglichkeit einer 1: 1-Übereinstimmung ausgegangen, andererseits von der Möglichkeit der Verfremdung bzw. Abweichung von der Wirklichkeit. Die juristische Auseinandersetzung Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien 57 bezieht sich im vorliegenden Fall auf den Grad dieser Abweichung. Während der Romanautor Biller in seinem Nachwort eine Übereinstimmung zwischen Fiktion und Wirklichkeit verneint, indem er behauptet, dass alle Figuren seines Romans frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen nicht beabsichtigt und somit rein zufällig seien, geht seine ehemalige Geliebte als Klägerin dagegen von der Annahme einer weitgehenden Deckungsgleichheit von Fiktion und Wirklichkeit aus und fühlt sich dadurch herabgewürdigt und in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt. Nicht nur im juristischen Diskurs, sondern auch im Diskurs der Sprachphilosophie lässt sich das Nachwirken eines binären Fiktionsbegriffs nachweisen, der stark an den von Platon definierten erinnert. So begründet der Sprachphilosoph John Searle in einer 1974 erstmals erschienenen einflussreichen und vielzitierten Untersuchung mit dem Titel “Der logische Status fiktionaler Rede” (“The Logical Status of Fictional Discourse”) die Eigenart fiktionaler Sprechakte ebenfalls im Rekurs auf eine binäre Opposition, indem er den Wahrheitsbegriff bemüht. Sein Fiktionsbegriff situiert sich im Rahmen der von ihm entwickelten Sprechakttheorie, welche Searle auf folgenden Regeln fundiert: 1. Die wesentliche Regel: Wer etwas behauptet, legt sich auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition fest. 2. Die Vorbereitungsregeln: Der Sprecher muß in der Lage sein, Belege oder Gründe für die Wahrheit der ausgedrückten Proposition anzuführen. 3. Die Wahrheit der ausgedrückten Proposition darf im Äußerungskontext nicht sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer offensichtlich sein. 4. Die Aufrichtigkeitsregel: Der Sprecher legt sich auf die Überzeugung fest, daß die ausgedrückte Proposition wahr ist. (Searle 2007: 25) Ein pragmatischer Sprechakt unterliegt Searle zufolge den genannten Regeln. Ein fiktionaler Sprechakt dagegen kann solche Regeln missachten, wie Searle am Beispiel eines Textauszugs aus einem Roman von Iris Murdoch demonstriert: Zwar sieht der zitierte Textauszug formal aus wie eine Behauptung, wie wir sie etwa auch in einem journalistischen Text finden könnten, doch werden in ihm die für die Behauptung einschlägigen Regeln nicht eingehalten. Ihre Äußerung legt [sc. Iris Murdoch] nicht auf die Wahrheit der Proposition fest, daß ein kürzlich […] bestallter Leutnant namens Andrew Chase-White an einem sonnigen Sonntagnachmittag im April 1916 in seinem Garten herumbosselte und dachte, er werde noch zehn herrliche Tage ohne Pferde verbringen. Das mag wahr sein oder nicht - Murdoch ist jedenfalls nicht im geringsten darauf festgelegt, daß es wahr ist. Da sie nicht auf die Wahrheit der Proposition festgelegt ist, braucht sie auch keine Belege für ihre Wahrheit anführen zu können. […] Da sie nicht darauf festgelegt ist, daß es wahr ist, was sie sagt, stellt sich aber auch die Frage nicht, ob wir davon schon unterrichtet sind oder nicht, und Murdoch wird nicht für unaufrichtig gehalten, wenn sie keinen Augenblick lang wirklich glaubt, daß tatsächlich jemand an jenem Tag in Dublin an Pferde gedacht hat. (Searle 2007: 25) Es liegt somit ein Sprechakt vor, der aussieht wie eine Behauptung, ohne tatsächlich eine solche zu sein. Searle versucht aus diesem Widerspruch eine Theorie der Fiktion zu entwickeln, die auf dem Prinzip des “Als ob” beruht und folgendermaßen lautet: 1. “Der Autor eines fiktionalen Werkes gibt vor, eine Serie illokutionärer Akte zu vollziehen - normalerweise illokutionäre Akte des behauptenden Typs.” (Searle 2007: 27) 2. “Das Kriterium zur Identifikation eines Textes als fiktionales Werk muß notwendigerweise in den illokutionären Intentionen des Autors liegen.” (Searle 2007: 28) 3. “Die vorgegebenen Illokutionen, die ein fiktionales Werk konstituieren, werden ermöglicht durch die Existenz einer Menge von Konventionen, welche die Regeln, die normalerweise illokutionäre Akte und Welt zueinander Thomas Klinkert 58 in Beziehung setzen, außer Kraft setzen.” (Searle 2007: 29) 4. “Die vorgegebenen Vollzüge illokutionärer Akte, die das Schreiben eines fiktionalen Werkes konstituieren, bestehen im tatsächlichen Vollzug von Äußerungsakten, mit der Intention, jene horizontalen Konventionen in Kraft treten zu lassen, welche die gewöhnlichen illokutionären Festlegungen der Äußerungen außer Kraft setzen.” (Searle 2007: 30) Es kann hier nicht weiter auf die aus literaturwissenschaftlicher Sicht problematische Gleichsetzung von textexternen und textinternen Sprechinstanzen eingegangen werden (vgl. hierzu die Kritik von Genette 1991: 46ff.). Im vorliegenden Zusammenhang wichtig ist die binäre Entgegensetzung von wahren, echten Sprechakten und Pseudo-Sprechakten, als welche fiktionale Sprechakte von Searle klassifiziert werden, d.h. Sprechakten, die nur so tun, als ob sie Behauptungen wären. Die Unterscheidung zwischen ‘normalen’ und ‘nicht-normalen’ Sprechakten zeigt an, dass es sich hier um ein Unterordnungsverhältnis handelt. Fiktionale Sprechakte sind eine Besonderheit, die sich für Searle nur als Anomalie beschreiben lässt. Dabei zeigt sich, dass die fiktionalen Sprechakte für ihn ein Problem darstellen, welches er durch argumentative Verrenkungen in den Griff zu bekommen versucht - etwa indem er etwas rätselhaft davon spricht, “jene horizontalen Konventionen in Kraft treten zu lassen, welche die gewöhnlichen illokutionären Festlegungen der Äußerungen außer Kraft setzen”. Mit den Mitteln einer auf binären Oppositionen beruhenden Logik kann man offenbar das Problem, welches fiktionale Sprechakte darstellen, nur schwer lösen. Die auf der binären Opposition Urbild vs. Abbild beruhende Fiktionsauffassung, wie sie sich sowohl bei Platon als auch bei Searle, aber auch im juristischen Diskurs nachweisen lässt, birgt aus literaturwissenschaftlicher Sicht eine grundlegende Problematik in sich: Wenn es ein Urbild gibt, dann ist stets die Frage, wie sehr das Abbild dem Urbild ähnelt bzw. ob es diesem überhaupt ähnlich sein kann. Mit anderen Worten: Wenn die Fiktion sich an der Wirklichkeit messen lassen muss, dann hat sie es schwer und zieht meist den Kürzeren. So sagt Platon, dass die Mimesis des Dichters oder Malers scheinhaft und unvollkommen sei und in doppeltem Grade von der Wahrheit der Ideen entfernt. Für Searle ist die Frage, wie ein Sprechakt, der aussieht wie ein ernst gemeinter Sprechakt, existieren kann, obwohl für ihn die Wahrheitsbedingungen und Aufrichtigkeitsregeln pragmatischer Sprechakte nicht gelten. Im juristischen Diskurs stellt sich die Frage etwas anders, denn es geht hier bei der Aushandlung des Konflikts zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht um die Frage der zulässigen und tolerierbaren Ähnlichkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit bzw. der erforderlichen Abweichung der Fiktion von der Wirklichkeit (Verfremdung). In allen Fällen zeigt sich, dass trotz unterschiedlicher Begründungszusammenhänge das Kernproblem stets die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist und dass die Fiktion gerade durch die Ähnlichkeit ein Skandalon darstellt - entweder weil sie der Wirklichkeit zu wenig ähnlich ist oder weil sie zu wenig von ihr abweicht. Allerdings kann man stets trefflich darüber streiten, ob die Fiktion nun eher der Wirklichkeit ähnelt oder ob sie eher von ihr abweicht. Objektive Kriterien hierfür kann es nicht geben. Es soll nun im Folgenden argumentiert werden, dass sich durch die Erweiterung der zweistelligen Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Urbild und Abbild, in Richtung einer dreistelligen, die Imagination bzw. das Imaginäre einbeziehenden Konstellation neue Perspektiven auf die Fiktion ergeben, die diese in ihrem Eigenrecht und in ihrer Eigengesetzlichkeit positiv fundieren können. Denn auffälligerweise beruhen alle bisher erwähnten Fiktionsbegriffe auf einer (expliziten oder impliziten) negativen Bestimmung; sie sagen, was Fiktion nicht ist: Sie ist nicht die Wirklichkeit, sondern nur ihre Nachahmung, sie ist kein pragmatischer Sprechakt, sondern ein Pseudosprechakt, der so tut, als ob er ein echter Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien 59 Sprechakt wäre. Wie zu zeigen sein wird, ermöglicht es die Einbeziehung des Imaginären / der Imagination, Fiktion als einen eigenständigen Bereich zu bestimmen. 2 Die Erweiterung des binären Modells der Fiktion durch das Imaginäre/ die Imagination Neben den bisher behandelten ‘Standardtheorien’ der Fiktion gibt es in jüngerer Zeit Ansätze, die den binären Charakter der Fiktionalität durch die Hinzufügung eines dritten Elements erweitern. Gemeint ist das Element des Imaginären bzw. der Imagination. Drei dieser Ansätze möchte ich im Folgenden diskutieren. Sie stammen von Wolfgang Iser, Rainer Warning und Kendall L. Walton. 2.1 Wolfgang Iser In seinem Buch Das Fiktive und das Imaginäre schreibt Wolfgang Iser: “Nun fragt es sich aber, ob die gewiß handliche Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten sich an dieser geläufigen Opposition festmachen läßt. Sind fiktionale Texte wirklich so fiktiv, und sind jene, die man so nicht bezeichnen kann, wirklich ohne Fiktionen? ” (Iser 1991: 18) Die binäre Opposition von Fiktion und Wirklichkeit - welche zu den “Elementarbeständen unseres ‘stummen Wissens’” (Iser 1991: 18) gehöre - stellt Iser im Hinblick auf ihre Tauglichkeit zur adäquaten Beschreibung fiktionaler Texte infrage. In diesen nämlich, so Iser, lassen sich Mischungsverhältnisse von Realem und Fiktivem beobachten. Die zweistellige Relation von Fiktion und Wirklichkeit wird infolgedessen von Iser durch die Triade des Realen, des Fiktiven und des Imaginären ersetzt. “Enthält der fiktionale Text Reales, ohne sich in dessen Beschreibung zu erschöpfen, so hat seine fiktive Komponente wiederum keinen Selbstzweckcharakter, sondern ist als fingierte die Zurüstung eines Imaginären.” (Iser 1991: 18) Iser geht von der wohlbekannten Tatsache aus, dass in fiktionalen Texten Wirklichkeitselemente (z.B. soziale Verhältnisse, aber auch individuelle Gefühle und Empfindungen) dargestellt werden können. Von diesen Wirklichkeitselementen behauptet Iser, sie seien keine Fiktionen und sie würden auch nicht dadurch zu Fiktionen, dass sie in fiktionalen Texten dargestellt würden. Andererseits jedoch gelte auch, dass solche Realitätselemente in fiktionalen Texten nicht um ihrer selbst willen wiederholt würden, d.h. es gehe nicht um bloße Nachahmung oder Abbildung. Er kommt zu dem Schluss, dass im Akt des Fingierens “Zwecke zum Vorschein kommen, die der wiederholten Wirklichkeit nicht eignen.” (Iser 1991: 20) Weiter heißt es: Ist Fingieren aus der wiederholten Wirklichkeit nicht ableitbar, dann bringt sich in ihm ein Imaginäres zur Geltung, das mit der im Text wiederkehrenden Realität zusammengeschlossen wird. So gewinnt der Akt des Fingierens seine Eigentümlichkeit dadurch, daß er die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht, wodurch sich die wiederkehrende Realität zum Zeichen und das Imaginäre zur Vorstellbarkeit des dadurch Bezeichneten aufheben. (Iser 1991: 20) Das Fiktive versteht Iser, wie man sieht, als einen intentionalen Akt der Darstellung; der eigentlich passendere Begriff hierfür wäre ‘das Fingieren’. Das Reale, welches dem Akt des Fingierens einerseits gegenübersteht und von ihm abgrenzbar ist, kann andererseits Teil dieses Thomas Klinkert 60 Aktes sein; es kann von ihm aufgenommen und zum Teil des Dargestellten werden. Unter dem Realen versteht Iser die außertextuelle Welt, “die als Gegebenheit dem Text vorausliegt und dessen Bezugsfelder bildet” (Iser 1991: 20, Fußnote 2). Konstituiert wird diese außertextuelle Welt unter anderem durch Sinnsysteme, soziale Systeme, Weltbilder, d.h. es handelt sich um einen sehr weiten Begriff vom Realen, in dem auch Texte ihren Platz haben: Das Reale wird von Iser auch bestimmt als “die Vielfalt der Diskurse, denen die Weltzuwendung des Autors durch den Text gilt” (Iser 1991: 20, Fußnote 2). Mit der “Wiederkehr lebensweltlicher Realität” im Akt des Fingierens verbindet sich nun das Imaginäre, und zwar dergestalt, dass die fiktional dargestellte Wirklichkeit zu einem Zeichen wird, welches auf etwas verweist, dessen Vorstellbarkeit, so Iser in einer etwas schwierigen Ausdrucksweise, das Imaginäre ist. Im Akt des Fingierens kommt es somit zu einer gemeinsamen Gestaltwerdung des Realen und des Imaginären. Dieses ermöglicht es, dass man sich etwas vorstellt, es hat Ermöglichungscharakter. Das, was man sich vorstellt, ist Teil einer Zeichenstruktur, d.h. das Imaginäre wird, indem es mit einem Akt des Fingierens interagiert, seinerseits eingebunden in einen semiotischen Zusammenhang. Isers Begriff des Imaginären ist noch genauer zu untersuchen. Es sei, so sagt er, in seiner uns durch Erfahrung bekannten Erscheinungsweise diffus, formlos, unfixiert und ohne Objektreferenz. Es manifestiert sich in überfallartigen und daher willkürlich erscheinenden Zuständen, die entweder abbrechen oder sich in ganz anderen Zuständlichkeiten fortsetzen. (Iser 1991: 21) Mit anderen Worten: Das Imaginäre manifestiert sich in Form von Phantasmen, Projektionen und Tagträumen, die sich durch Nicht-Bestimmtheit auszeichnen. Im Akt des Fingierens werden nun, so Iser, der Bereich des Wirklichen und der Bereich des Imaginären zusammengeschlossen. Es findet dabei eine doppelte Grenzüberschreitung statt. Auf der einen Seite wird die im Fingieren dargestellte Wirklichkeit zum Zeichenhaften hin verändert, wobei ein “Überschreiten ihrer Bestimmtheit” (Iser 1991: 21) erfolgt. Auf der anderen Seite wird das Diffuse und Unbestimmte des Imaginären durch seinen Eintritt in den Akt des Fingierens einer Bestimmtheit zugeführt, die das Imaginäre ursprünglich nicht besitzt. Auf der einen Seite also erfolgt die Überführung einer lebensweltlichen Bestimmtheit des Realen in eine zeichenhafte Bestimmtheit im Rahmen der Fiktion. Auf der anderen Seite findet die Transformation einer Nicht-Bestimmtheit des Imaginären in eine Bestimmtheit im Rahmen der Fiktion statt. Die erste Überführung ist eine Grenzüberschreitung qua Irrealisierung, die zweite eine Grenzüberschreitung qua Realwerden des Imaginären. Als die Irrealisierung von Realem und Realwerden von Imaginärem schafft der Akt des Fingierens eine zentrale Voraussetzung dafür, inwieweit die von ihm jeweils geleisteten Grenzüberschreitungen 1. die Bedingung für die Umformulierung formulierter Welt abgeben, 2. die Verstehbarkeit einer umformulierten Welt ermöglichen und 3. die Erfahrbarkeit eines solchen Ereignisses eröffnen. (Iser 1991: 23) Der Akt des Fingierens beruht also Iser zufolge auf einer doppelten Bewegung, einer doppelten Grenzüberschreitung und einer Inbezugsetzung des Realen und des Imaginären im Medium des Fiktiven. Diese komplexe dreistellige Relation hat, gut aristotelisch gedacht, die Funktion, Weltverstehen zu ermöglichen, indem das Reale neu zusammengesetzt wird und dadurch dem Seienden Alternativmodelle hypothetisch entgegengestellt werden und diese wiederum durch die Fiktion sinnlich erfahrbar gemacht werden können. Im weitesten Sinne ist der Akt des Fingierens also in dieser Dreistelligkeit ein erkenntnisstiftender Vorgang, der konstitutiv angewiesen ist auf den Beitrag des Imaginären. Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien 61 Unter Verweis auf verschiedene Theorien des Imaginären - insbesondere auf die Theorien von Coleridge, der Imagination als Vermögen begreift, von Sartre, der das Imaginäre als Vorstellungsakt konzeptualisiert, und von Castoriadis, der vom radikal Imaginären spricht - begreift Iser dieses als ein Phänomen, welches fundierenden Charakter besitzt, sich allerdings ursprünglich in einem Außenbereich befindet. Da das Imaginäre selbst unbestimmt ist und nicht bildlich, begrifflich oder anderweitig sich manifestiert, bedarf es der “Mobilisierung von außerhalb seiner, sei es durch das Subjekt (Coleridge), das Bewußtsein (Sartre) oder die Psyche und das Gesellschaftlich-Geschichtliche (Castoriadis)” (Iser 1991: 377). Eine entscheidende Vermittlungsfunktion bei der Aktivierung des Imaginären komme dem Spiel zu. Eine besondere Variante des Spiels sei das Fiktive, welches weniger zweckgerichtet sei als die durch die Namen Coleridge, Sartre und Castoriadis bezeichneten Paradigmen Subjekt, thetisches Bewusstsein und Gesellschaftlich-Geschichtliches. Das Fiktive ziele nicht auf eine Verdinglichung transitorischer Bewegung durch Symbole, es fungiere vielmehr als “Instanz, Imaginäres über seinen pragmatischen Gebrauch hinaus erfahrbar zu machen, ohne von dessen ‘Entfesselung’ überschwemmt zu werden, wie etwa im Traum oder in Halluzinationen” (Iser 1991: 381). Wichtig ist für Iser die Doppelungsstruktur als distinktives Merkmal des Fiktiven. Er zeigt dies am Beispiel der Bukolik, die “eine artifizielle - weil erfundene - Welt mit einer soziohistorischen zusammenschließt und sich in dieser Doppelung als Selbstreflexion literarischer Fiktionalität präsentiert” (Iser 1991: 381). Das Fiktive im Iser’schen Sinne ist somit gekennzeichnet durch Selbstreflexivität und Doppelung und es fungiert als ein Spiel, welches das unvordenkliche Imaginäre ergreift und einer Bestimmtheit zuführt und in diesem Prozess Erkenntnis ermöglicht. 2.2 Rainer Warning Rainer Warning nähert sich der Fiktion zunächst, indem er sie ähnlich wie Searle, allerdings semiotisch sehr viel differenzierter als dieser “über den illokutionären Modus eines Als-ob- Handelns” (Warning 1983: 191) zu beschreiben versucht. In seinem späteren Beitrag “Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault” (Warning 1999) erweitert er seinen Fiktionsbegriff durch die Einbeziehung des Imaginären. Er stellt die Frage nach dem Status der Literatur im Denken von Michel Foucault und greift dabei den in Les mots et les choses verwendeten Begriff des “contre-discours” (Foucault 1966: 59) auf. Obwohl Foucault seinen Literaturbegriff nur unsystematisch skizziere, scheine, so Warning, die Vermutung nahezuliegen, “daß Foucault poetische Texte grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu diskursiv organisiertem Wissen, also zur ‘Ordnung des Diskurses’ sieht, als Freiraum neben und außerhalb von Machtdispositiven” (Warning 1999: 317). Diesen Gedanken aufgreifend, versucht Warning, eine systematischere Fundierung des Konzepts poetischer Nicht- oder Konterdiskursivität vorzunehmen. Dabei macht er deutlich, dass im Sinne Foucaults Literatur keineswegs abzutrennen sei von den gesamtdiskursiven Zusammenhängen. “Literarische Texte in umgreifende Diskursfelder einzubetten ist allein schon deshalb unverzichtbar, weil sie an deren Strukturen, wie vermittelt auch immer, durchaus partizipieren.” (Warning 1999: 317) Neben dieser Einbettung aber bleibe doch die “Frage nach der Literarizität von Literatur” (Warning 1999: 318) methodologisch fundiert zu stellen, was Warning mit dem Postulat einer “Dialektik von Einbettung und Ausbettung” (Warning 1999: 318) versucht. Thomas Klinkert 62 Im Gegensatz zu Foucaults Affinität zur zeittypischen avantgardistischen Auffassung von der bloßen Selbstreferentialität des Schreibaktes (Tel Quel und Nouveau Nouveau Roman) sieht Warning als “eigentliches Movens poetischer Konterdiskursivität” (Warning 1999: 318) das Imaginäre. Dieses wurde von Foucault selbst in seiner frühen Einführung zu einer Übersetzung von Ludwig Binswangers Traum und Existenz zusammen mit dem Traum “als Offenbarungen letzter Wahrheiten, insbesondere des Todes als Verwirklichung der Freiheit” (Warning 1999: 319) gefeiert. Später jedoch entwickelte Foucault im Rahmen seiner Archäologie des Wissens (Foucault 1966 und 1969) eine Position, in der das Subjekt als problematisches historisches Konstrukt und nicht als Existential konzipiert wurde, weshalb Foucault das Imaginäre nun allenfalls noch als ein Phänomen, welches sich aus Büchern speise, zulassen konnte. So schreibt er über Flauberts Tentation de Saint-Antoine: “L’imaginaire ne se constitue pas contre le réel pour le nier ou le compenser; il s’étend entre les signes, de livre à livre, dans l’interstice des redites et des commentaires; il naît et se forme dans l’entre-deux des textes. C’est un phénomène de bibliothèque.” (Foucault 1964: 297f.) Das Imaginäre ist für Foucault also nicht ein an Subjektivität geknüpftes, sondern ein rein diskursives Phänomen. Um nun aber, so Warning, das Foucault’sche Konzept des Gegendiskurses theoretisch genauer zu fassen, müsse man dem Imaginären Rechnung tragen. Denn so wie Foucault zufolge Wissen sowohl in institutionalisierten Wissensdiskursen als auch in anderen Diskurstypen wie zum Beispiel literarischen Texten seinen Niederschlag finde, sei umgekehrt zu postulieren, dass das Imaginäre ebenfalls Teil aller Diskurse sei, sodass man, so Warning, das Konzept der Episteme überhaupt nicht denken könne, ohne dabei auch den Stellenwert des Imaginären zu berücksichtigen. Um diese Lücke in Foucaults diskursarchäologischem Begriffssystem zu füllen, greift Warning auf das schon bei Iser nutzbar gemachte Konzept des radikal Imaginären von Cornelius Castoriadis zurück. Castoriadis (1975) geht in seiner Theorie des Imaginären aus von Mangel und Begehren. Dies entspricht durchaus dem Denken der Psychoanalyse, mit dem Castoriadis einen kritischen Dialog führt. Während die Psychoanalyse im Rahmen des von ihr entwickelten Modells der Triebdynamik annimmt, dass die phantasmatischen Repräsentationen auf eine Urszene des Mangels zurückgeführt werden könnten, radikalisiert Castoriadis dieses Konzept, indem er den Mangel nicht in einer äußeren Realität, sondern in der Psyche selbst verortet. Die Psyche sei, so Castoriadis, ihr eigenes verlorenes Objekt: “La psyché est son propre objet perdu.” (Castoriadis 1975: 433) Der das Imaginäre auslösende Mangel wäre demnach der Psyche selbst eingeschrieben und nicht rückführbar auf eine erlittene Urszene, die ein Therapeut im Dialog mit dem Patienten dingfest machen und dadurch in Wissen überführen könnte. Warning zufolge ergeben sich aus dem Ansatz von Castoriadis zwei Vorteile: Erstens die Verortung des Mangels und Begehrens und des dadurch produzierten Imaginären “außerhalb eines angeblichen Wissens” (Warning 1999: 321). Zweitens die Auffassung des Imaginären als eines Phänomens, das “frei ist von jeder positiven oder negativen Wertung” (ebd.). “Es ist keine Kompromißbildung, es ist keine täuschende Repräsentation, die eine andere verbirgt, es ist keine Sekundärszene, die verweist auf eine Urszene, kurz: Es ist kein Symbol, das der Desymbolisation durch einen Analytiker harrte.” (Ebd.) Wenn nun diese Psyche, die ihren ursprünglichen Mangel in sich selbst hat, zu einem sozialen Individuum wird, dann impliziert dies einen radikalen Bruch der Psyche mit sich selbst. Dennoch bleibt die Psyche “‘magnetisiert’ durch das, was sie verloren hat, so daß ihre soziale Instituierung nicht einhergeht mit einem Verlust ihrer Kreativität, ihres ständigen Anderswerdens in der Kette der Bilder eines auf immer unstillbaren Begehrens” (ebd.). Dies wiederum bedeutet, dass das radikal Imaginäre, welches die Psyche ursprünglich auszeichnet, Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien 63 durchschlägt auf das gesellschaftliche Imaginäre. Das gesellschaftliche Imaginäre steht seinerseits in einer Wechselbeziehung mit dem identitätslogischen Denken des Wissens. Wissen und Imaginäres hängen eng zusammen und durchdringen sich gegenseitig: Es gibt kein Wissen ohne imaginäre Besetzung, wie es umgekehrt keine Hervorbringung des Imaginären gibt, die nicht Teil des Wissens, die nicht ‘gewußt’ wäre. Die Episteme und das Imaginäre bilden also eine wesentlich komplexe, eine wesentlich hybride Einheit, und man kann beide folglich nicht trennen über semantische Oppositionen, sondern allein über pragmatische und also funktionale Oppositionen. Man kann mit dem Wissen entweder ernsthaft und diszipliniert umgehen, oder aber mehr zwanglos-spielerisch. […] Den Wissensdiskurs und den poetischen Konterdiskurs in Opposition setzen ist nicht eine semantische, sondern eine pragmatische Operation. Man kann nicht ‘indizieren’, was dem Wissen und was dem Imaginären angehört, weil der Konterdiskurs ebenfalls über Organisationsprinzipien, über Formationsregeln verfügt, wie sie etwa die Gattungsregeln darstellen. (Warning 1999: 322) Durch die Zusammenführung von Castoriadis und Foucault entwickelt Warning somit eine Theorie, in der literarische und nicht-literarische Diskurse in gleicher Weise sowohl am Imaginären als auch am Epistemischen partizipieren. Das Imaginäre wird zur fundierenden Größe, wobei eine Unterscheidung des fiktionalen vom nicht-fiktionalen Diskurs erst durch pragmatische Regeln und Konventionen möglich wird. Diese Auffassung relativiert die in Foucaults Rede vom Konterdiskurs aufscheinende radikale Andersartigkeit der Literatur. Fiktionale Literatur partizipiert auf einer grundlegenden Ebene am Wissen und wird gespeist aus dem Imaginären, genauso wie die auf Wissen spezialisierten Diskurse. Dass auf einer weniger basalen Ebene die Diskurse dennoch unterscheidbar sind, ergibt sich aus Gattungsregeln und pragmatischen Einstellungen der Zeichenbenutzer. Eine wichtige Funktion kommt in diesem Zusammenhang der Räumlichkeit zu, welche Warning mit Lotman als transzendentale Bedingung des Imaginären deutet, dergestalt dass “der poetische Text mit seiner topographischen Konkretisierung der topologischen Achsen die räumliche Arbeit des Traums und des Imaginären gleichsam fortsetzt, wohingegen das Wissen den ‘espace onirique’ überführt in das räumliche Modell einer gegebenen Gesellschaft oder einer übergreifenden kulturellen Formation.” (Warning 1999: 323) Warning zeigt in einer Reihe von exemplarischen Textanalysen, wie sich Wissen und Imaginäres in literarischen Texten zueinander verhalten können. Besonders einschlägig ist hier Dantes Divina Commedia. In diesem Text wird eine abstrakte Wissensordnung, die sich u.a. aus der scholastischen Theologie speist, konkret ins Bild gesetzt. Dabei kommt es zum Widerstreit zwischen der aus dem theologischen Wissen heraus erklärbaren objektiven Jenseitsordnung, in der alle Seelen nach ihrem Tod an dem ihnen jeweils gebührenden Ort angesiedelt werden, d.h. einer statischen topologischen und topographischen Ordnung, in der Sujethaftigkeit (im Sinne von Lotman 1972: 333) ausgeschlossen ist, und der von den Seelen erinnerten und erzählten Diesseitsordnung, die geprägt ist durch sujethafte Grenzüberschreitungen. An diesen Sujets, so Warning, entzünde sich das Imaginäre der Commedia. Dieser Gegensatz wurde in der Danteforschung auch mit den Begriffen ‘Sündenattribut’ und ‘poetisches Attribut’ zu erfassen versucht. Im Gegensatz etwa zu Hugo Friedrich, der zwischen dem objektiven Sündenattribut und dem subjektiven poetischen Attribut eine klare Hierarchie zu erkennen glaubt (Friedrich 1942), argumentiert Warning, wie ich meine zu Recht, dass zwischen diesen beiden Typen von Attributen ein Spannungsverhältnis bestehe. Die Narration setzt eine Eigendynamik frei, an der sich das Imaginäre des Autors Dante, aber auch seiner Leser entfalten kann. Wenn etwa Odysseus in Inferno XXVI als ein Exempel augustinischer curiositas erscheint, so sind zwei Deutungsweisen möglich: Thomas Klinkert 64 2 Die folgenden Überlegungen greifen zum Teil auf meine Studie Epistemologische Fiktionen (Klinkert 2010: 32-34) zurück. Man kann mit ihr [sc. der curiositas] den Text ins Theologische zurückholen und damit poetisch stillstellen. Ebenso gut aber kann man in der curiositas genau jenen kritischen Punkt ausmachen, an dem Wissen ins Imaginäre umschlägt. Curiositas ist Wissenwollen jenseits des schon Gewußten, sie ist libidinös und damit imaginär besetztes Wissen, ein Wissenstrieb, der wie im Falle des Odysseus Grenzen des Gewußten überwinden will. (Warning 1999: 327) Wenn nun aber Odysseus, dessen Geschichte exemplarisch für curiositas steht, sich an einem Jenseitsort befindet, an dem er offiziell für eine ganz andere Sünde bestraft wird, nämlich die, ein schlechter Ratgeber gewesen zu sein, dann kann man diese Diskrepanz mit Warning als ein Zeichen dafür deuten, dass sich der poetische Diskurs “in einen Konterdiskurs zu jenem Wissensdiskurs, dem sie [sc. die curiositas] entnommen ist” (ebd.), verwandelt. Die Ordnung der durch Fiktion modellierten Welt ist, so kann man Warnings These resümieren, nicht deckungsgleich mit der Ordnung der Wirklichkeit, wie sie durch die dominanten Diskurse einer Epoche vorgegeben wird. Da aber diesen dominanten Diskursen wie auch dem Gegendiskurs der Fiktion das radikal Imaginäre vorgelagert ist, situieren sich sowohl die epistemischen als auch die fiktionalen Diskurse in einem gemeinsamen Bezugsrahmen. Und dieser Rahmen lässt die Betrachtung literarisch-fiktionaler Texte in epistemischer Perspektive nicht nur als legitim, sondern sogar als notwendig erscheinen. 2.3 Kendall L. Walton In seinem Buch Mimesis as Make-Believe entwickelt Kendall L. Walton eine Theorie der Fiktion, die als wesentlichen Bestandteil die Imagination enthält (Walton 1990). 2 Sein Begriff der Fiktion beruht, wie schon der Titel seines Buches anzeigt, auf dem Konzept des makebelieve, welches er mit dem Spiel in Zusammenhang bringt. “Games of make-believe” sind für Walton Handlungen, die die Imagination zum Einsatz bringen oder erforderlich machen. Dabei werden normalerweise Auslöser, sogenannte props, benötigt. Dies können Puppen, Holzklötze oder andere Gegenstände sein. Diese Gegenstände werden beim Spiel mittels der Imagination in etwas anderes verwandelt, indem sich die Beteiligten vorstellen, dass sie dieses andere seien. Walton unterscheidet drei Typen von “games of make-believe”: 1. das Spiel der Kinder, 2. Tagträume, 3. Fiktionen, die er auch als “representations” bezeichnet. Unter “works of fiction” versteht er “works whose function is to serve as props in games of make-believe” (Walton 1990: 72). Was Waltons Ansatz leistet, ist, dass er, genau wie die Ansätze von Iser und Warning, die Fiktion nicht als etwas Negatives oder Defizitäres, sondern als etwas Positives zu fundieren versucht. Das in unserem Zusammenhang Entscheidende ist, dass er dabei die Imagination mit einbezieht. Die Imagination ist als wesentliches Vermögen des Menschen vorauszusetzen, damit Fiktion überhaupt entstehen kann. Der Baumstumpf oder der Busch im Wald, den spielende Kinder zu einem Bären erklären, kann überhaupt nur deshalb eine fiktionale Wirklichkeit konstituieren, weil die Imagination eine solche Transformation zulässt bzw. ermöglicht. Ebenso verhält es sich - und das ist Waltons entscheidende Erkenntnis - beim Betrachten von Kunstwerken, die eine fiktive Wirklichkeit darstellen. Beim Betrachten einer Statue oder eines Bildes wird dieser Gegenstand erst mittels der Imagination in das ver- Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien 65 wandelt, was er darstellen soll. Denn es ist klar, dass zwischen dem materiellen Gegenstand - einer Statue oder einem Gemälde - und dem, was dieser materielle Gegenstand repräsentieren soll (“Napoleon”, “Goethe” oder auch der “Wanderer über dem Nebelmeer”), ein gewaltiger Unterschied hinsichtlich des Materials, der Form, der Ausdehnung, der Eigenschaften usw. besteht. Dieser Unterschied kann nur überbrückt werden mithilfe der Imagination, die beim Betrachten einer Goethe-Statue ausblendet, dass es sich um einen zentnerschweren Gegenstand aus Stein oder Eisen handelt und nicht um einen realen Menschen, der wirklich gelebt hat. Die Transformationsleistung der Imagination besitzt auch eine semiotische Dimension. Im Spiel kommt es nämlich zur regelhaften, imaginären Transformation von Gegenständen. So spricht Walton davon, dass es im Spiel nützlich sein kann, sich auf eine Spielregel (“initial stipulation or agreement”, Walton 1990: 23) in Form einer Transformationsvorschrift (etwa “Let’s call that stump a bear”) zu verständigen, die es dann ermöglicht, unabhängig von der jeweiligen Gestalt des zu transformierenden Gegenstandes das Spiel in Gang zu halten: Once the basic stipulation is made, further deliberation may be unnecessary; the characteristics of the stump may prompt all participants to imagine, nondeliberately, a large and ferocious bear rearing up on its hind legs, and each may confidently expect the others to imagine likewise. (Compare paintings and sculptures that depend heavily on their titles: the late Monets in the Musée Marmottan, Jacques Lipchitz’s Reclining Nude with Guitar.) (Walton 1990: 23) In der Walton’schen Konzeption ist also zu unterscheiden zwischen der Wirklichkeit, so wie sie ist - der Baumstumpf im Wald, die Puppe oder die Statue als materielles Objekt -, und der mittels der Imagination transformierten Wirklichkeit. Diese zweite Wirklichkeit, die auf dem Prinzip des make-believe beruht, kann man als Mimesis oder Fiktion bezeichnen. Damit beruht Waltons Ansatz - ganz ähnlich wie die Ansätze Isers und Warnings - auf einer dreistelligen Relation zwischen Wirklichkeit, Imagination und Fiktion: Wirklichkeit wird Walton zufolge mithilfe der Imagination in Fiktion verwandelt. (Bei Iser werden das Reale und das Imaginäre im Akt des Fingierens in eine zeichenhafte Interaktion gebracht, für Warning lassen sich wirklichkeitskonstituierende Diskurse des Wissens und der Gegendiskurs der Fiktion nur begreifen, wenn man sie auf ein beide fundierendes radikal Imaginäres bezieht.) Wenn man sich nun auf die - bei Walton nicht allein im Mittelpunkt stehende - literarische Fiktion beschränkt, dann ist festzustellen, dass er in diesem Zusammenhang durchaus traditionell argumentiert, indem er zwischen Texten unterscheidet, die Fiktion generieren, und solchen, die auf Wirklichkeit verweisen. Hier fällt er gewissermaßen hinter die Innovativität seines eigenen Ansatzes zurück, etwa wenn er sagt: It is not the function of biographies, textbooks, and newspaper articles, as such, to serve as props in games of make-believe. They are used to claim truth for certain propositions rather than to make propositions fictional. Instead of establishing fictional worlds, they purport to describe the real world. (Walton 1990: 70) Zwar stimmt seine Analyse insofern, als es in der Tat pragmatische Rezeptionsbedingungen gibt, die dafür sorgen, dass man Biographien oder Zeitungsartikel nicht als Auslöser in “games of make-believe” verwendet, sie also nicht zum Gegenstand fiktionaler Kommunikation macht. Doch liegt hier nicht der entscheidende Punkt. Es ist nämlich zunächst und grundlegend zu fragen, welches die kognitiven Verarbeitungsprozesse sind, die bei der Lektüre eines Textes, sei dieser ein Zeitungsartikel oder ein Roman, stattfinden. Nimmt man diese Frage ernst, dann wird man kaum abstreiten können, dass jede Art von geschriebenem Thomas Klinkert 66 Text in vergleichbarer Weise die Imagination in Anspruch nimmt. Das heißt, die Imagination, welche den Text als materiellen Träger von Informationen in eine vorgestellte Wirklichkeit verwandelt, muss in jedem Fall vorausgesetzt werden, damit eine Rezeption erfolgreich sein kann. Selbstverständlich kommen bei solchen Rezeptionsprozessen dann auf einer sekundären Ebene die erlernten, in einer Kultur jeweils gültigen Regeln bezüglich Fiktionalität oder Referentialität zum Tragen. Die Kenntnis dieser Regeln erlaubt uns, einen Roman anders zu behandeln als einen Zeitungsartikel. Das ändert jedoch nichts an der grundlegenden Tatsache, dass in beiden Fällen die Imaginationsprozesse als apriorische Bedingungen der Semiose vorauszusetzen sind. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass der auf Imagination basierende fiktionale Verarbeitungs- und Transformationsmodus der elementare ist, der bei jeder Form zeichengesteuerter Kommunikation zuallererst zum Tragen kommt. Auf einer weniger basalen Ebene erfolgt dann die Ausdifferenzierung verschiedener auf das Dargestellte bezogener Statuszuschreibungen wie real vs. fiktiv. Die Priorität des imaginationsbasierten Fiktionsmodus hat mit dem allen Zeichen konstitutiv eingeschriebenen Merkmal der Absenz zu tun. Ein Zeichen verweist stets auf etwas in ihm selbst nicht Vorhandenes. Der Zeichenbenutzer muss dieses Abwesende imaginär restituieren, um das Zeichen zu verstehen. Je komplexer das Zeichen, desto mehr Imaginationsarbeit muss geleistet werden, etwa bei Erzählungen. Aber auch wenn man lediglich ein Verkehrsschild wahrnimmt und interpretiert, wird bereits ein imaginationsgestützter Prozess in Gang gesetzt, dessen Dauer und Komplexität selbstverständlich mit denen anderer Prozesse, wie sie etwa beim Lesen von Dantes Divina Commedia im Spiel sind, nicht vergleichbar sind. Dennoch gilt, dass jeder zeicheninterpretierende Akt in seinem Kern ein fiktionaler ist, weil er sich auf einen Imaginationsvorgang stützt. 3 Schlussbetrachtung Vergleichen wir abschließend kurz die drei vorgestellten Theorien. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nicht auf der binären Opposition Wirklichkeit vs. Fiktion beruhen, sondern auf der dreistelligen Relation Wirklichkeit - Fiktion - Imagination/ Imaginäres. Alle drei versuchen damit, Fiktion - in Abweichung von den ‘Standardtheorien’ - nicht negativ, sondern positiv zu bestimmen. Iser und Warning stellen auf den Konvergenzpunkt von Literatur und Wissen ab. Bei aller Unterschiedlichkeit der Begründungen und Argumentationen zeigt sich als Gemeinsamkeit, dass beide Autoren der Auffassung sind, dass die Literatur als eine Diskursform zu betrachten sei, in der das Imaginäre bearbeitet bzw. welche vom Imaginären gespeist werde. Diese Bearbeitung des Imaginären in der literarischen Fiktion sei gekoppelt an Prozesse des Wissens und der Erkenntnis. Iser denkt dabei im Grunde aristotelisch-mimetisch, wenn er sagt, dass in den Akten des Fingierens eine “Umformulierung formulierter Welt” stattfinde und dadurch Verstehbarkeit und Erfahrbarkeit ermöglicht würden. Warning dagegen argumentiert mit Foucault diskursarchäologisch, versucht allerdings die Episteme wie auch die Fiktion mit Castoriadis im radikal Imaginären zu fundieren, und postuliert ein Hybridverhältnis zwischen literarischem und epistemischem Diskurs, welches erst auf einer Oberflächenebene durch Gattungsregeln desambiguiert werde. Walton argumentiert handlungstheoretisch, indem er Fiktion als eine Form des Spiels definiert. In seinem Fiktionskonzept spielt die Imagination als transformierendes Vermögen eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle. Man kann aus seiner Theorie ableiten, dass die Imagination die apriorische Voraussetzung für die Möglichkeit der Fiktion ist. Außerdem kann man, wenn man Zum Stellenwert der Imagination und des Imaginären in neueren Fiktionstheorien 67 seine Ausführungen konsequent weiterdenkt, erkennen, dass bei der Rezeption von Texten unabhängig von deren fiktionalem oder referentiellem Status stets die Imagination zum Einsatz kommen muss und dass damit alle Formen der Zeicheninterpretation in ihrem Kern fiktional sind. Bibliographie Bundesverfassungsgericht 2007: Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 13. Juni 2007 (1 BvR 1783/ 05): im Internet unter http: / / www.bundesverfassungsgericht.de/ entscheidungen/ rs20070613_1bvr178305.html [09.07.2014]. Castoriadis, Cornelius 1975: L’institution imaginaire de la société, Paris: Éd. du Seuil (Auflage 1999). Foucault, Michel 1994 [1964]: “Un ‘fantastique’ de bibliothèque”, in: Daniel Defert & François Ewald (eds.), Dits et écrits I (1954-1969), Paris: Gallimard: 293-325. Foucault, Michel 1966: Les mots et les choses. 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Auflage Sammlung Dalp 2015 €[D] 24,99 ISBN 978-3-7720-8565-9 Erich Auerbach (1892-1957) war bis 1935 Professor für Romanische Philologie an der Universität Marburg. Nach seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten emigrierte er über Istanbul in die USA. Im Exil entstand auch sein Hauptwerk Mimesis, das seit seiner Erstveröffentlichung 1946 längst zu einem Klassiker moderner Literaturwissenschaft geworden ist. Anhand einer Reihe souveräner Einzeldarstellungen beschreibt Erich Auerbach die Geschichte der Mimesis als Geschichte der je unterschiedlichen Gestalten, die das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit in verschiedenen historischen Epochen annimmt, und zeichnet so auch die Entwicklung des Realismus in der europäischen und insbesondere der französischen Literatur nach. Aufmarsch der Phantome Mentale Präsenz und das Empathisieren abwesender Figuren im Film Patrick Rupert-Kruse (Kiel) This article is based on the hypothesis that empathic processes may be directed towards absent characters in movies, which are imagined and, thus, beyond the scope of the analogon of the moving image. This phenomenon can be described as the presence of the absent: the virtual present-making of absent characters in movies through the imagination of the viewer. This point marks the parade of the phantoms: they are the projective additions of the recipient, who fills the vacancies left by the absent characters in order to establish unity and coherence within the particular setting or the referential totality (Verweisungsganzheit) of the mental model of the movie. The presence of the absent, thus, describes the virtual presence of an absent figure in the movie as a mental representation constructed by means of empathic processes. Through this internal construction of an empathic perspective the perceiving and interpreting self becomes a projector that fills the blank spaces within the cinematic image(-system). This effects a transformation of the absent into an object with which one can establish emotional, moral, and similar relationships and to which one can respond. At the center of these considerations is the mental model of the empathic perspective on an absent character, which can be considered a dispositif for empathic emotions or empathic reactions such as sympathy or pity. 1 Einleitung “Dies war der wahre Mensch, wachgehalten von Phantomen” (Don DeLillo). Die Bilder auf der Leinwand, dem Bildschirm oder Monitor, die im Strom der Sukzession vor unseren Augen vorbeiströmen, sind - anders als Fotografien oder Gemälde - nicht allein aus ihrer unbewegten und unveränderten Erscheinung heraus wirksam. Beim Film ist es notwendig, die einzelnen Einstellungen, Szenen und Sequenzen mit ihren Inhalten aktiv und stetig miteinander in Beziehung zu setzen. Es zählt somit nicht allein, was in den filmischen Bildern zu sehen ist, sondern es zählen diejenigen Bilder, die sich der Zuschauer innerhalb der Rezeption macht. Diese Aktivität ist ebenfalls als Voraussetzung für das Empathisieren filmischer Figuren anzusehen. Empathische Prozesse sollen hier als Prozesse des Nachvollzugs verstanden werden, die sich nicht allein auf die visuelle Repräsentation filmischer Figuren beziehen, sondern auf die Erzählung im Allgemeinen, um so in die Konstruktion mentaler Modelle zu münden und zugleich darauf aufzubauen. Ausgehend von der daran anschließenden These, dass sich empathische Prozesse zudem auf abwesende Figuren richten können und folglich imaginativ über das Analogon des filmischen Lichtbildes hinaus gehen, soll ein Phänomen vorgestellt werden, das als Präsenz des Absenten umschrieben werden kann: Das phänome- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Patrick Rupert-Kruse 70 1 Die Unterscheidung zwischen den Ebenen der somatischen und der mental-diskursiven Imagination bezieht sich auf die Gewichtung der beteiligten Systeme. Während die somatische Imagination die basale neuronale Aktivität der Spiegelneuronen betont, werden für die mental-diskursive Imagination höhere kognitive Prozesse einbezogen (zudem kommt hier meist ein narratives Moment bezogen auf die jeweilige Fiktion hinzu). Diesbezüglich schreibt auch Manuela Lenzen: “Die Aktivität der Spiegelneuronen könnte die neuronale Basis der […] mentalen Mimikry oder zumindest eine rudimentäre Basis derselben, eine phylogenetische Vorstufe sein. […] Die Aktivität der Spiegelneuronen ist keine Form theoretischen Schließens, sondern sie produziert im Beobachter einen ähnlichen mentalen Zustand wie im Beobachteten” (Lenzen 2005: 155). Es reicht allerdings nicht aus, mentale Zustände somatisch nachbilden zu können, um anschließend korrekte Vorhersagen über aktuelles oder zukünftiges Verhalten, involvierte emotionale Zustände, Träume, Wünsche oder Begierden von Figuren treffen zu können (vgl. Lenzen 2005: 161). Für eine solche elaborierte empathische Modellierung reichen die Informationen, die allein aus einem neuronalen Nachvollzug und einer Analogisierung resultieren, nicht aus (vgl. Esken 2006: 76). nale Anwesend-Machen abwesender Figuren im Film durch die Imaginationstätigkeit des Rezipienten. Dieser Punkt markiert den Aufmarsch der Phantome: Sie sind die projektiven Ergänzungen (vgl. Voss 2006: 78) des Rezipienten, der die Leerstellen, welche die abwesenden Figuren hinterlassen haben, auffüllen muss, um innerhalb des Relationsgefüges Film Einheit und Zusammenhang zu stiften. Eben so strukturiert sich in der Rezeption von Filmen die Präsenz des Absenten: Anhand von Spuren, die auf die Anwesenheit einer Figur hinweisen, modelliert der Rezipient eine empathische Perspektive - ohne die tatsächliche Anwesenheit der Figur im Filmbild. Er erschafft ein Phantom. Die Spuren, die zu diesem Phantom führen, sind u.a. körpernahe Artefakte, diegetische Objekte und Erzählungen von Figuren. Durch sie wird der Rezipient dazu angeregt, eine empathische Perspektive zu modellieren. Dies erscheint notwendig, da diese Spuren auf eine Position im medialen Text hinweisen, der von einer Figur besetzt sein müsste. Sie umreißen eine empathische Perspektive, bestimmen wie Vektoren einen Schnittpunkt im Raum, ein Figurenmodell innerhalb des mentalen Gesamtmodells des Films. Das Figurenmodell ohne wahrnehmbare Entsprechung auf der Leinwand - das Phantom - ist die durch das Repräsentationsvermögen (re-)generierte Figur, die als notwendig in den Film hineingedacht wird. Die Präsenz des Absenten entspricht der Auffüllung einer Leerstelle, die nur von einem Figurenmodell - also einer empathischen Perspektive - besetzt werden kann. Diese Leerstelle bezieht sich auf eine Position innerhalb des filmischen Sozialsystems, die besetzt zu sein scheint - da Spuren zu dieser Position hinführen -, an deren Stelle aber keine verkörperte, verbildlichte Figur auszumachen ist. Das Figurenmodell würde somit als analoge mentale Repräsentation eine Figur simulieren, die im Film nicht konkret wahrnehmbar ist. Dennoch weist es Eigenschaften der Figur auf, wodurch die Figur als partiell vorhanden gedacht werden kann (vgl. Engell 1994: 41): eine artifizielle Präsenz innerhalb des virtuellen Modells des Films, welches vom Zuschauer innerhalb der Rezeption konstruiert worden ist. Dieser Vorgang kann detailliert über folgende zwei Ausformungen empathischer Prozesse beschrieben werden: somatische Empathie und Perspektiveninduktion. Diese beiden Formen stehen zugleich für zwei unterschiedliche Ebenen der Imagination bzw. Simulation: die somatische und die mental-diskursive. 1 Als Beispiele für erstere dienen u.a. Filme der Ersten- Person-Perspektive wie [Rec] (ESP 2007, Jaume Balagueró & Paco Plaza) und [Rec] 2 (ESP 2011, Jaume Balagueró & Paco Plaza) oder Cloverfield (USA 2008, Matt Reeves), für letztere sollen die Filme Lars und die Frauen (Lars and the Real Girl, USA 2007, Craig Gillespie) Aufmarsch der Phantome 71 und Der Unsichtbare Dritte (North by Northwest, USA 1959, Alfred Hitchcock) herangezogen werden. 2 Rezeption und die mentale Modellierung des Erlebnisraums In der kognitiven Medienpsychologie wird das Bewusstsein des Rezipienten als Simulator bzw. Modellgenerator angesehen (vgl. Ohler 1994; van Dijk & Kintsch 1983; Wuss 1993): Unabhängig davon, ob wir uns in der realen Welt bewegen, ein Buch lesen oder einen Film schauen, simulieren wir mental Welten, Personen oder Figuren sowie deren Emotionen und Handlungen. Bezogen auf die Rezeption von Filmen kann man sagen, dass erst durch unsere imaginative Tätigkeit den filmischen Ereignissen ihr Erlebnischarakter zugewiesen wird. Erst durch die Strukturierung des filmischen Materials als Interaktionsgefüge mentaler Modelle artikuliert sich der Erlebnisraum des Rezipienten. Mentale Modelle sind als von ihrer Komplexität her reduzierte analoge Konstruktionen der Welt zu verstehen, mit denen das menschliche Verstehen - als Prozess der (Wissens-)Strukturbildung - und Inferenzbildung erklärt werden kann (vgl. Johnson-Laird 1983: 2ff.). Analog bedeutet, dass das mentale Repräsentat einen hohen Grad an Ähnlichkeit mit den inhärenten funktionellen und/ oder strukturellen Eigenschaften des Repräsentandums aufweist. Dies lässt darauf schließen, dass ein semiotischer Zusammenhang zwischen den Formen mentaler Repräsentationen und der Welt bestehen muss. Die aktuelle mentale Repräsentation filmischer Informationen - also das mentale Modell eines Films -, die als analog zur Struktur der filmischen Erzählung anzusehen ist, können wir als Situationsmodell (situation model) bezeichnen. Der Begriff des Situationsmodells wurde von Teun A. van Dijk und Walter Kintsch geprägt und ist einer der Kernbausteine ihrer kognitiven Theorie des Verstehens narrativer Texte: A major feature of our model is the assumption that discourse understanding involves not only the representation of a textbase in episodic memory, but, at the same time, the activation, updating, and other uses of a so-called situation model in episodic memory: this is the cognitive representation of the events, actions, persons, and in general the situation, a text is about. (1983: 12; Hervorh. im Original) Das mentale Situationsmodell eines Films beinhaltet nun die filmische Geschichte und ihre Entwicklung bis zum aktuellen Rezeptionszeitpunkt und verknüpft - Peter Ohlers Ausführungen folgend - “die im audiovisuellen Text am stärksten im Vordergrund stehenden Protagonisten, Handlungsräume und Ereignisse” (1994: 32f.). Dieses Modell der filmischen Welt kann nun heuristisch in zwei Arten von Teilmodellen unterteilt werden: in ein Modell der diegetischen Objektwelt und ein Figurenmodell. Durch diese Teilmodelle können wir nicht nur die Figuren und deren Handlungen in Interaktion mit der Diegese erfassen, verstehen und gegebenenfalls nachvollziehen, sondern wir können sie uns in bestimmten Situationen auch imaginierend vergegenwärtigen - mit all ihren Emotionen, Wünschen, Plänen, Motivationen usw. Als Ko-Konstrukteur nimmt der Zuschauer die Bilder auf der Leinwand als Material für die Strukturierung eines virtuellen Repräsentationssystems des Films, das er durch seine imaginative Tätigkeit vielfältig anreichert. Erst durch die mentale Modellierung des filmischen Materials strukturiert sich der Erlebnisraum des Rezipienten: Patrick Rupert-Kruse 72 Aus gespeicherten Informationen und dem ständigen Input, den ihnen die Sinnesorgane liefern, konstruieren sie ein internes Modell der äußeren Wirklichkeit. Dieses Modell ist ein Echtzeit- Modell: Es wird mit so hoher Geschwindigkeit und Effektivität aktualisiert, daß wir es im allgemeinen nicht mehr als ein Modell erleben. Die phänomenale Wirklichkeit ist für uns kein von einem Gehirn erzeugter Simulationsraum, sondern auf sehr direkte und erlebnismäßig unhintergehbare Weise schlicht die Welt, in der wir leben. (Metzinger 1999: 242; Hervorh. im Original) Auf ganz ähnliche Weise, wie wir durch das Modell hindurch in die Welt sehen, blicken wir durch die Bilder der Leinwand hindurch in die diegetische Welt, als ob sie real wäre. Dieses Als-ob jedoch muss als Resultat mentaler Operationen angesehen werden, die an eine Art ästhetischer Einstellung gekoppelt sind. Erst durch die imaginative Tätigkeit des Rezipienten wird den filmischen Ereignissen ihr Erlebnischarakter zugewiesen. Als Zuschauer vollziehen wir im Akt der Rezeption eine Belebung der Bilder, wir reichern sie durch unsere Phantasie an und wandeln die flachen Bilder im Bewusstsein zu “plastischen Dingen” (Münsterberg 1996: 83) um. Dadurch kann die filmische Welt in das phänomenale - das bedeutet ins erlebnishafte - Jetzt dringen und auf den Rezipienten einwirken. Die mentale Konstruktion der filmischen Welt als repräsentationales Konstrukt artikuliert sich folglich als eine virtuelle Gegenwart: “[Und] an diesem Punkt kann man sich erst klarmachen, was es überhaupt bedeutet, zu sagen, dass der phänomenale Raum ein virtueller Raum ist: Sein Inhalt ist eine mögliche Realität” (Metzinger 2000: 339; Hervorh. im Original). In der Rezeption artikuliert sich ein Modus des Als-ob als ästhetische Einstellung und der Rezipient übernimmt seine Rolle als “illusionsbildende[s] Medium des Kinos” (Voss 2006: 73). Dies ist als notwendige Leistung jener rezeptiven Prozesse anzusehen, die vorrangig als phänomenal zu beschreiben sind: Es geht um ein Erleben des Films, das grundsätzlich mit einer imaginativen Belebung des Dargestellten im Modus des Als-ob einer sowohl physiologischen als auch psychologischen Apperzeption und dem Verstehen des Materials gekoppelt ist und folglich mit der Konstitution von Sinn. Diese Belebung vollzieht sich nahezu umgehend, wenn wir einen Film sehen, sehen wir doch Indiana Jones in Jäger des verlorenen Schatzes (Raiders of the Lost Ark, USA 1981, Steven Spielberg) oder Captain Jack Sparrow aus Fluch der Karibik (Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl, USA 2003, Gore Verbinski) nicht als projizierte Objekte unserer Wahrnehmung, sondern als Figuren, zu denen wir eine emotionale Einstellung haben, zu denen wir uns manchmal verhalten, als ob sie real wären. Der Sinn des Films wiederum ist - um eine zentrale Begrifflichkeit Wolfgang Isers aufzugreifen - als die implizite Verweisungsganzheit (1994: 245) zu verstehen, die durch den Rezipienten aus den Fragmenten des Films erst erzeugt werden muss. Folglich müssen die Einstellungen und Szenen mit all ihren Inhalten und dargestellten Beziehungen zusammenhängend modelliert werden, damit sich ein sinn- und erlebnishaftes Gesamtbild ergeben kann. Auf eben dieses Gesamtbild beziehen wir uns, wenn wir von dem Film reden. In der Verweisungsganzheit findet eine Synthese von Wahrnehmung und Vorstellung statt: Lichtbilder und mentale Bilder werden zu einer intermedialen Virtualität vernäht. Aufmarsch der Phantome 73 3 Formen der Empathie: Somatische Empathie und Perspektiveninduktion Im Folgenden soll der Begriff der Empathie nicht als “Hineinversetzen”, “Beseelen” oder das vielzitierte “putting yourself in the shoes of another” (Gordon 1987: 139) mit all seinen Andeutungen von Ich-Verlust und Anders-Werdung gebraucht werden. Vielmehr soll Empathie als Fähigkeit verstanden werden, die Gedanken, Intentionen und Emotionen eines anderen zu erkennen und zu verstehen oder allgemeiner als mentaler Nachvollzug innerer Zustände und Vorgänge von Personen oder Figuren. Anknüpfend an Empathie-Modelle von Stefanie Preston und Frans de Waal (2002) und in medienwissenschaftlicher Sicht besonders von Hans Jürgen Wulff (2002/ 2003), sollen vor allem zwei Ausformungen empathischer Prozesse näher untersucht werden: zum einen die basale Form der somatischen Empathie und zum anderen die kognitive Form der sozialen Empathie bzw. der Perspektiveninduktion. 3.1 Somatische Empathie Somatische Empathie beschreibt den mehr oder weniger automatischen körperlichen Mitvollzug beobachteter motorischer Akte anderer. Hans Jürgen Wulff beschreibt somatische Empathie als eine basale Reaktion, die weitgehend auf einer vorbewussten Leib-Koppelung an das Leinwandgeschehen beruht. Folglich geht es nicht um einen kognitiven Nachvollzug figurenspezifischer Intentionen, Überzeugungen oder komplexer Emotionen, sondern um eine rein affektive Spiegelung. Empathie ist in diesem Rahmen zunächst einmal als ein grundlegender Prozess menschlichen Verstehens anzusehen, der in seinem Fundament auf neurobiologischer Resonanz bzw. Simulation begründet ist. Preston und de Waal formulieren dies - in Anlehnung an die frühe Einfühlungstheorie eines Theodor Lipps (1907) - in ihrer Perception-Action Hypothese folgendermaßen: [Perception] and action share a common code of representation in the brain […]. According to the perception-action hypothesis, perception of a behaviour in another automatically activates one’s own representations for the behaviour, and output from this shared representation automatically proceeds to motor areas of the brain where responses are prepared and executed. (2002: 9f.) Durch die direkte Aktivität der Spiegelneuronen wird so auf somatischer Ebene ein inneres Verstehen einer Person oder Filmfigur aufgrund ihres wahrnehmbaren Verhaltens möglich, da sich die inneren Prozesse von Rezipient und Filmfigur überlagern bzw. spiegeln. Für den kurzen Moment des Erkennens von Emotion oder Bewegung teilen sich folglich Rezipient und Figur die gleichen neuronalen Repräsentationen. Man könnte auch sagen, dass der Rezipient der Figur seinen Körper leiht, um ihr Leben einzuhauchen. Der Rezipient wird so zum temporären Leihkörper; zum cinästhetischen Körper, wie Christiane Voss es in Anlehnung an Vivian Sobchack (vgl. 1992) formuliert: In philosophischer Hinsicht geht es dabei darum, eine starre Subjekt-Objekt-Trennung mit Blick auf das Verhältnis von Leinwandgeschehen und Zuschauerposition aufzuheben, sofern der “cinästhetische Körper” gerade als ein dritter Teil beides umgreift und dieses Verhältnis als eine reziprok dynamische Relation erfahrbar macht. (2006: 80) Patrick Rupert-Kruse 74 Die Informationen, die der Rezipient durch neuronale Simulation über das Innenleben der Figur zu erhalten glaubt, werden aber schon im nächsten Schritt nicht mehr als dem Selbst zugehörig empfunden, sondern mit dem mentalen Figurenmodell verknüpft und somit klar vom Selbstmodell unterschieden. 3.2 Perspektiveninduktion Durch den empathischen Prozess der Perspektiveninduktion gelangen wir schließlich zu einem mentalen Modell der Psyche einer Figur, das wir in ein Gesamtmodell der Figur einbetten. Dieses Gesamtmodell ist es, mit dem wir interagieren und welches das Objekt rezeptiver Prozesse darstellt. Diese Prozesse sind dabei nicht ausschließlich auf den Nachvollzug oder das Mit-Fühlen von Emotionen begrenzt, sondern lassen sich auch auf das Erschließen oder Vermuten anderer Komponenten der Figurenpsyche ausweiten, da Emotionen mit Annahmen, Intentionen, Wahrnehmungen usw. verbunden sind (vgl. Persson 2003: 164). Figurenrezeption bzw. -wahrnehmung unterscheidet sich allerdings durch einen differenten Modus des Denkens von der alltäglichen Personenwahrnehmung. In einer Rezeptionssituation ist die Figurenwahrnehmung eng an den Modus des narrativen Denkens geknüpft, der aus der Interaktion von Weltwissen und kinematografischem Wissen resultiert. Die Narration sorgt dafür, dass der Rezipient die Figuren so modelliert, dass deren Implementierung in den Handlungskontext nachvollziehbar und sinnvoll ist. So gesteuerte kognitive Operationen erlauben die Verknüpfung von Figuren mit anderen Figuren oder Objekten der diegetischen Welt - sie artikulieren das interaktionistische Moment, das die empathische Perspektive einer Figur ausmacht. Dadurch wird es dem Rezipienten möglich, die Figuren mit der Narration zu verknüpfen und somit den weiteren Handlungsverlauf und Figurenverhalten zu antizipieren. Dabei ist zu beachten, dass eine Figur niemals isoliert betrachtet werden kann und darf, da sie normalerweise innerhalb eines Films mit anderen Figuren interagiert. Auch von diesen Figuren werden mentale Modelle generiert und in deren gemeinsamem Handlungsraum miteinander in Verbindung gebracht. Das bedeutet, dass der Rezipient die Fähigkeit und Möglichkeit hat, mehrere Figurenperspektiven zu induzieren und somit zur Nachbildung mehrerer voneinander unterscheidbarer intentionaler Horizonte in der Lage ist. Dies entspricht nach Wulff der Modellierung eines empathischen Feldes und beinhaltet die Gesamtheit der Figurenmodelle, die miteinander interagieren und somit gegenseitig Veränderungen ihrer Modelle hervorrufen können (vgl. 2002: 112f.). Empathische Reaktionen des Rezipienten, wie etwa die Emotion des Mitleids oder die Verifikation von Hypothesen über das Verhalten von Figuren, beziehen sich schließlich auf die verschiedenen Figurenmodelle als Inhalte des empathischen Feldes und wirken sich auf die weiteren Rezeptionsprozesse aus, die ihrerseits wiederum die Modellierung der Perspektiven beeinflussen können. Ein abschließendes Figurenmodell - was nicht bedeutet, dass es ein lückenloses Modell sein muss - steht dem Rezipienten erst am Ende des Films zur Verfügung. Aufmarsch der Phantome 75 4 Somatische Empathie und die Erste-Person-Perspektive Der point of view shot im Film ist verkürzt als derjenige Punkt zu verstehen, von dem aus der Rezipient schauend gemacht wird. Spricht man jedoch von der subjektiven Perspektive im engeren Sinne, ist diese nach Edward Branigan vor allem als Repräsentation des Blicks einer diegetischen Figur zu beschreiben (vgl. 1984: 2). Diese Form der Kamerahandlung bringt diejenige Figur zum Verschwinden, deren Platz die Kamera im filmischen Raum einnimmt, und es kommt zu einer Überlagerung der beteiligten Blicke. Dadurch wird der Zuschauer sowohl im diegetischen Raum des Films als auch im Raum der aktuellen Rezeption verankert und als resonanter Zuschauerkörper ein performativer Teil des Films (vgl. Voss 2006: 81). Durch den optischen point of view shot als nicht-repräsentationales Zeichen einer Figurenpräsenz (vgl. Dyer 1981: 178) wird es dem Rezipienten möglich, die Figur auf somatischer Ebene zu erfahren. Dies entspricht aktuellen Ergebnissen der Spiegelneuronenforschung, die davon ausgehen, dass es eine bidirektionale Verbindung zwischen dem wahrnehmbaren Effekt einer Bewegung und der neuronalen Struktur gibt, die diese Bewegung erzeugt. Demnach wird die Adaption der Ersten-Person-Perspektive eines anderen als Voraussetzung dafür angesehen, dass ein anderer - z.B. ein filmischer - Körper als der eigene wahrgenommen bzw. imaginiert werden kann. Dieser Körper muss jedoch nicht visuell repräsentiert sein, es genügt, wenn Körperteile oder andere Zeichen der Körperlichkeit auf ihn verweisen. Sind nun also bestimmte visuelle, taktile oder propriozeptive Informationen des Films mit der eigenen Wahrnehmung der jeweiligen Umgebung aus der Ich-Perspektive kongruent, vollzieht sich etwas, das in der neurowissenschaftlichen Fachliteratur body swapping genannt wird: Der imaginierte Körper der diegetischen Figur strukturiert sich als Quasi-Präsenz und der resonante Zuschauerkörper wird gleichsam von den kinetischen und synästhetischen Qualitäten des Films zum Schwingen gebracht - die Überlagerung des Blicks wird zur Überlagerung des somatischen Erlebens. Vivian Sobchack spricht diesbezüglich auch von einer embodied vision - einer Umwandlung visueller Daten in synästhetische Empfindungen durch unseren Körper. Dies äußert sich schließlich in neuronaler Aktivität der beteiligen Spiegelneuronennetzwerke und in somatischen Reaktionen des Rezipienten und ist gleichsam als Artikulation des Körperlichen der körperlich abwesenden, blickenden Figur anzusehen. Der Zuschauer wird folglich im Rezeptionsprozess zum somatischen Bedeutungsraum. Filme, die verstärkt mit dem eben beschriebenen Phänomen in Verbindung gebracht werden können, sind neben Blair Witch Project (The Blair Witch Project, USA 1999, Daniel Myrick & Eduardo Sánchez), vor allem Filme wie [Rec], Cloverfield oder [Rec] 2 , die durch ihre besondere subjektive Erzählperspektive für Aufsehen gesorgt haben. In diesen Filmen wird das filmische Erleben exemplarisch über das Zusammenspiel von Zuschauer und dem Konstrukt des Figur/ Kamera-Hybriden (vgl. Grabbe & Kruse 2008: 306; Kruse 2010: 251ff.) strukturiert. Er beschreibt das Kollektiv aus Figur und Kamera als funktionelles kybernetisches Ensemble und ist als eine Verschmelzung der filmischen Figur mit der diegetischen Kamera anzusehen. Durch die Zuschreibung der Erste-Person-Perspektive zu einem kybernetischen Ensemble und deren gleichzeitige Adaption als eigene Perspektive erlebt der Rezipient die Bewegungen des Hybriden im filmischen Raum am eigenen Leib mit. Dies wird in Cloverfield vor allem in den Szenen deutlich, in denen die Protagonisten auf der Flucht vor dem außerirdischen Monster sind, das Manhattan in Schutt und Asche legt (Abb. 1). Patrick Rupert-Kruse 76 Abbildung 2: Larras Einsatz im Lüftungsschacht ist über dessen Helmkamera mitzuverfolgen. (Quelle: [Rec] 2 ) Abbildung 1: Kopflose Flucht durch New York. (Quelle: Cloverfield) In den beiden [Rec]-Filmen konzentriert sich dieses Moment vor allem auf die Kampfsequenzen mit den zu Zombies mutierten Bewohnern des Mietshauses. Doch während die Perspektivierung in [Rec] und Cloverfield vor allem über die Handkamera geschieht, wird in [Rec] 2 zusätzlich dazu eine Helmkamera etabliert, durch die der Zuschauer sich dem natürlichen Blick der Figuren noch stärker annähert. Diese Kameras befinden sich an den Helmen der Mitglieder eines Einsatzkommandos, das zusammen mit dem zweifelhaften Dr. Owen vom Gesundheitsministerium in das vom Zombie-Virus befallene Haus eindringt, das bereits aus dem ersten Teil bekannt ist. Durch die Helmkamera in [Rec] 2 hat man als Zuschauer das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, u.a. dadurch, dass manchmal zu sehen ist, wie die Waffe oder die Hand des Helmkameraträgers am unteren Bildschirmrand in den filmischen Raum hineinragt (Abb. 2). Aufmarsch der Phantome 77 Abbildung 3: Bianca wird in die Gemeinde integriert. (Quelle: Lars und die Frauen) Diese Konstitution des Blicks, die direkt durch die Geschehnisse innerhalb des diegetischen Raums beeinflusst wird, kann als nicht-repräsentationales Zeichen für das somatische Erleben des Hybriden gelesen werden. Durch den Blick des Hybriden erlebt der Rezipient folglich dessen Flucht am eigenen Leib mit. Die ständige Bewegung des Blicks springt auf den Körper des Rezipienten über, steckt ihn an und bringt ihn als Resonanzkörper des filmischen Bildes zum Schwingen. Die Schwingungen werden als somatische Qualia der empathischen Perspektive des Abwesenden in einem mentalen Modell repräsentiert: als Präsenz des Absenten. 5 Empathische Perspektive als Fiktion Während in Erste-Person-Perpektive-Filmen die Kamerahandlung als Ausdrucksakt einer wahrnehmenden Figur auf somatischer Ebene gedeutet werden kann, geht von dem Objekt im folgenden Beispiel keinerlei Ausdrucksverhalten aus. Hier vollzieht sich die Modellierung der empathischen Perspektive des Objekts als Figur über das Verhalten der übrigen Figuren und damit über diskursive und pseudo-interaktionistische Strukturen. Das Objekt, um das es in Lars und die Frauen geht, ist die lebensechte Puppe Bianca, die sich der schüchterne und zurückgezogen lebende Lars Lindstrom - gespielt von Ryan Gosling - im Internet bestellt. Lars lebt nach dem Tod der Eltern in der Garage seines Elternhauses. Als er eines Tages verkündet, dass er jemanden kennen gelernt hat, sind sein Bruder und dessen Frau außer sich vor Freude. Doch das ändert sich schnell, als Lars ihnen die Puppe Bianca als seine neue Freundin vorstellt. Während Lars Bianca wie einen echten Menschen behandelt, sind Gus und Karin von der Situation überfordert. Unter einem Vorwand locken sie Lars zu der Ärztin Dagmar, damit sich diese ein Bild von Lars’ psychischem Zustand machen kann. Dagmar teilt ihnen mit, dass Lars unter Wahnvorstellungen leidet, die ihn Bianca als reale Person sehen lassen. Sie bewertet dies als seinen Versuch, mit den Veränderungen seiner Umwelt und den daraus resultierenden Problemen klarzukommen. Obwohl die Beziehung zwischen Lars und Bianca in der Kleinstadtgemeinde zunächst auf Unverständnis stößt, akzeptieren die Bewohner bald, dass sie Lars nur helfen können, wenn auch sie Bianca wie eine reale Person behandeln. Damit beginnt die Integration der Puppe in die Gemeinde: Bianca beginnt, in einer Boutique auszuhelfen, wird neu frisiert und liest den Kindern im Krankenhaus vor (Abb. 3). Patrick Rupert-Kruse 78 Aufgrund der Behandlung durch Dagmar und der Beziehung zu Bianca, die durch ihre Aktivitäten immer häufiger von Lars getrennt ist, beginnt Lars schließlich, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen - ganz besonders seiner Kollegin Margo, die schon seit Langem in ihn verliebt ist. Dann, eines Morgens, wacht Bianca nicht mehr auf. Alle Versuche von Lars, sie aufzuwecken, scheitern und so wird sie schließlich ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einigen Untersuchungen durch Dagmar berichtet Lars Gus und Karin, dass Bianca schwer erkrankt ist und wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat. Zwar scheint es Bianca schon bald wieder besser zu gehen, doch als Lars und sie zusammen mit Gus und Karin einen Ausflug machen, haucht sie schließlich in Lars’ Armen ihr Leben aus. Dieser Augenblick ist nicht nur für die Figuren des Films, sondern auch - und vor allem - für den Zuschauer ein höchst emotionaler Moment mit der Puppe Bianca als empathisches Zentrum, da ihr in jenem Moment eine empathische Perspektive zugeschrieben wird. Doch wie ist das möglich? Um diese Frage zu beantworten, sollen Hans Jürgen Wulffs Theorie des Schichtenbaus der Diegese und Elena Espositos Konzept der Realitätsverdopplung herangezogen werden. Wulff (2007) schlägt für den Prozess des Diegetisierens eine Unterteilung der filmischen Welt in vier Teilschichten vor: die physikalische Welt, die Wahrnehmungswelt, die soziale Welt und die moralische Welt. Diese vier Schichten zusammen bilden die diegetische Welt. Die Wahrnehmungswelt - auf die sich die folgenden Ausführungen beschränken sollen - enthält alles, was von den Figuren wahrgenommen werden kann. Allerdings können die Wahrnehmungswelten verschiedener Figuren auch voneinander abweichen. In The Sixth Sense (USA 1999, M. Night Shyamalan) ist es beispielsweise so, dass nur der neunjährige Cole Geister sieht, die unter den Menschen wandeln, während den übrigen Figuren dies nicht gestattet ist. Ganz ähnlich stellt sich die Strukturierung der Wahrnehmungsräume in Lars und die Frauen dar. Aufgrund seiner Wahnvorstellung sieht Lars die Puppe Bianca als eine lebendige Frau an und interagiert dementsprechend mit ihr. Dadurch wird schnell klar, dass Bianca als lebendige Person nur im Kopf von Lars existiert, während sie in der Realität lediglich als Puppe anwesend ist. Da sie für Lars lebendig ist, er für alle sichtbar mit ihr interagiert und sie mit den anderen interagieren lässt, kann sie nicht als nicht-real angesehen werden, sondern muss als “auf andere Weise realistisch” (2007: 8) beschrieben werden, wie Elena Esposito es in Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität formuliert. Und zwar als Fiktion. Da Bianca als Frau Teil von Lars’ Wahrnehmungswelt ist, ist sie in dieser als real beschreibbar, während sie in der Wahrnehmungswelt aller anderen - inklusive der Zuschauer - als fiktiver Charakter angesehen werden muss. Sie ist die Fiktion eines fiktionalen Charakters. An diesem Punkt vollzieht sich die Realitätsverdoppelung, die Esposito postuliert: Der Wahrnehmungswelt der Kleinstadtbewohner und Zuschauer muss die Wahrnehmungswelt von Lars als eine mögliche Realität hinzugefügt werden. Diese macht vor allem Sinn, wenn man bedenkt, dass im Verlauf der Erzählung niemand Bianca als Puppe behandelt, sondern als die Frau, die sie in der Einbildung von Lars zu sein scheint. Als Frau ist Bianca der Ausgangspunkt und Endpunkt diverser Handlungen mit unterschiedlichen Figuren, d.h. sie ist Teil eines filmischen Sozialsystems, das durch seine Handlungen auf eine Position hinweist, die von einer Figur besetzt sein müsste. Die Fiktion kann daher nicht als reines Produkt der Einbildungskraft von Lars angesehen werden, da die fiktive Realität reale Auswirkungen auf Lars, dessen Familie und die übrigen Dorfbewohner hat. In der Rezeption vollzieht der Zuschauer die Differenz der beiden Realitätsebenen bzw. diegetischen Schichten mit. Das bedeutet aber auch, dass er beide Welten mental repräsentie- Aufmarsch der Phantome 79 ren muss, da sie sich überschneidende Handlungsräume darstellen. Da der Rezipient keinen direkten Zugang zu der Wahrnehmungswelt von Lars und somit zu der fiktiven Bianca als Frau hat, sondern nur zur allgemeinen Realität und der Puppe Bianca, muss er in der Modellierung der fiktiven empathischen Perspektive den Umweg über die Figuren gehen, die mit Bianca interagieren. Folglich führen Spuren von den Figuren des Films zu Bianca und definieren sie als Trägerin einer empathischen Perspektive: Ihr wird eine Lebensgeschichte eingeschrieben, Emotionen und Wünsche zugeschrieben. Empathisieren beschreibt in diesem Fall also kein Lesen und Repräsentieren einer Perspektive, wie es eigentlich der Fall ist, sondern ein Projizieren und Einschreiben, also das Simulieren einer Perspektive: Das mentale Modell von Bianca als Frau befindet sich in einem Modus der Fiktion. Den Kern der Präsenz des Absenten in Lars und die Frauen bildet folglich der Nachvollzug einer empathischen Perspektive als Fiktion, die ihren Ursprung in einem anderen hat. Die empathische Perspektive entspricht damit dem lesbaren Geist, den Béla Balázs (2001: 16) in der Literatur ausgemacht hat (ganz im Gegensatz zum sichtbaren Geist im Film) und die empathischen Prozesse ähneln denen, die sich in der literarischen Rezeption einer erzählten Figur artikulieren. Biancas innere Prozesse werden dem Rezipienten erzählt und sind folglich als ein vermitteltes Wissen anzusehen. Damit wird die Diegese zum Spurentext, der sowohl von Figuren des Films als auch vom Zuschauer gelesen werden kann. Auf eine besondere Weise wird dies in Alfred Hitchcocks berühmtem Film Der unsichtbare Dritte deutlich, in dem sich die Präsenz des Absenten in Form der Perspektiveninduktion anders strukturiert als bei Lars und die Frauen. In Der unsichtbare Dritte verhält es sich so, dass die abwesende Figur des Geheimagenten George Kaplan sich als Simulakrum strukturiert, dessen Anwesenheit allein durch Zeichen geschaffen bzw. vorgegaukelt wird (vgl. Baudrillard 1994: 6). Denn die Figur George Kaplan existiert nicht. Wie wirksam Spuren der objekthaften Diegese eine empathische Perspektive induzieren können, muss der New Yorker Werbefachmann Roger O. Thornhill (Cary Grant), der Protagonist in Der unsichtbare Dritte, am eigenen Leib erfahren, als er bei einem geschäftlichen Treffen im Plaza-Hotel mit einem gewissen George Kaplan verwechselt und anschließend von bewaffneten Männern entführt wird. Sie bringen ihn zu einem gewissen Mr. Townsend, der ihn auffordert, ihm zu verraten, wie viel er über die Tätigkeit seiner Organisation weiß und wie er zu diesem Wissen gekommen ist. Da sich der verwirrte Thornhill jedoch weigert zu kooperieren, wird er von Townsends Sekretär und einigen Schlägern mit Whisky abgefüllt und in ein gestohlenes Auto gesetzt, mit dem sie ihn über eine Klippe fahren lassen wollen. Doch Thornhill entkommt ihnen und fällt im betrunkenen Zustand der Polizei in die Hände. Zusammen mit einigen Beamten und seiner Mutter (Jessie Royce Landis) will er am nächsten Tag alles aufklären, doch in der Villa ist keine Spur der Verbrecher mehr zu finden. Enttäuscht macht sich Thornhill auf die Suche nach George Kaplan, da dieser der einzige zu sein scheint, der die Verwechslung aufklären kann. Doch in seinem Zimmer im Plaza-Hotel ist Kaplan nicht zu finden. Stattdessen halten sogar die Angestellten in dem Hotel Roger Thornhill für George Kaplan, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen haben. Sie konstruieren - wie Thornhill und die Zuschauer - seine Identität aufgrund der Spuren, die er hinterlassen hat. Im Verlauf seiner Suche nach dem mysteriösen George Kaplan muss Thornhill schließlich feststellen, dass dieser lediglich ein fiktiver Charakter ist, den eine Gruppe von Mitarbeitern der CIA erdacht hat, um die Aufmerksamkeit der Organisation Vandamms von derjenigen Person abzulenken, die sich in die Organisation eingeschlichen hat. Die Figur des George Kaplan kann als ein leerer Charakter beschrieben werden: Er besteht lediglich aus Spuren, die in einer Leerstelle münden. Da aber nur ein Jemand Spuren hinter- Patrick Rupert-Kruse 80 Abbildung 4: Thornhill auf Spurensuche in Kaplans Hotelzimmer. (Quelle: Der unsichtbare Dritte) lassen kann, wird die Leerstelle, die als Ursprung der Spuren identifiziert wird, mit einem Inhalt gefüllt: dem Agenten George Kaplan. Wie dies in dem Film Der unsichtbare Dritte vor sich geht, wird besonders deutlich in der Szene, in der Thornhill und seine Mutter das Hotelzimmer von Kaplan aufsuchen und dort anhand der vorhandenen Spuren auf den Bewohner schließen (Abb. 4). Zusammen mit den beiden formulieren die Zuschauer beim Durchstöbern des Zimmers Figurenhypothesen aufgrund der Annahme, dass das Umfeld seinen Bewohner widerspiegelt. Dies resultiert aus der wechselseitigen Beziehung, in der ein Mensch zu seiner Umwelt steht. Und da “keine Tatsache festgestellt werden kann, ohne daß irgendein Zeichen verwendet wird, das als Index dient” (Sebeok 2000: 92; Hervorh. im Original), kann von der Struktur, in die eine Person eingebettet ist oder war, auf eben diese Person geschlossen werden. Als Thornhill ein Foto auf dem Schreibtisch findet, auf dem Mr. Townsend zu sehen ist, bestätigt dies nicht nur die Verbindung zwischen Townsend und Kaplan, sondern dient ihm auch als Beweis für Kaplans tatsächliche Existenz. Dasselbe semiotische Spiel vollzieht sich ebenfalls anhand der anderen Hinweise, die Thornhill in jenem Zimmer findet. Anhand eines Kamms, in dem übermäßig viele Haare stecken, wird Kaplan Haarausfall zugeschrieben. Bei der Anprobe eines Anzuges aus Kaplans Hotelschrank zieht Thornhill Rückschlüsse auf dessen Größe. Das liegt daran, dass diese Spuren in einem kausalen Verhältnis zu ihrem Verursacher stehen (vgl. Oehler 2000: 20); sie stehen also stellvertretend für den Abwesenden und regen den Rezipienten zur Modellierung einer empathischen Perspektive an, die als Ursprung dieser gegenständlichen Aura gedacht werden kann - in diesem Falle ist dies der Agent George Kaplan. Die so strukturierte Präsenz des Absenten vollzieht sich in einer rezeptiven Geste des Puzzelns. Wie Thornhill sucht auch der Rezipient das fehlende Stück eines Puzzles (und zwar George Kaplan). Beschreibt man nun die soziale Struktur innerhalb Aufmarsch der Phantome 81 des Films als eine semantische Matrix, können sowohl Figuren als auch Gegenstände als Zeichen angesehen werden, die innerhalb der Matrix aufeinander verweisen. Daraus wird ersichtlich, wie wichtig das Verhältnis des Abwesenden zu den strukturell eingebundenen Figuren und Dingen der Matrix ist: Sie sind Verweise, die den Rezipienten als Puzzlespieler darauf hinweisen, wie das fehlende Teil - sprich: das Abwesende - auszusehen hat. Das fehlende Teil im Puzzle wird, wenn man so will, durch die umliegenden Puzzleteile in seiner Form und seinem Inhalt bestimmt. Dadurch kann der Rezipient auf die abwesende Figur schließen und deren Perspektive empathisch modellieren. 6 Schluss Es sollte deutlich geworden sein, dass sich empathische Prozesse in der Rezeption von Filmen - doch auch darüber hinaus - über ein Wechselspiel von Wahrnehmung und Imagination bzw. Simulation strukturieren. Zentrum dieser Prozesse sind mentale Repräsentationen, durch die sich das Verstehen und Erleben des Zuschauers artikuliert. Ähnlich wie Traumbildern, Phantasien oder Halluzinationen kann daher nicht nur den tatsächlich sichtbaren Figuren, sondern auch den Phantomen des Films - den lediglich anwesend gedachten Figuren - eine phänomenale Wirklichkeit zugesprochen werden. Unabhängig davon, ob sie Resultate einer neurophysiologischen Imagination oder einer kognitiv gefärbten mental-diskursiven Imagination sind, sind die Figurenmodelle, die sich innerhalb der Präsenz des Absenten strukturieren, nicht weniger authentisch oder funktional als andere Figurenmodelle (vgl. Sobchack 2006: 192ff.). Sie sind wie diese ein Teil der Erlebniswirklichkeit des Rezipienten. Ihre somatische und mentale Strukturierung bildet die Grundlage für unterschiedliche Ebenen empathischer Reaktionen und somit filmischen Erlebens. Bibliographie Balázs, Béla 2001: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baudrillard, Jean 1994: Simulacra and Simulation, Ann Arbor: The University of Michigan Press. Branigan, Edward 1984: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin / New York / Amsterdam: Mouton Publishers. 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Dies schließt aber natürlich männliche Spieler genauso mit ein. 2 Ich verwende die Bezeichnung Digitalspiel für alle Computer- und Videospiele, da sich im wissenschaftlichen Diskurs hierfür noch keine eindeutige Bezeichnung entwickelt hat, und die Klassifikationen Computerspiel bzw. Videospiel im allgemeineren Diskurs eine bestimmte Hardwareplattformbindung implizieren. Ich bin mir der Ambiguität des Begriffes digital in diesem Zusammenhang - da es sich sowohl um eine Bestimmung der Medienart als auch um eine Zustandsbeschreibung handeln kann - bewusst. Gerade aber der Aspekt der zwei Zustände - an und aus - des Digitalen scheint mir in der Beschreibung der narrativen Struktur der teilweise als Spiel-Filme zu betrachtenden Spiele Heavy Rain und Fahrenheit sehr passend. Schwirrende Fragen/ Antworten Subjekt-Wahrnehmung und Imagination in/ an den digitalen Spielen des Studios Quantic Dream Sven Schmalfuß (Regensburg) The following essay argues for the emergence of an intensification of the imaginary bond between a player and her/ his avatar in three games by the Parisian developer Quantic Dream (The Nomad Soul (1999), Fahrenheit (2005) and Heavy Rain (2010)). This heightened involvement can be acknowledged by means of a broadened definition of immersion, which not only encompasses a simple projection of the player on the avatar, but a complex system of imaginary relations. Examples for these relations can be found in the player’s interaction with the narrative in the respective game, in the ways in which the avatar is controlled, and in the interrelation between these two types of immersion. 1 Wessen Traum ist es? Now Kitty, let’s consider who it was that dreamed it all. This is a serious question, my dear, and you should not go on licking your paw like that - as if Dinah hadn’t washed you this morning! You see, Kitty, it must have been either me or the Red King. He was part of my dream, of course - but then I was part of his dream, too (Carroll 1998: 239f.)! Wie Alice nach ihrer Partie Traum-Schach stehen wir als Spielerin 1 eines digitalen Spiels 2 vor der Frage, wie groß unser Einfluss auf das Erlebte ist. Ist es unsere Geschichte, die wir uns selbst erspielt haben, oder doch nur einer der vielen Pfade durch das Spiel, den uns die Entwickler eröffnet haben? Kann man Handeln in einem Spiel nach diesen beiden Kategorien trennen? Sind wir hier wirklich mit einem Unterschied zwischen Freiheit, als Ausdruck von Selbst-Verwirklichung, und Restriktion, als Beschränkung derselben, konfrontiert? Und daraus abgeleitet, kann ich mich als Subjekt im Spiel imaginieren, und wenn ja, in welcher Form? K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Sven Schmalfuß 84 3 Wie viele andere Begriffe in der noch jungen Disziplin der Digitalspielstudien ist auch der Begriff der Immersion zwar ein häufig verwendeter, der aber trotzdem - oder gerade deshalb - noch stark umstritten ist. Siehe für einen kurzen, aber umfassenden Überblick hierzu Beil (2010: 53f.) und die entsprechenden Endnoten. Dasselbe gilt für ähnlich gelagerte Begriffe wie der von Huizinga (2004: 17; 18; 20; etc.) übernommene Zauberkreis oder magic circle oder das Konzept des Flow. 4 Der Totalitätsanspruch der Immersion, der von Murray und vielen anderen für ein “perfektes” virtuelles “Vergnügen” beansprucht wird, erscheint mir äußerst utopisch, aber vor allem auch ideologisch sehr unvorsichtig. Ich will im Folgenden anhand dreier digitaler Spiele (The Nomad Soul (1999), Fahrenheit (2005), Heavy Rain (2010)) des französischen Entwicklerstudios Quantic Dream zeigen, dass, obwohl die Spiele oberflächlich die Freiheit der Spielerin immer mehr einschränken, man doch von einer immer umfänglicheren imaginären Bindung zwischen der Spielerin und ihrem Avatar ausgehen kann. 2 Imagination und Mimikry Angelehnt an Mainuschs Definition des Begriffes Imagination (Mainusch 1976: 218) gehe ich von drei miteinander verschränkten Ebenen der Bedeutung aus. (1) Imagination als Einbildung, als das virtuelle Erleben einer ‘nicht realen’ Situation. (2) Imagination als Vorstellung und Vorstellungskraft, das heißt die Fähigkeit sich jemanden, etwas oder eine Situation geistig vergegenwärtigen zu können. Dies schließt auch ein Sich-in-Etwas-Hineindenken mit ein. (3) Imagination als Dichtungsvermögen, sprich als kreativer Akt bzw. Prozess. Diese drei Kategorien lassen sich auf die jeweilige Bedeutung der drei englischen Adjektive (1) imaginary, (2) imaginable und (3) imaginative herunterbrechen. Wie Stephan Humer darlegt, spielt die Imagination gerade im Kontakt mit digitalen Medien eine wichtige Rolle. Sie stellt “den ‘Missing Link’ zwischen der Digitalisierung (durch den Computer) und Analogisierung (in der Wahrnehmung des Menschen)” (Humer 2008: 65) dar. Alle drei Bedeutungsebenen der Imagination werden von der Benutzerin eines digitalen Spiels in variierender Häufigkeit - abhängig vom jeweiligen Spiel - verlangt. Sie kann ein Spiel nicht nur passiv konsumieren, sondern muss sich damit kreativ auseinandersetzen (3), muss sich Dinge, z.B. die Auswirkungen abstrakter Regeln, vorstellen können (2) und sich natürlich auf eine imaginäre Welt (1) einlassen. Nur so entsteht ein vorübergehender Zustand der Immersion. 3 Der Begriff der Immersion wurde von Janet Murray im Zusammenhang mit digitalen Spielen 1997 in ihrem Werk Hamlet on the Holodeck geprägt, dessen Titel auch ihre Vorstellung der Immersion recht treffend widerspiegelt. Immersion is a metaphorical term derived from the physical experience of being submerged in water. We seek the same feeling from a psychologically immersive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus. We enjoy the movement out of our familiar world, the feeling of alertness that comes from being in this new place, and the delight that comes from learning to move within it (Murray 1997: 98f.; Hervorh. im Original). Immersion beschreibt somit eine umfängliche Akzeptanz für ein Aufgehen in einer imaginären Situation. 4 Diese Situation ist aber nicht allein dem Simulationscharakter digitaler Spiele geschuldet. Schwirrende Fragen/ Antworten 85 5 Man denke hierbei z.B. an eine beliebige Sportart, deren imaginäre Welt nur darin besteht, dass man eine bestimmte räumliche Fläche nicht verlassen darf und bestimmte Dinge tun muss, um Punkte zu erzielen. Immersion als einheitliche, übergreifende Bezeichnung für narrative, spielerische und simulative Attraktionsmomente des Computerspiels soll somit gerade wegen der Überschneidungen, die dieser Begriff impliziert, beibehalten werden, da er die immanente Spannung der Hybridstruktur des Computerspiels veranschaulicht (Beil 2010: 53). Zwar sind die drei von Beil für das digitale Spiel als grundlegend herausgearbeiteten Ebenen des Narrativen, des Ludischen und der Simulation nicht deckungsgleich mit den drei Bedeutungssphären der Imagination, doch zeigen sich Parallelen. Die Narration kann ohne Einfallsreichtum und Vorstellungskraft nicht entstehen, ebenso meist nicht die spielerische Ebene. Erst das Vorgestellte macht die Simulation erfahrbar. Die Immersion als imaginäre Erfahrung dieser “Hybridstruktur” stellt einen der größten Reize digitaler Spiele dar. Das imaginäre Element ist somit eine der treibenden Kräfte des (digitalen) Spielens. Schon Roger Caillois legte, in seiner für die Spielwissenschaften grundlegenden Studie Les jeux et les hommes von 1958 (vgl. Caillois 2001), mit seiner Kategorie des Mimikry eine imaginäre Grundkomponente des Spielens an. All play presupposes the temporary acceptance, if not of an illusion (indeed this last word means nothing less than beginning a game: in-lusio), then at least of a closed, conventional, and, in certain respects, imaginary universe. Play can consist not only of deploying actions or submitting to one’s fate in an imaginary milieu, but of becoming an illusory character oneself, and of so behaving. One is thus confronted with a diverse series of manifestations, the common element of which is that the subject makes believe or makes others believe that he is someone other than himself. He forgets, disguises, or temporarily sheds his personality in order to feign another. I [sc. Caillois] prefer to designate these phenomena by the term mimicry, the English word for mimetism, notably of insects, so that the fundamental, elementary, and quasi-organic nature of the impulse that stimulates it can be stressed (Caillois 2001: 19f.; Hervorh. im Original). Spielerinnen nehmen also in einer bestimmten Spielsituation eine spezifische Rolle ein und verkörpern diese, von Spiel zu Spiel mehr oder weniger imaginär. Dabei muss die gespielte Rolle in die Rollenvorgaben des Spiels passen, um der Spielerin zu erlauben, am Spiel teilzunehmen. Sie muss sich auf die imaginäre Welt des Spiels einlassen, wie abstrakt diese auch sein mag. 5 So kann beim Fangen zwar eine Spielerin beschließen, dass sie nun “die Unsichtbare” ist und sich nicht verstecken muss. Wenn die anderen Mitspielerinnen dieser neuen Regel aber nicht zustimmen, ist sie aus dem Spiel ausgeschlossen (vgl. zur Spielverderberin: Huizinga 2004: 20). Mark Butler betont hierbei aber auch, dass zum “spielerischen Erleben der Mimicry [sic]” eine “gewisse Rollendistanz” (Butler 2007: 136) gehört. Wobei diese Distanz sich bereits im Mimikry in der Tierwelt und der Formulierung bei Caillois des Fingierens oder Vortäuschens (“to feign” in der obenstehenden englischen Übersetzung) einer anderen Persönlichkeit widerspiegelt. Würde das Mimikry zur völligen Annahme einer Rolle führen, würde die Spielerin sich selbst zum Doppelgänger des eigenen Spiel-Avatars machen. Sie würde zur realweltlichen Repräsentation einer fiktiven Figur werden. Sven Schmalfuß 86 6 Für eine allgemeine Definition des Avatars in Spielen siehe Klevjer (2006: 87). Ich teile im Übrigen nicht Klevjers (2006: 144-146) durch Beil (2010: 65) teilweise verteidigte Ansicht, dass graphisch zweidimensional dargestellte Spiele weniger immersiv wären, da angeblich eine geringere Bindung zwischen dem Avatar und der Spielerin bestehen würde. Dies scheint mir diese Bindung viel zu sehr an optisch-perspektivischen Elementen festzumachen. 7 Natürlich gibt es auch (digitale) Spiele, in denen Spielfiguren nicht unbedingt Avatare sind, in denen somit keine wirkliche Bindung zwischen der Spielerin und der Figur eintritt. Spielfiguren werden hierbei zu reinen Werkzeugen. Einige Strategiespiele mit ihren Massen von gleichförmigen Einheiten kommen hier etwa in den Sinn. 8 Benjamin Beil (2010: 37-42) weist hierbei auf einige durchaus begründete Kritikpunkte an der Genette’schen Terminologie hin. Wobei der Zustand der Fokalisation, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, im digitalen Spiel wohl treffender ist als im Film. Auch das zur Bezeichnung virtueller Vertreter übliche Wort Avatar 6 impliziert eine ungleiche Machtverteilung. Avatar leitet sich vom Sanskrit-Wort avatâra ab (vgl. Parrinder 1970: 19). “An avatâra is a descent, a ‘down-coming’ (from a verb trî, to cross over, attain, save, with the prefix ava, down; and so ava-trî, descend into, appear, become incarnate)” (ibid.; Hervorh. im Original; leichte typographische Vereinfachungen der latinisierten Sanskrit-Wörter v. mir, SvSc). Avatar beschreibt somit einen Container einer Gottheit, so z.B. Krishna als Vishnus Avatar (vgl. Parrinder 1970: 21). Ein höheres, mächtigeres Wesen setzt einen Teil seiner selbst in ein eingeschränkteres Wesen (vgl. Parrinder 1970: 127). Auch die Spielerin setzt sich teilweise als ihr Avatar, eine Spielfigur 7 in einer durch Spielregeln definierten Welt. Zwar mag mein Avatar Freiheiten besitzen, die in der ‘realen’ Welt unmöglich (z.B. fliegen zu können) oder jedenfalls stärker reglementiert und sanktioniert sind (z.B. Menschen zu töten), doch ist der Avatar viel rigideren Regeln unterworfen. Wenn ein Fenster in einer virtuellen Welt nicht als einschlagbar vorgesehen ist, hilft dem Avatar auch kein mächtiges Hilfsmittel. Der Avatar kann sich nicht aus diesem Regelsystem des Spiels befreien. The Nomad Soul geht von dieser Mechanik der partiellen Setzung der Spielerin in einem Avatar als dem zentralen Punkt seines Plots aus. Das Spiel stellt diesem Plot zufolge einen Dimensionsriss dar, der es den in Omikron hausenden Dämonen erlaubt, Seelen von Spielerinnen zu fangen. Bereits zu Beginn spricht Kay’l die Spielerin direkt mit der Bitte an, ihm nach Omikron zu folgen, um den dortigen Menschen zu helfen. Dazu solle die direkt angesprochene Spielerin ihre Seele in seinen Körper überführen. Im weiteren Verlauf der Handlung ist die Spielerin mehrmals gezwungen, den Körper eines anderen Bewohners Omikrons zu übernehmen. Erst nachdem sie in der Haut des legendären Kämpfers Kushulai’n den Anführer der Dämonen, Astroth, besiegt hat, kann sie wieder in ihre ‘wirkliche’ Dimension zurückkehren. Dies geschieht natürlich nur auf einer imaginären Ebene. Sollte einer der Avatare sterben, ohne dass man in einen neuen wechseln kann, wird man per Texttafel darüber informiert, dass die Seele der Spielerin nun auf ewig in der Hölle gefangen ist. Man lässt sich also bewusst auf ein Meta-Spiel ein. Der Avatar in so gut wie allen digitalen Spielen ist aber auch mehr als nur ein imaginäres Werkzeug der Spielerin im virtuellen Raum des Spiels. Er ist ihre Verlängerung in das Spiel. Er ist “gleichzeitig eine Prothese des Spielers und eine diegetische Figur” (Beil 2010: 52; Hervorh. im Original). Der Avatar - der, wenn kreatürlich, alle vorstellbaren Geschlechter haben/ annehmen kann, oder auch die Möglichkeit besitzt, ein Ding (etwa ein Raumschiff) zu sein - ist Fokalfigur 8 des Spielgeschehens: durch ihn / mit ihm erleben wir die Ereignisse des Spiels. Schwirrende Fragen/ Antworten 87 9 Daher auch die englische Genre-Bezeichnung First Person Shooter. Der deutsche Begriff mutet hier schon fast psychoanalytisch an. 10 Die Verwendung des Begriffes Kamera in digitalen Spielen ist metaphorisch zu verstehen, da keine wirkliche Kamera involviert ist. Auch ist der Begriff in den Digitalspielstudien nicht unumstritten. Da es sich bei dieser Diskussion aber um eine Visualisierungsdebatte handelt, soll auch diese außen vor bleiben. Er ist meist aber auch, durch den Status als Werkzeug bedingt, die zentrale Figur, teilweise auch hier wieder die Fokalfigur, der Narration. Oft ist der Wissensvorsprung der Spielerin gegenüber dem Avatar höchstens minimal. Fahrenheit versucht diesen Wissensvorsprung für eine interessante Situation auszunutzen. Die Spielerin muss am Anfang mit ansehen, wie ihr Avatar Lucas Kane in Trance einen Mord begeht, und im Folgenden versuchen, diesen zu vertuschen. Ab der nächsten Szene spielt man aber auch die ermittelnden Kommissare Carla Valenti und Tyler Miles, so dass sich über das erste Drittel des Spiels ein interessantes Katz-und-Maus-Spiel der Spielerin mit sich selbst ergibt. Man kann selbst entscheiden, wie leicht oder schwer man sich die Ermittlungen machen will. Leider findet das Spiel für diese Situation keine ansprechende Lösung, sondern führt die Erzählstränge durch die äußerst unmotivierte Liebesbeziehung zwischen Lucas und Carla zusammen. Heavy Rain wiederum konstruiert diesen Wissensvorsprung in mehreren Szenen sogar anders herum. Wenn Madison Paige im Kapitel “Ann Sheppard” die Identität des Killers erfährt, flüstert Ann ihr diese Information, für die Spielerin unverständlich, ins Ohr. Die Spielerin kann nur an Madisons erschrockenem Gesicht ablesen, dass der Killer eine der Personen sein muss, von denen man es nicht erwartet hätte. Die Identität wird der Spielerin erst einige (die Anzahl ist abhängig vom eingeschlagenen Plotverlauf) Szenen später im Kapitel “Origami Killer” preisgegeben. Hier erfährt man nun auch, dass man eben diesen Killer durch das ganze Spiel selbst gespielt hat. Somit wird die Figur nicht zum unzuverlässigen Avatar, aber zum quasi-unzuverlässigen Erzähler der Geschichte. Auch die Spielmechanik und die Anordnung der Kapitel unterstützen diese unzuverlässige Erzählperspektive, da der spielbare Avatar in diesen Mordszenen (z.B. im Kapitel “Manfred”) in wichtigen Momenten wechselt und so der Killer, nun durch das Programm gesteuert, seinem mörderischen Handwerk nachgehen kann, ohne dass es die Spielerin bemerkt. Verbunden mit dieser Fokussierung des Plots ist meist auch eine visuelle Zentrierung auf/ durch den Avatar. Am offensichtlichsten ist dies bei Spielen aus der Ich-Perspektive wie etwa Ego-Shootern. 9 Da diese Perspektive aber nur in bestimmten Sequenzen in The Nomad Soul, dem Quantic Dream-Spiel mit der durch die Avatar-Sprung-Dynamik hervorgerufenen geringsten Bindung an einen virtuellen Stellvertreter, zu finden ist, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. In den restlichen Sequenzen setzt das Spiel den jeweils aktiven Avatar durch eine Mischung aus festen Kamerawinkeln (vor allem in engen Räumlichkeiten) und eine Verfolgungskamera in Szene. 10 Fahrenheit und Heavy Rain setzen hierbei nun vollständig auf feste Kamerawinkel und -fahrten, um das Spielgeschehen darzustellen. Überhöht wird dies noch durch filmsprachliche Elemente wie etwa Splitscreens. Trotz allem bleibt der jeweils gespielte Avatar im Mittelpunkt, häufig unterstützt durch direkte Point-of- View-Einstellungen. In Heavy Rain wird eine Kamerafahrt durch das Polizeirevier im Kapitel “Welcome Norman” für einen relativ eleganten Übergang zwischen zwei Avataren genutzt. Die Perspektive wechselt in eine Überkopfansicht, und die virtuelle Kamera fährt langsam von Norman Jayden zu Ethan Mars. So überbrückt das Spiel einen Wechsel der Interaktion durch eine nicht-interaktive filmische Konvention, mit der die Spielerin höchstwahrscheinlich Sven Schmalfuß 88 11 Dies zeigt sich z.B. in der Trophy “Interactive Drama”, die man für das erste Starten von Heavy Rain erhält. Trophies sind - für Sony-Konsolen vergleichbar mit Achievements auf der Xbox 360, dem PC oder iOS-Geräten - Meta-Belohnungen, die Spielerinnen für das Erreichen bestimmter Spielziele verliehen bekommen und die aus allen Spielen zusammengeführt werden. 12 Während der durch die allgemeine Verbreitung von CD-ROMs als Trägermedien geprägten Multimedia- Hochzeit für digitale Spiele zur Mitte der 1990er Jahre wurden viele Spiele durch Filmsequenzen mit echten Schauspieler/ innen angereichert. Diese Spiele konnten zwar aus den unterschiedlichsten Genres stammen, wurden aber oft unter dem Begriff interaktiver Film zusammengefasst. Lessard sieht alle diese Spiele als interactive movies an (2009: 196). Ich möchte hier das Genre wesentlich enger definieren, auch wenn ich sogenannte On-Rails-Shooter ebenfalls diesem Genre zurechnen würde, obwohl dies, gerade aufgrund ihrer Verwandtschaft zu den Shoot’em Ups, diskutabel ist. vertraut ist. In sehr vielen speziellen Szenen erhöhen sowohl Fahrenheit als auch Heavy Rain diese Nähe zum Film noch so weit, dass sie zu interaktiven Filmen werden. 3 Interaktives Drama Interactive Drama ist der Begriff, den die Verantwortlichen von Quantic Dream selbst benutzen, um ihre Spiele, genauer gesagt ihr zuletzt erschienenes Spiel Heavy Rain, zu charakterisieren. 11 Man versucht sich hierbei wohl vom Genre des interaktiven Films abzusetzen, dem beide Spiele aber zu weiten Teilen angehören. Seit dem ersten bedeutenden Werk, dem LaserDisk-Automaten Dragon’s Lair (1983), scheint sich am grundlegenden Prinzip des interaktiven Films wenig geändert zu haben. 12 Ein selbstlaufendes Video wird an bestimmten Stellen durch Aufforderungen zur Befehlseingabe an die Spielerin unterbrochen, denen sie in einem kurzen Zeitfenster nachzukommen hat, was den weiteren Verlauf des Films beeinflusst. Als Beispiele wären hierbei etwa Richtungseingaben wie in Dragon’s Lair, um Fallen aus dem Weg zu gehen, oder das Abschießen von Feinden in Light-Gun-Shootern wie etwa The House of the Dead 2 (1998) zu nennen. Die meisten Spiele setzen diese Befehlseingabemomente mit einer Gabelung im Filmablauf gleich. Wenn nun die Spielerin eine Eingabe nicht rechtzeitig und korrekt vollziehen kann, läuft der Film anders (meist als Sackgasse, sprich zum Tod der Spielfigur führend) ab, als wenn sie diese Aufgabe meistert. Zwar bezeichnen sich gegenwärtig eher wenige Spiele als interaktive Filme, doch hat dieses Konzept in Form interaktiver Cutscenes - seit Shenmue (1999) Quicktime Events (QTEs) genannt - bis heute in vielen Spielen, unabhängig vom Genre, überlebt. Fahrenheit und Heavy Rain sind hierbei zu weiten Teilen keine Ausnahme. Beide Spiele entziehen der Spielerin zu gewissen Zeitpunkten die direkte Steuerung über die Spielfigur und ein vordefinierter Film in Spielgrafik beginnt, auf dessen Verlauf die Spielerin durch Reaktionstests Einfluss nimmt. Hierbei lässt sich aber durchaus eine Entwicklung zwischen den beiden Spielen feststellen, die den Umfang der Immersion erhöht. In Fahrenheit fällt die Trennung zwischen den Sequenzen, in denen die Spielerin den Avatar direkt steuert, und den interaktiven Filmsequenzen sehr deutlich aus. Den Beginn markiert eine Einengung des Bildbereiches durch schwarze Streifen oben und unten (letterboxing), die die nachfolgenden Szenen in einen quasi-cineastischen Kontext setzen sollen. Des Weiteren erscheinen dauerhaft zwei spieltechnisch relevante Anzeigen im oberen schwarzen Balken - die Lebensanzeige - und halbtransparent in der Mitte des Bildschirms vor der eigentlichen Filmszene - die Richtungsanzeiger, die aus zwei Kreisen bestehen, die jeweils in vier verschiedenfarbige Segmente unterteilt sind. Nach der Einblendung eines Schwirrende Fragen/ Antworten 89 13 Siehe hierzu auch die Ausführungen weiter unten zur Simulation bestimmter körperlicher Aktivitäten in Fahrenheit und Heavy Rain. 14 Dass sowohl die Farben und die Form der Richtungsmarker als auch das Spielprinzip des Nachdrückens an Ralph Baers elektrisches Spielzeug Simon erinnern, scheint mir weniger zufällig als eine Verneigung vor dem Wegbereiter der Bildschirmspiele zu sein. 15 Diese Komplexitätserhöhung mit zunehmendem Spielverlauf entspricht einer fast allgegenwärtigen Regel digitaler Spiele. imperativen Startbefehls - “Get ready! ” - wird die interaktive Filmszene spielbar. Hierbei muss die Spielerin sich verschieden lange Ketten von Richtungsbefehlen merken, dargestellt durch das Aufleuchten der entsprechenden farbigen Segmente der Richtungsanzeiger. Die Richtungsanzeiger entsprechen, in der Konsolenfassung des Spiels, jeweils dem linken oder dem rechten Analogstick auf dem Controller. Die Spielerin muss nun die memorierte Kette in derselben Reihenfolge mit den Sticks nachvollziehen. Eine interaktive Filmszene besteht meist aus mehreren dieser Eingabeketten. Dabei ist die Verbindung zwischen den Richtungseingaben und der im Hintergrund ablaufenden Szene meist nur sehr arbiträr, wenn überhaupt vorhanden. 13 Wird eine bestimmte Anzahl von falschen oder zu späten Eingaben in einer Kette überschritten, entzieht das Programm der Spielerin die Eingabemöglichkeit, zeigt die negativen Auswirkungen der nicht bestandenen Situation - was bei der Häufigkeit der Verwendung dieser Interaktionsform alles sein kann, von einem verpatzen Gitarrensolo bis zu einem Sturz in den Tod -, zieht ein Leben ab, und die Kette oder die Sequenz startet von vorne. Bei einer erfolgreichen Wiedergabe der Kette geht das Spiel zur nächsten über. Dies geschieht so lange, bis die Szene beendet ist. Der Vorteil dieser sehr minimalistischen Spielsituation 14 besteht darin, dass durch einfachste Bewegungen der beiden Daumen äußerst komplexe und verschiedenartige Handlungen nachgestellt werden können. Die Immersionsbrechung in diesen Szenen besteht weniger in der äußerst abstrakten Mittelbarkeit der Reaktionen auf Spielsituationen, als darin, dass diese zu weiten Teilen für die Spielende völlig aus dem narrativen Rahmen der Filmsequenz im Hintergrund losgelöst sind. Denn da diese Eingabemuster in ihrer Komplexität immer weiter zunehmen, 15 muss die Spielerin sich immer mehr auf die Richtungsanzeiger konzentrieren und nimmt somit den Handlungsverlauf in den entsprechenden Szenen immer weniger wahr. Heavy Rain führt die spielerische Ebene der Tastenkommandos und die Handlungsebene der interaktiven Filmsequenzen viel enger und erzielt somit eine viel größere Immersion. Dies ist nicht zuletzt der höheren Auflösung moderner Fernseher geschuldet, die ein Erkennen direkt in der Spielwelt platzierter Eingabebefehle meist ermöglicht. Die Unterscheidung zwischen Szenen, in denen die Spielerin den Avatar direkt steuern kann - nennen wir sie Adventure-Parts -, und Szenen, in denen sie nur partiell auf das Geschehen Einfluss nehmen kann, also interaktiven Filmszenen, ist in Heavy Rain wesentlich fließender als in Fahrenheit. Adventure-Parts können häufiger von kurzen oder längeren Quicktime-Event-Szenen unterbrochen werden. Da das Spiel sehr oft der Spielerin die Kontrolle über den jeweiligen Avatar entzieht - z.B. in den Expositionen der jeweiligen Kapitel, in denen die Figuren sich meist selbständig bewegen, oder wenn die Spielerin ein bestimmtes, vordefiniertes Ereignis, eine sogenannte Skriptsequenz, auslöst -, sind auch die Übergänge zwischen diesen beiden Kontrollsituationen des Avatars weniger klar durch visuelle Signale markiert. Meist zeigt eine kurze, nicht interaktive Filmsequenz, wie der Avatar selbständig handelt. Danach machen kontextualisierte Einblendungen deutlich, welches Controller-Kommando welche Reaktion in der Spielwelt auslöst. So erscheinen z.B. neben verschiedenen Feinden bei Shelbys Sven Schmalfuß 90 16 Auf den metaphorischen Einsatz bestimmter Eingabeaufforderungen wird noch zurückzukommen sein. Erstürmung des Kramer’schen Anwesens (vgl. Kapitel “Face to Face”) verschiedene Tastensymbole. Drückt die Spielerin die entsprechenden Tasten rechtzeitig, erschießt Shelby den entsprechenden Gegner. Das Spiel nutzt hierbei nicht nur die Richtungseingaben per Analogsticks wie in Fahrenheit, sondern alle Aktionstasten des Controllers mit Ausnahme des digitalen Steuerkreuzes. Somit gilt es zwar mehr Eingabeoptionen zu beherrschen, deren Bindung an die intradiegetische Welt erscheint aber viel nachvollziehbarer. 16 Auch lenken die Eingabeaufforderungen durch ihre Platzierung in der Spielwelt bereits die Wahrnehmung der Spielerin auf ihre metaphorische Bedeutung in der räumlichen Logik des Spieles. Der im Vergleich zu Fahrenheit noch einmal gesteigerte Anteil solcher Quicktime Events am Spiel lässt dieses aber noch stärker zu einem interaktiven Film werden. Daher rührt wohl auch die durch das Marketing des Spiels geprägte Bezeichnung als Interactive Drama. Wie sehr dieser Gameplay-Ansatz die Spielerschaft spaltet, lässt sich sehr gut an zwei Besprechungen des Spiels in der deutschen Fachpresse, der GamePro (Plass-Fleßenkämper 2010) und der GEE (Klatt 2010) nachverfolgen. Während Oliver Klatt sich vom Spiel zu einer Rezension im Stile klassischer Choose-Your-Own-Adventure-Bücher (vgl. Katz) mit ihren vielen, interaktiven Verzweigungen inspirieren ließ, und so die Leserin sich ihren eigenen Weg durch die Rezension erarbeiten muss, beschloss die GamePro, Heavy Rain nicht wie andere Spiele zu besprechen und mit einer, wie es in der deutschen Digitalspiele-Fachpresse zumeist üblich ist, prozentualen Spielspaßwertung zu versehen - ein Umstand, der in diesem Magazin bisher einmalig blieb. Begründet wird dies in einem Infokasten mit der Überschrift “Wenn Heavy Rain ein Spiel wäre”: Wir haben bei unserem Test von Heavy Rain absichtlich auf eine Wertung verzichtet. Warum? Weil wir entweder Heavy Rain selbst oder andere Referenztitel unfair behandelt hätten, denn nach spielerischen Kriterien zieht das Spiel von Quantic Dream gegenüber den aktuellen Mitstreitern eindeutig den Kürzeren. Und auch die Spiellänge spricht nicht für den virtuellen Krimi. Andererseits überzeugt er uns mit einer hervorragenden Geschichte und seinem innovativen Erzählstil, womit das Spiel stellenweise sogar Top-Titel wie Mass Effect 2 oder Dragon Age: Origins übertrifft. Heavy Rain entzieht sich also den normalen Kategorien unseres Wertungssystems (Plass-Fleßenkämper 2010: 43; Spieletitel wie im Original). Dass dies aber mehr über das enge Korsett des Wertungssystems der Zeitschrift als über den Spielcharakter von Heavy Rain aussagt, ist offensichtlich. Denn auch wenn Heavy Rain mehr interaktiver Film als z.B. Fahrenheit ist (und selbst diese Aussage erscheint mir diskussionswürdig), ist es doch immer noch ein Spiel. Eines, das wesentlich immersiver ausfällt als sein Vorgänger im Geiste. Hierzu trägt auch bei, dass Spielerentscheidungen eine wesentlich größere Auswirkung auf den Plot des Spiels haben und so, wie in den im GEE-Review nachgebildeten Gamebooks, zu einem Labyrinth an Möglichkeiten anwachsen. 4 Der Garten der Pfade, die sich verzweigen Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat Ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existie- Schwirrende Fragen/ Antworten 91 17 Hier sei mir eine kurze persönliche Anekdote erlaubt. Mein erster Durchgang führte dazu, dass alle Hauptcharaktere außer dem Killer starben, und der Killer ungestraft entkommen konnte. Dies war auch damit verbunden, dass ich Heavy Rain ähnlich spielte wie meine Charaktere in Pen&Paper-Rollenspielen. Immer war ich auf eine argumentative Lösung einer brenzligen Situation bedacht, aber bei den unvermeidlichen Kämpfen verließ mich meine Hand-Augen-Koordination, sodass sowohl Madison Paige als auch Norman Jayden unrühmlich aufgrund eines einzelnen falschen Knopfdrucks starben. Dies führte zu einer sehr persönlichen, um nicht zu sagen immersiven, Wahrnehmung des Spiels und seiner Geschichte. Da sich die einzelnen Handlungsverläufe einer Spielerin recht gut aus der jeweiligen Trophyliste (siehe Fußnote 11) ablesen lassen, war zu erkennen, wo meine Bekannten völlig andere und wo sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. 18 Vgl. außerdem zu Nonlinearität, Multilinearität und Interaktivität Aarseth (1997: 41-51). Aarseths Punkte sind erhellend zur Struktur des Spiel-Labyrinths, diese Definitionsfragen beeinflussen aber die Immersion wenig. ren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide (Borges 2004: 88). Wenn auch weniger komplex und ambitioniert als Ts’ui Pêns Roman aus Jorge Luis Borges’ Fiktion “Der Garten der Pfade, die sich verzweigen”, teilt Heavy Rain doch dessen grobes Organisationsprinzip. Im Spiel findet sich für jeden möglichen Ausgang einer Szene ein Anschluss, so dass es nicht zu den oben für The Nomad Soul und Fahrenheit beschriebenen Sackgassen durch Arrest oder Tod des Avatars kommen kann. Wird ein Charakter durch eben jene Ereignisse vom weiteren Handlungsverlauf ausgeschlossen, blendet das Spiel dessen weitere Szenen aus. So kann das Spiel sowohl beendet werden, wenn fast alle Charaktere im Vorhinein gestorben sind, als auch dann, wenn alle Hauptfiguren überleben. Dies führt zu einem deutlich anderen Spielverlauf je nachdem, wer spielt. Jede Spielerin erlebt ihren ‘eigenen’ Handlungsbogen. 17 Hieraus resultiert ein deutlich individuelleres Spielerlebnis als bei anderen Spielen, was wiederum den immersiven Effekt erhöht: Ich erlebe meine eigene Geschichte. Somit spiegelt sich in dieser labyrinthischen Konstruktion des Spiels auch eines der Hauptmotive seiner Handlung wider: die Suche. Ethan Mars sucht Vergebung für seine Schuld am Tod Jasons, aber er sucht auch nach seinem anderen Sohn Shaun. Madison Paige und Norman Jayden sind auf der Jagd nach dem Killer. Der Killer wiederum versucht einen Vater zu finden, der sich für seinen Sohn aufopfert. Die Spielerin ist auf der Suche nach ihrer eigenen Geschichte. Dabei gerät die Auflösung gegenüber dem Weg ins Hintertreffen der Aufmerksamkeit. In einem Labyrinth besteht die Freude und Spannung eher in der Frage: “Wie erreiche ich den Ausgang? ” als in der Frage: “Was verbirgt sich am Ausgang? ”. Dies wäre ein Argument, um Heavy Rain als einen Irrgarten im Sinne Umberto Ecos zu beschreiben (vgl. Eco 1985: 125f.). “Ein Irrgarten benötigt keinen Minotaurus: er ist sein eigener Minotaurus; mit anderen Worten: der Versuch des Besuchers, den Weg zu finden, ist der Minotaurus” (ibid.; Hervorh. im Original). Andererseits spricht Eco dem Irrgarten aber auch nur genau einen Ausweg zu (Eco 1985: 125), wohingegen das Spiel durchaus eine größere Anzahl von möglichen Enden besitzt. Fahrenheit wäre somit ein besseres Beispiel für den Irrgarten. Heavy Rain besitzt durch die gewissermaßen modulare Struktur seiner Erzählstränge, die sich an bestimmten Punkten kreuzen, die aber auch umgeleitet oder beendet werden können, durchaus auch Elemente dessen, was Eco, mit Bezug auf Deleuze und Guattari, als rhizomatisches Labyrinth beschreibt (vgl. Eco 1985: 126f.), “[…] auch wenn [sc. digitale Spiele] die für ein Rhizom zu fordernde Offenheit des konnektiven Potentials kaum je erreichen” (Degler 2004: 67). 18 Sven Schmalfuß 92 19 Diese Aussage ist aber aus der heutigen Perspektive getroffen, da die offene, freibegehbare, dreidimensional dargestellte Welt 1999 durchaus etwas Neues war. Immerhin erschien das Spiel zwei Jahre vor Grand Theft Auto 3 (2001). 20 Andere Spiele mit einem etwas freieren Ansatz des Avatarwechsels wären etwa Messiah (2000), Geist (2005) oder The 3 rd Birthday (2011). Quantic Dreams neuestes Spiel Beyond: Two Souls (2013) ermöglicht der Spielerin mit dem geisterhaften Wesen Aiden verschiedene Charaktere für eine bestimmte Zeit zu übernehmen. Die offene Spielwelt (im Spieler-Jargon Open-World- oder Sandbox-Game genannt) und der (mehr oder weniger) freie Wechsel der Avatare in The Nomad Soul scheint auf den ersten Blick noch rhizomartiger als das Netz aus verschiedenen Szenen in Heavy Rain. Man erkennt als Spielerin aber bald, dass trotz der Bewegungsfreiheit die Handlung des Spiels (und damit auch das Öffnen weiterer Areale) an bestimmte Punkte/ Orte/ Personen gebunden ist. Auch sind die spielerischen Freiheiten zwischen diesen Punkten, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, doch recht eingeschränkt. Mehr als das Besuchen einiger Lokale und Läden ist nicht wirklich möglich, und Nebenaufgaben finden sich, abgesehen von den Untergrund-Kämpfen in Qalisar, wenige. 19 Somit ist das Spiel eigentlich viel linearer und gibt der Spielerin deutlich weniger Möglichkeiten, auf die Spielerfahrung Einfluss zu nehmen, als Heavy Rain. Einzig im Wechseln der Avatare findet sich eine durchaus interessante, labyrinthische Komponente. Da aber das Wechseln der Spielfigur nicht jederzeit und auch nicht mit jedem Charakter möglich ist, zeigt sich bald, dass auch hier die Wahlmöglichkeiten eher beschränkt sind. 20 Sowohl Heavy Rain als auch The Nomad Soul spiegeln die Suche aber nicht nur in ihrer grundlegenden Struktur wider, sondern auch ganz offen in der Verwendung labyrinthischer Orte. The Nomad Soul schaltet beim Betreten bestimmter Areale in einen Ego-Shooter-Modus um. Die Perspektive wechselt in die subjektive Sicht des Avatars, und die Spielerin muss ein sehr verwinkeltes Gebiet erforschen, Aufgaben lösen und Gegner erschießen. Meist ist der erfolgreiche Abschluss dieser Abschnitte nötig, um die Haupthandlung voranzutreiben. Dabei können die Gebiete eher recht geradlinige Labyrinthe sein (vgl. Eco 1985: 125), wie etwa die Waffenfabrik in Junpar, oder sehr verwinkelt, mit verschiedenen Wegen zu einem einzigen Ziel, wie die Sektion “Roof Tops” im selben Stadtbezirk. Trotzdem gibt es für alle diese Labyrinthe nur eine Lösung - oder aber die Nicht-Lösung, zu scheitern und neu laden zu müssen. Das Labyrinth in Heavy Rain, das diesem am nächsten kommt, ist der “Butterfly Trial”, die zweite Aufgabe, die der Killer Ethan stellt. Um einen weiteren Hinweis zu bekommen, an welchem Ort Shaun gefangen ist, muss Ethan in einem Umschaltwerk zwei Labyrinthe durchqueren. Das erste besteht aus einem engen Tunnel, dessen Boden mit Glasscherben übersät ist, durch den er kriechen muss. Danach folgt ein Labyrinth aus elektrischen Drähten. In beiden muss die Spielerin möglichst langsame und konzentrierte Eingaben tätigen, um eine Verletzung Ethans zu vermeiden. Wie weiter unten noch zu sehen sein wird, ist dies nicht der einzige Moment, in dem Heavy Rain bestimmte körperliche und geistige Anstrengungen des Avatars in Controller-Eingaben übersetzt. Steigen Ethans Schmerzen zu stark an, bricht er die Herausforderung ab und kann diesen Teil der Informationen über den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht erhalten. Diese Szene stellt aber eine für digitale Spiele konventionelle Aufgabe dar. Selbst die Hilfsmittel, wie etwa das Streichholz zum Kenntlichmachen des Lufthauchs, folgen sehr deutlich einer typischen Digitalspiel-Systematik. Zwei eher untypische Labyrinthszenen, die auch einen viel stärkeren Einfluss auf die Bindung an den Avatar Ethan Mars bewirken, finden sich im Kapitel “The Mall” und der Wahn-Sequenz im Kapitel “Lexington Station”. “Lexington Station” ist dabei als eine Quasi- Schwirrende Fragen/ Antworten 93 Spiegelszene zu “The Mall” angelegt. In beiden Abschnitten versucht Ethan seinen Sohn Jason, der durch einen roten Luftballon gekennzeichnet ist, durch eine dichte Menschenmenge hindurch zu erreichen. In beiden Szenen ist dies unmöglich. “The Mall” erscheint dabei wie eine spieltechnische Umsetzung der Verlustängste, die sich dann einstellen, wenn man ein Kind in einer weitläufigen Umgebung aus den Augen verliert. Ethan muss sich durch eine absurd dichte Menge von Menschen, die stoisch nur einem Ziel zu folgen scheint, hindurch arbeiten. Die Menschen lassen sich dabei auch nicht von seinen Rufen nach seinem Sohn irritieren. Dabei erscheint der rote Luftballon immer gerade außerhalb des Bereichs des direkten Zugriffs, gleichgültig was die Spielerin tut. Auch gibt es für diese Szene nur ein Ende, nämlich Jasons Tod vor dem Auto, in das er läuft. Der emotionale Effekt dieser Sequenz wird noch dadurch erhöht, dass die Spielerin bereits im vorherigen “Prologue” eine Bindung zu Ethans Söhnen aufbauen konnte. Das Spiel versteckt eine Einführung in die Spielmechaniken äußerst geschickt in einer Szene, in der Ethan mit seinen beiden Söhnen im Garten herumtollt. Die Spielerin lebt sich quasi in die Vaterrolle ein, nur um im nächsten Kapitel bereits einen der Söhne entrissen zu bekommen. Nach diesen Ereignissen leidet Ethan Mars unter einer panischen Angst vor größeren Menschenmassen. Als der Killer ihn in der Lexington Station ein Paket aus einem Schließfach holen lässt, wird Ethan von einem besonders schweren Anfall übermannt. In einer Wahnvorstellung sieht er alle Menschen um sich herum mitten in der Bewegung angehalten. Wenn er eine der anderen Personen berührt, fällt diese, mit einem Geräusch wie dem von kollabierenden Sandsäcken, in sich zusammen und bleibt auf dem Boden liegen. Auf einmal taucht Jason mit seinem roten Ballon wieder auf und läuft zwischen den Menschenmassen umher. Die Spielerin kann nun versuchen, dem Kind zu folgen und es zu erreichen. Dies wird aber nicht gelingen, da Jason sich, wenn man ihm zu nahe kommt, einfach in Luft auflöst und ein paar Meter weiter wieder erscheint. Nach einer gewissen Zeit bricht Ethan zusammen und kommt vor den Schließfächern wieder zu vollem Bewusstsein. Ethans Selbstvorwürfe für den Tod Jasons und, zu diesem Zeitpunkt im Spiel, auch für Shauns Verschwinden, werden hierbei in eine für die Spielerin ludisch erlebbare Sequenz übersetzt. Die Wände des Labyrinths sind kein wirkliches Hindernis mehr, aber dennoch ist das Ziel nicht erreichbar. Ethan mag seine Selbstzweifel in Angst projiziert haben, doch das Problem liegt nicht in den Menschenmassen, sondern in Ethan selbst; er muss sich selbst überwinden. Überdeutlich wird dies an der Plastik, die die Eingangshalle der Lexington Station dominiert: einem Engel, der einen Menschen in den Armen trägt. Durch diese beiden Szenen wird das Labyrinth zu einer ludischen Möglichkeit, Erfahrungen wie Verlustangst, Schuldgefühle und die Suche nach sich selbst erlebbar zu machen. Dem Avatar Ethan Mars wird ein intuitiv erfassbares, emotionales ‘Leben’ eingehaucht. 5 Kontrolle und das Uncanny Valley Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns - nimm es nicht übel, Bruder! - auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! - Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigene Bewandtnis (Hoffmann 1991: 32f.). Sven Schmalfuß 94 21 Die dürftige deutsche Synchronisation verstärkt diese Entfremdung noch einmal mehr. 22 Dass der technische Fortschritt aber auch das Uncanny Valley schmälern kann, zeigt sich in Quantic Dreams Technologiedemo “Kara” (PlayStationTrailers 2012) und noch stärker in Beyond: Two Souls, obwohl, oder gerade da, die Hauptfigur Jodie Holmes eine ‘naturgetreue’ digitale Abbildung der Schauspielerin Ellen Page ist. Inwiefern hierbei ein gewisser Gewöhnungseffekt als Digitalspielerin mitschwingt, bleibt diskutabel. Das Unbehagen, das Siegmund gegenüber seinem Freund Nathanael über den Automaten Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann äußert, beschreibt auch heute noch sehr treffend ein störendes Gefühl des Unwohlseins, das wir häufig bei Kontakt mit täuschend realistischen künstlichen Körpern empfinden. Dieser Effekt wird mit dem durch den japanischen Robotik- Forscher Masahiro Mori geprägten Ausdruck des Uncanny Valley beschrieben (vgl. Brenton et al. 2005: 1). As a machine acquires greater similarity to a human, it becomes more emotionally appealing to the observer. However, when it becomes disconcertingly close to human there is a very strong drop in believability and comfort, before finally achieving full humanity and eliciting positive reactions once more; this is the Uncanny Valley (ibid). Je akkurater ein menschliches Wesen künstlich imitiert wird, umso eher achten wir auf bestimmte Aspekte, die eine wie auch immer geartete Natürlichkeit stören könnten (vgl. Brenton et al. 2005: 3). Bei äußerst abstrakten Formen nehmen wir dieses Unwohlsein nicht wahr. So erkennen wir in den wenigen vibrierenden Linien eines Vib Ribbon (1999) bereits sehr schnell einen Hasen oder Frosch, der einen Weg mit Fallen entlang läuft bzw. hüpft. Die Welt wirkt in sich stimmig und wird durch die Abstraktion in keiner Weise gebrochen. Bereits in The Nomad Soul aber, mit seiner, aus heutiger Sicht, rudimentären 3D-Grafik kann es beispielsweise irritierend wirken, wenn Charaktere ‘sprechen’, obwohl sich ihr Mund nicht (mehr) bewegt. Auch passt oft der Klang der Stimme nicht zu den Bewegungen. 21 Am deutlichsten wird das Uncanny Valley aber in Heavy Rain. Durch ihre sehr feinen Gesichtstexturen und -animationen kann die Spiel-Engine durchaus einige Gefühlsausdrücke darstellen. 22 Oft passen diese aber nicht zu dem, was der Charakter gerade sagt. Am deutlichsten werden diese Ungereimtheiten, wenn man eine Person interviewt. Das Spiel erlaubt es dem Avatar der Spielerin, während dieser Gespräche herumzugehen, sich zu setzen oder sich an Gegenstände zu lehnen. Dies erhöht einerseits die Glaubwürdigkeit einer Konversation. Leider reagiert das Modell des Avatars aber nicht auf Stimmungsschwankungen im gesprochenen Text der Charaktere. So kann es passieren, dass eine Figur von der Spielerin gelenkt stoisch durch ein Zimmer läuft, während man in der Tonspur hört, wie der entsprechende Charakter einen anderen anschreit. Diese Inkonsistenz löst eine Immersion, wenigstens zeitweise, auf und führt zu einem Erkennen des technischen Charakters des Spiels. Die emotionale Bindung ist teilweise gestört, da der Avatar in diesem Moment wie eine Gliederpuppe wirkt, deren Stimme vom Band läuft. Am deutlichsten wird das Uncanny Valley aber in den Momenten, in denen eigentlich die engste emotionale Bindung zwischen Spielerin und Avatar bestehen sollte, in den Szenen, in denen Intimität oder Sexualität zwischen zwei Charakteren dargestellt wird. Gerade bei Kussszenen entsteht in allen drei Spielen der Eindruck von Köpfen zweier Holzpuppen, die gegeneinander verdreht werden. Anscheinend ist hier einer realistischeren Darstellung, mit den verschiedensten Muskeln, die bei einem Kuss involviert sind, noch eine technische Grenze gesetzt. Leider wird dies aber meist noch durch stark übertrieben schmatzende Kussgeräusche zu überspielen versucht, was den irritierenden Charakter der Szenen noch Schwirrende Fragen/ Antworten 95 23 Das Entkleiden selbst haben andere Spiele wie Project Rub (2005), wenn auch wesentlich abstrakter, bereits überzeugender umgesetzt. Die Spiele, die Geschlechtsverkehr spielbar einbinden, verfallen bei diesem Vorhaben meist in ‘pubertär’-alberne ‘rein-raus’-Schemata (vgl. z.B. God of War (2005). verstärkt. Sexszenen wirken, auch aufgrund der weniger expliziten Darstellung, geringfügig weniger puppenhaft. Da Sex, bis auf das Entkleiden in Heavy Rain, nicht interaktiv ist, kann die Spielerin hierauf keinen Einfluss nehmen; sie wird vom Akteur zum Voyeur degradiert. 23 An anderer Stelle können diese Spiele aber durch das mittelbare Umsetzen bestimmter Anforderungen an den Avatar in Controller-Kommando-Anforderungen an die Spielerin durchaus eine überzeugende Bindung zwischen der virtuellen Figur und dem ‘realen’ Menschen schaffen. Um mit Heinrich von Kleist zu sprechen, geht es darum den “Weg der Seele des Tänzers” (Kleist 2001: 340) zu finden. Wie in einem Marionettentheater sind wir als Spielerinnen sowohl die Zuschauer als auch der Maschinist, der die Puppenmechanik bedient. Wir sind nicht der einzige Maschinist, da hierbei sowohl die Entwickler des Spiels als auch dessen Code darauf Einfluss nehmen, wie wir den Avatar bewegen. Trotz allem spielen wir hierbei vor allem ein virtuelles Stück für uns selbst. Das heißt, wir erwarten von einem bestimmten Kommando eine bestimmte Bewegung. Dabei muss die Übersetzung nicht eins zu eins, sondern kann durchaus metaphorisch sein. Die Spielerin hat schnell verstanden, dass z.B. der Druck einer bestimmten Taste einen Sprung des Avatars auslöst. Oder wie es Herr C. in “Über das Marionettentheater” formuliert: “Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug diesen, in dem Inneren der Figur, zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst” (Kleist 2001: 339). Es gilt also die Essenz einer Bewegungsdarstellung zu finden, das imaginäre Idealbild dieser Bewegung. Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach, und, wie er glaube, in den meisten Fällen, gerad. In Fällen, wo sie krumm sei, scheine das Gesetz ihrer Krümmung wenigstens von der ersten oder höchstens zweiten Ordnung; und auch in diesem letzten Fall nur elliptisch, welche Form der Bewegung den Spitzen des menschlichen Körpers (wegen der Gelenke) überhaupt die natürliche sei, und also dem Maschinisten keine große Kunst koste, zu verzeichnen. Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer anderen Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anders, als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, daß sie anders gefunden werden könne, als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d.h. mit anderen Worten, tanzt (Kleist 2001: 240; Hervorh. im Original). Ein Spiel sollte somit möglichst einfach, aber doch glaubwürdig eine Bewegung in von der Spielerin geforderte Controller-Eingaben umsetzen, um eine möglichst hohe Immersion zu erreichen. Das Programm muss es der Spielerin erlauben, selbst zur Tänzerin im eigenen virtuellen Stück zu werden. Dies geschieht über eine metaphorische Belegung der Tasten und Sticks eines Controllers. “The controller and its resistances are those of the game and its objects, compared with the screen image they are commonly a miniaturized and condensed instantiation of the game program” (Kirkpatrick 2009: 134). Diese Metaphorisierung kann entweder durch das Erlernen bestimmter Controller-Belegungen geschehen (in etwa wie bei einem Musikinstrument, das wir erlernen (vgl. Kirkpatrick 2009)) oder über eine möglichst nachvollziehbare Verknüpfung zwischen dem Spiel und der Bewegung der Spielerin. Letzteres findet sich sehr umfänglich in Fahrenheit und Heavy Rain. Sven Schmalfuß 96 24 Seit dem Update auf die Move Edition Ende 2010 kann man nun in Heavy Rain auch Sonys Bewegungssteuerungssystem Move verwenden. Leider verliert die Steuerung damit paradoxerweise sehr viel von ihrem intuitiven Potential. 25 Dazu muss der Analogstick in die Richtung, in die die entsprechende Tür geöffnet wird, gedrückt werden und dann mit einem anschließenden Viertelkreis nach unten (i.e. zur Spielerin hin) aufgeschwungen werden. 26 Vgl. für eine ähnliche Mechanik den “Hug-Button” in A Boy and His Blob (2009). In Fahrenheit ist dies noch sehr eindimensional. Für den Avatar schwerer auszuführende Bewegungen werden durch kompliziertere Befehlseingabe-Ketten simuliert. Dies zeigt sich vor allem in den Kämpfen zum Ende des Spiels. Handlungen, die Ausdauer benötigen würden, erfordern ein andauerndes rhythmisches Drücken der beiden Schultertasten L1 und R1. Am auffälligsten ist dies in der Archiv-Szene, als Carla Valenti mit ihrer Platzangst zu kämpfen hat und die Spielerin Carlas Atemfrequenz über dieses abwechselnde Betätigen von L1 und R1 steuert, während sie nebenbei noch andere Objekte manipulieren muss. Da Heavy Rain alle Tasten und die Bewegungserfassung des Controllers nutzt, kann es verschiedene Handlungen auch auf unterschiedlichste Arten simulieren. 24 Schranktüren lassen sich z.B. immer durch eine Bewegung mit dem rechten Analogstick öffnen, die das Öffnen einer Tür miniaturisiert nachbildet. 25 Aufgaben, die Konzentration benötigen, erfordern meist das gleichzeitige Gedrückthalten verschiedenster Tasten. Je schwerer die Aufgabe, umso komplizierter das Drücken der Knöpfe. Ab und an müssen die Finger einer Hand fast schon ‘verknotet’ werden. Die schwerste Aufgabe, das Spielen des Klaviers in Normans Vision der Bar (Kapitel “Jayden Blues”), wird so schnell, dass es unmöglich ist, den Eingabebefehlen zu folgen. Dies kann als eine Parabel auf Normans Angst, auch in seinen Ermittlungen zu versagen, gesehen werden. Die Einblendung der Eingabeaufforderungen mitten in die Spielwelt hinein nutzt das Spiel auch, um bestimmte spontane Handlungen der Spielerin auszulösen. So kommt es im Kapitel “Nathaniel” zu einer Situation, in der sich Norman und der Verdächtige Nathaniel beide mit gezogenen Waffen gegenüber stehen. Das Spiel lässt nun wieder einige Eingabeaufforderungen um Normans Kopf kreisen, denen teilweise verbale Antwortmöglichkeiten zugeordnet sind. Am größten erscheint aber das Logo für die Taste R2. Drückt man diese wie ein Abzug geformte Taste, erschießt Norman den Angreifer. Hier versucht das Spiel quasi eine spontane, übereilte Handlung zu simulieren, indem es einfach die Anreize zum Betätigen dieser Taste erhöht, auch wenn die Folgen negativ sind. Die Spielerin erlebt somit eine ähnliche Übersichtseinschränkung wie der Avatar. Heavy Rain erhöht die Immersion weiter, indem es uns häufiger Eingabemöglichkeiten zur Verfügung stellt, die in der jeweiligen Situation zwar passend wären, rein spielregel-technisch aber überflüssig sind. 26 In Heavy Rain zeigt sich dies z.B. in den bereits beschriebenen Szenen “The Mall” und “Lexington Station”. Während Ethan versucht, Jason zu finden, kann er ständig auf Knopfdruck dessen Namen rufen. Dies hat keine Auswirkungen auf die Menschenmassen, fördert aber das Gefühl, hier wirklich nach einem kleinen Jungen zu suchen. Die Spielerin kann sich selbst besser in den suchenden Vater hineinimaginieren. 6 Der Traum der Spielerin Um zu meinem eingangs erwähnten Beispiel von Alices Traum zurückzukehren: Es verschiebt sich die Machtposition der Träumenden, i.e. der spielbestimmenden Person, zwischen The Nomad Soul, Fahrenheit und Heavy Rain immer mehr vom Red King, also den Entwick- Schwirrende Fragen/ Antworten 97 lern und damit den Spielregeln, hin zu Alice, also der Spielerin, obwohl rein formal das Spielprinzip immer einengender erscheinen mag. Vor allem die verschiedenen Plotstränge, die verschiedenen Spielerinnen andere Erfahrungen bieten, führen zu diesem Gefühl einer erhöhten Immersion auf einem narrativ-spieltechnischen Level. Dies geht mit einer, aufgrund der komplexen Beziehung zwischen virtuellen Aktionen und ‘realen’ Eingaben viel stärkeren, vor allem emotional-imaginären Bindung an die Avatare einher. In einer breiteren Definition von Immersion, die nicht von einer Ineinssetzung des Avatars mit der Spielerin ausgeht, sondern von einem komplexen Netz imaginärer Bindungen, kann man durchaus von einer Zunahme der Immersion von Spiel zu Spiel sprechen. Ludographie Quantic Dream 2000 [1999]: The Nomad Soul, Eidos Interactive (Dreamcast Version) Quantic Dream 2005: Fahrenheit, Atari (PlayStation 2 Version) Quantic Dream 2010: Heavy Rain, Sony Computer Entertainment Europe (PlayStation 3) Quantic Dream 2010: Heavy Rain Chronicles. #1. The Taxidermist, Sony Computer Entertainment Europe (Play- Station 3, PlayStation Network) Quantic Dream 2013: Beyond: Two Souls. 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Internationalen Semiotik-Kongresses 2011 in Potsdam), insbesondere Prof. Dr. Daniel Jacob und Prof. Dr. Thomas Klinkert, zu tiefstem Dank verpflichtet. Ebenso ergeht mein Dank an Prof. Dr. Gabriele Ziethen für historische Hinweise, an Prof. Dr. Manfred Kern und Dr. Corinna Virchow für die äußerst freundliche Zusendung ihrer Studien und an meine Kollegin Ass. Prof. Dr. Hala Farrag. 1 Alanus ab Insulis (1125-1203): Jedes Geschöpf der Welt/ wie ein Buch oder ein Bild / kann uns als ein Spiegel dienen./ Unsres Lebens, unsres Todes, / Unsres Zustands, unsres Schicksals/ Verlässliches Zeichen (Patrologia Latina 210: 579). Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit Konrads von Würzburg Der Welt Lohn und Engelhard * Dina Aboul Fotouh Salama (Cairo University) The allegorical personification of the world as a woman, called Frau Welt (Mrs. World), in Der Welt Lohn (The World’s Reward) (before 1260) and the angel, seen in a dream, in Engelhard (between 1273/ 1274) are two important visual apparitions in two epic works of the German medieval poet Konrad von Würzburg (ca.1230-ca.1287), which take part in the construction of a fictive reality. It is the aim of this study to determine the function of these fictive images by exploring textual strategies. Therefore, the emergence and presentation of both apparitions as objects of an internal perception - represented by and in words - will be examined, in order to identify the narrative tools that transform these inner imaginations into externally perceptible images, capable of constructing their own reality. To this end, the study will take into consideration both medieval and modern aesthetic and cultural categories within a semiotic frame. “Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum. Nostrae vitae, nostrae mortis, / Nostri status, nostrae sortis / Fidele signaculum” 1 (Alanus ab Insulis). Das obige Zitat des Alanus exemplifiziert den scholastischen Grundsatz mittelalterlicher Semiotik, aliquid stat pro aliquo - ‘etwas steht für etwas anderes’, insofern, als es auf die ontische Differenz in der Grundstruktur von Zeichen verweist. Alans Metapher von der Welt als Buch, Gemälde oder Spiegel bestimmt das Verhältnis zwischen den Erscheinungen der Welt und deren medialen Repräsentationen im Auge des Betrachters. Dieser individuellpsychische Prozess des Betrachtens bzw. des Erlebens dieser Bilder hebt das dichotom K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dina Aboul Fotouh Salama 100 2 Ich zitiere aus dem Abstract zur Sektion Imagination, Funktionen des virtuellen Erlebens, des 13. Internationalen Semiotik-Kongresses 2011: Repräsentation-Virtualität-Praxis in Potsdam, hier der Link mit dem Abstract der Sektion: http: / / www.semiose.de/ index.php? id=599,80 [22.3.2014]. 3 Siehe Fußnote 2. 4 Siehe Fußnote 2. 5 Den Hinweis auf Mark Turner und Gilles Fauconnier verdanke ich Prof. Daniel Jacob. geglaubte Verhältnis zur Wirklichkeit, als “deren extern-‘objektivem’ Substrat oder Analogon (im Sinne Sartres)” auf, da die Wirklichkeit, um es mit den Worten der Herausgeber dieses Bandes zu sagen, das “Resultat einer kommunikativen - also kollektiven, medial vermittelten und diskursiv konstituierten - Konstruktion ist”. 2 Auf die Tatsache, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit erst durch die subjektive Wahrnehmung von Individuen konstruiert wird, und nicht objektiv (unabhängig) von der Subjektivität existieren kann, haben bereits Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem bahnbrechenden Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit hingewiesen: Der Mensch ist biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen. Diese Welt wird ihm zur dominierenden und definitiven Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind von der Natur gesetzt. Hat er sie jedoch erst einmal konstruiert, so wirkt sie zurück auf die Natur. In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit - und sich selbst. (Berger/ Luckmann 2010 [1966]: 195) Demzufolge stellt, wiederum mit den Worten der Potsdamer Kongressankündigung, die “individuelle Imagination mit ihrer Möglichkeit interner Konstruktion und empathischer Projektion (Spiegelung) des Konstruierten auf die Psyche der anderen Individuen die grundlegende Voraussetzung für die kollektiv-externe Konstruktion der sozialen Wirklichkeit” 3 dar. Kognitiven Modellierungen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge bestehen starke Überschneidungen zwischen sinnlicher Wahrnehmung, sprachlichem Geschehen und rein internen mentalen Prozessen, die in einem Akt der ‘Überblendung’ eine komplexe, “diskursive”, “medial vermittelte Wirklichkeit” 4 inszenieren. Demzufolge beschreibt jeder “räumlich und zeitlich situierte Wahrnehmungsvollzug” einen “selektiven Vorgang” und stellt “einen die Einzelsinne übersteigenden multimodalen Prozess” dar (Lechtermann/ Wagner/ Wenzel 2007: 7; Hervorh. im Original). Eine Ausdrucksform subjektiver Wahrnehmung der in ihnen lebenden Individuen bilden literarisch evozierte Wirklichkeitsmodelle, in denen Objekte, Bilder und Handlungen sprachlich realisiert werden. Sie stellen mentale Bilder, geistige Wahrnehmungen und Imaginationen dar, die sich an unsere Einbildungskraft und unsere Phantasie, eventuell auch an unsere Affekte wenden (Schmid 2004: 229). Jan-Dirk Müller weist darauf hin, dass “individuelle Imaginationen” an das “instituierte Imaginäre” anknüpfen und “das Imaginäre […] ein Aspekt der gesellschaftlichen Realität selbst [ist], nämlich Inbegriff der Prinzipien und Strukturmuster, die nicht aus ihren materiellen Bedingungen ableitbar sind, diese aber in historischer spezifischer Weise formen, die als ganze betrachtet, ein ‘Magma’ scheinen, jedes für sich aber durchaus gestalthaft sind. “ (Müller 2007: 14f.) Im Rahmen der “blending theory”, die Gilles Fauconnier (1997) und Mark Turner (1996) zur Erklärung der dynamischen Bedeutungsentwicklung beim Lesen literarischer Texte entwickelten, wird die mehrdimensionale Integration von Konzepten verschiedener Herkunft, z.B. seelische Vorgänge wie sinnliche Wahrnehmung, sprachliche Akte usw. als gedankliche Karte (“cognitive map”) dargestellt. 5 Ebenso verfährt der literarische Text, der nach Wolfgang Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 101 6 Siehe dazu auch Pross (2000: 154). 7 Zur Datierung und Gattungsbezeichnung siehe Brunner (1985). 8 Als “Grundgegebenheit[en] der Religionsgeschichte” gelten Träume, Visionen und Erscheinungen, deren Grenzen oft ineinander verfließen. Mehr dazu bei: Mette (2003: Sp. 11) und Wittmer-Butsch (1990: 243). Näheres außerdem bei Dinzelbacher (1981: 31f.). 9 Siehe dazu Dinzelbachers Ausführungen zur Erscheinung (1981: 31), wonach die Umwelt der sehenden Person unverändert bestehen bleibt und die auftretende Erscheinung häufig visionsähnlich eine Offenbarung vermittelt, die vom Sehenden als real wahrgenommen wird (Dinzelbacher 2002: 14). Iser das Ergebnis von Akten des Fingierens ist: auf der einen Seite Akte der ‘Selektion’, welche das lebensweltliche Zeichenmaterial aus seinen pragmatischen Geltungszusammenhängen lösen und in seiner regulären Bedeutung virtualisieren, auf der anderen Seite Akte der ‘Kombination’, die das seines geregelten Bezeichnungsauftrags enthobene Zeichenmaterial zu neuen Bezüglichkeiten und Verweisungen zusammenfügen (Iser 1993: 18-51). 6 Die Erscheinung der allegorischen Frau Welt in Der Welt Lohn (WL) Konrads von Würzburg (ca.1230-ca.1287), ebenso wie der im Traum erscheinende Engel im Engelhard (E), 7 sind Teil der Konstruktion einer literarischen Wirklichkeit. Das Ziel dieser Studie besteht darin, das Auftauchen und die sprachliche Figuration dieser Erscheinungen im literarischen Konstrukt als Objekte der Wahrnehmung auf der Textstrecke zu verfolgen, um darauf basierend die Modi zu untersuchen, die die Wahrnehmung dieser Erscheinungsbilder konstruieren. Es ist häufig zu beobachten, dass weder im allgemeinen noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch angemessen zwischen Vision (lat. visio “Erscheinung, Anblick”) und Erscheinung (lat. apparitio “Auftreten”) differenziert wird. 8 Da man allerdings unter dem Begriff Erscheinung im Allgemeinen verschiedene Arten eines Auftauchens und Auftretens sowohl von sinnlich Wahrnehmbarem als auch von nicht Wahrnehmbarem versteht und es keines bedingt körperlichen Ekstasezustands des Erlebenden bedarf, um subjektiv erfahren zu werden, 9 sehe ich es für angebracht, den offeneren Begriff Erscheinung sowohl auf die in WL erscheinende Frau Welt als auch auf den im E im Traum erscheinenden Engel zu applizieren. Zudem ermöglicht der Begriff Erscheinung einen neutraleren Zugriff auf beide Werke, da er im weiten Sinne auch sprachliche Text-Erscheinungen bezeichnen kann. Es geht in dieser Studie schließlich darum, mittels eines semiotisch ausgerichteten Verfahrens aufzuzeigen, auf welche Art und Weise die szenische Ausgestaltung dieser Erscheinungen in beiden Texten erfolgt und mit welchen narrativen Mitteln diese inneren mentalen Prozesse zu wahrnehmbaren Objekten ihrer Wirklichkeitswelt transformiert werden, sodass ihre Imagination durch den Rezipienten ermöglicht wird. Eine solche Auseinandersetzung liegt meines Wissens nach der Sichtung der mir zugänglichen Forschungsliteratur nicht vor. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Wahrnehmung und Erkenntnis als Kategorie einer kultur- und literaturwissenschaftlichen Untersuchung hat Ingrid Kasten (2004) das Szenographie-Modell Gerhard Neumanns auch für die Analyse mittelalterlicher Texte vorgeschlagen. Von Roland Barthes übernimmt Neumann den Begriff der Szenographie, der semantisch im Schnittpunkt von Theatralität und Schrift steht: Als Graphie ist es mit dem Wortfeld der Schrift verknüpft und enthält mit der Szenerie zugleich den Gestus des In-Szene- Setzens. Die Leistung dieses Terminus liegt nach Neumann darin, dass der inszenatorische Akt nicht mehr nur an den Körper des Schauspielers, sondern auch an die Schrift gebunden werde. Dina Aboul Fotouh Salama 102 10 Des Weiteren fasst Gerhard Neumann Theatralität “als ein dynamisches Muster von anthropologischer Qualität, als ein[en] performative[n] Gestus” auf, “welcher als impliziter Habitus des Denkens, Sprechens, Schreibens und Phantasierens seine Wirkung entfaltet” (Neumann 2000: 12). Demzufolge werde Theatralität “als eine Praxis der Bedeutungsproduktion zu verstehen sein, die als ein dynamisches Muster der Sprache selbst innewohnt” (Neumann 2000: 12). 11 Siehe dazu: Eming/ Kasten/ Koch/ Sieber (2001). Neumann geht in seiner Argumentation “von der immanenten und ursprünglichen Theatralität” aus, “welche das Erkenntnisgeschehen im Sprechakt und in der Sprachproduktion bestimmt.” Neumann zufolge rekurriere “jene Metaphorizität in der Begriffsverwendung, welche Theater als Modell und Bild faßt, um sprachliche und symbolische Prozesse zu beschreiben […] ja bereits auf die genuine Rhetorizität, auf die symbolische Strukturiertheit von Erkennen und Wissen” (Neumann 2000: 18). Die “Öffnung eines Schauraums” (Kasten 2004: 24f.), oder “imaginärer Räume” (Lasch 2007: 13) ermöglicht mittels “(auch unbewusster) Rezeptionsstrategien” die Fähigkeit, aktiv Sinn zu konstituieren und Welten zu imaginieren (vgl. Lasch 2007: 14). Somit wird nach Neumann durch die Kategorie der Szenographie der Blick auf die Theatralität 10 von Texten gelenkt, die als Inszenierungen begriffen werden, als Akte einer performativen Produktion von Bedeutung, an denen Autor und Leser (oder Hörer) gemeinsam mitwirken. Die Texte erscheinen in dieser Perspektive nicht als ‘Repräsentationen’, sondern als sprachliche Medien, die an die Imaginationskraft der Rezipienten appellieren und sie dazu auffordern, Texte im Akt des (Vor-) Lesens zu ‘performieren’, sie gleichsam ‘aufzuführen’ (‘Inszenierung’ als Anregung zur ‘Reinszenierung’). (Kasten 2004: 25) Hierzu müssen nach Neumann “Bühnen der Wahrnehmung” errichtet und epistemologische Parameter des Inszenatorischen entwickelt werden; Neumann nennt unter anderem Rahmung, Perspektive, Polyfokalität (Neumann 2000: 22), diese erweitert Ingrid Kasten folgendermaßen: Neben den von Neumann genannten Kategorien Rahmung, Perspektive, Polyfokalität, welche die Wahrnehmung der Rezipienten steuern, wäre an die Inszenierung von Räumen, an Arrangements von Materialien und Körpern, an Strategien der Visualisierung, an Klang- und Lichteffekte, an die Bewegungen der Figuren im Raum, an ihre Emotionen und an die Modi ihrer (gegenseitigen) Wahrnehmung in öffentlichen und nichtöffentlichen Räumen sowie an geschlechtsspezifische Inszenierungen zu denken und zu fragen, welche Rolle sie bei der Bedeutungsproduktion von kultureller Ordnung und sozialem Sinn spielen. Auch die Kategorie des Performativen kann sich als produktiv erweisen, da mit ihrer Hilfe nicht nur Sprechakte, sondern auch bestimmte Charakteristika von Handlungen erfaßt werden können (vollziehen, vergegenwärtigen, erzeugen). (Kasten 2004: 27f.) 11 Eine Anwendung des Szenographie-Modells, das den Fokus auf textuelle Inszenierungen legt, kann nach Kasten einen neuen Zugriff besonders auf mittelalterliche Texte und ihre ästhetischen Strategien eröffnen, da diese gerade aufgrund ihrer mündlichen Vortragssituation zahlreiche performative Elemente enthalten, die durch eine szenographische Analyse sichtbar gemacht werden können. Zugleich werden kulturanthropologische Strategien der Visualisierung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeit an die Oberfläche gebracht (Kasten 2002: 98; Kasten 2004: 27). Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 103 12 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Konrad von Würzburg (1968): Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke, Stuttgart: Reclam: 50-65. 13 Der Wigalois wurde ca. zwischen 1210-1220 von Wirnt von Grafenberg verfasst. 14 “Das Nennen des eigenen Namens als Dialogpartner könnte auf literarische Dialogtraditionen zurückgehen, in denen eine Figur mit dem Namen des Autors im Gespräch mit einer allegorischen Figur auftritt” (Schumacher 2000: 187). Der ‘Boethius’ in der Consolatio Philosophiae gilt dementsprechend als klassischer Fall. Da Konrad sich nicht selbst, sondern seinen Kollegen Wirnt von Grafenberg im Gespräch mit Frau Welt darstellt, fiktionalisiert diese Tradition “in gewissem Maße den Autorennamen, indem sie ihn einer literarischen Figur beilegt, die sich zudem im Dialog mit einer ‘nichtrealen’ Gestalt befindet; es entsteht dadurch ein kompliziertes Spannungsverhältnis von Autor und Rolle/ Figur” (Schumacher 2000: 187). Jan-Dirk Müller bemerkt dagegen: “Hier geht es gerade nicht um Fiktionalität, sondern um Authentizität der conversio, für die der Name einsteht” (1994: 18). Die Frage, mit welchen ästhetischen Mitteln die Erscheinungen in beiden Werken als literarisches Konstrukt in Szene gesetzt und dadurch konstruiert werden, damit sie imaginativ wahrgenommen werden, soll nun mit Hilfe einer szenographischen Analyse beantwortet werden, bei der die von Neumann eingeführten epistemologischen Parameter des Inszenatorischen mit Ingrid Kastens Erweiterungen kombiniert werden (textuelle Arrangements von Körper und Materialien in Relation zu Raum, Zeit, Polyfokalität, Wahrnehmungsemotion). Nach einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung der zwei Werke werden jeweils die Schlüsselszenen der Erscheinungen mit Hilfe der szenographischen Kategorien analysiert, um aufzuzeigen, wie die narrative Inszenierung der Erscheinungen in beiden Texten erfolgt. Der Welt Lohn, 12 wahrscheinlich vor 1260 in 274 Versen verfasst, handelt von der Begegnung des Dichters Wirnt von Grafenberg mit der von vorne wunderschön anzusehenden Frau Welt, deren von Ungeziefer zerfressener Rücken den Ritter zu Weltabkehr und Kreuzfahrt bewegt. Wirnt von Grafenberg, dessen Name mit der realen Dichterpersönlichkeit des Wigalois 13 übereinstimmt, wird als vorbildlicher Minneritter und Minnedichter vorgestellt, für den die minne, also der höfische Liebesdienst, das höchste erstrebenswerte Ideal darstellt. Zurückgezogen in der kemenate (ursprgl. beheizter Wohnraum, üblicherweise Aufenthaltsraum der Frauen) verbringt Wirnt den ganzen Tag, bis zur Vesperzeit ein Buch lesend, das “von der minne geschriben” (V. 57). Während er noch ganz von dieser Lektüre erfüllt ist, erscheint ihm plötzlich eine wunderschöne Dame, die ihm im Laufe eines Dialogs schließlich ihren Namen nennt “diu werlt bin geheizen ich” (V.212). Sie sei erschienen, um dem Dichter den Lohn für seinen lebenslangen Dienst an ihr zu zeigen. Mit diesen Worten wendet sie ihm ihren von Verwesung gezeichneten Rücken zu. Daraufhin verlässt der Ritter Frau und Kind, zieht als miles Christi in das Heilige Land, um als Kreuzritter sein ewiges Seelenheil zu sichern. Aus der Sicht eines allwissenden Erzählers wird das Bild eines Minneritters konzipiert, der “nâch der werlte lône ranc” (V. 4) und stets danach strebt, “daz er den lôn enphienge / werltlicher êren” (V. 8-9). Als Musterritter (“er was hübisch unde fruot,/ schœne und aller tugende vol”, V. 18f.) widmet er sich “mit werken und mit worten” der “minne” (V. 12). Mit der descriptio eines “poetischen curriculum vitae” (Kern 2009: 45) werden beim Rezipienten ‘eingescannte’ Gedächtnisbilder von bekannten literarischen höfischen Minnerittern evoziert. Diese Bewusstseinsbilder werden als Teil der eigenen Wirklichkeit durch die Nennung der höfischen Tugenden und einer realen mittelalterlichen Dichterpersönlichkeit 14 imaginiert, der es gelingt, sich einen ehrenhaften Ruf “in allen tiutschen landen” (V. 15) zu erwerben. Nach dieser räumlichen und zeitlichen allgemeinen Vorstellung erfolgt eine konkretere Profilierung und Situierung des Protagonisten in einer Szene des Hier und Jetzt. Im Privatraum der Dina Aboul Fotouh Salama 104 15 Dem Verständnis der römisch-katholischen Kirche nach sollte der fromme Christ damaliger Zeit sich zur Vesperzeit am frühen Abend auf die Gebete der Andacht und auf die Anrufung der Heiligen Jungfrau Maria vorbereiten. Kemenate, “mit fröuden wol berâten” (V. 54) und gut mit Unterhaltung ausgestattet, hält der Ritter ein Buch in der Hand, das als “âventiure … von der minne geschriben” (V. 56f.) näher definiert wird. Mit der Lektüre dieses Buches verbringt der Dichter “den tag unz ûf die vesperzît” (V. 59). Mit der “vesperzît” wird ein besonderes Stundengebet angegeben, das in der kirchlichen Tageseinteilung die vorletzte Kanonstunde (vier oder sechs Uhr nachmittags) bezeichnet. Bei dem kundigen Rezipienten, dem dieser spezielle Zeitraum vertraut ist, erweckt der Hinweis auf die vesper das Bewusstsein für religiöse kirchliche Rituale, 15 die in deutlichem Gegensatz zu der - wohlgemerkt einsamen - Lektüre weltlicher Liebesgeschichten steht und die Dichotomie zwischen höfischer und klerikaler Lebenswelt apostrophiert. In eschatalogischer Ausrichtung mag sie auch die vorletzte Stunde vor dem ‘Lebens-Abend’ symbolisieren. Aus inszenatorischer Perspektive lässt die vesperzît als temporale Angabe auf eine dämmerige Raumbeleuchtung schließen. Manfred Kern hebt “das Bild des still vor sich hin lesenden Dichters” hervor, da erst die Lektüre “mediengeschichtlich […] jenen Schwellenakt bezeichnet, der den Übertritt in die andere, ‘höhere’ Wirklichkeit der Allegorie erst ermöglicht” und weist darauf hin, dass “traditionellerweise” “zwei Topoi”, der Spaziergang und der Traum, als solche “liminale Akte” fungieren (Kern 2009: 47). Die dramaturgische Schlüssigkeit des Übergangs hängt hier, da es keinen Ortswechsel gibt […], einzig am Motiv der Einsamkeit und an der Erfahrung, dass der stille Lesende im Akt der Lektüre gleichsam in eine andere mentale ‘Wirklichkeit’ eintritt […]. Die Analogie zum Traummotiv ergibt sich schon aus der trivialen Erfahrung, dass der müde werdende Leser sehr leicht in einen schlafähnlichen Zustand verfällt. (Kern 2009: 48) In dieser ‘höfischen’ Isolation, da er berauscht ist von “süezer rede, die er las” (V. 61), erscheint dem Dichter Wirnt plötzlich eine Dame: “dô quam gegangen dort her, / ein wîp nâch sînes herzen ger” (V. 63f.). Die Wahrnehmungsweise einer “süezen rede, die vil harte wîte fröude” erwecken kann, kombiniert mehrere Modalitäten: die “rede” der Dichtung, die eigentlich optisch und kognitiv durch den Akt des Lesens mentalisiert wird, schmeckt süß und bereitet große Freude. Der süße Geschmack auf der Zunge vermag wohl für einen Dichter, der mit “werken und mit worten” (V. 12) und “stille und offenbâr” (V. 50) umzugehen weiß, die dichterische Sprache sinnlich als so real zu imaginieren, dass er sie als süß empfindet. Es liegt eine synästhetische Wahrnehmungsmodalität vor, da die mentale geistige Lektüre als süß schmeckend und als erfreuend empfunden wird. Die Voranstellung von “ein wîp” direkt zu Beginn des Verses rückt die Frau in den Vordergrund, während die Bezugnahme “nâch sînes herzen ger” (V. 64) auf die zu Beginn des Werkes vorgestellten Herzenswünsche des Minnedichters und auf seine Vorstellungen von der idealen Schönheit der Minnedame referiert. Auch im weiteren Handlungsverlauf wird sichtbar, dass die descriptio der Frau stets mit Wirnts imaginierten Vorstellungen von der idealen Minnedame korreliert, die auf dessen eigene Erfahrungen, quasi erinnerte Gedächtnisbilder, zurückgreifen. Die nun folgende descriptio der Vorderseite der erschienenen Frau erlaubt keine konkrete Perspektiven-Zuordnung, da sie sowohl aus der Sicht Wirnts als auch aus der eines extradiegetischen Erzählers erfolgt. Insofern liegt eine narrative und figurative Fokalität der Erzählung vor. Außerdem ist der Rezipient aufgefordert, sich seiner Einbildungskraft zu Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 105 16 Auch der Spiegel kann als Zeichen der vanitas mundi, d.i. der Eitelkeit und der Wertlosigkeit der Welt verstanden werden. 17 Das Strahlen, wie es auch von Frau Welt ausgeht und ihre Umgebung erleuchtet, findet sich nach Timothy R. Jackson als häufiges Beschreibungsmittel bei Konrad, der seinem Publikum physische Gegenstände in “plastischer Genauigkeit” sichtbar machen will (Jackson 2003: 201f.). Dies sei auch im Zusammenhang mit den verschiedenen philosophischen Einstellungen des 13. Jahrhunderts zu Lichtphänomenen zu betrachten (vgl. Jackson 2003: 203f.). Auch bei Hildegard von Bingen, und schon in der Antike, etwa in Scipios Traum aus Ciceros De re publica, finden sich auffällige Lichtphänomene. bedienen, da das äußere Erscheinungsbild dieser Frau nicht en détail beschrieben, sondern nur über hyperbolische verallgemeinernde Abstrakta angedeutet wird. Diese Strategie der Aposiopese, der “angedeuteten aber nicht ausgeführten oder abgebrochenen descriptio” (Lasch 2007: 22; Hervorh. im Original), regt die produktiv-aktive Einbildungskraft (phantasia) an und bildet somit einen Schnittpunkt, an dem ein imaginärer Raum beim Rezipienten geöffnet wird. Ihre äußere Erscheinung entspräche dem “wunsche” (V. 65), sie sei “wol geprüevet gar”, und besitze eine Vollkommenheit, da er “nie schœner wîp gesach” (V. 67). Mit dem Überbietungsmodus “für alle frouwen die nu sint” (V. 69) wird die Wahrnehmung der äußeren Schönheit erneut mit Erinnerungsbildern der memoria abgeglichen und in einen zeitlichen Rahmen und Raum des Hier und Jetzt eingebunden. Schritt für Schritt entwirft der Erzähler dann die Handlung durch seinen beschreibenden Blick, der sich mit dem des Dichters Wirnt zu decken scheint. So heißt es, ihre Schönheit übertreffe die Schönheit zweier literarischer antiker Frauenfiguren: “Vênus” und “Pallas” (V. 72-76). Mit dieser Beschreibung wird zwischen dem Erzähler und dem Rezipienten ein Konnotationsrahmen gespannt, der die Kenntnis dieser literarischen Tradition voraussetzt. Als weiteres Schönheitsattribut dieser Frau wird ihr Strahlen, ihr Leuchten (V.75-84) hervorgehoben: “durliuhtec als ein spiegellîn. / ir schœne gap sô liehten schîn” (V. 78f.). Der Vergleich des Leuchtens und Strahlens mit dem Glanz eines Spiegels 16 kann m.E. auch programmatisch gelesen werden: In der leuchtenden Erscheinung, deren Körper hell und glänzend ist, wird der Herzenswunsch des Dichters nach außen projiziert. Dieses glänzende und spiegelnde Erscheinungsbild stellt als Personifikation Wirnts bisherige Wunschvorstellungen (V. 84) dar und vermag durch seine spiegelnden Eigenschaften im Verlauf des Dialogs Wirnt selbst zu reflektieren. Das Strahlen, das von der Frau ausgeht, erhellt den ganzen Saal und stellt eine Veränderung der bisherigen Lichtverhältnisse dar - das dämmrige Dunkel der “vesperzît” wird von Helligkeit abgelöst. Dieses Licht 17 steht im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Lichtmystik und -philosophie symbolisch für das göttliche Licht und ist somit eng mit Erkenntnis und Wahrheit verbunden. Diese Assoziation dürfte auch dem mittelalterlichen Rezipienten geläufig sein. In Verbindung mit der Erkenntnis steht auch das Sehen und das Schauen, wobei - nach der Lehre des Augustinus - zwischen dem äußeren Auge und der inneren Herzensschau unterschieden wird. Aber so weit ist Wirnt noch nicht, da er sich noch auf der Ebene des äußeren Schauens befindet. Interessanterweise kommt erst jetzt Bewegung in die Kemenate. Der bis dahin statisch porträtierte lesende Ritter, der einsam in seiner Kemenate sitzt und ein weltliches Buch zur kirchlichen Vesperzeit in der Hand hält, sieht die Erscheinung, erschrickt und weist unwillkürlich auftretende Veränderungen an seiner Hautfarbe auf, die als “missevar” (V. 109) in starkem Kontrast zur leuchtenden Erscheinung steht. Das Schauen und die bewundernden Blicke werden dabei von einer starken emotionalen Komponente, dem Erschrecken (V. 102), überlagert, das auch äußerlich an dem Erbleichen des Dichters - “sîn varwe was erblichen” Dina Aboul Fotouh Salama 106 18 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu definiert “Habitus” im Anschluss an die generative Grammatik “als ein System verinnerlichter Muster, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese.” (Bourdieu 1974: 143, zit. nach Assmann 2008: 114) 19 Wirnt beteuert der Dame gegenüber, dass ihre Schönheit die aller Frauen, die er in seinem Leben kennengelernt habe, übertreffe. Der hyperbolische Ausdruck betont das Ausmaß der Schönheit dieser Dame und appelliert zugleich an die Kenntnisse eines Rezipienten, der mit den höfischen Minneaventiuren der Minnetradition vertraut ist. 20 In Verbindung mit der kausalen Metonymie wird die Synästhesie remotiviert. (V. 104) - sichtbar gemacht wird. Damit wird eine “transmodale Wahrnehmung” inszeniert. Die bis zu diesem Augenblick über der Lektüre verspürte innere Regung der Freude und des sinnlichen Genusses wird erst durch das Erscheinen dieser “frouwe” in einen Bewegungsakt transformiert. Erschrocken springt der Dichter auf, um die wie aus dem Nichts erschienene Dame nach höfischem Ritus zu begrüßen (V. 108-115). Mit dem Aufspringen des Minnedichters und seiner Begrüßung wird die Handlung in Form einer verbalen Interaktion mit der Dame dynamisiert. Es findet ein fast 100 Verse langer Dialog zwischen Wirnt und der Dame in direkter Rede statt, der als performativer Sprechakt fast die Hälfte des insgesamt 274 Verse umfassenden Textes (V. 101-194) einnimmt und der als imaginierte Unmittelbarkeit eine Verdichtung dieser Illusion darstellt und dabei das narrative Moment auf der Textebene bis auf die Gesprächseinleitung in den Hintergrund drängt. Darüber hinaus macht der Dialog den Widerspruch zwischen den internen Regungen Wirnts und seinem externen, ‘habitualisierten’ 18 höfischen Verhalten sichtbar. In diesem Moment verschmilzt das narrativ konstruierte Bild der Dichterpersönlichkeit mit dem eines aktuell agierenden höfischen Minneritters, dessen Rede “schône” und “ûz süezem munde” (V. 112) erfolgt. Wiederum liegt hier eine Überlagerung von ästhetischen und sinnlichen Eigenschaften vor: die schöne höfische Art und Weise und der süße Mund, der süße Worte zur Begrüßung der Frau spricht. 19 Des Weiteren korrespondiert der vom Erzähler als süß beschriebene Mund mittels einer metonymischen Konstruktion mit den süßen Minnereden, für die der Dichter, wie zu Beginn des Werkes bereits in der descriptio vorgestellt, berühmt war. Hier wird die kausale Metonymie mit einer verblassten Synästhesie kombiniert, da die akustisch wahrnehmbaren Worte durch eine mit dem Geschmackssinn wahrnehmbare Eigenschaft als “süß” beschrieben werden. 20 Mit “zühten” (V. 116) gewährt die Frau ihm dafür der Minnetradition gemäß den Lohn Gottes (V.117) und lenkt dabei geschickt das Gespräch auf Wirnt und seine Reaktion auf ihr Erscheinen. Indem sie sein Erschrecken und seine Furcht anspricht - “erschric sô sêre niht von mir” (V. 118) -, reflektiert sie seinen eigenen internen Zustand bzw. seine Erregung. Wie mit einem Spiegel hält sie dem Dichter - und mit ihm dem Rezipienten - sein Lebenswerk, das hauptsächlich aus dem Minnedienst besteht, vor, indem sie es aus der Retrospektive zusammenfasst und Revue passieren lässt (V. 130-144). In ihren lobenden Worten bestätigt sich die einleitende descriptio, die der Erzähler an den Beginn des Werkes über Wirnt gestellt hat. Der blühende Maienzweig (V.138), mit dem sie ihn vergleicht, der Ehrenkranz (V. 141), den er seit seiner Jugend trage, stellen, um einige Beispiele zu nennen, eine stilistische Übernahme aus dem literarischen Repertoire höfischer Dichtung dar und bilden einen Kontrast zu dem jetzigen Zustand des vor Schreck bleich gewordenen, nun schweigenden Ritters. Ihre Sprache zeichnet sich aus durch eine Fülle von stilisierten höfischen Wendungen mittelalterlicher Dichtung, ist geschmückt mit metaphorischen und metonymischen Bildern und reich an Vergleichen, rhetorischen Stilmitteln und Symbolen. Zudem stellt die 19-malige Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 107 21 Die Anrede mit Du war unüblich. Bisher wird die höher stehende Dame in der höfischen Dichtung mit “ir” angesprochen. Beispielsweise Walther von der Vogelweide in seinem Lied Frô Werlt (L. 100,24) und Hugo von Montfort in fro welt, ir sint gar húpsch und schon. 22 Die Verwendung der vergangenheitsbezogenen Ausdrücke “aldâher” (V. 122; 129), “ie” (V. 141) und “alliu dîniu jâr” (V. 129) weckt Erinnerungen an die berühmte Alterselegie wo sint geswunden alliu min jar [L 124,1] Walthers von der Vogelweide und die contemptus mundi-Thematik. 23 Zu “vür, vüre” vgl. Lexer (1986: 302): “präp. mit acc. vor, für: räuml. vor etwas hin (bei vbb. der bewegung), entgegentretend”; “räumlich vorwärts, über etw. hinaus; zeitl. fernherhin von -an, seit (vür daz, von da an dass, seitdem, sobald); adv. vor, nach vorne hin, hervor”; Zu “wider” vgl. Lexer (1986: 317): “präp. mit datod. acc. wider, gegen (räuml. und zeitl., eig. und bildl., freundl. und feindl.); gegenüber mit acc., gegenüber, trotz mit dativ; in vergleichung mit, im gegensatz zu mit dat.; tausch, abwechslung, verhältnis zwischen zweien, gegenseitigkeit ausdrückend”; Als “adv. wider, widere: gegen, entgegen”; “wider unde vort/ vür”: “rückwärts und vorwärts, hin und her”. appellative Anrede mit dem vertraulichen Du 21 eine kommunikative Verbindung zum Rezipienten her und begünstigt somit eine imaginierte Identifikation. Erwähnenswert ist, dass die Dame hier den Ritter auf unübliche Weise duzt und somit eine Vertrautheit ausdrückt, während der Ritter sie wie jede andere Minnedame normal ihrzt. Geschickt lenkt die erschienene Dame das Gespräch in eine von ihr gewünschte Richtung, indem sie sein Erschrecken darauf reduziert, dass er sie möglicherweise für eine Fremde halte und nicht wiedererkenne, und den Dichter, in der Hoffnung, seine Furcht zu mildern, auf ihre Bekanntschaft aufmerksam macht. In den Worten der Dame verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart miteinander, die temporalen Angaben (“noch”, “aldâher”, “alliu diu jâr”, …) umschreiben den grenzenlosen Zeitraum seines Minnedienstes, der in die Vergangenheit gesetzt wird und tageszeitliche Strukturierung findet: “alliu dîniu jâr” 22 (V. 129); “den âbent und den morgen” (V. 135). Bemerkenswerterweise liegt die Betonung auf der Voranstellung des Abends vor dem Morgen, was der natürlichen Zeitenfolge zuwiderläuft und die Assoziation mit dem Lebensabend erweckt. Dominierend setzt die Dame die Gesprächsführung fort, indem sie mit “dar umbe bin ich komen her” (V.145ff.) eine weitere Sequenz einleitet und mit “her” auf den zwischen beiden bestehenden ocularistischen deiktischen Raum verweist. Da Wirnt alle Voraussetzungen eines ehrenvollen Ritters besitze, habe sie ihn auserlesen, damit er nach Herzenslust ihren “lîp” (V. 147), also ihre Gestalt, von allen Seiten betrachten und bewundern könne (“beschouwest wider unde für”, V. 148). Bedeutsam erscheint die Umkehrung der logischen Reihenfolge des Schauens. Dabei wird wörtlich gesehen die Rückseite der Vorderseite vorangestellt. Die räumliche Präposition vür steht dafür, dass etwas im Raum vor einem liegt bzw. entgegentritt, oder vor Augen gestellt wird. Dagegen drückt wider den Prozess des Vergleichens, das Verhältnis zwischen zweien und die Kehrseitigkeit und Gegensätzlichkeit derselben aus. 23 Obwohl Wirnt - und mit ihm der Erzähler und der Rezipient - sie bereits von der Vorderseite betrachtet und der Erzähler dies auch alles in voller Ausführlichkeit beschrieben hat, stellt sie in ihren Worten das wider vor das für, somit die Gegenbzw. Rückseite vor die vordere und verkehrt somit ihr tatsächliches Erscheinen. Mit dieser Umkehrung fungiert selbst ihre Rede spiegelverkehrt. Die Vorwegnahme “wie schœne ich sî, wie vollekomen” (V. 149) stellt wiederum einen Kontrast zu ihrer Enthüllung dar und beinhaltet nur eine Teilansicht, nämlich die der Vorderseite. Sie sei gekommen, damit er nun erfahre, “waz lônes dir geziehen sol / du hâst gedienet mir sô wol” (V. 155f.). Er bekomme den Lohn zu sehen, der ihm allein dank seiner speziellen Dina Aboul Fotouh Salama 108 24 Dieses Schauen steht als Epistemik der Sinne in enger Verbindung mit der Herzerkenntnis, einer Erkenntnis über die Wahrnehmung des äußeren Auges, die eine innere Erleuchtung und Erkenntnis über das innere Auge ermöglicht. In der christlichen Tradition hatte man empfohlen, die Augen eher zu verschließen als offen zu halten. Augustin hatte die Augen als Einfallstor der Sünde verdammt und sprach von “Augenlust” (concupiscentia oculorum). Die Augen wurden als gefährlichste Schwachstelle des Menschen eingestuft, da durch sie der trügerische Schein der Sinnenwelt Einlass in das Herz des Menschen erhalte (vgl. Augustinus 1988: Buch X, 35/ 54, 573, zit. nach Assmann 2008: 96). 25 Das memento-mori-Motiv breitet sich seit Notker und Heinrich von Melk auch in der bürgerlichen Literatur des Mittelalters aus. “Der Text Konrads, dem sich viele andere an die Seite stellen ließen, bezeugt die Faszination, die von der Zersetzung des Körpers ausging. Auch die bildende Kunst hat sich, zunehmend im 14. Jahrhundert, dieses Motivs angenommen. Das Gemetzel der Schlacht und verstümmelte Körper, die von Aussatz oder Würmern und Kröten bedeckte und die verwesende Leiche, Figurationen des Todes als augenloses Gerippe oder apokalyptische Reiter, todkranke Menschen, die unter den Messern der Chirurgen liegen, in der Hölle brennende und mit Dämonen ringende Leiber bedecken unzählige Buchseiten und Bilder oder werden als Plastiken ausgestellt” (Nusser 1992: 53f.). Die Darstellungen entspringen der körperfeindlichen Einstellung der römischkatholischen Kirche, vielfach werden bei genauerem Betrachten der Bilder nicht nur die Folgen von Kampf- und Kriegsverletzungen dargestellt, sondern auch die von Folterungen. Verdienste zusteht. Die variierende Wiederholung des semantischen Wortfeldes sehen in Formen wie “beschouwest”, “schouwen unde spehen” sowie “sehen” als Lohn für den Dienst des Dichters, der als Grund ihres Erscheinens genannt wird, hebt die Besonderheit des Sehens 24 und Schauens als Wahrnehmungsmodalität hervor. Ihre Behauptung, er habe ihr gedient, obwohl er sie mit seinen “ougen nie gesach” (V. 162), führt dazu, dass seine Erschrockenheit einer nachdenklichen Haltung weicht. Diese wird vom Erzähler über den geänderten Erzählmodus, der mit dem verbum credendi eingeleitet wird, angezeigt: “Den edeln herren tugentrîch / dûhte harte wunderlîch / dirre frouwen tegedinc” (V. 157-159). Die enge Verknüpfung von “dienest” und “schouwen” bzw. “sehen” bringt ihre gegenseitige Bedingtheit und Wechselbeziehung zum Vorschein. Aus dieser Verbindung erscheint es Wirnt unmöglich, dieser Frau, die er in diesem Moment zum ersten Mal zu erblicken glaubt, je gedient zu haben. Aus diesem Grund versichert er ihr, sie bisher nie mit seinen Augen gesehen zu haben. Sein Versuch, dieses konkrete Frauenbild aus den Erinnerungsräumen seiner Lebensjahre aufzurufen, scheitert zunächst, als er dies anhand der optischen Erscheinung versucht. Es stellt sich erst nach der Enthüllungsszene heraus, dass die Dame als Frau Welt die weltliche Ausrichtung und den Frauendienst als allgemeine Idee anspricht. Während sie sich auf das Allgemeine bezieht, meint er dagegen das Konkrete und sucht in seinem Gedächtnis nach dem speziellen Fall, nämlich nach der persönlichen Bekanntschaft mit ihr. Doch anstelle eines Konflikts, der durch ein dramatisches Aneinandervorbeireden entstehen könnte, deutet Wirnt ihre Worte als Aufforderung, ihr zu dienen und bietet ihr mit der stilisierten höfischen Floskel “frouwe mîn” an, ihr mit “herze” und mit “lîp” bis zu seinem Tode (V. 164ff.) zu dienen, da sie “sô hôher sælden vil” (V. 176) verschenke. Dabei hebt die Erwähnung des Todes “unz ûf mînes tôdes zil” (V. 175) den Kontrast zur freudebringenden Jugend der schönen Frau hervor, markiert die Grenze und Begrenztheit irdischen Daseins und lässt dabei leitmotivisch zusammen mit der Assoziationskette “vesperzît”, “den âbent und den morgen”, “allîu dîniu jâr” den Gedanken von memento mori 25 anklingen. Damit die Unwissenheit durch das wizzen ersetzt werde und Wirnt mit ganzer Gewissheit, also “sunder wân” (V. 192), erkennen könne, ob er jemals “in allen mînen tagen” (V. 193) von ihr “gehôrte sagen” (V. 194) habe, stellt er die Frage nach ihrer Herkunft und nach ihrem Namen: “von wannen […] / oder wie ir sît genant, / iuwer name und iuwer lant / werde mir Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 109 26 Zwar gilt Walther von der Vogelweide als erster Dichter, der die Frau Welt erwähnt, dennoch ist es Konrads Verdienst, diese mit den grauenvollen und ekelerregenden Einzelbeschreibungen dichterisch auszustatten. Zur Tradition der Frau Welt aus der Ikonographie und Literatur siehe Stammler (1959) und Kern (2009). 27 In bildlicher Darstellung erscheint Frau Welt erstmals im Dom zu Worms als Skulptur, in ikonographischer Fortsetzung zur Darstellung des Fürsten der Welt, wie er in den Münstern von Straßburg, Freiburg und Basel als Allegorie der Versuchung dargestellt wird. Diesem Wandel in der Darstellung dürfte das Vordringen der deutschen Sprache in der Morallehre zugrunde liegen, in der die Welt weiblichen Geschlechts ist, während der ältere Fürst der Welt sein Geschlecht vom grammatischen Genus des Wortes mundus bezieht. hie kunt getân” (V. 188ff.). Da, wo es ihm nicht gelingt, sie allein über die Optik als konkrete Person aus der memoria aufzurufen und zu spezifizieren, wechselt Wirnt nun mit seiner gestellten Frage von der visuellen zu der akustischen Wissensübermittlung, um zur Erkenntnis zu gelangen. In einer zweiten längeren Rede beantwortet die Dame Wirnts Frage “gezogenlîche” (V. 196). Doch ihre Antwort erfolgt nicht auf einmal, sondern sukzessive und bewirkt dabei eine Spannungssteigerung. Diese Strategie der Inversion, durch die der Erzähler die explizite Namensnennung zunächst zurückhält, eröffnet einen imaginären Raum, “von dem aus die Imagination qua rezeptiv-passiver Einbildungskraft (memoria) auf Seiten des Rezipienten weiterläuft, bis sie in der Narration vom Erzähler zu einem Bild gebracht wird” (Lasch 2007: 22). Mit der Einwilligung, ihm ihren “hôchgelobten namen” (V. 199) zu “verjehen” (V. 198), erfolgt nun ihre Selbstpräsentation. Er solle sich nie schämen, ihr gedient zu haben, da er nicht der einzige ist, denn alles, was auf der Erde ist an Schätzen und Gütern, Kaisern und Königen, diene ihr. Der Hinweis auf Gott - “ich fürhte niemen âne got, / der ist gewaltic über mich” (V. 210f.) - findet dabei eine besondere klangliche Akzentuierung, da er in Relation mit dem sich darauf reimenden entscheidenden Vers der Enthüllung “diu Werlt bin geheizen ich” (V. 212) zu lesen ist und zugleich die kausale Zugehörigkeit der Welt zu ihrem göttlichen Schöpfer betont. Die autoritäre Dominanz dieser Dame setzt sich mit dem Zeigemodus fort, mit dem das Schauen als Lohn wieder in den Vordergrund gestellt wird: “von mir als ich dir zeige nû./ hie kum ich dir, daz schouwe dû” (V. 213-216). Auf diesen deiktischen Verweis, der im Imperativ erfolgt, folgt nun eine rasche Bewegung der Dame: “Sus kêrtes im den rucke dar” (V. 217). War der Ritter durch ihr Erscheinen erschrocken aufgesprungen, so setzt sich die Dame selbst mit der Namensnennung in Bewegung, indem sie ihm den Rücken zukehrt und sich damit - auch symbolisch - von ihm abwendet. Auf diese Bewegung folgt eine descriptio des Rückens durch einen auf Details achtenden Erzähler. 26 Mit der Kehrtwendung der Dame, der Frau Welt, rückt der Erzähler wieder in den Vordergrund, indem er das Schauen und Geschaute in Szene setzt. Entgegen der hyperbolischen Beschreibung der Vorderseite erscheint die descriptio der Rückseite sehr plastisch. 27 Die Anordnung der Würmer, Schlangen, Kröten, Blattern, Fliegen, Ameisen und Maden auf ihrem Rücken wird so detailliert beschrieben, dass man sich dies bildhaft vorstellen kann (V. 218-227). Die Rückseite des Körpers, dessen Vorderseite zuvor als Raum von “êre” und als Quelle der Freude gegolten hat, erscheint nun als Raum für parasitäre Verwesung und Vergänglichkeit. Diese optische Wahrnehmung wird von einer weiteren überlagert: nämlich dem Geruchssinn. Aus dem unreinen “blœden” (V. 229) Körper steigt “ein alsô egeslicher smac” (V.230), ein ekelerregender Gestank auf, “den niemen kunde erlîden” (V. 231). Mit der Verallgemeinerung “niemen” werden imaginative Assoziationen beim Rezipienten erweckt, die zum einen den Überbietungsmodus weiter fortsetzen und zum anderen eine kollektive Erzählfokalität implizieren. Das kostbare Seidenkleid (V. 232) hat sich in einen Tuchfetzen Dina Aboul Fotouh Salama 110 28 Der Text redet dem zölibatär lebenden Kreuzritter das Wort. Damals lösten tatsächlich manche Ritter ihre Ehen auf, die adligen Frauen gingen ins Kloster. Hintergrund dieser weltablehnenden Sichtweise ist die Lehre des Apostels Paulus, der die katholische Kirche im Wesentlichen mit ihrer Sittenlehre folgt. 29 Im Text kommt die beginnende Frauenfeindlichkeit sehr gut zum Ausdruck; wenige Jahrzehnte später wurden die ersten Frauen in Europa als Hexen verbannt. Barbara Becker-Cantarino erkennt in der Frau Welt-Allegorie eine Warnung des Dichters “vor der betrügerischen ‘Frau Welt’: als ein den Mann bedrohendes weiblich konnotiertes Sexualwesen, das ihn um sein Seelenheil bringen wird und das vergänglich ist wie die irdische Welt” (1999: 130). Siehe dazu auch Becker-Cantarino (1983). (V. 235) verwandelt (V. 233f.) und die einst strahlende “wünnecliche” Erscheinung erhält nun eine jämmerliche Farbe und ist bleich wie Asche (V. 236-238). Auch hier liegen transmodale Wahrnehmungsmodalitäten vor: Farben werden mit Emotionen verknüpft. Es entstehen Farben des Jammers, der Trauer. Der Vergleich der bleichen Farbe mit Asche steht in indexikalischer, kausaler Verbindung zur Verwesung. Eingetaucht wird die Erscheinung der Rückseite in Dunkelheit, da sich ihr heller Schein in einen aschfarbenen Ton verfärbt, “bleich alsam ein asche gar” (V. 238), was folglich auch auf eine verdunkelte, nun stinkende Kemenate schließen lässt. Die ehemals leuchtende, strahlende Erscheinung wird in das komplette Gegenteil verkehrt. Kaum wendet die Erscheinung der Frau Welt dem erschrockenen Dichter ihren Rücken zu, verschwindet sie auch: “Hie mit schiet si von dannen” (V. 239). Mit dieser Bewegung findet eine symbolische Umkehrung aller Schönheitsattribute in ihr Gegenteil statt, die ebenfalls eine Abkehr im Sinne von Abwendung und Ablehnung impliziert. Aus dieser Herzerkenntnis heraus erwächst Wirnts conversio, die in mehreren Sequenzen vollzogen wird (V. 242-258). Der Abschied von Frau 28 und Kindern, der Ausbruch aus bisherigen weltlichen, familiären Räumen, gefolgt von der Kreuznahme spiegelt die innere Verwandlung wider, die er durchlebt. Die Sprengung der bisherigen Raumgrenzen erfolgt mit einer Fahrt über “daz wilde mer” (V. 251), die nach Claudia Brinker von der Heyde als Grenzüberschreitung auf einen Neubeginn und eine Wende verweist (2005: 210). Schließlich verfluchen beide Dichter, Konrad von Würzburg als Erzähler und Wirnt von Grafenberg als Dichter-Protagonist, jeden, der sich nach dieser Erkenntnis dem Weltdienst widmen sollte. Die Worte “daz si von mir verbannen / und aller cristenheite sî! ” (V. 240-241) können somit als gemeinsame Erkenntnis beider Dichterfiguren, Wirnt und Konrad, angesehen werden, da nicht nur Wirnt eine conversio durchläuft, sondern auch Konrad mit der Verfassung dieses Werkes das wahre Wesen der Welt als vergänglich bloßlegt, anstatt von den Freuden der Minne zu dichten. Betrachtet man die Erscheinung der Frau Welt als Ganzes, ist folgendes vorläufiges Fazit zu ziehen: Zunächst fungiert die Frau Welt als Spiegel, der dem Dichter die eigenen Taten retrospektiv vorführt. Anschließend führt sie ihm den Lohn für seinen resümierten Lebensdienst vor. Sie offenbart ihm ihren Namen und ihr wahres Wesen. Dies kann als Bruch bzw. als Auflösung der imaginierten Konstruktion gelesen werden, da sich Frau Welt durch die eigene Demaskierung verrät. Es erscheint meines Erachtens fragwürdig, ob die nach mittelalterlichen theologischen Vorstellungen konzipierte verführerische Frau Welt, 29 die ihre Liebhaber mit ihrem Glanz blendet und täuscht, ihrem lebenslangen Diener, dem Minnedichter Wirnt von Grafenberg - und durch Konrads appellatives Bibelzitat (1 Joh 2, 15), “ir werlte minnære” (V. 1ff.), alle Liebhaber der Welt ermahnend miteinbeziehend - ihr wahres Wesen offenbaren und ihre abschreckende Vergänglichkeit enthüllen will. Einerseits wird mit diesem Texteingang, der Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 111 30 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Konrad von Würzburg (1982): Engelhard. Herausgegeben von Ingo Reiffenstein. 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. 31 Vermutlich ist Engelhard nach einem lateinischen Exempel des Typus Amicus und Amelius verfasst. Weil der Quellenbezug in dem hier verfolgten Zusammenhang keine unmittelbare Relevanz hat, können die Vorlagen außer Betracht bleiben. 32 Die Gleichheit wird im Text durch Metaphern wie die des Wachsabdrucks oder durch spiegelbildliche “Zwillingsformeln” unterstrichen, vgl. Oettli (1986: 73); zu der Ähnlichkeitsstruktur im Engelhard siehe auch Witthöft (2005: 393), von Bloh (2005, 2007) und Müller (2007). 33 Siehe dazu Klinger/ Winst (2003). 34 Corinna Virchow behandelt in ihrer Studie zum einen die Frage nach der Treue und Freundschaft als Identifikationsmittel und Erfassen von ‘Identität’ und zum anderen die Art und Weise, wie diese dem Publikum verständlich und nachvollziehbar gemacht wird (2007: 287). Herbert Herzmann zufolge werde im E “eine neue Art von Gesellschaft konstituiert, eine Gesellschaft, die auf persönlichen, privaten triuwe-Beziehungen aufgebaut ist. Konrad unternahm es im ‘Engelhard’, den Gesellschaftsbegriff zu entmythifizieren und zu säkularisieren und ihn auf eine Grundlage zu stellen” (1980: 406). Siehe auch Kesting (1970) und Karner (2010): “Um tatsächlich die triuwe als zentrale Tugend ins Zentrum rücken zu können, dürfte es der Autor sogar als notwendig empfunden haben, die rechtlichen und theologischen Aspekte zurückzudrängen, damit gerade nicht - wie bei einem Ordal üblich - die Suche nach Wahrheit im alleinigen Interesse steht. “ (Karner 2010: 146) 35 Dieses Erzählgeschehen erinnert an das Opfer Abrahams, könnte aber auch alt-germanischen Ursprungs sein, worauf die Erwähnung der Seidenschnur bei der Beschreibung der Narbe am Hals der Kinder deuten könnte (V. 6386-87). “eine[.] emphatisch abmahnende[.] Apostrophe an alle Weltverliebten” (Kern 2009: 45) darstellt, der Gestus des Textes bereits angedeutet. Andererseits könnte die bildhafte Darstellung des wahren Lohnes der Welt als “künstlerische Darstellungsform irdischer Eitelkeit” (Kern 2009: 51), die die revocatio und conversio ihres Betrachters auslöst, für ein religiöses Publikum als göttliche Fügung gedeutet oder aber als eine vom Dichter intendierte Imagination eines “phantasmagorischen Auftritt[s] der figura vanitatis” (Kern 2009: 51; Hervorh. im Original) betrachtet werden, die - aus dem Medium Buch entsprungen - beide Dichter mitsamt ihren ‘einsichtigen’ Rezipienten in eschatalogischer Ausrichtung vor dem Verderben rettet und damit als allegorische Gestalt das Kunstkonzept weltlich-höfischer Minnedichtung poetologisch in Frage stellt und relativiert. Wenden wir nun den Blick Konrads Engelhard 30 zu, der um 1273/ 74 verfasst worden ist, aus 6504 Versen besteht und die Motive der Brautgewinnung mit Hilfe des Freundes und der Aussatzheilung durch das Blut von Kindern unter der Thematik der Treue vereint. 31 Der Inhalt des E soll hier kurz vorgestellt werden: Es geht um die Geschichte und Freundschaft zweier von Gott zusammengeführter zwillingsgleicher Männer, die sich nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem höfischen Wesen völlig ähneln, Engelhard und Dietrich. 32 Ihr gemeinsamer Weg in die Selbstständigkeit, 33 der auch nach Dietmar Peschel (2001) und Elisabeth Schmid (2001) einen Weg von der Pubertät in die Adoleszenz darstellt, führt durch einige Prüfungen und Abenteuer, in denen sich ihre gegenseitige Treue 34 stets bewährt. Als Engelhard nach der Hochzeit mit Engeltrud zum König von Dänemark avanciert und Dietrich als alleiniger Erbe die Königsherrschaft in Brabant antritt, scheint die Geschichte, die aus zahlreichen spiegelartig und parallel strukturierten Episoden besteht, ein glückliches, harmonisches Ende gefunden zu haben. Doch dies ist nicht der Fall, da Dietrich vom Aussatz befallen wird und sich durch die Krankheit, die sein Äußeres bis zur Unkenntlichkeit verändert, der familiären Ehe- und Hofgemeinschaft und den Angelegenheiten des Königreichs entzieht und sich auf eine Insel in der Nähe seiner Burg zurückzieht. In seiner Isolation erscheint ihm ein Engel im Traum. Dieser verkündet ihm Gottes Gebot: Nur das Bad im Blut der Kinder 35 Engelhards könne ihn von seiner Krankheit Dina Aboul Fotouh Salama 112 36 Günther Rohr zeigt auf, dass Konrad im E einem Gesamtkonzept folgt, “in das sich alle Teile nahtlos einfügen” (1999: 310). heilen. Dietrich deutet diese Botschaft als Versuchung, lehnt die Tötung unschuldiger Kinder als sündhaft ab und behält den Traum als Geheimnis für sich. Nachdem sich alle aus seinem Umkreis in Folge seiner Krankheit aus Ekel von ihm abwenden, sieht der pflegebedürftige Dietrich keinen anderen Ausweg, als sich zu seinem treuen Freund Engelhard nach Dänemark zu begeben, um die in seiner Heimat fehlende Fürsorge zu erlangen. In einem Gespräch zwischen beiden kommt es zufällig zur Lüftung des von Dietrich streng gehüteten Geheimnisses vom Traum-Engel und der von diesem verkündeten einzigen Heilmöglichkeit. Nach langen inneren Abwägungs- und Reflexionsprozessen - einer ratiocinatio - entschließt sich Engelhard dazu, seine Kinder für den Freund zu opfern. Damit will er zum einen Dietrich aus seiner Qual erlösen und zum anderen seinen Kindern durch die Erfüllung der göttlichen Botschaft das ewige Heil sichern. Während ihres Schlafs schlägt er ihnen mit seinem Schwert die Häupter ab. Dietrich badet im Blut der Kinder und wird geheilt. Engelhard findet zu seiner Überraschung seine beiden Kinder wieder lebend vor, spielend, mit einer Narbe rund um den Hals, als wäre ein roter Seidenfaden um ihre Hälse gebunden. Mit dem Freundesopfer, der Rehabilitation Dietrichs und der Wiedererweckung der Kinder aus dem Tode findet der Engelhard sein happy end. Den Engelhard kennzeichnet eine vielseitige Erzählweise und eine differenzierte Struktur. 36 Die Wahrnehmung des Rezipienten wird durch die Beschreibung des Erzählers und durch dessen Randbemerkungen gesteuert. Neben der Instanz des auktorialen Erzählers, der die Zukunft kennt und auf sie verweist, wird das Eintauchen in die Innenwelt der Figuren des E oft durch die Gedankenrede ermöglicht, die sich als ratiocinatio über mehrere Passagen erstreckt. In der Anwendung des Szenographie-Modells auf die Wahrnehmung des Traum-Engels wird ersichtlich, dass die Inszenierung der Engelserscheinung im E eine Art ‘Doppelung’ der Wahrnehmung erzeugt. Stellt der vom Erzähler vermittelte Traum eine erste interne Wahrnehmung des Engels für Dietrich und den externen Rezipienten dar, so bildet Dietrichs Traum-Erzählung auf der Textebene zwar eine Wiederholung, bedeutet aber für Engelhard die erste Wahrnehmung des Traum-Engels über die gehörte Erzählung. Der Schauplatz der Traum-Engel-Erscheinung ist umrahmt und gekennzeichnet von paradiesischen Naturelementen, die optische und akustische Sinnesreize darstellen. Dietrich geht bedächtig durch das Gras bis zum kalten Brunnen, über dem sich ein Wald befindet. In dem grünen Laub seiner Bäume sind schneeweiße Blüten zu sehen, die den Brunnen wie ein Dach beschatten. Zugleich befinden sich viele Waldvögel in diesem Laub- und Blütendach, deren Gesang von oben herabklingt. Es treffen hier sensuelle, optische und akustische Wahrnehmungselemente aufeinander, die die Kulisse für eine wunderbare Erscheinung konstituieren: das kalte klare rauschende Brunnenwasser, grünes Laub, weiße Blüten und duftende rote Rosen begleitet vom Klang zahlreicher Vögel (V. 5311-5350). Der krasse Gegensatz zwischen der idyllischen Landschaft und dem von Krankheit gezeichnetem Äußeren des aussätzigen Dietrich verdoppelt sich durch die Akzentuierung des Kontrastes zwischen Dietrichs früherem makellosen, schönen Körper und seinem jetzigen siechen Leib einerseits und der inneren leidvollen Befindlichkeit andererseits, die auf die freudebringende höfische Wirkung eines locus amoenus nicht reagiert. Die descriptio des Erzählers erfolgt durch eine Kontrastierung der Vergangenheit mit der Gegenwart und steht in indexikalischer Relation zu den metaphorischen Bezeichnungen Dietrichs als Spiegel, Blume und Edelstein, mit denen sein strahlendes Aussehen vor dem Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 113 37 Jackson (2003: 201) sieht darin eine “Verschwommenheit”, da die Schönheit behauptet wird, ohne näher bestimmt zu werden. 38 Jackson (2003: 202) stellt 26 Belege fest, die im E “die strahlende Wirkung des Lichts bezeichnen”. 39 Grundlegend zur Literatur des contemptus mundi: Gnädinger (2002: 152f.), Schulze (2002: 155f.), Kiening (1994), Stammler (1959); siehe dazu aus interkultureller Perspektive meinen Beitrag mit weiteren Verweisen: Dina Salama (2010). 40 Viele der Ereignisse, die als “wunder” bezeichnet werden, suggeriert der Text als im Zeichen von Gottes Fügung stehend. Dem mittelalterlichen Verständnis entsprechend wird im Text vorausgesetzt, dass Gott die Macht hat, alle nur erdenklichen “wunder” zu bewirken, und “deshalb tut er sie auch” (vgl. Schreiner 1966: 141). Theologische Polemiken gegen diese Auffassung gibt es seit dem 12. Jahrhundert. Ute von Bloh erkennt in der Funktion von Wundern, die sich “der göttlichen Providenz verdanken wie das unkalkulierbare Geschehen insgesamt”, die Garantie für “den Erhalt der Ordnung, indem sie Überschreitungen […] oder ein Defizit wie das verstümmelte Äußere eines Adligen ausgleichen” (1997: 236). 41 In dieser Haltung auf der Seite liegend werden auch Heilige im Mittelalter dargestellt. Ausbruch der Krankheit bildlich verglichen worden war. Mit den Worten “was sîn lop durchliuhtic ê, / daz nû engap niht schînes mê, / wand ez als ein trüebez glas / verdorben und verblichen was” (5305-08) erfolgt nach der Rückblende eine Umkehrung der anfänglichen Schönheitsbeschreibung Dietrichs. Bilder aus der memoria werden zugunsten von Empathie als repetitio herangezogen, um durch ihre Verkehrung eine Beschreibung des gegenwärtigen Zustands zu erreichen. Die heiße Mittagssonne, vor deren Strahlen (“blice”) sich Dietrich unter einem Pfauenhut schützt, wird von Dietrichs seidener Bekleidung reflektiert, sodass nun das seidene Gewand 37 wie ein leuchtender Spiegel glänzt und erstrahlt: “und ein gewant von sîden guot / daz als ein liehter spiegel was” (V. 5320-5321). Die Übertragung des Strahlens 38 und der Metapher des Spiegels von Dietrich auf dessen Kleidung stellt eine Auflösung bzw. Verschiebung der konstruierten metaphorischen descriptio vom Ganzen auf einen Teil dar. Abgestützt auf einem Ellenbogen und sich an einen schattigen Brunnen lehnend, um sich vor der Sonne zu schützen, betrachtet Dietrich die Blumen und beginnt über den Mai nachzusinnen, der ihm keine Freude mehr bringt. Auf seine Klagerede zu Gott, in der er zu ihm betend nach den Gründen für seine “râche” (V. 5375) und seinen “zorn” (V. 5381) fragt, folgt - nach Ausbleiben einer Antwort - der Todeswunsch und zuletzt die Klage über die Vergänglichkeit der Welt und ihre Schlechtigkeit: “ach brœdiu werlt, sich wie dû bist / aller missewende vol! ” (V. 5390-5391). Mit dem Vergänglicheitstopos klingt die contemptus mundi- Thematik 39 an. Die Erscheinung des Engels beginnt mit der Vorausdeutung des Erzählers, dass Gott ihn auserwählt habe, um an ihm ein “wunder” 40 zu vollbringen: Gott habe Dietrich einen Engel vom Himmel hinab auf die Erde - nach mittelalterlicher Vorstellung ‘zu Gottes Füßen’ 41 - unter das Blätterdach geschickt, in dessen Schatten Dietrich liegt. Des Weiteren, so führt der Erzähler aus, sehe Gott, wie Dietrich schuldlos diese Not ertrage; darum werde er einen Lohn für seine Treue erhalten. Das Wahrheitspostulat seiner Aussagen und die Wahrhaftigkeit seiner Worte sieht der Erzähler darin bestätigt, dass der höchste Gott Dietrich diese Worte über einen Engel überbringen und offenbaren werde. Nach und nach weiht der Erzähler den Rezipienten in die Traumwelt Dietrichs ein, dem durch den Engel “süeze tröume / in dem slâfe werden kunt” (V. 5440f.). Interessanterweise stellen diese Verse, die die Engelserscheinung im Traum einleiten, eine synästhetische Wahrnehmungsweise dar. Träume, die dem Träumenden innere mentale Bilder vorführen, werden von einer extern erfahrbaren Sinneswahrnehmung, dem süßen Duft, überlagert. Diese außergewöhnliche Wahrnehmungsform Dina Aboul Fotouh Salama 114 wird zusätzlich durch die Akustik, durch das Hören, erweitert. Vorausdeutend konstatiert der auktoriale Erzähler, dass der Engel Dietrich schöne Träume sehen lässt. Diese Träume werden dem Leser/ Hörer nicht mitgeteilt, stattdessen wird die Botschaft, die der Engel überbringt, in direkter wörtlicher Rede (5435-5440) wiedergegeben. Infolgedessen wird Dietrich in die Regionen intensiver Imagination und gesteigerter Wahrnehmung hineingezogen, wo die Traumregie allein von der Engelsbotschaft übernommen wird. Noch im Traum beherrscht den Träumer der Zustand einer bewussten Wahrnehmung der Worte des Engels. Dies bewirkt eine Akzentuierung des Wahrheitspostulats und der Tatsächlichkeit der Engelserscheinung: Die eingesetzte inquit-Formel: “er sprach dô wider in zestunt” (V. 5442) markiert meiner Meinung nach deutlich die vorangehenden süßen Träume (V. 5440) und die darauffolgende Rede des Engels als zwei aufeinanderfolgende Sequenzen. Der Engel spricht Dietrich direkt mit seinem Namen an und prophezeit ihm die Genesung: “Dieterich, dû solt genesen” (V. 5443). Diese ist jedoch an eine schreckliche Bedingung gebunden, deren genaue Anweisung den Inhalt der Engelsrede (V. 5443-5480) folgendermaßen strukturiert: Zu Beginn führt der Engel die besonderen Eigenschaften Dietrichs auf, die sich mit der Erzählerdescriptio decken. In ähnlicher Weise hatte Frau Welt dem Dichter Wirnt seine Lebenswerke vorgelegt. Darauf folgt die Verheißung des göttlichen Lohns. Der heilige Gott im Himmelsreich habe sich seiner erbarmt und wolle ihn belohnen, weil er der Treue gedenke, die Wahrheit liebe und weil sein Leben und sein Besitz in Not geraten seien. Gott wolle Dietrich Gesundheit und Ansehen vollständig wiedergeben. Dietrich solle nach Dänemark zu Engelhard reisen. Da Engelhard Dietrich gegenüber stets zu Freundesdiensten bereit war, wolle Gott, dass er um seinetwillen das Blut seiner Kinder vergieße. Dies würde Engelhard sehr gerne tun, verkündet und versichert der Engel. Die Hauptbedingung für die Wirksamkeit dieser “arzenîe” (V. 5552) sei, dass Dietrich selber den Willen zur Genesung aufbringe, die nur durch die Aufopferung der Kinder Engelhards möglich sei. Erst wenn er in ihrem Blut bade und sich damit einreibe, könne er vom Aussatz geheilt werden. Wiederholt fordert der Engel Dietrich dazu auf, sich an seinen Freund zu wenden. Mit dieser Wiederholung der ersten Aufforderung, die als Gebot Gottes zu verstehen und auszuführen ist, endet die Rede des Engels. Dietrich erwacht (V. 5481ff.) mit der bereits im Schlaf bewusst erlangten Erkenntnis des Engelstraumes und seiner göttlichen Botschaft. Er trifft den Entschluss, den Traum als nichtig zu leugnen (V. 5490-5547): “und hæte gar den troum für niht / der ime was getroumet dort” (V. 5554f.). Der deiktische Verweis dort hebt die Anbindung des Traumes an seine Lokalität hervor und stellt auf der Ebene der Rezeption einen gemeinsamen imaginierten Erzählraum zwischen dem Erzählten und dem Rezipienten her. Die Wirkung des Traumes auf Dietrich, der nach der Engelsbotschaft erwacht, beschreibt der Erzähler in einer poetischen metaphorischen Sprache: “dâ von sîn riuwic herze wunt / wart betrüebet deste mê,/ wan im tet inneclichen wê / daz ime was getroumet sô” (V. 5486-89). Das Herz als Organ der Wahrnehmung, als Sitz der Erkenntnis, steht für Dietrichs innere Gemütslage, die durch die Engelsbotschaft von Trauer, Schmerz und Fragen durchzogen ist. Die Verwendung der Passivkonstruktion akzentuiert Dietrichs Empfängersituation und sein Ausgeliefertsein. Die auktoriale Instanz gewährt dem Rezipienten einen Einblick in Dietrichs interne ‘Herzensräume’ und in seine Gedankenwelt. In seinem Zweifel klagt er Gott an, der sich nicht um ihn kümmere und ihm diese “üppeclichen tröumen” (V. 5501), diese sinnlosen Träume, beschere. Hier unterscheidet sich die Sichtweise der Figur Dietrichs von der Ansicht des Erzählers, der Dietrichs Träume als “süß” bezeichnet hatte. Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 115 42 Die Kenntnis des Namens einer Person oder Sache verleiht Macht über sie. Die Nennung des Namens ist wesentlich in der schwarzen und weißen Magie, welche durch die Nennung des Namens im christlichen Kontext wirkungslos gemacht werden sollen. 43 twalm: “betäubung, ohnmacht, schlaf, traum, vision; betäubender dunst, qualm; betäubender oder tötender saft” (Lexer 1986: 235). 44 galm: “schall, ton, lärm, geräusch” (Lexer 1986: 53). Aus Angst eine Sünde zu begehen, fasst Dietrich den Traum - entgegen seiner eigentlichen Bestimmung einer Erlösung - als Prüfung auf. Anstatt die Botschaft als göttlichen Hinweis zu verstehen, missdeutet er sie als Versuchung. Dietrich prüft den Trauminhalt mit dem Maßstab der christlichen Glaubenslehre und kommt zu der Erkenntnis, dass niemand dazu bereit wäre, seine Kinder für ihn zu töten, da dies gegen die Natur und gegen die Vernunft verstoße. Außerdem würde Dietrich nie die Sünde auf sich oder Engelhard laden wollen, unschuldige Kinder für sich sterben zu lassen. Aus diesem Reflexionsprozess heraus reift in Dietrich der Entschluss, die ihm im Traum offenbarte Arznei abzulehnen. Diesen Abschnitt könnte man als erste Darstellung der Engelserscheinung betrachten, die aus der Sicht des Erzählers geschildert worden ist. Als zweite Darstellung der Engelserscheinung stellt die Traumwiedergabe Dietrichs auf der rezeptiven Ebene eine Doppelung der Wahrnehmung dar. In diesem Moment ist der Traumengel ein Gedächtnisbild, das Dietrichs interne mentale Wahrnehmung widerspiegelt und zugleich Engelhards indirekt wahrgenommenes, also imaginiertes Traum-Bild konstituiert. Engelhards imaginierte Engelserscheinung wird also durch das “Träumen mit den Augen des Freundes” evoziert. Engelhards Frage nach dem Namen 42 der “sache” (V. 5932), die Dietrich retten könne, weist an sich eine Ähnlichkeit zu Wirnts Frage nach dem Namen der Frau in WL auf, hebt aber auch die besondere Bedeutung und Rolle von Namensnennung über die Akustik als Mittel zur Erkenntnis hervor. Unter Tränen und nach langem Zögern erzählt Dietrich Engelhard von dem Traum. Dies findet in einer räumlichen Fremde, in Dänemark, nicht am ursprünglichen Traum-Ort Brabant, statt. Mit den Worten “ez kam alsô, daz ich gelac” (V. 5978) leitet Dietrich die Traumwiedergabe ein und übernimmt in diesem Offenbarungsgespräch die Rolle des Erzählers. Die Einbettung dieser Traumwiedergabe in den Handlungsverlauf stellt eine Wiederholung des Traumes als Texterscheinung dar und dient als repetitio, die zum einen als perspektivische Rede aus der Sicht Dietrichs die Wahrhaftigkeit und Genauigkeit des Erzählers bestätigt und zum anderen durch die Ich-Haltung eine imaginationsfördernde Identifikation des Rezipienten intensiviert. Diese erfolgt sowohl auf der textinternen Handlungsebene, d.h. für Engelhard, als auch auf der textexternen Ebene für den Hörer bzw. Leser. In dem inszenierten Erzählraum, der zwischen Dietrich und Engelhard bzw. dem Rezipienten entsteht, erfolgt die Traumwiedergabe aus der Retrospektive. Dietrich beschreibt den “twalme” 43 (V. 6013) als deutlich und gewiss. Da, wo eine konkrete Beschreibung des Engels fehlt, weil dieser nicht die Botschaft verkörpert, sondern sie lediglich als Medium verkündet und nur übermittelt, wird gesagt, dass der Engel viel herrlicher sei, als es sich Gelehrte jemals vorstellen könnten. Durch die sehr allgemein gehaltene hyperbolische Andeutung der descriptio des Engels ohne deren detailliertere Ausführung wird dem Rezipienten ein produktiver Imaginationsraum eröffnet, in dem theologisches Wissen (memoria) mit der eigenen produktiven Vorstellungskraft (phantasia) zerfließt. Abschließend führt Dietrich noch einmal die eigene Wahrnehmungsweise der Botschaft des “stæten engel” (V. 6012f.) und die darauffolgende Reaktion vor: “von sîner stimme galme 44 / wart ich erwecket unde erschrac” (V. 6014f.). Der Klang seiner Stimme Dina Aboul Fotouh Salama 116 45 Es wäre interessant, einmal darüber nachzudenken, ob nicht etwa in der Reproduktionsmedizin/ Molekularbiologie unserer Zeit die Nutzung von Nabelschnurblut zur Stammzellengewinnung und auch die Experimente mit menschlichen Zellen dieser Vorstellung entspringen. habe Dietrich geweckt. Daraufhin sei er erschrocken aufgewacht. Die Bedeutung dieser Stelle liegt darin, dass sich hier mehrere Wahrnehmungsmodalitäten überkreuzen: Die mit den Ohren wahrgenommene Stimme des Engels und dessen Worte wecken den schlafenden Dietrich mit Erschrecken. Die Rede des Engels beschwere ihm das Herz (V. 6016). Dietrich führt die genaue Abfolge des Traumes aus; er beschreibt den Engel, der “nâch wîser liute kür / niht wünneclicher möhte sîn/ er tet mir kunt und machte schîn/ von gote disiu mære” (V. 5984-5987) und stellt das reine Kinderblut 45 in Kontrast zu seinem eigenen ‘verfaulten’ Fleisch (V. 6005). Dietrichs Schilderung der eigenen Reaktion auf den Traum erfolgt in Analogie zur Traumdarstellung des Erzählers und beschreibt die gedanklichen Reflexionen und das eigene Verhalten (V. 6012-6024; 6034-6037). Dietrichs Bericht ist durchdrungen von der Dankbarkeit, die er Engelhard gegenüber verspüre, der für seine Hilfe (Speise, Gewand usw.) “saelde” an ihm gewinne. Zuletzt vergleicht sich Dietrich mit Hiob (V. 6087) und verkündet, dass er diesem ähnlich sein Leid erdulden werde. Mit den Worten: “diz hôrte ich von dem stæten / engel in dem twalme. / von sîner stimme galme / wart ich erwecket unde erschrac. / diu rede mir ze herzen wac / und dûhte mich ein teil ze twerch” (V. 6012-17) endet die Wiedergabe des geheimgehaltenen Traumes. Korrespondierend mit der inquit-Formel, die die Traumwiedergabe umrahmt, beendet der Erzähler die Rede mit “Hie mite was der rede genuoc” (V. 6107), um sogleich Engelhards Reaktion auf den Traum seines Freundes - aus auktorialer Perspektive - zu schildern. Auch Engelhard verschließt den Traum in sich “vil nâhe sînem herzen” (V. 6111). Dennoch vermag der Erzähler einen Einblick in Engelhards Gedankenwelt und ratiocinatio zu gewähren. In einem Gespräch mit Gott gedenkt er der Tatsache, dass Dietrich einst sein Leben für ihn in Gefahr gebracht hatte und dass es deswegen treulos sei, ihn nun im Stich zu lassen. Engelhards Leid wird vom Erzähler mit poetischen Bildern beschrieben, die häufig das Herz involvieren. So schmerzt Dietrichs Herz, während Engelhards Herz mit Ketten gefesselt ist. Engelhards an Gott gerichtete Frage: “got herre vater, wie sol ich / gebâren und gewerben? ” (V. 6118f.) mündet in den Entschluss, dass er Dietrich dieses Opfer aus Freundestreue schuldig sei (V. 6173-6182). Er erkennt in der Gesandtschaft des “heilic engel” (V. 6176) ein von Gott gefügtes Wunder, das seinen Kindern den “liehten himelhort” (V. 6178) durch ihren Opfertod verheißt. Betrachtet man die Szenerie der Engelserscheinung und -rede in ihrer Gesamtheit, so kann man feststellen, dass diese in verschiedenen Räumen und Räumlichkeiten stattfindet. Diese möchte ich in äußere und innere Räume aufteilen: Zu den äußeren Räumlichkeiten zähle ich die paradiesische Insel in Brabant als Kulisse des erlebten Traumes. In gleicher Weise fungiert das abgeschiedene Haus in Dänemark, in dem die Enthüllung des Traumes durch Dietrich stattfindet. Als innere Räume möchte ich die mentale ‘Traumwelt’ Dietrichs und einen ‘Erzählraum’ erkennen, die in einem Spannungsverhältnis zu den äußeren Lokalitäten stehen. Die paradiesische Insel mit der reinigenden Quelle bildet den Raum, in dem der Engel vom Himmel herab kommt, um dem unter dem Baum liegenden schlafenden Dietrich süße Träume zu schicken und Gottes Botschaft zu überbringen. Der Traum bildet den mentalen Raum, in dem die ‘göttlich’ bzw. vom Dichter initiierte Vision Dietrich erscheint. Der locus amoenus, mit seinen verstreuten Naturelementen, die an biblischer Symbolik nicht sparen und die als freudebringendes Naturschauspiel zudem als Teil höfischer Umgebung anzusehen sind, steht in krassem Gegensatz zu der tatsächlichen tragischen Situation und der ambivalen- Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 117 46 Mit dem Rhizom, einem Wurzelgeflecht, ist nach Deleuze ein offenes und zugleich verflochtenes System zu verstehen, das weder in Dichotomien aufgeht noch hierarchisch strukturiert ist, sodass es dem Leser stets möglich wird, neue Verknüpfungen zu schaffen: “eine der wichtigsten Eigenschaften des Rhizoms” ist diejenige, “immer vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu bieten” (Deleuze & Guattari 1992: 24). 47 Da der Text keine genauen Angaben zum Alter der Kinder macht, handelt es sich womöglich um Kleinkinder, die vielleicht dem alten römischen Recht zufolge bis zum 3. Lebensjahr noch als Sache definiert und auch noch nicht erbberechtigt waren. Möglicherweise sind es Kinder im Alter zwischen der Taufe und dem Alter der Rechtsfähigkeit. ten Traumbotschaft mit der schrecklichen Bedingung. Aufgelöst wird dieses Spannungsverhältnis durch den höfischen Freund mit Engel-Namen. Als weiteren Raum kann man den ‘Erzählraum’ innerhalb der Worte Dietrichs erkennen, da durch ihn die Engelserscheinung vermittelt, die Botschaft Gottes vor Engelhard enthüllt und infolgedessen seine Wahrnehmung des engelgeleiteten Traumes ermöglicht und bestimmt wird. In der Erscheinung des Engels findet eine Überblendung, eine Verschmelzung all dieser Räume statt, die die verschiedenen Transformationen des Engels fluktuierend begleitet. Unter dem Titel nomen est omen soll kurz auf weitere Engels-Erscheinungen im Text hingewiesen werden, die an verschiedenen Stellen immer wieder aufblitzen und fast als ‘rhizomatische’ 46 Verflechtung im Sinne von Deleuze und Guattari (1992: 24) in steter repetitio auf den Engel verweisen. 1. Eine erste Bekanntschaft mit dem Engel stellt für den Rezipienten ebenso wie für Dietrich die Begegnung mit dem Engel im Namen Engel-hards dar. Der Engel ist dem Helden programmatisch wie prädestiniert in seinen Namen eingeschrieben, was somit optisch und akustisch durch die Lektüre ständig vergegenwärtigt wird. 2. Die Doppelung der Engels-Namen: Engel-hard und Engel-trud. Der Gleichklang des Namens in der akustischen Wahrnehmung wird von Engeltrud auf der inhaltlichen Ebene als Zeichen der Füreinanderbestimmung gedeutet - was auch für den Rezipienten nachvollziehbar ist. 3. Die namenlosen Kinder 47 Engelhards tragen durch die Possessivkonstruktion und die genetische Zugehörigkeit zu Engelhard ebenfalls den Engel in sich. Die durch den Schwertstreich verursachten Halsnarben der Kinder (V. 6386-87) dienen als lebendige Körperdenkmäler wie Reliquien der memoria. Der epochenspezifisch verstärkte somatische Ausdruck von Religiosität im Mittelalter ist auch im E sichtbar. Die seelische Begnadigung soll auch anhand von Stigmata am Körper sichtbar gemacht werden, sodass “der gequälte Körper […] für die, die ihn sehen oder von ihm hören, zum Zeichen, zum Zeichen des göttlichen Willens, des göttlichen Wohlgefallens” (Dinzelbacher 1993: 163) wird. “Der leidende Leib ist sozusagen das (von Gott) Beschriebene” (Dinzelbacher 1993: 163). Demzufolge fungieren im E die vernarbten, stigmatisierten Kinder fast als Gedächtniskörper, die in einer semioralen Literatur nicht ungewöhnlich sind. Dina Aboul Fotouh Salama 118 48 Inge Leipold (1976) beschreibt die Literatur des Mittelalters als “wesentlicher und konstitutiver Bestandteil der jeweiligen soziokulturellen Realität” (zit. nach Herzmann 1980: 406). 49 Die allegorische Figur emanzipiert sich von ihrer bloßen Zeichenhaftigkeit und agiert wie andere literarische Figuren. Interessanterweise gehört es zu den Kennzeichen einer Poetik allegorischen Dichtens, dass “Literalsinn und epische Funktion des Bildes im Widerstreit mit seiner allegorischen Bedeutung liegen” (Dorothea Klein 2006: 56). Nach der szenographischen Analyse der Erscheinungen beider Werke sind abschließend folgende Schlussüberlegungen anzustellen: • Den situativen Rahmen für das Auftreten der Erscheinungen im Text bildet ein Raum, in dem Vergangenes (theologisch-philosophische Erkenntnisse), Gegenwärtiges und Zukünftiges (Transzendenz) ineinander fließen. Aus diesem blending-Prozess heraus wird eine Imagination ‘neuer’ Bilder auch beim Rezipienten ermöglicht, der den Wahrnehmungsraum der im Text konstruierten Wirklichkeit durch die narrativ erfahrene Lektüre mit deren Akteuren teilt. Somit fungieren diese Erscheinungen zum einen als Brennpunkte zwischen den Figuren und ihren diegetischen Handlungen. Zum anderen kommt ihnen die Wirkung eines Zeichens zu, das auf eine den mittelalterlichen kulturanthropologischen Ansichten und Erkenntnissen gemäße gottzentrierte eschatalogische Wirklichkeitswelt verweist. Die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod und von biblisch belegten himmlischen Engeln als Gesandten Gottes korrespondiert mit dem auf religiöser Basis fundierten, christlich geprägten Weltbild und steht in Einklang mit dem Erwartungshorizont eines am christlichen Glauben und an den Geboten der Kirche orientierten zeitgenössischen Publikums. Indem diese Bilder nicht durch den subjektiven Ich-Erzähler, sondern über den allwissenden Erzähler (in E durch Dietrichs indirekte Traum-Wiedergabe in doppelter Vermittlung) beschrieben und vermittelt werden, ist hier ein Autor tätig, der diese mentalen Bilder mittels Sprache und über einen Iser’schen Akt des Fingierens in den Köpfen der Textfiguren und außerhalb der Textebene in den Köpfen seiner Rezipienten evoziert und auf diese Weise fiktive Wirklichkeitsmodelle inszeniert. • Beide Werke, Der Welt Lohn und Engelhard, repräsentieren eine Inszenierungsweise besonderer Art, da in ihnen mentale Bilder als wahrgenommene Objekte der Wirklichkeit inszeniert sind, die im rezeptiven Akt als literarisch konstruierte Wirklichkeit imaginiert werden können. Letztendlich richten sich die moraldidaktischen Appelle an den Leser, den Konrad von Beginn an durch zahlreiche deiktische Verweise in das Geschehen einbindet. Erst der fiktive Text transformiert die Erscheinungsbilder zu intensiven Bildern interner Imagination, die nicht nur Raum und Zeit ihrer literarischen Welten überschreiten und beeinflussen, sondern auch - nach der geäußerten Dichterintention in beiden Werken - auf die externe real existierende Wirklichkeit einzuwirken hoffen. 48 • In WL wird die allegorische Erscheinung der Frau Welt imaginativ nach der Lektüre von Minneaventiuren und evtl. gerade durch diese evoziert. Die durch Worte zum Leben erweckte sprechende Allegorie 49 der Frau Welt erscheint ihm, dem Dichter Wirnt, als ‘Wirklichkeit’ so real, dass er auf diese Erscheinung mit einer Änderung seiner Lebenseinstellung und -führung, einer conversio reagiert. Die wiederholte Imagination über die Wahrnehmung des Dichters Konrad verstärkt die Wahrhaftigkeit dieser imaginierten Fiktion. Diese doppelte Wahrnehmung der Frau Welt, einmal über die Berufung auf das Buch Wirnts als angegebene Quelle und zum anderen durch die narrative Wiedergabe Erscheinungen zwischen Imagination und Wirklichkeit 119 Konrads, konstruiert eine imaginierte dichterische Figur sprachlicher bzw. allegorischer Natur. Innerhalb der dichterischen Wirklichkeit existiert sie als wahrgenommene Erscheinung, die die conversio Wirnts und die Konrads - durch das Verfassen eines didaktisch appellativen Werks mit contemptus mundi-Thematik - bewirkt. Auf der Textebene wird infolge der allegorischen Konstruktion der eingangs konstruierte Wirklichkeitsrahmen gesprengt und das gesamte Arrangement mitsamt seinen Räumen (den Herzensräumen, Lebensräumen, familiären Räumen, sogar mit den poetologischen Räumen beider Dichter) in die eschatalogische Transzendenz ausgeweitet. • Wird in WL die imaginierte Wirklichkeit durch die allegorische Konstruktion aufgelöst, so wird im E die Botschaft des Traumengels infolge der ersten Wahrnehmung als Versuchung geleugnet, um erst nach der Wahrnehmung und Umsetzung durch Engelhard wirklichkeitskonstruierend zu wirken. Engelhard übernimmt somit die Funktion des Korrektivs. Erst in dem Moment, in dem sich der Traum bewahrheitet und in die Wirklichkeitswelt übertragen wird, kann die Handlung fortgesetzt bzw. Dietrich geheilt und rehabilitiert werden. Engelhards selbstlose Freundestreue und sein unendliches Gottvertrauen werden symbolisch durch die hinterlassenen Spuren um den Hals der beiden Kinder verewigt. • Die in beiden Texten beschriebenen Erscheinungen stellen einen außergewöhnlichen Wahrnehmungsakt dar, in dem Zeichen, Imagination, Erinnerung, Empfindung und Erkenntnis miteinander verflochten sind. Von daher fungieren diese Erscheinungen als Zentren ihrer Textwelten, die diese auch verwandeln, indem sie auf die Figuren einwirken, gewisse Affekte auslösen und dadurch schließlich Wahrnehmungs- und Handlungsakte mobilisieren. • In WL erfolgt eine ausführliche Beschreibung der Frau Welt, da sie als Metapher für die Vergänglichkeit der Welt und des Lebensinhaltes des Ritters steht. Die von Walther von der Vogelweide und Konrad in die Literatur eingeführte Erscheinung der Frau Welt muss gezeigt werden, da das Zeigen bzw. das Wendebild ihr Signum ist: vorne schön, hinten hässlich. Wogegen die äußere Erscheinung des Engels in E kaum näher beschrieben wird, da er nicht die Botschaft ist, sondern lediglich als deren göttliches Medium fungiert. Anstelle einer descriptio des Engels wird die wahrnehmende Person, ebenso wie der locus amoenus, in dem der Traum erscheint, beschrieben. Als äußere und innere Räume der Perzeption werden beide Räume, die paradiesische Insel als Lokalität des Traumes und Dietrich als medialer Körperraum mentaler Wahrnehmung, in deutlichen Gegensatz zueinander gestellt, so dass das Spannungsverhältnis zwischen höfischer Umgebung und erschreckender Erkenntnis bzw. schrecklicher Heil-Bedingung sichtbar wird. • Steht in WL die Entblößung der Welt und ihre Verachtung im Sinne von contemptus mundi im Mittelpunkt, die mit Hilfe eines allegorischen Bildes vollzogen wird, so geht es im E weniger um das äußere Erscheinungsbild des Engels, als um dessen Rede. Der performative Sprechakt und die direkte Mitteilung der Botschaft bilden den Kern der Engelserscheinung, sowohl im Traum als auch in der Traum-Erzählung. Nicht der optische, sondern der akustische Sinnesreiz wird hier stimuliert. • Die in WL und im E literarisch imaginierten Bilder evozieren im Akt des Lesens Wirklichkeitsbilder. Diese Fähigkeit zur Erzeugung von Bildern erfolgt als Imagination durch Dina Aboul Fotouh Salama 120 50 Daniel Jacob (2011 mündliche Mitteilung). das Aufrufen von Gedächtnisbildern, der memoria. Erst die individuelle Verknüpfung, ein blending im Sinne Fauconniers (1997) und Turners (1996), ein semiotisches crossover 50 zwischen Erinnerungsbildern, religiösen Wahrheiten, Bibelwissen, Weltbildern und Wertvorstellungen, habitualisierten Verhaltensstrukturen, Erkenntnissen, individuellen Erfahrungen usw. mit neuen Wahrnehmungsbildern bringt neue Wirklichkeitsbilder hervor. • Die Erscheinungen fungieren nicht nur als Verknüpfungspunkte zwischen den wahrnehmenden Figuren und den einzelnen Textteilen, sondern stellen im Rezeptionsakt in ihrer semiotischen Eigenart als Zeichenträger (aliquid stat pro aliquo) eine Referenz auf die außerhalb des Textes liegenden Erkenntnisse her, indem sie auf das zeitgenössische gottzentrierte christliche Weltbild im Sinne von Alanus ab Insulis (omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum) verweisen, ihren eschatologischen transzendenten Rahmen als dichterisch erfahrbar imaginieren und mittels narrativer sprachlicher Konstruktionen zwischen Imagination und Wirklichkeit oszillieren. Bibliographie Primärliteratur Augustinus, Aurelius 2 1988: Die Bekenntnisse, Hans Urs von Balthasar (ed.), Einsiedeln / Trier: Johannes-Verl. (zit. nach Assmann 2008: 96) Konrad von Würzburg 1982: Engelhard. Herausgegeben von Ingo Reiffenstein. 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke, Tübingen: Max Niemeyer Verlag (zur Überlieferung und Edition: V-XI; Amicus und Amelius: XII-XIV; zu Engelhard: zu Entstehung, Interpretation und Nachwirkung: XVI-XXIV) Konrad von Würzburg 1989: Engelhard. Nach dem Text von Ingo Reiffenstein ins Neuhochdeutsche übertragen, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Klaus Jörg Schmitz, Göppingen: Kümmerle Konrad von Würzburg 1968: Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. 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Die Zusammengehörigkeit dieser Teile wird durch Synopse der Kapitelüberschriften angezeigt: “Von der modernen Rezeption der Nonnenliteratur” | “[ü]ber Zivilisationstheorie und Bilderlehre” | “[z]um Tösser Schwesternbuch”. 2 Schiller (1903: 62) kommentiert dies: “erstaunlich zu vernehmen, was sich alles in die Kirche drängt”. Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung: Imagination und Virtualität in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts Michael Neecke (Regensburg) This article deals with the act of seeing in late medieval Dominican sisterbooks. Starting with a scopic reconstruction of N. Elias’ thoughts about the civilizing process, visual representation in the sisterbooks is shown to be a means of virtual self-distancing from experience. In the literary work of Elsbeth Stagel the images’ power and allure have supplanted those of lifeworld experiences. Current debate on media violence helps to contour more precisely the specific aestheticization of pain and austerity in this mystical narrative. Die übervisualisierte Kultur der Gegenwart weist einen fundamentalen Verlust von Erfahrung auf. Während man immer mehr zu sehen bekommt, erlebt man immer weniger: “I am paralysed by the idea (or is it a feeling? - it feels like an idea) that, while I may be given more and more to see, I experience less and less” (van Winkel 2005: 29). Der Imagination als visueller Über-Produktion eignet die Tendenz, sich von allen Arten extern-‘objektiver’ Referenz zu lösen. Die so autonom gewordene Virtualität wird im Folgenden gleichsam auf historischem Umweg bestimmt. 1 1 Katabasis: Von der modernen Rezeption der Nonnenliteratur Mein Beitrag widmet sich der dominikanischen Nonnenliteratur des 14. Jahrhunderts. In der von den Schwesternbüchern entworfenen Welt scheint der spirituelle Bereich “voller Dämonen, Geister, […] voll des Lichts”, den Ronald D. Laing (1969: 20) als ein Opfer des gegenwärtigen Erfahrungsverlusts anspricht, noch intakt. Für das Tösser Schwesternbuch, das ich später genauer in den Blick nehmen möchte, lässt sich etwa ein gar “[g]eselliger Umgang mit den Himmlischen” konstatieren (Schiller 1903: 64): Einmal läuft das Jesuskind allein im Kloster herum (Vetter 1906: 45,4-6), ein andermal wird der göttliche Knabe von seiner Mutter zu einer der Schwestern gebracht (Vetter 1906: 88,23-31), die heilige Ursula schließlich lässt sich gleich mitsamt ihren elftausend Jungfrauen im Chor der Kirche sehen (Vetter 1906: 21,22-28). 2 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Michael Neecke 124 3 Die Schwesternbücher gehören aufgrund ihrer Erfahrungsferne für Blank (1966: 63) nicht mehr zur Mystik: “Wieweit kann man hier überhaupt noch von Mystik sprechen? Im eigentlichen Sinn wohl nicht mehr. Aber auch wenn wir diese Erscheinungen nicht als gültige Zeugnisse für die Mystik in den Klöstern anerkennen, müssen wir dahinter doch eine religiös empfindsame Haltung sehen, die allerdings Formen bernhardischen Denkens, unfähig des eigenen vollen Erlebens, übersteigerte und sie gerade durch ihren Exzeß entwertete und banalisierte.” Massive Zweifel daran, dass die religiöse Erfahrungswelt der Nonnenliteratur noch intakt ist, hat Walter Blank angemeldet, der in seiner Freiburger Dissertation von 1962 den Entstehungsprozess der Schwesternbücher im Anschluss an Forschungen von Georg Kunze (1953) als eine Verfallsgeschichte der Erfahrung darstellt, die sich vom eigenen Erleben über das allmähliche Versickern der außerordentlichen Gnaden zum argwöhnischen Beobachten und zum offenen Neid der Mitschwestern hinzieh[t], um schließlich in der literarischen Fixierung zu enden (Blank 1962: 119). Im Rahmen dieser Verfallsgeschichte vermutet Blank sogar eine regelrechte Jagd nach göttlichen Gnadenerweisen. Um Auskunft über das Leben der Schwestern zu erhalten, habe man in den dominikanischen Schwesternkonventen des 14. Jahrhunderts “die Kranken und Sterbenden oft furchtbar belästigt und gequält” (Blank 1962: 98). Blank beschreibt ein allgemeines Gieren nach außergewöhnlichen Erfahrungen bzw. dem Bericht von solchen: Diese dreiste Zudringlichkeit und diese inquisitorischen Methoden haben etwas Erschütterndes und tief Bedenkliches an sich (Blank 1962: 99). Die Erfahrung aber - Blank selbst spricht hier von “Mystik” 3 - bleibt abwesend, lässt sich so nicht greifen. Der Bericht von außergewöhnlichen mystischen Erlebnissen ziele nur noch auf “das äußerlich Sichtbare” ab (Blank 1962: 117). Zu konstatieren sei eine “Erstarrung des visionären Geschehens” und eine “Verlegung” desselben “in literarische Topoi” (Blank 1962: 146). Der ganze Bericht bezwecke lediglich, “die persönliche Heiligkeit derer zu unterstreichen, die mit diesen Visionen begnadet waren” (Blank 1962: 144). Insgesamt handele es sich um eine “durchgehende Trivialisierung der theologischen Sinngehalte” (Blank 1962: 261) und um einen Verlust des Eigentlichen, d.h. der mystischen Erfahrung: “Das Originale ist geschwunden” (Blank 1962: 146). Die Forschungsdiskussion der germanistischen Mediävistik hat sich mittlerweile weit von dieser Position Blanks entfernt. Es war zunächst Siegfried Ringler, der hier für eine Neuausrichtung der Forschung gesorgt hat und dabei die Annahme einer Verfallsgeschichte der Erfahrung einer fundamentalen Kritik unterzog: “Ist […] in den Nonnenviten eine ‘Echtheit des Erlebens’ nicht wahrnehmbar, so ist dies ein notwendiges Kennzeichen ihrer legendenähnlichen Struktur, nicht aber des unerfüllten Daseins ihrer Verfasserinnen” (Ringler 1980: 9). Der Mangel an Erfahrung, auf den Kunze und Blank deuteten, gilt Ringler als eine Eigentümlichkeit der literarischen Verfasstheit der Schwesternviten. Acht Jahre nach Ringlers grundlegender Arbeit von 1980 hat Ursula Peters dann den Bericht der frauenmystischen Texte insgesamt als eine literarische Konstruktion ausgewiesen: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, so der programmatische Titel ihrer Studie. Susanne Bürkles 1999 erschienene Dissertation über Literatur im Kloster, die einige der Überlegungen Peters’ aufgreift und zuspitzt, wendet sich schließlich gegen eine mimetische Lektüre, die die “frauenmystischen Texte auf die bloße Reformulierung von Lebenswelt reduziert” (Bürkle 1999: 5). Bürkles Kritik an dieser Verdoppelung der Wirklichkeit trifft dabei auch Ringlers - als “Grundlagenforschung” (Bürkle 1999: 273) freilich anerkannte - Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung 125 Arbeit. Diese nämlich, so die Kritik, führe den zu Recht zurückgewiesenen “Erlebnisgehalt” der frauenmystischen Texte durch die Hintertüre wieder ein (Bürkle 1999: 278). Tatsächlich verzichtet Ringler nicht vollständig auf die Annahme einer textunabhängigen prädiskursiven Erfahrung. Ringlers Rückgriff auf lebensweltliche Erfahrungsformationen braucht hier allerdings nicht weiter zu interessieren. Wichtiger erscheint, dass auch Bürkle keineswegs auf den Erfahrungsbegriff verzichtet. Gegen eine mimetische Lektüre der Schwesternbücher, die diese auf eine Abbildung von vorliterarischen Gegebenheiten reduziert, führt Bürkle etwa an, durch eine solche Lektüre werde den Schwesternbüchern das Vermögen abgesprochen, “konkret-sinnliche Unmittelbarkeit und ‘Erfahrungshaltigkeit’ zu evozieren” (Bürkle 1999: 5). Die Erfahrung ist bei Bürkle also, konstruktivistisch korrekt gesprochen, lediglich ein Anschein ihrer selbst in Anführungszeichen. 2 Metaphora: Über Zivilisationstheorie und Bildlehre Um diese dem Text nachfolgende Erfahrung oder Erfahrungsanmutung wird es im Folgenden gehen. Im Rückgriff auf Blanks Überlegungen zur Erfahrungsarmut der Schwesternbücher sollen diese aber nicht als Anschein von “Unmittelbarkeit” resp. “Erfahrungshaltigkeit” bestimmt werden: Was Blank in den Schwesternbüchern vorfand, war schließlich nicht Erfahrung, sondern der Mangel an solcher. Was die Texte “evozieren”, kann daher nur als Verlust von Erfahrung bestimmt werden: “Das Originale ist geschwunden” (Blank 1962: 146). Ich möchte in der Folge diskutieren, inwiefern die in den Schwesternbüchern zu findende Konzentration auf “das äußerlich Sichtbare” (Blank 1962: 117) a l s E r s a t z o d e r S u b s t i t u t v o n E r f a h r u n g zu betrachten ist. Es geht dabei nicht darum, das konstruktivistische Paradigma vor Verunreinigung durch prädiskursive oder textunabhängige Entitäten zu bewahren. Vielmehr interessieren gerade die Berührungen und Überlappungen von Text und Nicht-Text. In Bezug auf das Verhältnis von Erfahrung und Literatur in der Frauenmystik hat Werner Williams-Krapp jüngst vor einem “either/ or approach to mystical literature” gewarnt (Williams-Krapp 2011: 178). Die Idee für einen Ersatz oder eine Substitution von Erfahrung durch Konzentration auf das Sichtbare, die hier weiterverfolgt werden soll, stammt ursprünglich aus der Sozialwissenschaft: Die von Norbert Elias entwickelte Zivilisationstheorie kennt eine affektverschiebende Wirkung von Sichtbarkeit bzw. eine Affektverschiebung in die Richtung von Sichtbarkeit. Movens und Telos der Verschiebung entsprechen also der hier zu diskutierenden Konstellation. Das Objekt der Verschiebung (also das, was transferiert wird), unterscheidet sich freilich. Es geht eben nicht um die Transferierung von Erfahrung, sondern um das Verschieben von Affekten: Die Kampf- und Angriffslust findet z.B. einen gesellschaftlich erlaubten Ausdruck im sportlichen Wettkampf. Und sie äußert sich vor allem im “Zusehen”, etwa im Zusehen bei Boxkämpfen, in der tagtraumartigen Identifizierung mit einigen Wenigen, denen ein gemäßigter und genau geregelter Spielraum zur Entladung solcher Affekte gegeben wird. Und dieses Ausleben von Affekten im Zusehen oder selbst im Hören, etwa eines Radio-Berichts, ist ein besonders charakteristischer Zug der zivilisierten Gesellschaft. Er ist mitbestimmend für die Entwicklung von Buch und Theater, entscheidend für die Rolle des Kinos in unserer Welt. Schon in der Erziehung, in den Konditionierungsvorschriften für den jungen Menschen wird die Verwandlung dessen, was ursprünglich als aktive, oft aggressive Lustäußerung auftritt, in die passivere, Michael Neecke 126 4 Phillips & Hensley (1985) verweisen auf die Zunahme von Mord- und Totschlagsverbrechen nach Fernsehübertagungen von Boxkämpfen. Tannenbaum (1972) betont, dass erotische Filme Aggressivität in noch höherem Maß verstärken als gewalttätige Filme. Die “Katharsisthese”, die eine Aggressionsminderung durch den Konsum von TV-Gewalt behauptet, gilt Kunczik & Zipfel (2006: 303) “als widerlegt”. Damit ist freilich keineswegs ex negativo die aggressionsfördernde Wirkung medialer Gewaltdarstellungen bewiesen. Als Konsens der empirisch-psychologischen Medienwirkungsforschung führt Andree (2006: 222) zu Recht an, “daß sich eine direkte Korrelation zwischen Medienkonsum und Nachahmungstaten wissenschaftlich nicht nachweisen läßt”. gesittetere Lust am Zusehen, also in eine bloße Augenlust, in Angriff genommen (Elias 1969: 280). Jakob Pastötter hat 2003 Elias’ Überlegungen auf die Hardcore-Pornographie der Gegenwart übertragen und die “Visualisierung der Affekte” im Erotic Home Entertainment als Teil des Zivilisationsprozesses beschrieben (Pastötter 2003: 140). Der Begriff Zivilisation wird von Pastötter dabei übrigens keineswegs wertend verstanden. Auf eine affektverschiebende Wirkung von Pornographie bzw. in die Richtung von Pornographie hat, fast zeitgleich mit dem Erscheinen von Pastötters Arbeit, auch die amerikanische Feministin Naomi Wolf hingewiesen: “For the first time in human history, the images’ power and allure have supplanted that of real naked women. Today, real naked women are just bad porn” (Wolf 2003, 6). Anwendbar und anschlussfähig sind Elias’ Überlegungen also zweifellos. Dass aber die Kampf- und Angriffslust, wie behauptet, durch das Zusehen bei Boxkämpfen gemindert würde (das eben gilt als Konsequenz der Verschiebung), ist keineswegs in derselben Weise selbstverständlich und gewiss. Arbeiten, die im Gegenteil eine aggressionsfördernde Wirkung medialer Gewaltdarstellungen behaupten, sind Legion. 4 Diese Unklarheit in Bezug auf die Konsequenzen der Verschiebung sollten wir im Gedächtnis behalten. Das sozialwissenschaftliche Modell möchte ich nun nicht unmittelbar auf die Schwesternbücher beziehen, vielmehr wird die Vita des Mystikers Heinrich Seuse (entstanden vor 1362) und ihre Deutung durch Werner Williams-Krapp (2004) vermittelnd dazwischengeschaltet. Auch dort nämlich ist eine Verschiebung zu erkennen: Objekt der Verschiebung ist diesmal tatsächlich die Erfahrung resp. ein mit Erfahrung verbundener Verhaltenskomplex. Erfahrung wird hier freilich nicht in Richtung von Sichtbarkeit verschoben, vielmehr wird die eine Erfahrung in eine andere überführt. Am Anfang steht also Erfahrung und nach erfolgter Verschiebung ist da immer noch Erfahrung, nur die Art des Erfahrens und der Gegenstandsbereich der Erfahrung haben sich verändert. Aus Erfahrung eins ist Erfahrung zwei geworden. Ein weiterer Unterschied zur gesuchten Konstellation: Diese Verschiebung ist nicht durch Visuelles motiviert und vermittelt, sondern durch Literarisches, an erster Stelle durch den Text von Seuses Vita. Die Vita des Dominikaners Heinrich Seuse wird von Williams-Krapp keiner mimetischen Lektüre unterworfen. Den häufig als “erste geistliche Selbstbiographie in dt. Sprache” (Kienzler 1995: 1483) gelesenen Text versteht er im Gegenteil von der intendierten Wirkung her. Williams-Krapp spricht sich gegen ein Verständnis des Textes als Autobiographie aus: Die Vita richte sich an die Schweizer Dominikanerinnen, mit deren Seelsorge Seuse betraut war. Nach Williams-Krapp (2004: 41) sollten diese Schwestern durch den Text zu Mäßigung (“moderation”) bewegt werden, waren doch unter den Schweizer Dominikanerinnen der Zeit extreme Askesepraktiken verbreitet, wie sie in den Offenbarungen der Elsbeth von Oye schmerzend detailfreudig beschrieben sind (Weigand 2003). Im ersten Teil der Vita ist der als “diener der ewigen wisheit” (Bihlmeyer 1907: 7,4) apostrophierte Protagonist des in der dritten Person erzählten Texts dann auch mit solchen fleischtötenden Übungen beschäftigt. Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung 127 5 Bereits Williams-Krapp (2004: 38f.) betrachtet Elsbeth Stagel als textimmanente Stellvertreterin der sich außerhalb der Erzählung befindenden Dominikanerinnen, die zu Leiden zwei bewegt werden sollen: “stylized as the ideal figure for identification by Suso’s female audience. She applies and misinterprets the advice given to her by the Servant, only to have his teachings explained to her in extensive theoretical detail in the final part of the Vita.” Als Identifikationsfigur sieht Williams-Krapp (2004: 41) auch den Diener der ewigen Weisheit selbst: “Suso appears to feminize the role in order to achieve a maximum of possible identification with the figure of the exemplary Servant within his predominately female audience.” Die folgenden Teile der Erzählung bringen jedoch eine bemerkbare Distanzierung von diesen Praktiken der Selbstkasteiung. Statt um selbstbestimmte Askeseexzesse geht es dem “diener” nun darum, von außen kommendes Leid mit Gelassenheit zu ertragen. Wenngleich der Protagonist der Vita, als ihm diese Verschiebung des Leidens in einer Vision angekündigt wird, “an die erde in krúzwise” niederfällt und “mit schriendem herzen und mit húwlender stimme” darum bittet, diese neuen und schrecklichen Leiden an ihm vorübergehen zu lassen, willigt er schließlich ein, dass “der himelsch wille […] an im volbraht wurde” (Bihlmeyer 1907: 57,26-30). Nach Williams-Krapp ist die Verschiebung von Leiden eins zu Leiden zwei als an die Adresse der dominikanischen Schwestern gerichtete Aufforderung zu begreifen, diesen Wechsel außerhalb des Textes nachzuvollziehen. Movens und Medium der Verschiebung ist hier das Literarische, das Telos ein verändertes Erfahrungsangebot resp. ein mit der veränderten Erfahrung verbundenes V e r h a l t e n s a ngebot. Von dieser Position aus ist es jetzt nur mehr ein kleiner Schritt dahin, Sichtbarkeit als Beweggrund, Vermittlung und Ziel der Verschiebung zu begreifen. Dieser Schritt lässt sich bereits innerhalb des textuellen Rahmens von Seuses Vita vollziehen: Bei der Verschiebung von Leiden eins zu Leiden zwei scheint es nämlich nicht vorrangig darum zu gehen, die Schwestern vor allzu großer Selbstverletzung zu bewahren und ihnen auf diese Weise zu einem gesünderen Leben zu verhelfen. Den Ausstieg aus Leiden eins scheint man vielmehr in Analogie zu jenem ‘Hinaussteigen’ über das Bild denken zu müssen, das im abschließenden Teil der Vita in Form einer dialogischen Auseinandersetzung zwischen dem “diener der ewigen wisheit” und seiner geistlichen Tochter Elsbeth Stagel thematisiert wird. 5 Nicht nur legt der Diener dort “eine Art Visionslehre im augustinischen Sinn” vor (Haas & Ruh 1992: 1120), in der die Anschauung als um so “edelr” eingeschätzt wird, je “bildloser und vernúnftiger” sie ist (Bihlmeyer 1907: 183,6-8), das Bild wird dabei auch als Medium seiner eigenen Überwindung präsentiert: Seuses Forderung lautet, “daz man bild mit bilden us tribe” (Bihlmeyer 1907: 191,9). Diese Forderung lässt sich nun wohl kaum ausschließlich konservativ als Affirmation der traditionellen christlichen Bildkontemplation verstehen, wie der Kunsthistoriker Michael V. Schwarz (2009: 52) vorschlägt: “Statt sich den Phänomenen der Welt auszuliefern, soll der Fromme, während er über Bilder Christi und der Heiligen nachsinnt, Wahrheit erfahren.” Dass bei Seuse die Tradition gleichermaßen bestätigt wie überwunden wird (und zwar gerade durch ihre Bestätigung überwunden! ), hat Alois M. Haas (2001: 296) herausgestellt, der dabei allerdings auf überlieferte Positionen der Bildkritik Bezug nimmt: “Rehabilitiert wird [sc. von Seuse] das (sprachliche) Bild gerade in seinem Charakter flüchtiger Vergänglichkeit; exakt das Fragwürdige an ihm wird verfügbar gemacht zugunsten einer bildlosen Gotteserkenntnis.” Als ‘Hinaussteigen’ oder Überwindung lässt sich auch die Verschiebung des Erfahrungsangebots Leiden eins zu Leiden zwei beschreiben. Dass diese vom Literarischen angeregt und reflektiert wird, wurde schon gesagt. So nimmt der Text der Vita immer wieder Bezug auf die Michael Neecke 128 6 So macht der Protagonist seine geistliche Tochter, Elsbeth Stagel, durch Ausdeutung von Mt 16,24 (Bihlmeyer 1907: 107,11-16) auf die für ihre ‘weiblich’-schwache Konstitution (Bihlmeyer 1907: 107,10f.) gebührende Leidensauffassung aufmerksam. Auch dass der “diener”, als ihm die Verschiebung von Leiden eins zu Leiden zwei angekündigt wird, auf die Erde niederfällt und um Abwendung der neuen Leiden bittet, erscheint als Anspielung auf die Heilige Schrift: “Vnd gieng hin ein wenig / fiel nider auff sein Angesichte / vnd betet / vnd sprach / Mein Vater / Jsts müglich / so gehe dieser Kelch von Mir / Doch nicht wie Jch wil / sondern wie Du wilt” (Mt 26,39, zit. nach Volz 1972). 7 Die Behauptung, Seuse sei bei der Verfertigung der Vita durch ‘klassische’ höfische Literatur beeinflusst worden, lässt sich freilich nur schwer am Text selbst belegen (Neecke 2008: 136-149). Blank (1993: 303) sieht Seuses Vita daher eine “gemischte Darstellung” vorangehen, in der die Grenze zwischen geistlicher und weltlich-höfischer Dichtung bereits verwischt wurde. 8 “Diesem Zweck [sc. nämlich der Ausrichtung auf das intendierte Publikum] dienen die Verwendung der verschiedenen literarischen Muster der Autobiographie, der Legende, des Minnedienstes (Minnesang), des Abenteuerweges (Roman) wie des Lehrgesprächs, denen er seine geistliche Intention unterlegt” (Blank 1993: 311). Heilige Schrift. 6 Walter Blank (1993: 309) verwies in seiner Deutung von Seuses Vita, die in den Grundzügen mit derjenigen von Werner Williams-Krapp übereinstimmt, daneben noch auf Verbindungen des Textes zur weltlichen Literatur. 7 In unserem Zusammenhang interessiert jedoch v.a., dass Blank dabei auf ein besonderes Bemühen um Bildlichkeit in Seuses Vita hinweist, nämlich das Bemühen, “im Blick auf einen überwiegend weiblich-klösterlichen Rezipientinnenkreis seine Spiritualität bildhaft verständlich zu vermitteln” (Blank 1993: 311). Zweifellos versteht Blank hier Bildlichkeit als sprachliches resp. literarisches Phänomen. 8 3 Epistrophe: Zum Tösser Schwesternbuch Damit sind wir wieder bei Sehen und Sichtbarkeit angelangt. Der hier angenommene Zusammenhang von Sprache/ Literatur einerseits und Sehen/ Sichtbarkeit andererseits stellt im Fortgang unserer Untersuchung keineswegs etwas Neues dar. Bereits in Bezug auf die Schwesternbücher hat Blank schließlich die Verlagerung “auf das äußerlich Sichtbare” (Blank 1962: 117) mit der “Verlegung in l i t e r a r i s c h e Topoi” (Blank 1962: 146, Hervorh. v. mir, M.N.) verknüpft. Auch hat Haas die Bildlehre Heinrich Seuses ausdrücklich auf “das (s p r a c h l i c h e ) Bild” bezogen (Haas 2001: 296, Hervorh. v. mir, M.N.). Wenn wir in Bezug auf die Erfahrungsverschiebung im Text Seuses festgestellt haben, diese werde nicht vom Visuellen motiviert und vermittelt, sondern vom Literarischen, muss dies daher modifiziert werden. Letztlich muss für Seuses literarische Vita insgesamt eine Verschiebung in Richtung von Sichtbarkeit konstatiert werden: Freilich geht es dabei am Ende um das ‘Hinaussteigen’ über das Bild. “Das Bildlose [sc. aber] muß über die Anwendung von Bildern vermittelt werden” (Haas 2000: 178). Der Weg über die Sichtbarkeit hinaus ist also der Weg in die Sichtbarkeit hinein. Sichtbarkeit ist dabei keineswegs im eigentlichen Sinne Erfahrungsersatz oder Substitut von Erfahrung. Das Ziel des ‘Hinaussteigens’ ist nicht irgendein virtuelles “second life”, sondern liegt jenseits von aller Erfahrung: “Ein satori-Erlebnis”, meinte der japanische Philosoph Shizuteru Ueda, “das noch Erlebnischarakter hat, ist kein satori-Erlebnis” (Schüttler 1974: 69; cf. Seidl 2010). Die als Erfahrungsersatz oder Substitut von Erfahrung eingesetzte Sichtbarkeit löst sich schließlich in sich selbst auf - was ein wenig an Wittgensteins Leiter erinnert, die nach der Benutzung umgeworfen wird, oder an die Lehren der pyrrhonischen Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung 129 9 “Bei allen skeptischen Schlagworten muß man sich vorher darüber im klaren sein, daß wir nichts über ihre unbedingte Wahrheit versichern, wo wir doch zugeben, daß sie auch sich selbst aufheben können, indem sie zusammen mit den Dingen, über die sie geäußert werden, sich selbst ausschalten, so wie die Abführmittel nicht nur die Säfte aus dem Körper treiben, sondern auch sich selbst zusammen mit den Säften abführen” (Pyrrhoneae hypotyposes 1,206). 10 Übersetzung von Weinhandl (1921: 180): “Die selige Schwester sah einst, als zwei Schwestern Bußübungen machten, daß ein wonnigliches Kindlein um sie herumlief und ihnen mit einer Kerze leuchtete”. 11 Ohnehin fehlt im Tösser Schwesternbuch jenes “entbergend[e] Verbergen” (Neecke 2008: 145), durch welches extreme Askesepraktiken in Seuses Vita gleichzeitig hervorgehoben und verdeckt werden (Vetter 1906: 43,6-10 und 26,7-19; Bihlmeyer 1907: 43,11-44,1). Was außerordentliche Gnadengaben betrifft, findet sich diese Haltung jedoch in der Nonnenliteratur (Vetter 1906: 64,21-33). Skepsis, die am Ende nicht nur als Emetikum für andere Dogmata, sondern auch selbstwiderlegend wirken (Hossenfelder 1996: 141f.). 9 Sichtbarkeit und das ‘Hinaussteigen’ über die Bilder verhalten sich dabei wie die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Prädiskursive Erfahrungsformationen spielen hier keine Rolle, dem Text nachfolgende Erfahrungen, die von diesem unabhängig und insofern primär wären, tauchen nicht auf. In diesem Sinn gibt es an dieser Stelle auch nichts, was über den Text hinausginge - nicht einmal seine eigenen Konsequenzen. Wir scheinen uns also durchaus im konstruktivistischen Paradigma häuslich einrichten zu können. Das ‘Hinaussteigen’, von dem die Rede ist, lässt sich innerhalb des Textes der Vita genauso gut bzw. genauso schlecht greifen wie außerhalb: Das ‘Hinaussteigen’ über das Bild mag hervorragend zur Verschiebung des Erfahrungsangebots Leiden eins zu Leiden zwei passen, aber diese Verbindung ist keineswegs notwendig. Eine solche Deutung des Bemühens um Sichtbarkeit lässt sich auf die dominikanischen Schwesternbücher übertragen. Annahmen über den Texten vorangehende oder ihnen folgende Erfahrungen braucht man dabei keine zu treffen. So berichtet das Tösser Schwesternbuch davon, dass Mezzi von Klingenberg zwei anderen Schwestern beim Geißeln zusieht. Schwester Mezzi kann dabei aber noch mehr sehen: Die sælig schwester sach ze ainem mal, do zwo schwestern disciplin nament, das ain wunnekliches kindli umb sy lúf und zunt in mit ainer kertzen (Vetter 1906: 45,4-6). 10 Bei dem wonniglich anzusehenden Kind kann es sich nur um den Jesusknaben handeln. Robert Heinrich Oehninger, vormals Pfarrer an der Stadtkirche Winterthur, hat in seinem 2003 erschienenen “erzählenden Kommentar” (11) zum Tösser Schwesternbuch versucht, die hinter dieser kurzen Erzählung stehende Intention zu greifen: Spendet [sc. das Jesuskind hier] wohlwollend warmes Licht auf die harte Szene? Oder will es den beiden die Augen auftun für das, was sie da treiben? Will es ihnen zu bedeuten geben, dass ihre Geisselhiebe nichts mit jenen zu tun haben, die ihm später die Römerknechte im Keller bei Pilatus zufügen würden? Hatte nicht auch Meister Eckhart solcher Selbstkasteiung die erlösende Kraft abgesprochen? Je länger das liebliche Kind seine Kerze vor die stöhnenden Nonnen hält, desto fragwürdiger erscheint Mezzi deren Tun. Im Himmelslicht, wenn auch nur in Kerzenstärke gespendet, nimmt sich diese Geisselszene seltsam aus (Oehninger 2003: 161). Die knappe Formulierung des Tösser Schwesternbuchs liefert tatsächlich jedoch keinerlei Beleg dafür, dass hier Kritik an den Askesepraktiken der Schwestern geübt werden soll. 11 Die umgekehrte Annahme freilich, dass die Erzählung des Schwesternbuchs solche Praktiken affirmieren möchte, kann sich ebenso wenig auf den Text berufen. Die Darstellung des Schwesternbuchs beschränkt sich auf “das äußerlich Sichtbare” (Blank 1962: 117). Michael Neecke 130 12 Einen freilich vermittelten Einfluss der mittelalterlichen Mystik auf die gegenstandslose (“abstrakte”) Malerei der Moderne behauptet Ringbom (1970: 177-181). 13 Nicht erst Ringler (1980: 8), der die Schwesternbücher als “Teil der hagiographischen Literatur des Mittelalters” begreift, sondert die Nonnenliteratur aus dem Bereich echter Mystik aus. Bereits Blank (1962: 145) stellte fest, “daß die Viten keine Darstellung der Mystik sind und auch gar nicht sein wollen” 14 Die hier zu konstatierende Unreinheit stellt keineswegs etwas fundamental Neues dar. Bereits die Verknüpfung von Sichtbarkeit mit Sprache/ Literatur oben beförderte einen vergleichbaren Verlust von Reinheit. Dass das Sichtbare nicht strikt und kategorial vom Sagbaren getrennt wurde, geschah aber durchaus begründet: “The act of looking is profoundly ‘impure’. First, sense-directed as it may be, hence, grounded in biology (but no more than all acts performed by humans), looking is inherently framed, framing, interpreting, affect-laden, cognitive and intellectual. Second, this impure quality is also likely to be applicable to other sense-based activities: listening, reading, tasting, smelling. This impurity makes such activities mutually permeable, so that listening and reading can also have visuality to them” (Bal 2003: 9). Ähnliches gilt auch an dieser Stelle: Die Feststellung von Unreinheit soll kein Abbruch der Argumentation sein, sondern vielmehr ein Sprungbrett. Von Zustimmung oder Kritik ist nichts zu bemerken. Es gibt nur das Sehen und die Sichtbarkeit. Gegen die Übertragung des Konzepts vom ‘Hinaussteigen’ über das Bild auf die Schwesternbücher könnte man einwenden, dass die Bildlichkeit der Nonnenviten, im Gegensatz zu derjenigen Seuses, die Leserinnen und Leser festhält: An ein ‘Hinaussteigen’ wäre hier also nicht zu denken. Eine Abstraktion von den Bildern bliebe unmöglich, weil die Bildlichkeit zu wenig abstrakt ist. 12 Ein solcher Einwand könnte sich auf die opinio communis stützen, wonach die dominikanischen Schwesternbücher ohnehin nicht zur Mystik im eigentlichen Sinne zählen. 13 Diese Grenzziehung erscheint an dieser Stelle aber brüchig. Auch für Seuses Vita nämlich wurde eine Behinderung des mystischen ‘Hinaussteigens’ durch die im Weg stehende Bildproduktion als Gefahr benannt. So meint Alois M. Haas: Allerdings bleibt die Gefahr, daß die Bilder, die jegliche Vermittlung durchs Bild austreiben sollen, allzusehr dominieren und sich absolut setzen. Seuse hat diese Gefahr nicht ganz vermieden (Haas 2001: 181). Haas war es freilich auch, der die leiblich-konkrete (also keineswegs ‘abstrakte’) Bildlichkeit der Vita als Medium des ‘Hinaussteigens’ auswies, wenn er Seuses Fähigkeit lobte, “Geistiges in unnachahmlicher Weise zu verleiblichen und Sinnliches ebenso nachhaltig zu vergeistigen” (Haas 1979: 181). Dass hier dieselbe Unklarheit in Bezug auf die Konsequenzen der Verschiebung in die Sichtbarkeit zu finden ist wie im sozialwissenschaftlichen Modell, von dem unsere Überlegungen ihren Ausgang nahmen, verweist auf die Grenzen des konstruktivistischen Paradigmas: Hier haben wir es mit einer Berührung oder Überlappung von Text und Nicht-Text zu tun. Die Konsequenzen der Verschiebung lassen sich nicht durch Lektüre des Textes erhellen. Die Untersuchung wird in der Folge unrein. 14 Bibliographie Andree, Martin 2006: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München etc.: Fink Bal, Mieke 2003: “Visual essentialism and the object of visual culture”, in: Journal of Visual Culture 2.1 (2003): 5-32 Sichtbarkeit als Substitut von Erfahrung 131 Bihlmeyer, Karl 1907: Heinrich Seuse. Deutsche Schriften, Stuttgart: Kohlhammer (Reprint 1961, Frankfurt am Main: Minerva) Blank, Walter 1962: Die Nonnenviten des 14. Jahrhunderts. Eine Studie zur hagiographischen Literatur des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung der Visionen und ihrer Lichtphänomene, Freiburg im Breisgau: Müller Blank, Walter 1966: “Dominikanische Frauenmystik und die Entstehung des Andachtsbildes um 1300”, in: Alemannisches Jahrbuch 1964/ 65 (1966): 57-86 Blank, Walter 1993: “Heinrich Seuses ‘Vita’. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion seines Schrifttums”, in: ZfdA 122 (1993): 285-311 Bürkle, Susanne 1999: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen / Basel: Francke Elias, Norbert 2 1969: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bern / München: Francke Haas, Alois Maria & Kurt Ruh 1992: Art. “Heinrich Seuse OP”, in: 2VL 8 (1992): 1109-1129. Haas, Alois Maria 1979: Sermo mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der Deutschen Mystik, Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag Haas, Alois Maria 2000: Art. “Seuse, Heinrich”, in: TRE 31 (2000): 176-183 Haas, Alois Maria 2001: “Bildresistenz des Göttlichen und der menschliche Versuch, Unsichtbares sichtbar zu machen. 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Nach dem mittelhochdeutschen Text von Elsbeth Stagel (1300-1360), Bd. 1 (erzählender Kommentar), Zürich: Werd Pastötter, Jakob 2003: Erotic Home Entertainment und Zivilisationsprozess. Analyse des postindustriellen Phänomens Hardcore-Pornographie, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag Peters, Ursula 1988: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer Philllips, David P. & Hensley, John E. 1985: “When Violence Is Rewarded or Punished. The Impact of Mass Media Stories on Homicide”, in: Masscommunication Review Yearbook 5 (1985): 414-429 Ringbom, Sixten 1970: “Mystik und gegenstandslose Malerei”, in: Sven S. Hartmann & Carl-Martin Edsmann (eds.), Mysticism, Stockholm: Almqvist & Wiksell: 168-188 Ringler, Siegfried 1980: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. 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Deeply disturbed by the confessions of his wife, Fridolin then goes on a ‘night journey’ through Vienna. Although the nocturnal adventures, in their dream-like sequencing, appear as dream images or a fantastically distorted reality, it is not clear on which level of perception the events are taking place. The decisive factor is that the experiences of the male protagonist, his own inner perceptions are represented. Through its dream-like narrative mode, the dream as a perceptual process, as the inner vision of images, merges with the perception of the outside world. It is the main subject of this study to analyze the women who appear to Fridolin at different levels of perception and in the space between imagination and reality, to reveal their construction as a result of imagination, and to determine their function in the fictional world of the protagonist. “Wenn zwei Menschen einander bis ins Tiefste verstehen wollen, so ist das geradeso, wie wenn zwei gegenübergestellte Spiegel sich ihre eigenen Bilder immer wieder und von immer weiter her wie in verzweifelter Neugier entgegenwerfen, bis sie sich endlich im Grauen einer hoffnungslosen Ferne verlieren” (Arthur Schnitzler, T 128). 1 Einleitung Wie heimatlos, wie hinausgestoßen erschien er sich […] seit dem Abendgespräch mit Albertine rückte er immer weiter fort, aus dem gewohnten Bezirk seines Daseins in irgendeine andere, ferne, fremde Welt. (T 31) Dieses Zitat aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1926), die als Höhepunkt im Spätwerk des Wiener Arztes und Dramatikers, eines der bedeutendsten Autoren der Wiener Moderne und des Fin de Siècle, gilt, beschreibt jenen Moment des Textes, in dem die männliche Hauptfigur Fridolin, bestürzt durch das Geständnis seiner Frau Albertine, sexuelles Verlangen einem anderen Mann gegenüber verspürt zu haben, sich auf eine ‘nächtliche Reise’ durch Wien begibt. Diese nächtliche Reise, die sowohl von Erlebnissen als auch von diversen Frauenbildern durchzogen wird, konstruiert für Fridolin jene “andere, ferne, fremde Welt” (T 31), die außerhalb des “gewohnten Bezirks seines Daseins” (T 31) besteht und in die er sich begibt. Die imaginativen Bilder in einer ihm ungewohnten und fremden Welt bilden den Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung, in der es darum geht, diese imaginierten Bilder als Konstrukte zu erfassen und deren Funktion in einer fiktiv konstruierten ‘fremden’ Wirklichkeit herauszustellen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dalia Aboul Fotouh Salama 134 1 Besonders die ältere Forschung zur Traumnovelle befasst sich mit dem Verhältnis von Traum und Wirklichkeit. Hier werden Fridolins Erlebnisse entweder dem realen Raum zugeordnet oder als Einbrüche von Surrealem in die Alltagswelt gedeutet; Albertines Traum wird als exemplarisch für diese Anwendung psychoanalytischer Traumtheorie angesehen. Hingegen bleibt die neuere Forschung hinsichtlich des Verhältnisses von traumhaftem und realem Erleben gespalten, sodass diese Problematik unaufgelöst bleibt. Dem gegenüber lässt sich eine zunehmende Thematisierung von ästhetischen Fragen, wie Textkomposition, Erzählweise, Erzählstruktur und Analyse der verschiedenen Erzählebenen beobachten, wobei besonders nach dem Zusammenhang von Erzählen und Traum gefragt wird, wie es ja bereits das Kompositum des Titels Traum-Novelle andeutet und impliziert. Die Sichtung der neueren Forschung lässt eine Verschiebung des Akzents feststellen, von der Frage nach der Darstellung von Wirklichkeit und Traum zu der Untersuchung von Fiktion und Traum sowie von Erzählstrukturen und Traum, vgl. hierzu Freytag (2007: 15) mit Verweisen auf Perlmann (1987), Scheffel (1998), von Hoff (2003). Im Text finden sich zwei Ebenen: zum einen die des expliziten Traums, wie der von Albertine, in dem sie ihre unterdrückten Wünsche kompensiert, auf den hier jedoch nicht ausführlich eingegangen werden kann, da es sonst den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, und zum anderen die der traumhaften Erlebnisse Fridolins in der Nacht, auf die hauptsächlich mein Augenmerk gerichtet sein wird. In Fridolins nächtlicher ‘Odyssee’, die von dem Wunsch begleitet wird, sich an seiner Gattin zu rächen, trifft er mehrere Frauen, mit denen er jedoch keine sexuelle Beziehung einzugehen vermag. Die nächtlichen Erlebnisse Fridolins erscheinen durch ihre Handlungsabfolge wie Traumbilder. Das Traumhafte der Erzählweise und des Textaufbaus ist schon im Titel, der die Wörter Traum und Novelle zusammenfügt, impliziert. “Durch den Titel wird ausgestellt, dass es die Erzählweise und die Konstruktion des Textes selbst sind, die den Eindruck von Geträumtem erzeugen.” (Freytag 2007: 15) 1 Obwohl es nicht eindeutig ist, auf welcher Bewusstseins- und Wahrnehmungsebene sich die Ereignisse abspielen bzw. die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit nicht immer eindeutig zu ziehen sind, ist ausschlaggebend, dass es sich bei den Erlebnissen Fridolins um ‘seine’ eigene innere Wahrnehmung handelt. Durch ihre traumartige Schilderungsweise wird das Träumen als perzeptiver Vorgang, als inneres Sehen von Bildern gezeigt, die mit der Wahrnehmung der äußeren Welt ineinanderfließen und diese konstruieren. 2 Imagination und Wirklichkeit Aus der figurativen Ebene heraus entstehen im Raum zwischen Imagination und Wirklichkeit mehrere Frauenbilder in der Wahrnehmung des männlichen Protagonisten, die durch interne Prozesse in dessen Psyche induziert sind. Anliegen dieses Beitrags ist es, in diesem so vielschichtigen Werk anhand bestimmter Kriterien die Konstruiertheit dieser Frauenbilder als Produkt von Fridolins Imagination aufzudecken. Durch den Vergleich der jeweiligen imaginierten Frauenbilder soll erkennbar gemacht werden, welche Funktion und Wirkung diese als Konstrukte in der fiktiven Wirklichkeit der Traumnovelle für den Protagonisten haben. Weiterhin soll auch der damit verbundene kultur- und ideologiekritische Zusammenhang herausgestellt werden. Dabei verfährt die Studie vorwiegend semiotisch, da sie nicht in erster Linie eine Deutung dieser Frauen-Bilder zu entwickeln versucht, sondern hauptsächlich die im Werk vorkommenden Hinweise zur Konstruktion dieser imaginierten Frauenbilder in der Oberflächenstruktur des Textes aufspüren und hervorheben will. In der mir zugänglichen Forschungsliteratur sehe ich kaum eine Einzelstudie, die sich unter den oben genannten Gesichtspunkten damit auseinandersetzt. Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 135 3 Inhalt der Traumnovelle Die Ehepartner Albertine, eine Hausfrau und Mutter, und der 35-jährige Fridolin, Arzt von Beruf, enthüllen sich gegenseitig ihre bisher voreinander verborgenen sexuellen Wünsche und Phantasien, indem sie einander gestehen, dass sie während des vergangenen Sommers in Dänemark jeweils einen anderen Menschen voller Sehnsucht begehrt haben. Durch die Bekenntnisse seiner Frau zutiefst verstört, voller Bitterkeit und Hass, begibt sich Fridolin auf eine ‘nächtliche Reise’ durch Wien. In seinen nächtlichen Erlebnissen, die von dem Wunsch begleitet werden, sich an seiner Gattin zu rächen, trifft er mehrere Frauen, angefangen bei Marianne, der Tochter eines verstorbenen Patienten, über die Prostituierte Mizzi, bis hin zu Pierrette, der Tochter des Kostümverleihers Gibiser, mit denen er jedoch keine körperliche Beziehung einzugehen vermag. Schließlich begegnet er seinem alten Freund Nachtigall, mit dessen Hilfe er sich Zugang zum Maskenball einer Geheimgesellschaft verschafft, wo Frauen sich bis auf das mit einer Maske verhüllte Gesicht nackt präsentieren, und wo er die Begegnung mit einer schönen unbekannten Frau macht. Als Eindringling erkannt, wird Fridolin zur Rede gestellt und bedroht, wobei es ihm jedoch gelingt, zu entkommen, weil sich die maskierte Unbekannte für ihn opfert. Letztendlich kehrt er nach Hause zurück, wo er seine Frau träumend vorfindet. Auf seinen Wunsch hin erzählt ihm Albertine ihren Traum, in dem Fridolin sich aus Treue und Liebe zu ihr hat foltern und sich opfernd ans Kreuz schlagen lassen, während sie sich, ihn auslachend, mit dem fremden Mann, von dem sie ihm anfangs in ihrer Beichte erzählt hatte, vergnügte. Immer noch schockiert von dem Traum seiner Frau und endgültig zur Rache entschlossen, sucht Fridolin am folgenden Tag erneut alle Personen, die er in der Nacht getroffen hatte, auf und versucht das Rätsel der geheimen Gesellschaft zu lösen. Dies gelingt ihm nicht. Später liest er in einem Café eine Zeitung, in der die Todesnachricht einer jungen Baronin steht. Verfolgt von dem Verdacht, dass diese Frau seine Retterin der vergangenen Nacht sein könnte, stellt er Nachforschungen an. Durch seine Beziehungen als Arzt hat er die Möglichkeit, den Leichnam der jungen Frau zu sehen, doch als sie dann vor ihm liegt, ist er sich nicht sicher, ob sie die Angebetete der vorigen Nacht ist. Nachdenklich kehrt er nach Hause zurück, wo er sich entschließt, seiner Ehefrau Albertine von den Ereignissen der vorigen Nacht zu erzählen. Durch diese Aussprache löst sich die Entfremdung und beide sind bereit, einen Neuanfang zu wagen. 4 Traum und Psychoanalyse Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, nach denen sie kaum Sehnsucht verspürten und wohin der unfaßbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte. (T 11) Die zitierte Textstelle beschreibt einen zentralen Aspekt der Novelle, der schon im Titel angedeutet wird. Die Bedeutung des Traums als Schlüssel zum Unbewussten wurde von Freud immer wieder betont. Doch im Unterschied zu Freuds Psychoanalyse ist für Schnitzler, der sich in seinen Tagebüchern mit Träumen und der Deutung von Träumen noch vor dem Erscheinen von Freuds Traumdeutung beschäftigt hat, nicht das Unbewusste, sondern das Mittelbewusstsein grundlegend für Träume (vgl. Perlmann 1987: 38). Schnitzler setzt in Dalia Aboul Fotouh Salama 136 2 Der Traum ist für Freud der entstellte Ersatz für den latenten Traumgedanken und für das Unbewusste, deren Hintergrund erst durch die psychoanalytische Deutungsarbeit aufgedeckt werden kann. Von da aus deutet Freud die Traumdeutung als via regia zur Aufdeckung des Unbewussten im Seelenleben (2000: 577). seinen gesammelten Notizen Über Psychoanalyse (1924) der seiner Ansicht nach einseitigen Untersuchung des Unbewussten durch Freud folgendes Konzept entgegen: Das Mittelbewußtsein wird überhaupt im Ganzen zu wenig beachtet. / Es ist das ungeheuerste Gebiet des Seelen- und Geisteslebens; von da steigen die Elemente ununterbrochen ins Bewußte auf oder sinken ins Unbewußte hinab. / Das Mittelbewußtsein steht ununterbrochen zur Verfügung. […] Das Mittelbewußtsein verhält sich zum Unterbewußtsein wie der Schlummer zum Scheintod. Der Schlummernde läßt sich immer ohne Mühe erwecken, der Scheintote nicht (wenigstens nicht immer). Die Psychoanalyse wirkt viel öfter auf das Mittelbewußtsein als (wie sie glaubt) auf das Unterbewußtsein. (Schnitzler 1967: 283) Genauso unterscheidet sich Schnitzler von Freud darin, dass er sich nicht mit den im Traum verhüllt auftretenden unbewussten Wünschen 2 auseinandersetzt, sondern mit dem manifesten Trauminhalt, sich also hauptsächlich auf das direkte, sichtbare Erscheinungsbild der Träume konzentriert, ohne eine Deutung der visuellen Bilder vorzunehmen (vgl. Perlmann 1987: 60). Demzufolge wird die Betonung auf die tatsächlichen Erlebnisse und Wahrnehmungen des Träumers, also auf das, was sich im Traum zu sehen gibt, gelegt, weshalb Schnitzler den Traum vor allem als inneres Sehen von Bildern versteht. 5 Frauenbild(er) in Wien um die Jahrhundertwende In Schnitzlers Traumnovelle “wird das gängige, vom Mann vertretene Denken als eine unzulängliche Konstruktion angesichts einer andersartigen Wirklichkeit enthüllt und verweist damit auf die die Jahrhundertwende kennzeichnende Bewußtseinskrise” (Weinhold 1987: 111). Von entscheidender Bedeutung für das Bild der Frau in Wien um 1900 war die Psychoanalyse Sigmund Freuds, denn durch sie wurde die Aufmerksamkeit auf das Unterbewusstsein, das Unbewusste und vor allem auf die Sexualität gelenkt. Dies hatte zur Folge, dass man sich nun von neuem mit dem Geschlechterverhältnis und den damit verbundenen Vorstellungen von Familie und Ehe auseinandersetzen musste. Die zur Diskussion stehende weibliche Sexualität und Erotik, das weibliche Geschlecht und dessen Merkmale und Triebe wurden einerseits tabuisiert und andererseits im Bild der sexuell aktiven Frau dämonisiert oder pathologisiert, sowie in stereotypen und oft pejorativen Weiblichkeitsbildern, durch die eine Kontrolle über das weibliche Geschlecht erlangt werden sollte, veranschaulicht (vgl. Brandejsová 2010: 15). Die Inszenierungen von Weiblichkeit lassen sich vor allem auf drei Modelle reduzieren. Das Bild einer dämonischen ‘Femme fatale’ und die ätherische ‘Femme fragile’ als ihr Gegenbild wurden zu den zentralen Frauenfiguren und Weiblichkeitstypen in der Kultur des Fin de Siècle. Das dritte Modell wurde durch das Bild einer dienenden Ehefrau (Mutter, Madonna) repräsentiert, das die institutionalisierte Sexualität der Frau und legitime Weiblichkeit darstellte (vgl. Catani 2005: 78ff.). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich die Dichter der Moderne auf unterschiedliche Weise mit der Sexualität auseinander, wobei die Krise des Werte- und Normensystems in ihren literarischen Werken reflektiert wird. Die kulturellen Frauenbilder, die um die Jahrhundertwende literarisiert wurden, waren oft nur Projektionen männlicher Phantasien, welche die Dominanz der Männer Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 137 3 Siehe dazu auch Keller (1984: 184), der die Bilddarstellungen vom “Rätsel Weib” als Projektionen der männlichen sexuellen Phantasien und Ängste bewertet. Auch Stephan (1985: 26) versteht unter Frauenbild in literarischen Texten eine Form männlicher Wunsch- und Ideologieproduktion. 4 Vgl. Scheffel (1998). Wie Scheffel zeigt, waren die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht beim zeitgenössischen Publikum besonders beliebt. Kurz bevor Schnitzler die erste Skizze des Stoffes für seine Traumnovelle entwirft, schreibt Hofmannsthal seine berühmte Einleitung zu der 1908 erschienenen Insel Ausgabe der Märchen von Tausendundeine Nacht, in der es u.a. heißt: “Wir hatten dieses Buch in den Händen, da wir Knaben waren; und da wir zwanzig waren und meinten, weit zu sein von der Kinderzeit, nahmen wir es wieder in die Hand, und wieder hielt es uns - wie sehr hielt es uns wieder! […] Es ist das Buch, das man immer wieder völlig sollte vergessen können, um es mit erneuter Lust immer wieder zu lesen.” (Hofmannsthal 1952: 270) 5 Vor allem Scheffel hat ausführlich auf den Aspekt der Märchenhaftigkeit hingewiesen (1998: 175). im Geschlechterverhältnis der damaligen Zeit bestätigten 3 (vgl. Beutin 2001: 364). Andererseits begann man sich auch komplexeren Darstellungen von Frauen zu widmen, die kulturelle Typisierungen relativieren sollten, wobei z.B. des Öfteren die Ehefrauen als Geliebte oder Mütter als Lustobjekte stilisiert wurden (vgl. Catani 2005: 115). In den Weiblichkeitsdiskurs um die Jahrhundertwende reiht sich auch Arthur Schnitzler ein, der die sexualisierten und in die dichotomischen Kategorien ‘Hure’ und ‘Heilige’ eingeteilten Bilder der Frau in seinen Werken widerspiegelt und kritisch hinterfragt, wobei er dies besonders durch die Schilderung der Psyche seiner Figuren erzielt (vgl. Mürbeth 2006: 2). In einem Aphorismus drückt Schnitzler seine eigene Vorstellung von Frauen aus, der eine ambivalente weibliche Identität zugrunde liegt: “Die Frauen sind zugleich naturgebundener und sozial bedingter als die Männer; dies ist der Widerspruch, in dem die Problematik der meisten Liebesbeziehungen begründet ist.” (Schnitzler 1967: 68) Diese Problematik schlägt sich sowohl im fiktiv konstruierten Frauenbild des Protagonisten der Traumnovelle, als Projektion männlicher Fantasien und Wünsche, als auch in seiner Beziehung zu den Frauen nieder. 6 Medias in res und Tausendundeine Nacht Zunächst sei auf das Eingangskapitel eingegangen, das nicht nur das Frauenbild Albertines vorstellt, sondern auch als wesentliche Voraussetzung die Konstruktion der Frauenbilder induziert und entscheidende ‘Codes’ für die weitere Komposition des Textes und seine Entschlüsselung enthält. Die Handlung der Novelle setzt nicht unmittelbar mit der Szenerie einer bürgerlichen Familienidylle ein, sondern stellt medias in res beginnend einen Ausschnitt aus einer völlig anderen Welt dar: Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amgiad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte. Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbesäten Nachthimmel, und sein Blick - (T 9) Diesem Textausschnitt, der aus dem Märchen Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad aus den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht 4 stammt und unter anderem auch auf seinen orientalischen Charakter verweist, kommt eine leitmotivische Funktion auf mehreren Ebenen zu (Scheffel 1998: 181). Unter dem Gesichtspunkt der Märchenhaftigkeit hat Schnitzlers Text Anlass zu unterschiedlichen Deutungsversuchen gegeben. So wird in der Forschung gezeigt, wie das Märchen am Anfang viele Motive der nachfolgenden Handlung vorwegnimmt, wie z.B. die Nacht, die Einsamkeit, das Abenteuer, aber auch andere Märchenelemente. 5 Freytag (2007: 34) merkt an, dass der in den Mantel gehüllte Prinz auf das Thema des Verbergens, des Dalia Aboul Fotouh Salama 138 6 Auch Edward W. Said sieht die Imagination als den entscheidenden Aspekt bei der Entstehung des abendländischen Orientbildes: “The orient was almost a European invention and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences.” (Said 1978: 1) Verhüllens und Enthüllens, des Maskierens und Demaskierens weist, das in der Novelle entfaltet wird. Da dieses Märchen von Albertines und Fridolins Tochter aus einem Buch vorgelesen wird, beginnt die Novelle buchstäblich mit einem Buch, welches das Eintauchen in eine fiktive Welt ermöglicht, die anschließend mit der erzählten Wirklichkeit kontrastiert wird, womit zu Beginn eine Spiegelung des Märchenbuches durch das Buch, das der Leser vor sich hat, sowie des erzählten Märchens durch die erzählte Geschichte über Albertine und Fridolin zustande kommt (Freytag 2007: 34). Nicht nur das märchenhafte, sondern auch das orientalische Element, das in der Forschung lange Zeit unbeachtet blieb, verdient eine nähere Betrachtung, wobei bedacht werden muss, dass das europäische Orientkonzept lange Zeit aus der eigenen Imagination erwuchs und das ästhetische Orientbild weiterhin hauptsächlich auf überlieferten ‘Bildern’ und Assoziationen basierte (Syndram 1989: 324). 6 Das am Beginn der Traumnovelle platzierte Märchenfragment zeichnet mittels der Begriffe “Sklaven”, “Galeere”, “Prinz” und “Kalif” ein Orientbild, das mit den Erwartungen der europäischen Leserschaft korrespondiert (Werner 2006: 1). Der fremde Orient wird märchenhaft verklärt und ist unter anderem mit Weite, Ferne, Farben, Gerüchen, höchster Gefahr und ausschweifender Erotik bzw. einem verlockenden Ort konnotiert, wo Liebe losgelöst von den bürgerlichen Tabus existieren kann (Vorbrugg 2002: 157). Damit wird eine exotische Gegenwelt zu dem mit restriktiven Normen und bigotter Prüderie behafteten bürgerlichen Alltag entworfen (vgl. Werner 2006: 1). Im Gegensatz zur Deutung Scheffels, der wortwörtlich “von Inhalt und Herkunft des Märchens” (1998: 192) absieht, enthält meiner Ansicht nach nicht nur das am Anfang zitierte Märchen, sondern auch die Rahmenerzählung von Tausendundeine Nacht Indizien für den weiteren Inhalt und Verlauf der Traumnovelle, da Bezüge zwischen Shahriar und dem Protagonisten Fridolin in der Traumnovelle zu finden sind. Auch König Shahriar entwickelt, nachdem er seine Ehefrau in flagranti mit einem seiner Sklaven erwischt hat und sie daraufhin köpfen lässt, einen Komplex gegenüber Frauen und gerät in eine psychische Krise. Aus Rache an allen Frauen und in der festen Überzeugung, dass es keine treue Frau auf Erden gebe, heiratet er jeden Tag eine neue Frau, die er am nächsten Morgen töten lässt. Erst die kluge Scheherazade, die den König freiwillig heiratet, setzt diesem mörderischen Treiben ein Ende, indem sie ihm jede Nacht Geschichten erzählt. Scheffel (1998: 131) zufolge hat das Eingangsmärchen eine selbstreflexive Funktion, “[…] denn mit dem Zitat einer Geschichte in der Geschichte wird hier neben dem Erzählten und dem Erzählen auch das poetologische Prinzip der Erzählung gespiegelt” (Scheffel 1998: 192). Man könnte hinzufügen, dass das eingefügte Märchen paradoxerweise eine Art Rahmen bildet, der der Rahmenerzählung in Tausendundeiner Nacht analog ist und der sich, wie noch zu zeigen ist, am Ende der Traumnovelle schließen wird. Wie Freytag (2007: 34) zeigt, bricht der Märchentext ab mit der Erwähnung eines “Blicks” (T 9), der hinsichtlich seiner Richtung und Eigenart unbestimmt bleibt. Das hier durch den Abbruch hervorgehobene Motiv des Blicks bildet im weiteren Text ein zentrales Element, welches in der erzählten Geschichte über Albertine und Fridolin von entscheidender Bedeutung ist. Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 139 7 Fridolin und Albertine Fridolins und Albertines Beziehung als Paar und als Eltern im liebevollen Umgang mit ihrem Kind wird zunächst als harmonisch dargestellt: Und da sich nun auch Albertine zu dem Kind herabgebeugt hatte, trafen sich die Hände der Eltern auf der geliebten Stirn, und mit zärtlichem Lächeln, das nun nicht mehr dem Kinde allein galt, begegneten sich ihre Blicke. (T 9) Der Arzt Fridolin und seine Frau Albertine hatten “gerade noch vor Karnevalsschluß” (T 10) “ihr erstes Ballfest” (T 10) besucht. Nach dem Abendessen haben es die Eheleute, nachdem das gemeinsame Kind ins Bett gebracht wurde, sogar überaus “eilig, ihre vor dem Abendessen begonnene Unterhaltung über die Erlebnisse auf der gestrigen Redoute wiederaufzunehmen.” (T 9) Unter “dem rötlichen Schein der Hängelampe” (T 9) lassen sie ihre Karnevalserlebnisse vom Vorabend Revue passieren und erzählen von ihren kleinen Flirts. Hertha Krotkoff (1972: 75) weist darauf hin, dass anhand von konkreten Gegenständen, wie einem Buch und einer Hängelampe, der gewünschte Eindruck bürgerlicher Behaglichkeit vermittelt wird. Während Albertine zwar die Begegnung mit einem Unbekannten mit polnischem Akzent zunächst genießt, sie aber dann sofort wegen dessen unverschämter Beleidigung beendet, wartet Fridolin vergeblich auf zwei als rote Dominos verkleidete und maskierte Frauen, die ihm versprochen hatten, ihre Gesichter vor ihm zu enthüllen. Die Erinnerungen an die kleinen Flirts des Vorabends, “jene unbeträchtlichen Erlebnisse waren mit einem Mal vom trügerischen Scheine versäumter Möglichkeiten zauberhaft und schmerzlich umflossen.” (T 11) Obwohl eigentlich nichts Ernstes vorgefallen war, da die Verführung für beide in einem “enttäuschend, banale[n] Maskenspiel” (T 10), ja der Abend für das Paar in einem “schon lange nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück” (T 10) geendet hatte, machen sich Albertine und Fridolin gegenseitig Vorwürfe und zeigen ihre Eifersucht: Harmlose und doch lauernde Fragen, verschmitzte, doppeldeutige Antworten wechselten hin und her; keinem von beiden entging, daß der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt. Sie übertrieben das Maß der Anziehung, das von ihren unbekannten Redoutenpartnern auf sie ausgestrahlt hätte, spotteten der eifersüchtigen Regungen, die der andere merken ließ, und leugneten ihre eigenen weg. (T 11) Abgesehen von der Tatsache der Liebe zwischen Fridolin und Albertine einerseits und ihrem geregelten, von Arbeits- und Elternpflichten geprägten Ehealltag andererseits ist schon zu diesem Zeitpunkt offensichtlich, dass jeweils ein außereheliches Begehren besteht, welches in der Lage ist, das gewohnte gemeinsame Leben ins Wanken zu bringen: Denn so völlig sie einander in Gefühl und Sinnen angehörten, sie wußten, daß gestern nicht zum ersten Mal ein Hauch von Abenteuer, Freiheit und Gefahr sie angerührt; bang, selbstquälerisch, in unlauterer Neugier versuchten sie eines aus dem andern Geständnisse hervorzulocken und, ängstlich näher zusammenrückend, forschte jedes in sich […] nach einem Erlebnis, so nichtig es sein mochte, das für das Unsagbare als Ausdruck gelten und dessen aufrichtige Beichte sie vielleicht von einer Spannung und einem Mißtrauen befreien könnte, das allmählich unerträglich zu werden anfing. (T 11) Dalia Aboul Fotouh Salama 140 7 Den Blickkontakt bzw. das Sehen betrachtet Sigmund Freud (1972: 66f.) als die erotisch stimulierende Handlung für die sexuellen Triebe, die am häufigsten die libidinöse Erregung weckt. Dabei hatte er dem Schautrieb einen besonderen Status zugeschrieben: der Schautrieb ist in zweifacher Ausbildung vorhanden, in aktiver und in passiver Form, Sehen und Gesehen werden. Siehe dazu auch Goak (2009: 161-178). 8 Lacan (1996: 110) erweitert Freuds Theorie: Beim Sehen befindet man sich auf der Ebene des Begehrens, das sich an den Anderen richtet. “Das Objekt a” ist nach Lacan das Objekt des Begehrens, das wir im Anderen suchen. Aber “[d]as Objekt a” als Grund des Begehrens kann nie erreicht werden. So meint Lacan: “Das Objekt a” im Feld des Sichtbaren ist der Blick (ders.: 111). Der Blick setzt zwar das Begehren in Bewegung, aber er erfüllt es nie. “Generell ist das Verhältnis des Blicks zu dem, was man sehen möchte, ein Verhältnis des Trugs. Das Subjekt stellt sich als etwas anderes dar, als es ist und was man ihm zu sehen gibt, ist nicht was es zu sehen wünscht” (ebd.). Die gemeinsame Liebesnacht wird zugleich zu den alltäglichen Rollen der Protagonisten, wie Berufs-, Hausfrau- und Mutterpflichten, in Kontrast gesetzt: Ein grauer Morgen weckte sie allzu bald. Den Gatten forderte sein Beruf schon in früher Stunde an die Betten seiner Kranken; Hausfrau- und Mutterpflichten ließen Albertine kaum länger ruhen. So waren die Stunden nüchtern und vorbestimmt in Alltagspflicht und Arbeit hingegangen, die vergangene Nacht, Anfang wie Ende, war verblaßt. (T 10) Am Ende des Tages setzen Albertine und Fridolin ihr Gespräch über das Redoutenerlebnis fort. Mit der Unterhaltung über die vergangene gemeinsame Ballnacht entwickelt sich ein ernstes Gespräch, durch das das anfangs gezeigte harmonische Bild des Ehepaares aufgebrochen wird. Beide Ehepartner gestehen einander, im letzten Sommerurlaub jeweils einen anderen Menschen begehrt zu haben. Albertine, die “zuerst den Mut zu einer offenen Mitteilung” (T 12) hat, erzählt, wie ein dänischer Offizier, den sie im Hotel beobachtet hatte, eine starke Anziehungskraft auf sie ausübte: Ich hatte ihn schon des Morgens gesehen, […] als er eben mit seiner gelben Handtasche eilig die Hoteltreppe hinabstieg. Er hatte mich flüchtig gemustert, aber erst ein paar Stufen höher blieb er stehen, wandte sich nach mir um, und unsere Blicke mußten sich begegnen. Er lächelte nicht, ja, eher schien mir, daß sein Antlitz sich verdüsterte, und mir erging es wohl ähnlich, denn ich war bewegt wie noch nie. (T 12) Dieser Blickwechsel 7 berührt und erregt Albertine so sehr, dass sie aus dem Alltäglichen und Gewohnten jäh herausgerissen wird, sich daraufhin ihren Phantasien hingibt und “den ganzen Tag […] traumverloren am Strand” (T 12) liegt. In dieser Situation ist Albertine Subjekt des Blickes und nimmt damit die klassische männliche Position ein. Die Vornamen der Protagonisten, Albertine und Fridolin, reflektieren die Geschlechterdifferenz, indem sie diese invertieren: ‘Albertine’ lässt sich vom männlichen Namen ‘Albert’ und ‘Fridolin’ vom weiblichen ‘Frida’ ableiten (vgl. Freytag 2007: 37). Durch den Blick wird - Lacan zufolge (1996: 110ff.) 8 - das Begehren ausgelöst, gleichzeitig wird auch ein Mangel und Defizit bewusst. Die symbolische Ordnung und das kulturelle Gesetz ignorierend, wird Albertine durch ihren Blick auf ein Objekt des Begehrens, das ihr den Freiraum für Phantasien eröffnet, von ihren Gedanken sogar dazu geführt, beim gemeinsamen Abendessen, bei dem der Däne am Nachbartisch saß, “aufzustehen, an seinen Tisch zu treten und ihm zu sagen: Da bin ich, mein Erwarteter, mein Geliebter nimm mich hin.” (T 13) Aufgefordert von Albertine erzählt Fridolin “mit verschleierter und etwas feindseliger Stimme” (T 13) von seiner Begegnung mit einem jungen Mädchen, das er beim morgendlichen Spaziergang am Strand in demselben Urlaub beobachtet hatte: Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 141 Es war ein ganz junges, vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen mit aufgelöstem blonden Haar, das über die Schultern und auf der einen Seite über die zarte Brust herabfloß. Das Mädchen sah vor sich hin, ins Wasser hinab, […] sah auf und erblickte mich plötzlich. Ein Zittern ging durch ihren Leib, als müßte sie sinken oder fliehen. Doch […] entschloß sie sich innezuhalten, - und stand nun da, zuerst mit einem erschrockenen, dann mit einem zornigen, endlich mit einem verlegenen Gesicht. Mit einem Mal aber lächelte sie, lächelte wunderbar; es war ein Grüßen, ja ein Winken in ihren Augen, - und zugleich ein leiser Spott, […]. Dann reckte sie den jungen schlanken Körper hoch, wie ihrer Schönheit froh, und, wie leicht zu merken war, durch den Glanz meines Blicks, den sie auf sich fühlte, stolz und süß erregt. So standen wir uns gegenüber, vielleicht zehn Sekunden lang, mit halboffenen Lippen und flimmernden Augen. (T 14) Als sie jedoch im nächsten Moment Fridolin mit Kopfschütteln, einer gebieterischen Armbewegung und mit einem “Flehen in ihre[n] Kinderaugen” (T 14) abweist, fühlt er “unter ihrem letzten Blick eine solche, über alles je Erlebte hinausgehende Bewegung” (T 15) und wendet sich “einer Ohnmacht nahe” (T 15) von ihr ab. Durch den Blick des Mädchens wird Fridolin so sehr hypnotisiert und überwältigt, dass er im wahrsten Sinne des Wortes ‘ohne Macht’ zurückbleibt. Der weibliche Blick ist hier überlegener als der männliche Blick, da er mit dem Wunsch zu tun hat, zu verführen und damit vor allem Macht und Kontrolle über das Objekt auszuüben. Der Blick kann nämlich seine “Wirkgewalt” (Lacan 1996: 125) entfalten. Zudem wird Fridolin durch die Abweisung des Mädchens in Verlegenheit gebracht und bloßgestellt: Fridolins Wunsch durch Wahrnehmung und Ausdruck, Macht und Kontrolle über das Objekt auszuüben oder Liebe zu gewinnen, bleibt unerfüllt und führt stattdessen dazu, vom Objekt überwältigt und kontrolliert zu werden; Fridolin scheitert im perzeptiv-expressiven Machtkampf. (Freytag 2007: 39) Nach seinem Geständnis versucht Fridolin Albertine mit Schmeicheleien zu beschwichtigen. “»In jedem Wesen - glaub’ es mir, wenn es auch wohlfeil klingen mag -, in jedem Wesen, das ich zu lieben meinte, habe ich immer nur dich gesucht. Das weiß ich besser, als du es verstehen kannst, Albertine.«” (T 16) Albertine lässt sich jedoch nicht von seinen Worten beeindrucken und fordert mit einem “Blick” (T 16), der “kühl und undurchdringlich” (T 16) ist, Anerkennung ihres sexuellen Begehrens und Gerechtigkeit in der Behandlung der Frau im patriarchalischen Gesellschaftssystem mit den Worten: “»Und wenn es auch mir beliebt hätte, zuerst auf die Suche zu gehen? « […] Er ließ ihre Hände aus den seinen gleiten, als hätte er sie auf einer Unwahrheit, auf einem Verrat ertappt; sie aber sagte: »Ach, wenn ihr wüßtet«, und wieder schwieg sie.” (T 16) Fridolins Bild der hausfrau-mütterlichen Ehefrau wird durch Albertines allzu freiheitliches Bekenntnis weiblicher Sexualität und ihre Frage in seinen Grundfesten erschüttert. Die asymmetrische Geschlechterordnung, der Fridolin sich bisher nicht bewusst war oder deren Kenntnisnahme von ihm erfolgreich unterdrückt wurde, wird ersichtlich (Turpel 2010: 63). Eine weitere Erzählung Albertines, die noch tiefer in die Vergangenheit reicht, führt zu einer Steigerung von Fridolins Bloßstellung, denn Albertine erinnert sich an den Sommer vor ihrer Heirat am Wörthersee: “Und doch […] lag es nicht an mir, dass ich noch jungfräulich deine Gattin wurde. […] er könnte von mir in dieser Nacht alles haben, was er nur verlangte.” (T 16) Albertine spricht hier ihre Enttäuschung darüber aus, dass Fridolin, trotz ihres sehnlichsten Wunsches als fast 17-Jährige von ihm verführt zu werden, sich zurückgehalten und ihr am nächsten Morgen einen Heiratsantrag gemacht habe. Mit diesem Geständnis wird Fridolin in seiner Anpassung an die bürgerlichen Konventionen bzw. gesellschaftlichen Pflichten und Zwänge bloßgestellt: “Albertines Eingeständnis sexueller Wünsche, die nicht Dalia Aboul Fotouh Salama 142 9 Scheffel weist hier auf die Verlogenheit einer gesellschaftlichen Moral hin, die davon ausging, dass ein weibliches Wesen keinerlei körperliches Verlangen habe, solange es nicht vom Manne geweckt werde, was aber selbstverständlich nur in der Ehe erlaubt war. an die Institution der Ehe gebunden sind, überfordert den im Innersten schwachen, weniger von individuellen Gefühlen, denn von den gutbürgerlichen Konventionen seiner Zeit bestimmten Fridolin” (Scheffel 1998: 185). 9 Genauso wird ihm vorgeworfen, das wahre Wesen der Frauen, als eigenständige Personen mit individuellen sexuellen Gefühlen und Wünschen ausgestattet, zu verkennen. Albertine, die er zuvor nur als mütterliches Wesen angesehen hat, verwandelt sich vor seinen Augen in ein Sexualwesen und lässt damit sein bisheriges Rollenverständnis als Illusion erscheinen (vgl. Turpel 2010: 63). Freytag (2007: 41) konstatiert hier richtig, dass durch Albertines inhärenten Vorwurf bei Fridolin ein innerer Konflikt zwischen seinem Selbstbild, seinem Idealbild und Albertines Bild von ihm aufbricht, wobei seine Anpassung an die gesellschaftlichen und beruflichen Erwartungen und sein Pflichtgefühl nun in Widerspruch zu Albertines Erwartungen und auch zu seinen eigenen verborgenen Wünschen und Bedürfnissen geraten. Außerdem wird Fridolin mit einem Bild von Albertine konfrontiert, das ihn irritiert und verstört: Da Albertine ihr Begehren äußert und sich Objekte ihres Begehrens sucht, beansprucht sie für sich eine aktive Rolle, die dem traditionellen Frauenbild widerspricht. Sie zeigt sich als Subjekt des Begehrens und überschreitet damit die bürgerlichen Geschlechtsrollen mit ihrer Trennung von der Frau als Subjekt in der ehelichen Liebe oder als Objekt des männlichen Begehrens (Freytag 2007: 41). Sowohl in seiner Selbstwahrnehmung als auch in seiner Wahrnehmung von Albertine bloßgestellt und verstört, beginnt Fridolin seine nächtlichen Abenteuer, begleitet von der Vorstellung einer imaginierten Beziehung zwischen Albertine und dem Dänen. Hier überschneidet sich das Reale mit dem Imaginären. Eigentlich ist das empfundene Begehren des Dänen, womit ihn Albertine konfrontiert, nur Fantasie und Imagination geblieben. Trotzdem konstruiert diese Imagination seine Realität und löst bei ihm einen Konflikt aus, der sich in seinen traumähnlichen Erlebnissen verdichtet. Die einzelnen Stationen, in denen er verschiedenen Frauen begegnet, erweisen sich dabei als Spiegelung seines Konflikts, wobei seine selektive Wahrnehmung Rückschlüsse auf seelische Vorgänge zulässt. Anhand der Analyse der nun folgenden Frauenbilder soll aufgezeigt werden, dass Fridolins Wahrnehmung der verschiedenen Frauen auf der imaginativen Wahrnehmungsebene stattfindet und sowohl von inneren Wahrnehmungskonflikten als auch von seiner Realitäts- und Wirklichkeitserfahrung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen bestimmt ist. 8 Marianne Die erste Frau, der Fridolin in den traumähnlichen Ereignissen der Nacht gegenübertritt, ist Marianne, die Tochter des Hofrats, der bei Fridolin in Behandlung ist, und künftige Gattin eines Universitätsprofessors. Die “kärgliche Beleuchtung” (T 19) und die dämmrigen Lichtverhältnisse der Räume, die Fridolins nächtliche Bekanntschaften repetitiv mit den Frauen modalisieren und begleiten, verstärken den Eindruck eines im Halbdunkel visualisierten Traumes. Fridolin steigt im Haus des Patienten, zu dem er wegen eines nächtlichen Vorfalls Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 143 10 Zu der Geruchsatmosphäre siehe auch Krotkoff (1972: 82) 11 Krotkoff weist darauf hin, dass Marianne an die Figur Marie aus Schnitzlers Drama Der Ruf des Lebens erinnert. Beide treffen wir etwa im selben Alter und in gleichen äußeren Umständen an; sie opfern ihre Jugend der Pflege des kranken Vaters. Das Bühnenbild für den 1. Akt des Dramas liest sich wie eine ergänzende Beschreibung der hofrätlichen Wohnung in der Schreyvogelgasse, auch liegen beide Wohnungen im zweiten Stockwerk eines alten Hauses. Maries Schicksal ist das Ausbrechen aus einer Konvention, die ihren Lebensnerv zu lähmen droht. gerufen wird, der jedoch bereits verstorben ist, “die schlecht beleuchtete gewundene Treppe des alten Hauses […] hinauf” (T 18) und tritt “durch den unbeleuchteten Vorraum in das Wohnzimmer” (T 18), wo die “grün verhängte Petroleumlampe […] einen matten Schein über die Bettdecke” (T 18) wirft. Die Gestaltung der Atmosphäre im Haus des Hofrats, wie sie Fridolin wahrnimmt, findet hauptsächlich über das Geruchsempfinden statt. Eine Fülle an Gerüchen strömt auf ihn ein: “Es roch nach alten Möbeln, Medikamenten, Petroleum, Küche; auch ein wenig nach Kölnisch Wasser und Rosenseife” (T 18). Genauso erfolgt die Beschreibung Mariannes zunächst über das Geruchsempfinden, denn Fridolin empfindet den “süßlich-faden Geruch” (T 19) von Marianne, “die am Fußende des Bettes mit schlaff herabhängenden Armen, wie in tiefster Ermüdung” (T 18) saß. Die Atmosphäre der Wohnung, die über die Gerüche in ihrer altmodischen Alltäglichkeit erfasst wird, zeigt sich zugleich in Ergänzung zu der Personenbeschreibung. 10 Gleichzeitig deutet auch der “altväterliche Klingelton” (T 18), den Fridolin hört, als er die “Glocke” (T 18) betätigt, auf diese altmodische, aber auch patriarchalisch geprägte Atmosphäre hin. Fridolin nimmt dabei Mariannes Aussehen wahr: “Ihr Haar war reich und blond, aber trocken, der Hals wohlgeformt und schlank, doch nicht ganz faltenlos und von gelblicher Tönung, und die Lippen wie von vielen ungesagten Worten schmal.” (T 19) Fridolins Mangel oder Defizit, das ihm Albertine mit ihrer Beichte offenbart hat, sein Gefühl, ein Mann zu sein, der seiner Frau nicht genügt, um ihr sexuelles Begehren zu stillen, kommt bei Marianne, die verlobt ist, und von der er weiß, dass sie in ihn verliebt ist, verkehrt zum Ausdruck. In der Form der indirekten Rede heißt es: “Marianne sähe sicher besser aus, dachte er, wenn sie seine Geliebte wäre. Ihr Haar wäre weniger trocken, ihre Lippen röter und voller”. (T 20) Fridolin zeigt eher mittelmäßiges Interesse an Marianne, das aus Rachegedanken an seine Frau Albertine entspringt, denn auch als sie sich “mit einer gewissen Eindringlichkeit” (T 20) mit ihm über ihre Familienverhältnisse zu unterhalten beginnt, ist Fridolin gelangweilt; uninteressiert beobachtet er sie mit einem objektivierenden ärztlichen Blick und diagnostiziert: “Wie erregt sie spricht, dachte Fridolin, und wie ihre Augen glänzen! Fieber? Wohl möglich. Sie ist magerer geworden in der letzten Zeit. Spitzenkatarrh vermutlich.” (T 21) Genauso begegnet er ihr ohne wechselseitige Kommunikation oder gefühlvolle Anteilnahme, sondern wertet sie als emotional verwirrt ab: “Sie sprach immer weiter, aber ihm schien, als wüßte sie gar nicht recht, zu wem sie sprach; oder als spräche sie zu sich selbst.” (T 21) Schließlich bricht Marianne weinend vor Fridolin zusammen und gesteht ihm ihre unglückliche Liebe zu ihm: Ihre Augen wurden feucht, große Tränen liefen ihr über die Wangen herab […] Mit einem Mal war sie vom Sessel herabgeglitten, lag Fridolin zu Füßen, umschlang seine Knie mit den Armen und preßte ihr Antlitz daran. Dann sah sie zu ihm auf mit weit offenen, schmerzlich-wilden Augen und flüsterte heiß: “Ich will nicht fort von hier. Auch wenn Sie niemals wiederkommen, wenn ich Sie niemals mehr sehen soll; ich will in Ihrer Nähe leben.” (T 22) Doch auch hier schlüpft er wieder in die Rolle des Arztes, indem er sie zum Aufstehen auffordert und dabei denkt: “natürlich ist auch Hysterie dabei.” (T 23) 11 Durch die “Hysteri- Dalia Aboul Fotouh Salama 144 Marianne sehen wir in der gleichen Konvention bereits körperlich verwelkt und seelisch verkümmert. Die Ausgangssituation des Dramas Der Ruf des Lebens wurde also in negativer Variation in die Traumnovelle als Episode mit einer ganz bestimmten Funktion aufgenommen (vgl. Krotkoff 1972: 84) sierung des weiblichen Körpers” (Surmann 2002: 25) bzw. die Pathologisierung ihres Gefühlsausbruchs als Krankheit - Freuds Studien über Hysterie stellen die Pflege kranker Verwandter als den möglichen Verursacher jener Krankheit heraus (Sebald 1985: 122), wobei die Bürde eines derart aufopfernden Lebens sich auch an Mariannes Äußerem bemerkbar macht - sieht er eine Beruhigung, die ihm die Gewissheit geben soll, dass er sie als kranke Person nicht ernst zu nehmen braucht. Mariannes Ausbruch von Zuneigung erinnert ihn wieder an Albertine. Er ist der Ansicht, dass aufgrund der […] Aberkennung weiblicher Sexualität als wichtigen Bestandteil der Sexualmoral […] eine Frau keine sexuelle Lust verspüren [kann] und wenn sie es doch tut, muss ihre Entwicklung durch ein Trauma oder einen psychischen Defekt fehlerhaft verlaufen sein. Fridolin kann ein solches Abweichen von der Norm als Fehlverhalten nicht gutheißen und muss Marianne getreu seiner ärztlichen Pflicht als hysterisch und krankhaft verurteilen (Turpel 2010: 54). Gleichzeitig erhofft Fridolin sich damit, zum einen Stärke und Dominanz zu zeigen, zum anderen aber von Mariannes Gefühlsäußerungen nicht überwältigt zu werden und seine Selbstkontrolle zu bewahren. Ihre Abwertung zu einer kranken Patientin ist eine Form der Verachtung, durch die er sie in ihrer verzweifelten Liebe bloßstellt. Zwar fühlt Fridolin sich durch ihre Zuneigung geschmeichelt und begehrt, empfindet jedoch gleichzeitig Mitleid ihr gegenüber und versucht ihr Trost zu spenden, indem er sie auf die Stirn küsst, was jedoch von einem Gefühl der Lächerlichkeit begleitet wird: “Er hielt Marianne in den Armen, aber zugleich etwas entfernt von sich, und drückte beinahe unwillkürlich einen Kuß auf ihre Stirn, was ihm selbst ein wenig lächerlich vorkam.” (T 23) Im selben Augenblick, in dem er sich an einen Roman erinnert, in dem ein Knabe am Totenbett der Mutter von deren Freundin verführt wird, denkt Fridolin an Albertine und verspürt starke Eifersucht dem Dänen gegenüber. Dieses zeigt, wie unter anderem Kenntnisse aus früherer Lektüre als Vorbild für sein eigenes Leben herangezogen werden. Wie um sich an Albertine zu rächen, überwindet er sich zur körperlichen Nähe zu Marianne: Er zog Marianne fester an sich, doch verspürte er nicht die geringste Erregung; eher flößte ihm der Anblick des glanzlos trockenen Haares, der süßlich-fade Geruch ihres ungelüfteten Kleides einen leichten Widerwillen ein. Nun ertönte die Glocke draußen, er fühlte sich wie erlöst […] und ging öffnen. (T 23) Fridolins durch Rachegedanken motivierte körperliche Annäherung an Marianne scheitert. Die Begegnung mit Marianne, einer Doppelgängerin Albertines, die auch ihrem Verlobten untreu ist, indem sie ihn ähnlich wie Albertine mit ihrem Begehren konfrontiert und ihre eigene Sexualität offen demonstriert, weckt seine Erinnerungen an Albertine erneut und verstärkt seine Eifersucht und seinen Hass ihr gegenüber. 9 Die Dirne Mizzi Von seinem Heimweg abgekommen, macht Fridolin seine Begegnung mit einer weiteren Frau, der Prostituierten Mizzi, die ihn zum Mitkommen auffordert. Wie um sich Mut ein- Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 145 12 Der Name ‘Mizzi’ (oder ‘Mizi’) findet sich häufig bei Schnitzler, wie z.B. in seinem Werk Liebelei oder seinem Einakter Komtesse Mizzi. Zu denken ist auch an Marie Glühmer (1873-1923), Schnitzlers langjährige Geliebte, die nicht nur von ihm ‘Miz[z]i’ genannt wurde. Er trennte sich 1893 von ihr, weil sie ihm untreu geworden war, und beschimpfte sie in einem der letzten Briefe (22. April 1893) als “elende Dirne”, die einen “heimtückischen hurenhaften Betrug” an ihm begangen habe (Schnitzler 1981: 187; vgl. Heizmann 2006: 21). zuflößen, erinnert er sich an den Ausspruch eines Bekannten aus der Studentenzeit: “Es bleibt immer das Bequemste und die Schlimmsten sind es auch nicht.” (T 29) Die erotische Anziehung dieses Mädchens, das “ein zierliches, noch ganz junges Geschöpf, sehr blaß mit rotgeschminkten Lippen” (T 28) ist und dem er unwillkürlich folgt, wird von seiner Angst vor einer Ansteckung und der damit verbundenen Todesgefahr überschattet: “Könnte gleichsam mit Tod enden, dachte er, nur nicht so rasch! Auch Feigheit? ” (T 28) Als er in ihr Zimmer eintritt, in dem “eine Öllampe brannte” (T 29), deren Docht sie weiter aufdreht, um das Zimmer zu erhellen, visualisiert er den Raum in seiner Wahrnehmung als “ganz behagliche[n] Raum, nett gehalten.” (T 29) Auch sein Geruchsempfinden empfindet keine Abwehr, denn “jedenfalls roch es da viel angenehmer als zum Beispiel in Mariannes Behausung.” (T 29) Obwohl Fridolin nun im Licht erkennt, dass Mizzis “Lippen gar nicht geschminkt, sondern von einem natürlichen Rot gefärbt waren” (T 29), sie also natürlich hübsch und attraktiv auf ihn wirkt, weist er ihre Verführungsversuche zurück: Sie setzte sich auf seinen Schoß und schlang, wie ein Kind den Arm um seinen Nacken […] Sie suchte mit ihren Lippen die seinen, er bog sich zurück, sie sah ihn groß, etwas traurig an, ließ sich von seinem Schoß herunter gleiten. Fast tat es ihm leid, denn in ihrer Umschlingung war viel tröstende Zärtlichkeit gewesen. (T 30) Auch hier ist wieder das Sehen mit Begehren verbunden, das Fridolin offenbart wird. Mizzi ist siebzehn Jahre alt, also in dem gleichen Alter, in dem Albertine war, als Fridolin sie kennengelernt hatte, wobei auch die “Zärtlichkeit” (T 30), die Fridolin in ihrer Umarmung empfindet, an Albertine erinnert. Genauso handelt es sich bei dem Namen “Mizzi” 12 (T 29) um die österreichische Koseform von Maria, womit hier eine Beziehung zu dem Namen ‘Marianne’ gesetzt wird. Lukas (1996: 104) macht darauf aufmerksam, dass ‘Mizzi’ hier als “Gattungsname einer Prostituierten fungiert”, wie überhaupt die Namen der Fridolin begegnenden Frauen (von der bürgerlichen Marianne über die Prostituierte Mizzi und die ‘Pierrette’ bis hin zu der schönen Unbekannten mit dem nicht nachprüfbaren und wahrscheinlich falschen Adelsnamen) immer stärker verfremdet werden. Mizzi zeigt sich Fridolin gegenüber zwar verständnisvoll und unterwürfig, wie in der folgenden Aussage deutlich wird: “Na ja, so ein Mann, was der den ganzen Tag zu tun hat. Da hat’s unsereiner leichter.” (T 29) Trotzdem zeigt auch sie genauso wie ihre Vorgängerinnen ihm gegenüber offen ihr sexuelles Begehren. In Mizzi begegnet Fridolin einer weiteren Doppelgängerin Albertines, diesmal als Prostituierte. Deutlich wird hier in diesem Frauenbild eine weitere Variante des Weiblichen, nämlich die der ‘unanständigen Frau’ bzw. der Prostituierten, die im Gegensatz zur ‘anständigen Frau’, der Mutter und Hausfrau, steht, “denn indem Albertine sich ihm gegenüber mit einem aktiven sexuellen Begehren gezeigt hat, zerfällt sie für ihn in die stereotypen Bilder des Weiblichen von ‘Engel’ und ‘Hure’” (Freytag 2007: 49). Fridolin wehrt jegliche Verführungsversuche von Mizzi ab, zunächst aus Angst sich mit einer Krankheit anzustecken, was Mizzi auch gleich erkennt: “Du fürchtest dich halt […] schad.” (T 30) Fridolin, der sich durch Mizzis Blick und ihre Worte bloßgestellt fühlt, Dalia Aboul Fotouh Salama 146 13 Hier stimmt Schnitzler mit Freud überein, der in seinem Aufsatz über die Objektwahl zwei Züge nennt, die zu den Bedingungen eines bestimmten Typus der männlichen Objektwahl gehören: die mehr oder minder stark ausgeprägte ‘Dirnenhaftigkeit’ der Geliebten und die Absicht, diese zu retten. Vgl. Sigmund Freud: “Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne” in Freud (1969: 66-77.) Insofern lässt sich nicht nur Mizzi diesem Typus zuordnen; auch die anderen Frauen, denen Fridolin begegnet, weisen diese Züge auf. 14 Pierrette ist das weibliche Gegenstück zu Pierrot in der Commedia dell’Arte. Neben Jacques Offenbach (Pierrette et Jacquot, 1876) hat Schnitzler selbst die Figuren Pierrot und Pierrette als musikalische Pantomimen auf die Bühne gebracht (Die Verwandlungen des Pierrot 1908 und Der Schleier der Pierrette 1910, vgl. Heizmann 2006: 31). versucht nun, in die Rolle des Verführers zu schlüpfen, bzw. “dem sein ‘Casanova-Wunschbild’ entgegenzusetzen und Mizzi zu verführen.” (Freytag 2007: 49). “Er zog sie an sich, er warb um sie, wie um ein Mädchen, wie um eine geliebte Frau. Sie widerstand, er schämte sich und ließ endlich ab.” (T 30) Die Doppelung Mädchen/ geliebte Frau verweist auf das Gespräch zwischen Fridolin und Albertine, in dem das Thema der Jungfräulichkeit vor der Ehe eine wichtige Rolle gespielt hatte. Letztendlich ist es jedoch Mizzi, die die Oberhand und Macht behält, denn sie weist Fridolin dann doch aus dem Gefühl der Verantwortung mit der Begründung ab: “Man kann ja nicht wissen, irgendeinmal muß es ja doch kommen. Du hast ganz Recht, wenn du dich fürchten tust. Und wenn was passiert, dann möchtest du mich verfluchen.” (T 31) Ähnlich wie zuvor bei Marianne versucht Fridolin seine Selbstbeherrschung zu bewahren, indem er die Erregung, die ihn zu überwältigen drohte, verleugnet. Gleichzeitig flüchtet er sich mit einer abschätzenden Bemerkung aus seiner Bloßstellung wiederum in die Rolle des Arztes und Gönners, der sich um Mizzi als soziale Randperson aus ethischen Gründen kümmern muss, weshalb er sich die Hausnummer der Dirne einprägt, “um in der Lage zu sein, dem lieben armen Ding morgen Wein und Näschereien heraufzuschicken.” (T 31) 13 Die Unterscheidung zwischen einer Dirne und einer anständigen Frau wird durch Fridolins Verhalten aufgehoben (Voigt 2004: 123), als er beim Abschied “unwillkürlich” (31) ihre Hand küsst: “Sie sah erstaunt, fast erschrocken zu ihm hinauf, dann lachte sie verlegen und beglückt, »Wie einer Fräuln«, sagte sie.” (T 31) Die soziale und moralische Aufwertung, die in der Geste des Handkusses liegt, zeigt, dass Fridolin diese Grenzen für einen kurzen Moment überspringt bzw. dass in seiner Wahrnehmung diese Frauenbilder ineinander fließen. Auch das “natürliche[…] Rot” (T 29) ihrer Lippen weist das Dirnenhafte von ihr ab. Wenn Fridolin am zweiten Tag denkt: “war dieses junge Mädchen nicht im Grunde von allen, mit denen seltsame Zufälle ihn in der letzten Nacht zusammenführten, das anmutigste, ja geradezu das reinste gewesen? ” (T 85), so zeigt das noch eine weitere Verwischung der Grenzen zwischen ‘anständigen’ und ‘unanständigen’ Frauen (vgl. Voigt 2004: 123). 10 Pierrette Nach seiner Begegnung mit Mizzi irrt Fridolin weiter durch die nächtlichen Straßen von Wien und kehrt in ein Kaffeehaus ein, wo er Nachtigall, einen früheren Studienkollegen, wiedertrifft, der ihm die Parole für den Eintritt in den Maskenball einer Geheimgesellschaft verschafft, für die sich Fridolin allerdings verkleiden muss. Fridolin begegnet beim Maskenverleiher Gibiser dessen Tochter, die als Pierrette 14 verkleidet ist. Auch sie wird zunächst wieder über die Gerüche des Kostümfundus eingeführt. “Es roch nach Seide, Samt, Parfüms, Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 147 15 Totentänze kennt man seit dem späten Mittelalter sowohl als allegorische Dichtung als auch in der darstellenden Kunst: Der personifizierte Tod tritt mitten in das Leben hinein und sorgt damit für soziale Gleichheit; oft führt er mit den Personen, die zum Tode bestimmt sind, gleich welchen Standes oder Geschlechts, einen makabren Reigen auf (Heizmann 2006: 27f.). 16 Femrichter: (aus ahd. veme=Strafe). Die Femgerichte waren im Mittelalter ein Instrument der nichtadligen Gerichtsbarkeit, weshalb sie auch als Freigerichte bezeichnet wurden. Die nichtöffentlichen ‘heimlichen’ Femgerichte urteilten über alle todeswürdigen Verbrechen. Wer der Ladung nicht folgte, wurde ‘verfemt’, d.h. geächtet. Da die Femgerichte gegen Ende des Mittelalters ihre Macht immer häufiger missbrauchten, gerieten sie in einen zweifelhaften Ruf (vgl. Heizmann, 2006: 29). 17 “Duften bezeichnet bei Schnitzler den Reiz des Sexuellen schlechthin - es verheißt erotische Verlockung und Freiheit, es verheißt Jugend, Blüte und Frische, einen Moment beglückender Dauer im Strom unweigerlichen Verfalls, das Fluidum des Lebens” (Weinzierl 1994: 178ff.). Staub und trockenen Blumen.” (T 41) Der Kostümfundus erinnert an den Karnevalsball, den Fridolin und Albertine zusammen besuchten. Gleichzeitig wird auch mit ihm der kommende Maskenball eingeführt: Rechts und links hingen Kostüme aller Art; auf der einen Seite Ritter, Knappen, Bauern, Jäger, Gelehrte, Orientalen, Narren, auf der anderen Hofdamen, Ritterfräulein, Bäuerinnen, Kammerzofen, Königinnen der Nacht. Oberhalb der Kostüme waren die entsprechenden Kopfbedeckungen zu sehen. (T 41) Mit Fridolins Wahrnehmung der Kostüme als Tote - “es war Fridolin zumute, als wenn er durch eine Allee von Gehängten schritte, die im Begriffe wären, sich gegenseitig zum Tanz aufzufordern” (T 41) - wird auf den kommenden Maskenball der Geheimgesellschaft und die damit verbundene Bedrohlichkeit und Todesgefahr hingewiesen. Die Totentanz-Metapher, 15 die für den ganzen nächtlichen Reigen Gültigkeit hat, ist hier ausdrücklich genannt (Schrimpf 1963: 181). Den Raum nimmt Fridolin zunächst als verschwommen wahr, bedingt durch den Wechsel zwischen hell und dunkel: “aus schwimmendem Dunkel blitzte es silbern und rot; und plötzlich glänzten eine Menge kleiner Lämpchen zwischen offenen Schränken eines engen, langgestreckten Gangs, der sich rückwärts in Finsternis verlor.” (T 41) Als vom Ende des langen Ganges her ein “gläsernes Geklirr” (T 41) ertönt, Gibiser den Lichtschalter betätigt und “sich sofort bis zum Ende des Gangs […] eine blendende Helle ergoß” (T 41), erblickt er Gibisers als Pierrette verkleidete Tochter, in Begleitung von kostümierten Männern, “zwei Femrichter[n] in rotem Talar.” (T 41) Auch mit den Femrichtern wird auf die Todesthematik verwiesen. 16 Gibisers Tochter, die als “ein zierliches helles Wesen […] ein anmutiges, ganz junges Mädchen, fast noch ein Kind, im Pierrettenkostüm mit weißen Seidenstrümpfen” (T 41f.) beschrieben wird, ist eine erneute erotische Begegnung für Fridolin. Fridolin fühlt sich von dem Mädchen, das sich aus Angst vor seinem wütenden Vater in seine Arme wirft, erotisch angezogen: Die Kleine preßte sich an Fridolin, als müßte er sie schützen. Ihr kleines schmales Gesicht war weiß bestäubt, mit einigen Schönheitspflästerchen bedeckt, von ihren zarten Brüsten stieg ein Duft von Rosen und Puder auf; - aus ihren Augen lächelte Schelmerei und Lust. (T 42) Vom Alter her ähnelt diese Kindfrau dem Mädchen vom Strand in Dänemark. Aber auch die siebzehnjährige Dirne Mizzi verhielt sich “wie ein Kind” (T 30). Wie bei Marianne, deren Geruch Fridolin eher einen “leichten Widerwillen” (T 23) einflößte, und bei Mizzi, bei der es “jedenfalls […] viel angenehmer als in Mariannes Behausung” (T 29) roch, spielt auch hier das Geruchsempfinden eine wichtige Rolle, wobei hier der Duft auf Fridolin eine erotisierende Wirkung hat. 17 Zu beobachten ist, dass dieses junge Mädchen hier nach dem Kostüm Dalia Aboul Fotouh Salama 148 18 Der Schleier der Pierrette ist die schwarze Variante einer Commedia-dell’Arte-Geschichte: Die Pantomime erzählt von Pierrette, die mit Arlecchino vermählt wird, obwohl sie Pierrot liebt. Dieser begeht Selbstmord, als ihn die Geliebte im Brautkleid mit Myrtenkranz und Schleier aufsucht und ihn bittet zusammen mit ihr Gift zu nehmen, um Selbstmord zu begehen. Während Pierrot das Gift zu sich nimmt, entscheidet sich Pierrette in letzter Minute anders. Den toten Pierrot zurücklassend kehrt Pierrette zur ausgelassen feiernden Hochzeitsgesellschaft zurück, und hat - nur für sie sichtbar - die Erscheinung Pierrots mit ihrem Hochzeitsschleier. Als Arlecchino an seiner Braut den Schleier vermisst, führt sie ihn in Pierrots Zimmer. Von Arlecchino mit dem Toten eingesperrt, vollzieht sich eine Art mystischer Vereinigung. Im Wahn (wahnsinnig geworden) umtanzt Pierrette den Geliebten, bis ihre Kräfte schwinden und sie an seiner Seite tot niedersinkt. 19 Siehe dazu: Schuchter (2009). 20 Herbert Knorr (1988: 196) sieht in dieser Bemerkung einen Beleg für die “spielerische Typenhaftigkeit der Gestalten” in der Traumnovelle, die zeige “dass die Individuen dieser Gesellschaft ein personales, unverwechselbares Eigensein nicht mehr kennen.” benannt ist, das sie trägt. Der Name wird zunächst nur als Gattungsname “die Pierrette” (T 42) verwendet, dann aber als Eigenname benutzt: “Pierrette schwebte die Wendeltreppe hinab” (T 43). Als Name stellt ‘Pierrette’ gegenüber ‘Marianne’ und ‘Mizzi’ eine weitere Verfremdung dar (Lukas 1996: 104f.). Deutliche Bezüge auf die damals dem Publikum wohlbekannte musikalische Pantomime Schnitzlers mit dem Titel Der Schleier der Pierrette (1910) sind hier zu erkennen. Es geht um eine untreue Frau, die ihren Liebsten in den Tod treibt, bzw. dazu führt Selbstmord zu begehen und zum Schluss selber wahnsinnig wird. 18 Als “wahnsinnig” (T 44) und als ein “verworfenes Geschöpf” (T 43) wird auch Pierrette von ihrem Vater bezeichnet, was Fridolin irritiert: “Ich hörte, wie Sie die Kleine vorher als wahnsinnig bezeichneten - und jetzt nannten Sie sie ein verworfenes Geschöpf. Ein auffallender Widerspruch, Sie werden es nicht leugnen.” “Nun, mein Herr”, entgegnete Gibiser mit einem Ton wie auf dem Theater, “ist der Wahnsinnige nicht verworfen vor Gott? ” Fridolin schüttelte sich angewidert. (T 44) Die Gleichsetzung von Verworfenheit und Wahnsinn impliziert eine Form von Weiblichkeit, die ein ausschweifendes sexuelles Verhalten in Zusammenhang mit Wahnsinn stellt, wobei die ‘femme fragile’ und die ‘femme fatale’ hier die zwei prototypischen weiblichen Wahnsinnsfiguren sind. 19 Die Gestalt Gibisers wird mit einem Attribut der orientalischen Märchenwelt versehen, denn er trägt eine türkische Mütze mit einer Troddel. Außerdem wird die Gestalt Gibisers mit komischer Theatralik ausgestattet: Gibiser sieht aus “wie ein lächerlicher Alter auf dem Theater” (T 40) und spricht am Ende der Episode “mit einem Ton wie auf einem Theater” (T 44) (vgl. Krotkoff 1972: 87). Die Theatermetaphorik verweist darauf, dass der Maskenverleiher eine lächerlich erscheinende, aber geheimnisvolle Rolle spielt, 20 was wiederum auf den kommenden Maskenball und die damit verbundene geheime Gesellschaft verweist. Fridolins Begehren, das offensichtlich jungen, lolitahaften Mädchen gilt, zeigt sich zudem in seiner Selbsterkenntnis: “Am liebsten wäre er dageblieben oder hätte die Kleine gleich mitgenommen, wohin immer - und was immer daraus gefolgt wäre. Sie sah lockend und kindlich zu ihm auf, wie gebannt.” (T 42) Bedingt durch die Anwesenheit des Vaters muss er jedoch sein sexuelles Begehren unterdrücken. Gleichzeitig wird sein Beschützerinstinkt angeregt, denn er empfindet es “wie eine Verpflichtung zu bleiben und der Pierrette in einer drohenden Gefahr beizustehen.” (T 43) Auf seinem Weg zum Maskenball denkt Fridolin nochmals an Pierrette. Fridolin “spürte […] immer noch den Geruch von Rosen und Puder, der von Pierrettens Brüsten zu ihm aufgestiegen war. […] Ich hätte nicht fortgehen sollen, vielleicht nicht dürfen.” (T 45) Dieses Zitat bringt die Zweideutigkeit zwischen kindlicher Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 149 Unschuld und Lasterhaftigkeit des Mädchens einerseits und Beschützerinstinkt und Begehren Fridolins andererseits auf den Punkt. 11 Die Unbekannte Der Weg zum geheimen Maskenball führt Fridolin, maskiert mit einem Mönchskostüm, aus der Stadt heraus. Als Fridolin in die Villa, in der der geheime Maskenball stattfindet, eintritt, befindet er “sich in einer schmalen weißen Vorhalle” (T 47), die ihn dann weiterführt in einen “dämmerigen, fast dunklen hohen Saal, der ringsum von schwarzer Seide umhangen war” (T 47), mit “sechzehn bis zwanzig Personen” (T 47), mit “Masken, durchaus in geistlicher Tracht” (T 47). Auch hier nimmt er den Raum durch Gerüche wahr. So heißt es: “Ein fremdartiger, schwüler Wohlgeruch, wie von südländischen Gärten umfing ihn” (T 47). In dieser Wahrnehmung kulminieren die bisherigen olfaktorischen Affekte (Lukas 1996: 104). Fridolins Wahrnehmung der Raumatmosphäre wird hier außerdem noch durch den Gehörsinn ergänzt: “Harmoniumklänge” (T 47) einer “altitalienischen geistlichen Arie” (T 48), begleitet von “eine[r] weibliche[n] Stimme” (T 48), “tönten durch den Raum” (T 48). Während Fridolin zwischen diesen “Mönche[n] und Nonnen” (T 47) “so harmlos als möglich” (T 47) umhergeht, streift eine der “Nonnen” (T 47) seinen Arm. “Wie die andern hatte auch sie um Stirn, Haupt und Nacken einen schwarzen Schleier geschlungen, unter den schwarzen Seidenspitzen der Larve leuchtete ein blutroter Mund.” (T 47) Mit dem “blutrote[n] Mund” (T 47) der Unbekannten, später heißt es auch “ihrem rotglühenden Mund” (T 52), ist die höchste Steigerungsstufe nach der blassen Marianne und dem natürlichen Rot von Mizzis Lippen erreicht, wobei “ihr blutroter Mund […] geisterhaft auf das Dirnenerlebnis” (Schrimpf 1963: 181) zurückdeutet. Als ihm eine weibliche Stimme zuflüstert, sich vom Ball zu entfernen, da er sonst einer Gefahr ausgesetzt sei, wendet er sich nach der Stimme um: “Er sah den blutroten Mund durch die Spitzen schimmern, dunkle Augen sanken in die seinen.” (T 48) Erotisch angezogen von den Augen und dem blutroten Mund, weigert er sich, ihren gutgemeinten Rat zu befolgen: “»Ich bleibe«, sagte er in einem heroischen Ton, den er nicht an sich kannte und wandte das Antlitz wieder ab.” (T 48) Da zunächst das Äußere der Maskenballteilnehmer durch ihre Verkleidung in Mönchskutten und Nonnengewänder geistlich dominiert ist, wird auch dazu die passende kirchliche Begleitmusik gespielt: Der Gesang schwoll wundersam an, das Harmonium tönte in einer neuen, durchaus nicht mehr kirchlichen Weise, sondern weltlich, üppig, wie eine Orgel brausend. Auch die Gesangsstimme war indes aus ihrem dunklen Ernst über einen kunstvoll ansteigenden Triller ins Helle und Jauchzende übergegangen, statt des Harmoniums aber hatte irdisch und frech ein Klavier eingesetzt […] und die vorher so edle weibliche Frauenstimme hatte sich in einem letzten grellen, wollüstigen Aufschrei gleichsam durch die Decke davongeschwungen in die Unendlichkeit. (T 48f.) Der Übergang von den Kirchentönen des Harmoniums zu den “weltlich[en]” (T 48), “üppig[en]” (T 48), “irdischen” (T 48) und “frechen” (T 48) Klängen des Klaviers sowie von der “edle[n] Frauenstimme” (T 48) zu dem “letzten grellen wollüstigen Aufschrei” (T 48), zeigt einen Szenenwechsel von kirchlich bestimmten zu weltlichen Attributen. Zu Beginn des Maskenballs befinden sich in dem “dämmrigen” (T 47) Saal ausschließlich “Mönche” (T 48), während “der gegenüberliegende Raum” (T 49), in dem sich die “Nonnen” (T 47) befinden, “aber in blendender Helle” (T 49) erstrahlt: “und Frauen standen unbeweglich da, alle mit Dalia Aboul Fotouh Salama 150 dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt.” (T 49) Hier findet eine Wiederholung der Opposition hell/ dunkel statt, die der räumlich-zeitlichen Organisation eines Schauspiels mit Bühne/ Zuschauer ähnelt. Die Gegenüberstellung zwischen diesen hell beleuchteten Frauen und den sie aus dem dunklen Saal beobachtenden Männern stellt einen imaginären Akt und die Relation von Sehen und Gesehenwerden dar, die sich - wiederum dem Theater ähnlich - durch die Gegenüberstellung von Fiktion und Realität konstituiert. Der Gegensatz verhüllt (maskiert)/ nackt führt dazu, dass die erotische Anziehungskraft der nackten Frauenkörper durch das Höchstmaß an Verhüllung des Gesichts potenziert wird: Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; - und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. (T 49) Beim Anblick der nackten Frauenkörper und der maskierten Gesichter erlebt Fridolin ein “hypnotisierendes, bemächtigendes, lähmendes Schauspiel […] als eine überwältigende Mischung von Lust und Schmerz, von Wut und Sehnsucht.” (Wurmser 1990: 262f.) Auch Rey (1968: 111) betont die sadistischen und masochistischen Züge der geheimen Veranstaltung und sieht in dem Zweck der ganzen Veranstaltung nicht jene schrankenlose erotische Erfüllung, die Albertine in ihrem Traum genießt, sondern vielmehr eine rasende Steigerung der Begierde, der die natürliche Erfüllung versagt bleibt, bis gleichsam ein Siedepunkt erreicht wird, in dem Lust und Qual verschmelzen. Ähnlich wie beim Mädchen am dänischen Strand, wo er durch den Anblick überwältigt und ‘ohnmächtig’ zurückbleibt, verkehrt sich Fridolins Überwältigung nun in Angst, denn gebannt und hypnotisiert von dem Anblick, der sich ihm bietet, zieht er sich, statt sich wie die anderen Männer auf die Frauen zu stürzen, “einigermaßen ängstlich in die entfernteste Ecke” (T 49) zurück und sieht von da aus, “daß von einer anderen Ecke her ihn zwei Edelleute scharf ins Auge gefaßt hatten und er vermutete, daß das Geschöpf an seiner Seite - es war knabenhaft und schlank gewachsen - zu ihm gesandt war, ihn zu prüfen und zu versuchen.” (T 50) Obwohl sich Fridolin der Gefahr bewusst ist, jederzeit aufgedeckt zu werden, kann er der unbekannten Frau, die ihn bittet keine Fragen zu stellen und ihn erneut ermahnt zu fliehen, nicht widerstehen und bittet sie stattdessen um ein Wiedersehen. Die Unbekannte, die mit einem “Zittern” (T 50), das “durch ihren nackten Leib” (T 50) ging “und ihm fast die Sinne umnebelte” (T 50), reagiert, erinnert wiederum an das Mädchen vom dänischen Strand, das ebenfalls mit einem “Zittern” (T 14) reagiert hatte. Deutlich sind nun aber auch die Ähnlichkeiten mit Albertine zu erkennen, wobei Kluge (1982: 328) auf die Verschiebung in der Frauengestalt aufmerksam macht: […] an die Stelle des jungen Mädchens, (zuerst lockt ihn auch ein knabenhaft und schlank gewachsenes Geschöpf), tritt eine reifere Frau in Albertines Alter. Wie das Wunschobjekt seines Begehrens somit mit Albertine verschmilzt, okkupiert er quasi die Stelle des Dänen, den er als ihr Geliebter verdrängt, um zugleich seine und seiner Frau Ehre beschützen zu können. Es geschieht eine Wunschvorstellung: Er begegnet einer erträumten, gleichsam ‘idealen’ Albertine: Sie kränkt ihn nicht als Mann und brüskiert ihn nicht als Gatte; sie begehrt ihn und respektiert seine männliche und bürgerliche Ehre. Er ist vor sich selbst und ihr gegenüber einmal kein Versager. Genauso wie Albertine nach ihrer Erzählung über ihre Begegnung mit dem Dänen zu ihm gesagt hatte: “Frage mich nicht weiter” (T 13), ermahnt auch die maskierte Frau Fridolin, zu den Ereignissen des Maskenballs keine Fragen zu stellen - “Frage nicht” (T 50) (vgl. Freytag Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 151 2007: 62). Benebelt von seinen Sinnesregungen versucht er die Unbekannte mit den Worten zu umarmen: “Es kann nicht mehr auf dem Spiel stehen als mein Leben, und das bist du mir in diesem Augenblick wert.” (T 50) Die überreizten Sinne Fridolins lassen ihn die Gefahr geringschätzen; er zeigt jetzt die Bereitschaft, sein Leben in die Waagschale zu werfen, etwas, wovor er zuvor noch zurückgeschreckt war, wobei ihm die maskierte unbekannte Frau in ihrer Unpersönlichkeit als Projektionsfläche dient. Mit der Maske als Schutz bzw. als Tarnkappe versucht er nun, als furchtloser Ritter aufzutreten, der bereit ist, sein Leben für eine von ihm imaginierte Leidenschaft, von der Todesgefahr ausgeht, zu opfern bzw. aufs Spiel zu setzen. Freytag (2007: 62) sieht darin einerseits die Phantasie einer märchenhaften Liebe, andererseits aber auch einen Verweis auf die Todesmetaphorik, sowie auch auf Ängste, denen er zu widerstehen versucht, worauf auch sein Gefühl der Entfremdung hindeutet, bei dem er sein eigenes Lachen wie nicht zu ihm gehörend wahrnimmt: “Er lachte und hörte sich, wie man sich im Traume hört.” (T 51) Und wenig später heißt es: “Er lachte wieder und kannte sein Lachen nicht.” (T 51) Fridolin ist ein anderer, steht außerhalb seines Körpers und ist besessen von seinem Begehren, was ihn dazu führt, sich in eine überlegenere, machtvolle Position zu versetzen, indem er die Unbekannte als Prostituierte herabwürdigt und den Maskenball als eine Veranstaltung einer Massenorgie definiert, die ihm gestattet, sich ausnahmslos mit ihr zu vergnügen: “Ich sehe ja, wo ich bin. Ihr seid doch nicht nur darum da, ihr alle, damit man von euerm Anblick toll wird! Du treibst nur einen besondern Spaß mit mir, um mich völlig verrückt zu machen.” “Es wird zu spät, geh! ” Er wollte sie nicht hören. “Es sollte hier keine verschwiegenen Gemächer geben, in die Paare sich zurückziehen, die sich gefunden haben? Werden alle, die hier sind, mit höflichen Handküssen voneinander Abschied nehmen? Sie sehen nicht danach aus.” Und er wies auf die Paare, die nach den rasenden Klängen des Klaviers in dem überhellen, spiegelnden Nebenraume weitertanzten, glühende, weiße Leiber an blaue, rote, gelbe Seide geschmiegt. Ihm war, als kümmerte sich jetzt niemand um ihn und die Frau neben ihm; sie standen in dem fast dunklen Mittelsaal ganz allein. “Vergebliche Hoffnung”, flüsterte sie. “Es gibt hier keine Gemächer, wie du sie dir träumst. Es ist die letzte Minute. Flieh! ” (T 51) Fridolin erlebt sich selbst in einer Extremsituation. Mögen bei den bisherigen Begegnungen noch soziale oder moralische Hemmnisse bestanden haben, sich mit der jeweiligen Frau einzulassen, die ihn in der Rolle des Arztes dazu veranlassten, Marianne als hysterisch zu bezeichnen und ihn in der Rolle des gesellschaftlich überlegenen Bürgers die Dirne Mizzi als soziale Randperson sehen ließen, so handelt es sich hier um die Begegnung eines Mannes, der im Rahmen einer Massenorgie das Recht hat, über eine freiwillige Teilnehmerin dieser Veranstaltung zu verfügen. Fridolin war wie trunken, nicht nur von ihr, ihrem duftenden Leib, ihrem rotglühenden Mund, nicht nur von der Atmosphäre dieses Raums, den wollüstigen Geheimnissen, die ihn hier umgaben; - er war berauscht und durstig zugleich von all den Erlebnissen dieser Nacht, deren keines einen Abschluß gehabt hatte; von sich selbst, von seiner Kühnheit, von der Wandlung, die er in sich spürte. Und er rührte mit den Händen an den Schleier, der um ihr Haupt geschlungen war, als wollte er ihn herunterziehen. (T 52) “Berauscht” (T 52) von seiner eigenen “Kühnheit, von der Wandlung, die er in sich spürte” (T 52), setzt sich Fridolin endgültig über seine Hemmungen und Ängste hinweg, da er sich nun dem Ziel nahe sieht - anders als in seinen bisherigen nächtlichen Abenteuern - endlich sein ersehntes “Casanova-Wunschbild” (Freytag 2007: 49) zu verwirklichen. Die Unbekannte nennt ihn deswegen bezeichnenderweise “wahnsinnig” (T 52). Wenn Pierrette wegen ihrer Dalia Aboul Fotouh Salama 152 sexuellen Ausschweifungen und Zügellosigkeit, die sich in ihrem Vergnügen mit zwei Männern niederschlägt, von ihrem Vater als “wahnsinnig” (T 44) bezeichnet wurde, so wird hier der Spieß umgedreht. Die unbekannte Frau betrachtet nun Fridolin, der von seinem sexuellen Begehren besessen ist, als “wahnsinnig” (T 52). Zudem erklärt ihm die Unbekannte, welche Strafe er zu erwarten hätte, falls er sich nicht an die Regeln halten würde: Sie ergriff seine Hände. “Es war eine Nacht, da fiel es einem ein, einer von uns im Tanz den Schleier von der Stirn zu reißen. Man riß ihm die Larve vom Gesicht und peitschte ihn hinaus.” “Und - sie? ” “Du hast vielleicht von einem schönen, jungen Mädchen gelesen … es sind erst wenige Wochen her, die am Tag vor ihrer Hochzeit Gift nahm.” Er erinnerte sich, auch des Namens. Er nannte ihn. War es nicht ein Mädchen aus fürstlichem Hause, das mit einem italienischen Prinzen verlobt gewesen war? Sie nickte. (T 52) Hier ist zu erkennen, dass die Erwähnung dieses tragischen Geschehens nicht nur eine Warnung vor einer Auspeitschung und Demaskierung Fridolins, sondern auch eine Vorausdeutung auf das Schicksal der maskierten Frau ist. Trotzdem entschließt sich Fridolin, aus “Scheu vor einem ruhmlosen und etwas lächerlichen Rückzug, [dem] ungestillte[n], quälende[n] Verlangen nach dem wundersamen Frauenleib […] dessen Duft noch um ihn strich” (T 53) und als “eine Prüfung seines Muts” (T 53) sich “in ritterlicher Weise” (T 53) als “Eindringling” (T 53) zu bekennen, denn “nur in solcher Art, wie mit einem edeln Akkord, durfte diese Nacht abschließen, wenn sie mehr bedeuten sollte als ein schattenhaft wüstes Nacheinander von düsteren, trübseligen, skurrilen und lüsternen Abenteuern, deren doch keines zu Ende gelebt worden war.” (T 53) Doch in diesem Augenblick wird er nach der Parole des Hauses gefragt, die er nicht weiß. Die Parole, die ihm Nachtigall verraten hatte und die bezeichnenderweise “Dänemark” (T 53) lautete, war nur die Parole zum Maskenball, aber nicht die Parole des Hauses. ‘Dänemark’ ist auch das Stichwort für den ungelösten Konflikt mit Albertine. Über dieses kompositorische Prinzip des Textes wird der Konflikt mit Albertine, mit dem Maskenball enggeführt. […] Das, was sich hinter dem Stichwort ‘Dänemark’ verbirgt, wird wie in einem Traum, in dem ein Wort oder Bild symbolisch für einen komplexen Zusammenhang stehen kann, erneut, allerdings in gesteigerter Form, durchlebt. Das zweite, ihm fehlende Passwort, das ihn aus der Situation der drohenden Bloßstellung beim Maskenball befreien würde, steht auch für seinen ungelösten Konflikt mit Albertine. Aufgrund seines fehlenden Zugangs zu ihr und seiner Schwierigkeiten, sich ihr zu öffnen, findet er auch aus der jetzigen Situation keinen Ausweg. (Freytag 2007: 64) Ertappt und von den männlichen Masken umringt, die ihm befehlen, sein Gesicht zu enthüllen, versucht Fridolin zu verhandeln und erklärt sich bereit, dem Herrn, “der sich […] in seiner Ehre gekränkt fühlen sollte, in üblicher Weise Genugtuung zu geben” (T 54), denn “Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der Einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter Angekleideten nackt.” (T 54) Als ungeachtet dessen einer der Männer versucht, Fridolin gewaltsam zu demaskieren, erklärt sich seine Warnerin, die schöne Unbekannte, bereit sich für ihn zu opfern: Die dunkle Tracht fiel wie durch einen Zauber von ihr ab, im Glanz ihres weißen Leibes stand sie da, sie griff nach dem Schleier, der ihr um Stirn, Haupt und Nacken gewunden war, und mit einer wundersamen runden Bewegung wand sie ihn los. Er sank zu Boden, dunkle Haare stürzten ihr über Schultern, Brust und Lenden - doch ehe noch Fridolin das Bild ihres Antlitzes zu erhaschen vermochte, war er von unwiderstehlichen Armen erfaßt, fortgerissen und zur Türe gedrängt worden. (T 56) Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 153 Fridolin, der nun unter der Bedingung freigelassen wird, keine weiteren Nachforschungen über die Ereignisse in der geheimen Villa anzustellen, kann die Frau nicht ohne Maske sehen, da er von “unwiderstehlichen Armen erfaßt, fortgerissen und zur Türe gedrängt” (T 56) wird. Auf diese Weise bleibt auch dieses erotische Abenteuer ohne Erfüllung, wie alle anderen in der Novelle, von denen keines “zu Ende gelebt worden” (T 53) war. Stattdessen befindet sich aber nun die begehrte Frau in Todesgefahr. Doch schon beim Verlassen der Villa besinnt Fridolin sich darauf, dass er sich “nur alles genau einpräge” (T 57), da er fest entschlossen ist, […] auf alle Gefahr hin die Aufklärung des Abenteuers, sobald es anging, in Angriff zu nehmen. Sein Dasein, so schien ihm, hatte nicht den geringsten Sinn mehr, wenn es ihm nicht gelang, die unbegreifliche Frau wiederzufinden, die in dieser Stunde den Preis für seine Rettung bezahlte. (T 57) Während seiner Fahrt in der “Trauerkutsche” (T 44), die wiederum den Tod symbolisiert, hat Fridolin ambivalente Gefühle der unbekannten Frau gegenüber. Von seinen bürgerlichen Konventionen und Moralvorstellungen bestimmt, versucht er sich von jeglichen Schuldgefühlen zu befreien und eine Machtposition zu gewinnen, indem er ihre Aufopferung in Frage stellt und sie als Prostituierte abwertet, für die es eigentlich kein Opfer bedeuten könne, sich mehreren Männern hinzugeben. Aber welchen Anlaß hatte sie, sich für ihn zu opfern? Zu opfern -? War sie überhaupt eine Frau, für die, was ihr bevorstand, was sie nun über sich ergehen ließ, ein Opfer bedeutete? Wenn sie an diesen Gesellschaften teilnahm - und es konnte heute nicht zum ersten Mal der Fall sein, da sie sich in die Bräuche so eingeweiht zeigte -, was mochte ihr daran liegen, einem dieser Kavaliere oder ihnen allen zu Willen zu sein? Ja, konnte sie überhaupt etwas anderes sein als eine Dirne? Konnten alle diese Weiber etwas anderes sein? Dirnen - kein Zweifel. Auch wenn sie alle noch irgendein zweites, sozusagen bürgerliches Leben neben diesem führten, das eben ein Dirnenleben war. (T 57f.) Gleichzeitig sieht er in ihr seine Retterin, die sich in ihrem Edelmut und in ihrer Selbstlosigkeit für ihn geopfert hat: Und doch, wenn er nun wieder dieser Frau dachte, die ihn von Anfang an gewarnt hatte, die nun bereit war, für ihn zu bezahlen - in ihrer Stimme, in ihrer Haltung, in dem königlichen Adel ihres unverhüllten Leibes war etwas gewesen, das unmöglich Lüge sein konnte. (T 58) Die Zweiteilung des Bildes von Weiblichkeit in ‘unanständige Frau’ (Hure) oder ‘anständige Frau’ (Heilige, Engel) taucht hier deutlich in der Form eines Zwiespaltes auf. Für Fridolin selbst ist es hilfreich, die Unbekannte zum einen zur Prostituierten zu ‘degradieren’, um eine Machtposition zu gewinnen, zum anderen für die Rechtfertigung seines Begehrens, das noch nicht gestillt ist, ihr “königlichen Adel” zuzuschreiben. Auf diese Weise kann Fridolin guten Gewissens sein Begehren vor sich selbst rechtfertigen: “Er schwor sich zu, nicht zu ruhen, ehe er das schöne Weib wiedergefunden, dessen blendende Nacktheit ihn berauscht hatte.” (T 60) Vor allem beflügelt ihn die Fantasie, eine derart unwiderstehliche Attraktivität besessen zu haben, unter deren Einfluss die Unbekannte bereit war, jedes Opfer für ihn einzugehen. Oder hatte vielleicht nur seine, Fridolins plötzliche Erscheinung als Wunder gewirkt, sie zu verwandeln? […] Vielleicht gibt es Stunden, Nächte, dachte er, in denen solch ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber von Männern ausgeht, denen unter gewöhnlichen Umständen keine sonderliche Macht über das andere Geschlecht innewohnt? (T 58) Gekoppelt mit Selbstmitleid zeigt sich hier seine Wunschvorstellung, ein leidenschaftlich begehrter Mann zu sein - eine Allmachtsphantasie, in die er sich hineinsteigert. Auf seinem Dalia Aboul Fotouh Salama 154 Rückweg in die Stadt wird er von seinen Gefühlen und Gedanken über die letzten Ereignisse bedrängt: “Die Vorstellung der Dinge, die sich eben jetzt in der Villa ereignen mochten, erfüllte ihn mit Grimm, Verzweiflung, Beschämung und Angst.” (T 60) Fridolins Gefühle werden hier erstmals direkt in reflektierenden Worten ausgedrückt, wobei die direkte Benennung seiner Gefühle von einer beginnenden Bewusstwerdung zeugen. “So hätte diese unsinnige Nacht mit ihren läppischen, abgebrochenen Abenteuern am Ende doch eine Art von Sinn erhalten. So heimzukehren, wie er nun im Begriff war, erschien ihm geradezu lächerlich” (T 60). Fridolin fühlt sich als Versager, was ihn dazu führt, in Selbstmitleid zu vergehen: “Dieser Gemütszustand war so unerträglich, daß Fridolin beinahe bedauerte, von dem Strolch, dem er begegnet war, nicht angefallen worden zu sein, ja beinahe bedauerte, nicht mit einem Messerstich zwischen den Rippen an einer Planke in der verlorenen Gasse zu liegen.” (T 60) Der Gedanke an Albertine, der ihm erst ziemlich spät auf seinem Nachhauseweg kommt, führt ihn dazu, sich seiner unterdrückten Wünsche, die er nicht ausgelebt und immer wieder verschoben hat, bewusst zu werden. Und nun erst dachte er an Albertine - doch so, als hätte er auch sie erst zu erobern, als könnte sie, als dürfte sie nicht früher wieder die Seine werden, ehe er sie mit all den andern von heute nacht, mit der nackten Frau, mit Pierrette, mit Marianne, mit dem Dirnchen aus der engen Gasse hintergangen. […] Was lag ihm an eines andern, was an seinem eigenen Leben? Sollte man es immer nur aus Pflicht, aus Opfermut aufs Spiel setzen, niemals aus Laune, aus Leidenschaft, oder einfach, um sich mit dem Schicksal zu messen? (T 60f.) Albertines Vorwurf, dass er seine Wünsche aus Rücksicht auf gesellschaftliche Normen unterdrücke, verleitet Fridolin nun dazu, diese Kontroll- und Beherrschungsmechanismen in Frage zu stellen. Zum anderen wurde ihm vorgeworfen, das wahre Wesen der Frauen als eigenständige Personen mit individuellen sexuellen Gefühlen und Wünschen zu verkennen. Durch Fridolins ambivalente Wahrnehmung der Unbekannten wird hier, wie auch an anderen Stellen, wiederum jene patriarchalische Ordnung erkennbar, die keine Alternative als die der ‘anständigen Frau’ und der ‘Dirne’ gelten lässt (Scheible 1996: 186). 12 Die Tote in der Leichenhalle Schließlich kommt Fridolin nach seiner nächtlichen Odyssee nach Hause, als Albertine gerade aus einem Traum erwacht, den sie zunächst nur widerstrebend erzählt und der alles in den Schatten stellt, was er selbst in der Nacht erlebte. Zu den Höhepunkten dieses Traumes gehört, dass Albertine im Rahmen einer Massenorgie sich dem seinerzeit im Sommerurlaub begehrten Dänen hingibt und laut lachend ihren Mann verhöhnt, der, nur weil er seiner Frau um jeden Preis treu bleiben will, schwere Folterungen erduldet und am Ende ans Kreuz geschlagen werden soll. Fridolin ist von dem Traum seiner Frau schockiert und wiederum bloßgestellt: Je weiter sie in ihrer Erzählung fortgeschritten war, um so lächerlicher und nichtiger erschienen ihm seine eigenen Erlebnisse, soweit sie bisher gediehen waren, und er schwor sich, sie alle zu Ende zu erleben, sie ihr dann getreulich zu berichten und so Vergeltung zu üben an dieser Frau, die sich in ihrem Traum enthüllt hatte als die, die sie war, treulos, grausam und verräterisch, und die er in diesem Augenblick tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals geliebt hatte. (T 70) Nun endgültig zur Rache entschlossen, beschließt Fridolin die abgebrochenen Liebesabenteuer der vergangenen Nacht am nächsten Tag zu Ende zu führen. In seinem geplanten Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 155 Rachefeldzug sucht er am nächsten Tag zwischen seinen Arztpflichten und -terminen die Stationen der letzten Nacht auf. Doch Mariannes schmerzliche Liebe weist er erneut zurück und der Maskenverleiher Gibiser entpuppt sich als Zuhälter seiner Tochter. Schließlich erfährt er, dass Mizzi mit einer Geschlechtskrankheit im Krankenhaus liegt, was ihn nun endgültig dazu führt, sich als Versager zu sehen, dem “alles mißlingen mußte” (T 86), da seine Begegnungen erneut nicht zu einem erotischen Liebesabenteuer führen, wie er es sich in seiner Imagination als Rache an Albertine vorgestellt hat. Im Gegensatz zu den verschiedenen heldenhaften Rollen, die er spielen wollte, die jedoch zum Scheitern verurteilt waren, fühlt er sich nur in seiner ihm vertrauten Rolle als Arzt wohl und in Sicherheit: “Fridolin fühlte sich beinahe glücklich, als er, von den Studenten gefolgt, von Bett zu Bett ging.” (T 75) Doch auch im Krankenhaus wird er an seinen Konflikt mit Albertine erinnert, als er eine junge Patientin “mit dem verdächtigen Spitzenkatarrh” (T 76), die ihm zulächelt, als dieselbe erkennt, “die neulich bei Gelegenheit einer Untersuchung ihre Brüste so zutraulich an seine Wange gepreßt hatte.” (T 76) Endgültig verstört und irritiert den Frauen gegenüber verliert er sich in Misogynie, indem die Bilder der treuen Ehefrau und der Hure ineinander verschmelzen: “Eine wie die andere, dachte er mit Bitterkeit, und Albertine ist wie sie alle - sie ist die Schlimmste von allen.” (T 76) Und er bezeichnet die Frauen des Maskenballs als “Damen […] aus Freudenhäusern zusammengetrieben” (T 77) und als “ausgesuchte Ware.” (T 77) Die einzige Lösung scheint ihm, die unbekannte Frau vom Maskenball zu suchen. In der Leichenkammer des Pathologisch-anatomischen Instituts findet er eine Frau, über deren Selbstmord er am Vorabend in der Zeitung gelesen hatte und in deren Leiche er die Gesuchte vermutet. Als er im Pathologisch-anatomischen Institut “durch den schwach beleuchteten Gang” (T 92) schreitet, nimmt er die Atmosphäre wiederum über das Geruchsempfinden war: “Ein vertrauter, gewissermaßen heimatlicher Geruch von allerlei Chemikalien, der den angestammten Duft dieses Gebäudes übertönte, umfing Fridolin.” (T 92) Die adjektivischen Bezeichnungen des Geruchseindrucks im Bereich von Fridolins Arbeitswelt als “vertrauter” (T 92) und “heimatlicher Duft” (T 92) beziehen sich also nicht mehr nur auf die Art des Geruches, sondern beschreiben die Empfindungen, die diese Gerüche bei Fridolin auslösen (vgl. Krotkoff 1972: 83). Der “festlich erhellte […] Raum” (T 92) des Labors, der Leichenschausaal, “der kahle hohe Raum war durch die zwei offenen, etwas heruntergeschraubten Flammen eines zweiarmigen Gaslüsters schwach beleuchtet” (T 94), sowie der Anblick der Leichen, von denen einige “nackt” (T 94), andere aber mit “Leinentücher[n]” (T 94) bedeckt sind, erinnern an die Umstände des Maskenballs. Die verhüllten und nackten, hier jedoch nun leblosen Körper erinnern an die maskierten und vor allem nackten Frauen der Geheimgesellschaft, die dort ebenfalls zur Schau gestellt worden waren. Im Gegensatz zum Maskenball, wo Fridolin nicht einmal die Gelegenheit hatte, das Antlitz der maskierten Unbekannten zu sehen, gibt er sich hier nun einer intensiven Betrachtung des Frauenkörpers, der “ihm fahl entgegenleuchtete” (T 94) und dessen “lange, dunkle Haarsträhnen” (T 94) an die Unbekannte erinnern, hin: Der Kopf war zur Seite gesenkt; lange, dunkle Haarsträhnen fielen fast bis zum Fußboden herab. […] Fridolin […] ließ seinen Blick den toten Körper entlang schweifen, vom wandernden Schein der elektrischen Lampe geleitet. War es ihr Leib? - der wunderbare, blühende, gestern noch so qualvoll ersehnte? Er sah einen gelblichen, faltigen Hals, er sah zwei kleine und doch etwas schlaff gewordene Mädchenbrüste, zwischen denen, als wäre das Werk der Verwesung schon vorgebildet, das Brustbein mit grausamer Deutlichkeit sich unter der bleichen Haut abzeichnete, er sah die Rundung des mattbraunen Unterleibs, er sah, wie von einem dunklen, nun geheimnis- und sinnlos gewordenen Schatten aus wohlgeformte Schenkel sich gleichgültig Dalia Aboul Fotouh Salama 156 öffneten, sah die leise auswärts gedrehten Kniewölbungen, die scharfen Kanten der Schienbeine und die schlanken Füße mit den einwärts gekrümmten Zehen. […] wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen und geführt, berührte Fridolin mit beiden Händen die Stirne, die Wangen, die Schultern, die Arme der toten Frau; dann schlang er seine Finger wie zu einem Liebesspiel in die der Toten, und so starr sie waren, es schien ihm, als versuchten sie sich zu regen, die seinen zu ergreifen; ja ihm war, als irrte unter den halbgeschlossenen Lidern ein ferner, farbloser Blick nach dem seinen; und wie magisch angezogen beugte er sich herab. (T 94ff.) Freytag (2007: 76) erkennt hier richtig in Fridolins begehrendem Blick auf diesen toten Körper, der für ihn Schönheit und Verwesung vereint, auch die Präsenz der anderen Frauen: Der “gelbliche, faltige Hals” (T 95) erinnert an den von Marianne, die “Mädchenbrüste” (T 95) an die des Mädchens am Strand und Fridolins Berührung ihrer Finger “wie zu einem Liebesspiel” (T 96) an die Zärtlichkeit Albertine gegenüber. Im “Antlitz” (T 95) der toten Frau, das “ebenso gut einer Achtzehnjährigen als einer Achtunddreißigjährigen angehören” (T 95) könnte, lagern sich gewissermaßen die beiden Frauentypen der Kindfrau und der reiferen Frau übereinander bzw. werden beide Frauentypen vereint. Dem toten Körper gegenüber, der nicht zurückblicken kann, behält er einen machtvollen, kontrollierenden Blick und wird nicht durch den Blick des Gegenübers überwältigt. Nur in dieser grauenvollen Form des Sehens bzw. Blickens löst sich seine Angst auf (Freytag 2007: 77). Als Fridolin, der durch den Aufruf seines Kollegen “jählings zur Besinnung” (T 96) kommt, “seine Finger aus denen der Toten” (T 96) löst, kommt es ihm vor, “als ob jetzt, eben erst in diesem Augenblick, dieses Weib gestorben sei” (T 96), und er verlässt am Ende im Pathologisch-anatomischen Institut den toten Körper einer ihm fremden Frau: […] er wusste: auch wenn das Weib noch am Leben war, das er gesucht, das er verlangt, das er eine Stunde lang vielleicht geliebt hatte, und, wie immer sie dieses Leben weiter lebte; - was da hinter ihm lag in der gewölbten Halle, im Scheine von flackernden Gasflammen, ein Schatten unter andern Schatten, dunkel, sinn- und geheimnislos wie sie - ihm bedeutete es, ihm konnte es nichts anderes mehr bedeuten als, zu unwiderruflicher Verwesung bestimmt, den bleichen Leichnam der vergangenen Nacht. (T 98) Fridolin, der kurz zuvor zu der Erkenntnis gelangt ist, dass er sich die sehnlichst gesuchte Unbekannte “mit den Zügen Albertines vorgestellt” (T 91) und “dass ihm ununterbrochen seine Gattin als die Frau vor Augen geschwebt” (T 91) hatte, löst sich damit von dem tief verwurzelten Frauen-bild, das sich in zwei pauschale Typisierungen des Weiblichen aufspaltet: Zum einen die konventionelle Vorstellung von der treuen Gattin, Hausfrau und Mutter und zum anderen das gefährlich lockende, auf geheimnisvolle Weise verführerische Weib. Erst die Symbiose von gegensätzlichen Objekten seines Begehrens in der Gestalt Albertines ermöglicht Fridolin eine Rück- und Einkehr, allenfalls eine Resituierung in das reale Leben, in eine neue Wirklichkeit, in der er die ihm misslungene klischeehafte Rolle des männlichen überlegenen Verführers, Retters und Ehebrechers ablegt und für die ihm die Frauen, denen er begegnet ist, als Projektionsfläche dienten. Als Fridolin schließlich bei seiner Heimkehr neben der schlafenden Albertine im Ehebett auf seinem Kissen seine Maske findet, fühlt er sich von Albertine ertappt und erkannt: Die verlorene Maske auf seinem Kopfkissen als Zeichen des Verständnisses und der Versöhnung löst bei ihm einen kathartischen Schock aus, bei dem alle verdrängten Konflikte hervorbrechen und er in einem ‘psychischen’ Zusammenbruch den Gefühlen freien Lauf lässt. (Turpel 2010: 69) Frauenbild(er) in Arthur Schnitzlers Traumnovelle 157 21 Siehe zum Erzählen Scheffel (1998: 123-137). Weinend bricht er mit den Worten zusammen: “Ich will dir alles erzählen.” (T 99) Fridolin wird nun selbst zum Erzähler all der Erlebnisse und Emotionen, die der Leser bereits durch die personale Erzählsituation mitverfolgen konnte. In der Verschmelzung von Elementen einer Alltags-, Traum- und Märchenwelt wird eine fiktive Wirklichkeit konstruiert, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Zudem wird der Faktualität und Fiktionalität des Erzählens eine neue Rolle zugewiesen, da Fridolin die eigenen traumhaften Abenteuer zwar nicht zu Ende erlebt, jedoch durch den Akt des Erzählens den Zugang zu seinen inneren Erfahrungsräumen eröffnet, die mittels Narration sprachlichen Ausdruck finden. 21 Fridolins Akt eines faktualen Erzählens von den nächtlich wahrgenommenen Frauenbildern kann als eine Art Beichte und Eingeständnis an seine Frau Albertine, die all die anderen Frauen vertritt und repräsentiert, gelesen werden. Erst diese Enthüllung vermag die psychologisch realistische Voraussetzung für eine Des-Illusionierung beider Ehepartner zu verschaffen und eine Demaskierung konventionell begründeter Rollen-bilder zu begründen, sodass sich beide, deren Augen durch die intern erlebten geträumten Bilder geöffnet worden sind, am Ende “für lange” (T 100) als in einer neuen Wirklichkeit “erwacht” (T 100) betrachten können. 13 Imaginierte Frauen-Bilder als Konstrukt des männlichen Egos Nach den obigen Ausführungen ist zu erkennen, dass die verschiedenen Frauen, denen Fridolin auf seiner nächtlichen traumähnlichen Reise begegnet, jeweils ein Konstrukt seiner subjektiven Wahrnehmung, seiner internen Konflikte und Wünsche sind, die er entsprechend seiner derzeitigen Gemütsverfassung nach selektiven Kriterien unbewusst kreiert hat. Die Frauenbilder, die in seiner Wahrnehmung entstehen, entsprechen verschiedenen Konstrukten des Weiblichen, wie sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kultur- und gesellschaftsspezifisch waren. Diese Konstrukte haben dabei die Funktion, ähnlich wie bei einer Traumarbeit, zum einen lang Verdrängtes freizulegen und zum anderen zu einer Bewusstseinswerdung beizutragen. Fridolins nächtliche Reise in eine “ferne, fremde Welt” (T 31), die durch eine Konfrontation weiblichen Strebens nach eigener Identität und Freiheit mit männlicher Identitätsverstörung ausgelöst wurde, bringt ihn zu einer Wirklichkeit, die mit der Erkenntnis verbunden ist, dass die männliche Selbstfindung nur über eine Revidierung eines Frauenbildes führen kann, die in der Hinterfragung kulturell bestimmter Typisierungen der Frau besteht und ihre Aufspaltung in die Extrempole ‘Hure’ und ‘Engel’ (Heilige) relativiert. Diese Infrage-Stellung des alten Frauenbildes und die Bereitschaft zur Revidierung eröffnen einen neuen Bezug zum anderen Geschlecht, der zu einem besseren Verständnis füreinander, einer Nähe der beiden Geschlechter zueinander, führen soll, sodass sie “einander traumlos nah” (T 100) sein können. In diesem Kontext fungiert nochmal das eingangs zitierte Märchen als ein wichtiges Verbindungsglied. Ähnlich wie die kluge Scheherazade, die durch das ‘Erzählen’ von Geschichten sowohl ihr eigenes als auch das Leben aller Frauen im Königreich rettet, kommt auch hier dem ‘Erzählen’ eine rettende Funktion zu. Zudem revidiert auch der Sultan Schahrajar, genauso wie Fridolin, angeregt durch seine ‘nächtlichen Reisen’ in Scheherazades abenteuerliche Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, seine Ansicht über Frauen, entgeht seiner Misogynie und heiratet Scheherazade. 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Klimts Bilder, Im Internet unter http: / / kgg.german.or.kr/ kr/ kzg/ kzg110k.htm [18.2. 2012] Mürbeth, Susanne 2006: Die “asexuelle Witwe” im Identitätskonflikt am Beispiel von Arthur Schnitzlers “Frau Berta Garlan” und “Frau Berta und ihr Sohn”, Waterloo: Magisterarbeit, im Internet unter http: / / uwspace. uwaterloo.ca/ bitstream/ 10012/ 2825/ 1/ smurbeth2006.pdf [18. 02. 2012] Voigt, Anna 2004: Frauenfiguren bei Arthur Schnitzler. Individuen oder Typen, im Internet unter http: / / www. yumpu.com/ de/ document/ view/ 1994228/ frauenfiguren-bei-arthur-schnitzler-individuen-und-typen [18.02.2012] Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Paul Kußmaul Verstehen und Übersetzen Ein Lehr- und Arbeitsbuch 3., überarbeitete und erweiterte Auflage narr studienbücher 2014, 229 Seiten €[D] 24,99 / SFR 32,50 ISBN 978-3-8233-6877-9 Bewusst verstanden - besser übersetzt! Das bewährte Lehr- und Arbeitsbuch mit Aufgaben widmet sich einem Kernthema des Übersetzens: Es geht um das Verstehen der Wörter des Ausgangstextes. Erfahrungsgemäß sind Wörter für Studierende das größte Problem - größer noch als Syntax und Stil. Das zeigt sich unter anderem darin, dass die Studierenden beim Übersetzen eines Textes zunächst einmal viele Wörter nachschlagen. Ziel des Studienbuches ist es, den Studierenden Verstehenstechniken und -strategien auf kognitionslinguistischer Grundlage an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie professionell übersetzen lernen. Die dritte Auflage enthält neue Abschnitte zu irritierenden Vorstellungen und dem Umgang mit Unsicherheit beim Übersetzen sowie ein kommentiertes Verzeichnis der wichtigsten Literatur. Die Autoren / The Authors Markus Firchow, geboren am 29.10.1979 in Lübeck; 2001-2009: Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Hamburg; 2010: Erstes Theologisches Examen/ Diplom; 2010-2011: Wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg; 2011: Stipendiat der Nordelbischen Kirche sowie Stipendiat des Evangelischen Studienwerkes Villigst e.V.; seit 2011: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg am Institut für Systematische Theologie. Daniel Jacob hat in Heidelberg promoviert, war Assistent in Freiburg i. Br. und Professor in München, Köln und Freiburg, wo er seit 2007 einen Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft innehält. Seine Schwerpunkte sind die Syntaxtheorie, die romanische Sprach- und Diskurgeschichte sowie die Schnittstellen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft; zu letzterem vgl. Fludernik, Monika; Jacob, Daniel (eds. 2014): Linguistics and Literary Studies / Linguistik und Literaturwissenschaft, Berlin: De Gruyter. Thomas Klinkert ist, nach Studium und Promotion in München, Habilitation in Regensburg und Professur in Mannheim seit 2007 Professor für Romanische Literaturwissenschaft in Freiburg i. Br. Seine Schwerpunkte sind Literatur und Wissen, Literatur und historische Semantik (insbes. Liebessemantik), Selbstreflexivität der Literatur, Literaturtheorie (insbes. Systemtheorie). Hierfür steht u.a. das Buch Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung (Berlin: De Gruyter 2010). Michael Neecke, geboren 1976; Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Regensburg; Magister 2002; Mitarbeit in der Regensburger DFG-Forschergruppe “Krieg im Mittelalter” 2002-2004; Promotion 2007; 2007-2013 Assistent am Lehrstuhl für Deutsche Philologie/ germanistische Mediävistik der Universität Regensburg; seit 2014 Lehrbeauftragter ebendort; Habilitationsprojekt “Erfahrung und Sichtbarkeit: Facetten einer schwierigen Beziehung in der deutschen Literatur um 1350”. Ulrich Richtmeyer hat Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar sowie Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Er hat in Berlin im Fach Philosophie promoviert mit einer Dissertation zu Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie. Zwischen 2007 und 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam, Forschungsmitarbeiter des NFS Eikones in Basel und Research-Fellow am IKKM Weimar im Rahmen des Programms Werkzeuge des Entwerfens mit dem Forschungsprojekt Wittgensteins ‘Philosophie der Werkzeichnung’. Seit 2013 vertritt er die Professur für Visuelles Denken und Wahrnehmen an der Universität Potsdam. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Autoren / The Authors 162 Patrick Rupert-Kruse (*1976), Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Medien der Fachhochschule Kiel; stellvertretender Sprecher des Instituts für immersive Medien und verantwortlicher Redakteur des Jahrbuches immersiver Medien; Mitglied des DFG-Netzwerks Bildphilosophie; habilitiert zum Verhältnis der Bildlichkeit immersiver Medien und ästhetischer Erfahrung. Dalia Aboul Fotouh Salama ist Professorin und Leiterin der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität Kairo. Nach Studienaufenthalten in Bonn und Kiel hat sie in Kairo promoviert über “Albrecht von Hallers Usong: ein orientalisierender Staatsroman” (1999). Publiziert hat sie vor allem zu den Themen Postmodernes Erzählen, Migrantenliteratur, Interkulturelle Literatur, Orient und deutsche Literatur, Komparatistik, Postkolonialistische Literatur, Genderforschung. Dina Aboul Fotouh Salama ist Assistenzprofessorin für Germanistische Literaturwissenschaft und Mediävistik, sowie für Übersetzen an der Philosophischen Fakultät der Universität Kairo. Sie hat 2003 in Kairo über “Das Orientbild im Herzog Ernst zwischen Wirklichkeit und Phantastik” promoviert. Zu ihren Spezialgebieten gehören moderne Adaptationen der mittelalterlichen deutschen Literatur sowie die Bezüge der mittelalterlichen deutschen Literatur zur arabischen Welt. Sven Schmalfuß, M.A., hat Englische Philologie und Politikwissenschaft in Regensburg und Galway studiert. Er lehrt in der Studieneinheit Gender Studies an der Universität Regensburg und promoviert zur Geschichte der Produktion und Rezeption digitaler Spiele in Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Die Anschriften der Autoren / Addresses of Authors Markus Firchow Universität Hamburg Institut für Systematische Theologie Sedanstr. 19 20146 Hamburg markus.firchow@uni-hamburg.de Prof. Dr. Daniel Jacob Romanisches Seminar Universität Freiburg Platz der Universität 79085 Freiburg i. Br. daniel.jacob@romanistik.uni-freiburg.de Prof. Dr. Thomas Klinkert Romanisches Seminar Universität Freiburg Platz der Universität 79085 Freiburg i. Br. thomas.klinkert@romanistik.uni-freiburg.de Dr. Michael Neecke Institut für Germanistik Gebäude PT, Zi. 3.2.13 Universität Regensburg 93040 Regensburg michael.neecke@gmail.com Dr. Ulrich Richtmeyer Institut für Künste und Medien Universität Potsdam Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam uli.richtmeyer@uni-potsdam.de Dr. Patrick Rupert-Kruse Fachhochschule Kiel Fachbereich Medien Grenzstraße 3, Raum C12-1.67 24149 Kiel patrick.rupert-kruse@fh-kiel.de Prof. Dr. Dalia Aboul Fotouh Salama German Department Faculty of Arts Cairo University Al-Gamea Street, PO Box 12613 Giza, Cairo, Egypt noussa2000@hotmail.com Dr. Dina Aboul Fotouh Salama German Department Faculty of Arts Cairo University Al-Gamea Street, PO Box 12613 Giza, Cairo, Egypt salamadinama@gmail.com Sven Schmalfuß Studieneinheit Gender Studies Universität Regensburg Landshuter Str. 4 D-93047 Regensburg Sven.Schmalfuss@klinik.uni-regensburg.de K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“…”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[…] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern […], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 165 werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“… ‘…’ …”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: […] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z.B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u.a.” nach Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 166 dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u.a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o.J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn't make sense; one is taken out of context; one isn't even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the 'normal' texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets […], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “…‘…’ …”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09]. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Simon Meier, Daniel H. Rellstab, Gesine L. Schiewer (Hrsg.) Dialog und (Inter-)Kulturalität Theorien, Konzepte, empirische Befunde 2014, 296 Seiten, €[D] 59,00 / SFr 76,00 ISBN 978-3-8233-6906-6 In der globalisierten Welt ist der Dialog über kulturelle Sinngrenzen hinweg zum Alltagsphänomen geworden. Der Sammelband zeigt, wo die sprach- und kommunikationswissenschaftliche Forschung zum Thema der interkulturellen Kommunikation heute steht, wie die Zusammenhänge von Dialog und Kultur konzeptualisiert werden und welche empirischen Erkenntnisse in diesem Rahmen möglich sind.
