Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2014
373-4
KODIKAS / CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 37 (2014) No. 3-4 Themenheft / Special Issue Die Sinnlichkeit der Zeichen: Zur aisthetischen Dimension von Schrift und Bild bei Roland Barthes The sensorial dimension of signs: Roland Barthes on the aisthetics of writing and pictorial representation Herausgegeben von / edited by Elisabeth Birk, Mark Halawa und Björn Weyand Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine systematische Einführung . . . 171 Richard Shiff Reality by Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Thorsten Gabler “La relation à l’écriture, c’est la relation au corps” Roland Barthes’ auto/ bio/ graphische Theorie der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Bettina Lindorfer “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” Zur Kontingenzerfahrung in der écriture bei Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Catherine Marten “mehr, mehr, noch mehr! ” Schrift als Fetischobjekt bei Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Katia Schwerzmann “Une sorte de remontée vers le corps” Skizze einer Ästhetik der körperlichen Responsivität im Ausgang von Roland Barthes’ Überlegungen zur Pseudo-Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Martin Endres RE/ SIGNATION Revision einer ‘(ein)schreibenden Entschreibung’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Carol Jana Ribi Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Doris Kolesch Roland Barthes’ Schriftbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Contents 170 David Magnus Wahrnehmung als (Preis-)Gabe Das Bild und die Ethik des Blicks bei Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Karin Peters Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess Barthes und die sinnliche Transmigration der Zeichen bei Arcimboldo . . . . . . . . . . . 335 Markus Rautzenberg Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben Das Haiku als ‘Sprachfotografie’ bei Roland Barthes und Andrej Tarkowskij . . . . . . 349 Ulrich Richtmeyer Linkische Fotografie Roland Barthes über die Produktivität des Bildes in Kontexten der Reproduktion . . . 361 Review Article André Reichert Was passiert “dazwischen”? Das Leben der Zeichen bei Roland Barthes Landschaften der Theorie (2013) und LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Die Autoren / The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Die Anschriften der Autoren / Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . 393 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 128,- (special price for private persons 102,-) plus postage. Single copy (double issue) 82,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2015 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: Docupoint GmbH, Magdeburg ISSN 0171-0834 Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine systematische Einführung Elisabeth Birk (Chemnitz), Mark Halawa (Berlin) & Björn Weyand (Frankfurt/ M.) 1 Die Legitimationskrise der Semiotik Hat die Semiotik ihre beste Zeit hinter sich? Macht man sich mit den maßgebenden Strömungen der gegenwärtigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung vertraut, so fällt es schwer, diese Frage zu verneinen. Es mag befremdlich erscheinen, die Einleitung eines Themenheftes innerhalb einer semiotischen Fachzeitschrift mit einer derart ernüchternden Feststellung beginnen zu lassen. Gleichwohl lässt sich kaum leugnen, dass die Blütezeit der Semiotik der Vergangenheit angehört. Selbstverständlich wird nach wie vor in zahlreichen Disziplinen semiotische Forschung betrieben. Auch ist die Semiotik insbesondere in vielen sprach- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen weiterhin fester Bestandteil des Curriculums. Nichtsdestotrotz ist ihr akademischer Stellenwert im Laufe der beiden zurückliegenden Jahrzehnte erheblich gesunken. Die tonangebenden Beiträge zur geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsdebatte werden mittlerweile abseits des einst so wirkmächtigen semiotischen Paradigmas vorgebracht. Damit ist nicht gesagt, dass die Semiotik über kurz oder lang zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sei (eine solche Behauptung wäre ebenso vorschnell wie übertrieben); wohl aber deutet vieles darauf hin, dass sie sich in einer schweren Legitimationskrise befindet. So wird die Fruchtbarkeit neuerer geistes- und kulturwissenschaftlicher Theorieentwürfe auffallend oft auf der Basis einer schonungslosen Fundamentalkritik der Semiotik zu explizieren versucht. Offenbar wird es zunehmend als unerlässlich empfunden, zunächst ein generelles Ungenügen jedweden semiotischen Ansatzes hervorzuheben, um sodann zu neuen geistes- und kulturwissenschaftlichen Einsichten gelangen zu können. Nirgendwo sonst tritt diese Entwicklung dermaßen klar in die Blick wie auf dem Gebiet der Ästhetik. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war es vielerorts eine Selbstverständlichkeit, bei der Analyse ästhetischer Phänomene auf semiotische Instrumente zurückzugreifen. Spätestens mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert hat sich das Blatt allerdings entscheidend gewendet. Eine semiotische Theorieperspektive gilt nun vermehrt als Garant für eine Verkennung des Ästhetischen schlechthin. Die Sphäre des Ästhetischen, so ist häufig zu lesen, entziehe sich prinzipiell einem semiotischen Zugriff. Schließlich stünden in ihr nicht kommunikative Sinn- und Bedeutungsfaktoren im Vordergrund, sondern wesentlich auf die Aisthesis bezogene Erfahrungsmomente, die sich einer semiotischen Dekodierung rundweg K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 172 1 Exemplarisch sei für diese Position auf Serres 1998, Didi-Huberman 2000, Böhme 2001, Gumbrecht 2004 sowie Mersch 2002 verwiesen. 2 Wir paraphrasieren an dieser Stelle das berühmte Bühler’sche Prinzip der abstraktiven Relevanz, dem zufolge im Rahmen einer semiotischen Untersuchung von einem “Sinnending” nur diejenigen Eigenschaften “in die semantische Funktion eingehen”, die “für seinen Beruf, als Zeichen zu fungieren, relevant sind” (Bühler 1999: 44). 3 Auf diesen Sachverhalt wurde bereits verwiesen in Finke & Halawa 2012: 89. verweigerten. Faktoren der Sinnlichkeit - nicht solche der Sinnhaftigkeit - bildeten dementsprechend das Zentrum des Ästhetischen. 1 Das Bild von der Semiotik als einer weitgehend sinnlichkeitsvergessenen Disziplin ist nicht gänzlich unbegründet. Viele Wortführer des semiotischen Paradigmas setzen einen systematischen aisthetischen Reduktionismus an den Anfang ihrer zeichentheoretischen Erörterungen. Für sie gilt es als ausgemacht, innerhalb eines semiotischen Theorierahmens nur solche sinnlich-materiellen Einflussgrößen zur Kenntnis nehmen zu müssen, die für die Übermittlung und Interpretation abstrakter Sinngehalte in Anspruch genommen werden können. 2 Entsprechend werden Zeichen von ihnen primär als “solche wahrnehmbaren Dinge” aufgefasst, “die genutzt werden, um daraus Schlüsse auf nicht unmittelbar Wahrnehmbares zu ziehen” (Blanke/ Giannone/ Vaillant 2005: 149). In Anlehnung an Sybille Krämer lässt sich Zeichendefinitionen wie diesen ein “metaphysische[r] Gestus” (Krämer 2008: 25) attestieren. Was hier zählt, sind einzig und allein die immateriellen Sinn- und Bedeutungsstrukturen, die “hinter den Erscheinungen” (ebd.: 26) liegen und vermittels semiotischer Analyseinstrumente zu entschlüsseln sind. Die aisthetische Fülle eines Phänomens ist demgegenüber lediglich von randständigem Interesse. 3 Nimmt man vor diesem Hintergrund zur Kenntnis, dass speziell in zeitgenössischen ästhetischen Praktiken insbesondere die “einfache Phänomenalität der Dinge” (Mersch 2009: 5) im Mittelpunkt steht, scheint es auf den ersten Blick nur selbstverständlich zu sein, die Relevanz der Semiotik für die aktuelle ästhetische Theoriedebatte in Zweifel zu ziehen. Schließlich, so ließe sich im Anschluss an Gumbrecht (2004) argumentieren, kann das Paradigma des Zeichens aufgrund seiner Fixierung auf metaphysische Sinnstrukturen grundsätzlich nicht dazu in der Lage sein, auch nur die Fragen und Probleme zu registrieren, die durch den Kontakt mit aisthetischen Präsenzfaktoren gestellt werden. Eben darin gründet mithin die konstatierte Legitimationskrise der Semiotik: Es wird ihr schlichtweg nicht zugetraut, Antworten auf drängende Fragen und Probleme des gegenwärtigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsdiskurses geben zu können. Die Semiotik wird daher verstärkt als eine aus der Zeit gefallene Disziplin angesehen. Niemand zweifelt an ihrer Kompetenz für die Untersuchung von Sinnphänomenen. Geht es aber um die Auseinandersetzung mit Präsenzphänomenen, wird ihr noch nicht einmal zugutegehalten, das Phänomen der Aisthesis denken zu können. Tatsächlich deckt ein differenzierterer Blick auf die semiotische Theoriegeschichte auf, dass sich die Dinge weitaus komplexer verhalten, als von vielen Zeichenkritikern angenommen. Es steht außer Frage, dass Faktoren der Aisthesis in vielen semiotischen Studien aufgrund eines ‘metaphysisch’ motivierten Erkenntnisinteresses keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass die Semiotik im Ganzen jegliches Gespür für Momente des Sinnlichen, Materiellen bzw. ‘Physischen’ vermissen lässt. So waren sich gerade die Schlüsselfiguren der modernen Semiotik der konstitutiven Rolle bewusst, die die Dimension der Aisthesis für die Dimension der Semiosis Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 173 4 Am Beispiel von Saussure, Cassirer und Peirce wurde dies etwa von Jäger 2004, Krois 2004 und Halawa 2009 rekonstruiert. 5 Wir denken hier vornehmlich an die in Fußnote 1 genannten Verfechter des Aisthetischen. spielt. Dieser Tatbestand bleibt im semiotikkritischen Klima unserer Zeit allerdings oft unbemerkt. Erklären lässt sich dies einesteils dadurch, dass das irreduzible “Ineinander von aisthesis und semiosis” (Rautzenberg 2009: 236; Hervorh. im Original) in vielen Zeichentheorien lediglich implizit zur Sprache kommt. 4 Weitaus gravierender ist überdies der Umstand, dass die Sensibilität, die in klassischen zeichentheoretischen Entwürfen für Faktoren der Aisthesis an den Tag gelegt wird, besonders von den Kritikern des semiotischen Paradigmas hartnäckig ignoriert wird. Das Reich der Zeichen ist in den Augen vieler Semiotik- Kritiker ganz offenkundig per se ein Reich des Anästhetischen. 5 Unterstellt wird somit eine theoretische Ausgangshaltung, der zufolge das Abstrakte gegenüber dem Singulären bzw. das Begriffliche gegenüber dem Anschaulichen durchweg ins Hintertreffen gerät. Die Semiotik stünde insofern für nichts anderes als eine Disziplin der kühlen Rationalität: Nicht die Erfahrung, sondern alleine die Interpretation eines Phänomens wäre für sie von Belang. 2 Das Ineinanderwirken von Semiosis und Aisthesis in Barthes’ Denken Das vorliegende Themenheft versteht sich als Beitrag, dem verbreiteten Bild von einer wesentlich anästhetisch gestimmten semiotischen Denk- und Theorietradition kritisch entgegenzutreten. Gewiss: Auch für Roland Barthes erschien die Welt als ein übervolles Reich der Zeichen, die im unablässigen Prozess der Semiose beständig in weitere Zeichenrelationen übergehen und auf diese Weise ein immer dichteres Gewebe aus Strukturen des Sinns entstehen lassen. Kaum weniger gewiss ist jedoch, dass Barthes die sinnliche Dimension des Semiotischen von seinen frühen Schriften an auf exzeptionelle Weise mitgedacht hat. Mehr noch: Seine fruchtbarsten Einsichten über die Sphäre der Semiosis - so lautet die übergreifende These, die den nachstehenden Beiträgen zugrunde liegt - gewinnt Barthes gerade im Kontakt mit der Sphäre der Aisthesis. Diese sowohl von Kritikern als auch Anhängern der Semiotik erheblich vernachlässigte Perspektive auf seine Schriften zeigt Barthes als einen der inspirierendsten Vordenker gegenwärtiger Debatten zum Verhältnis zwischen Aisthesis und Semiosis und belegt auf diese Weise die ungebrochene Aktualität des 1980 verstorbenen Kulturtheoretikers. Der Schwerpunkt der für dieses Themenheft zusammengestellten Beiträge liegt auf Barthes’ vielfältigen Überlegungen zur Theorie der Schrift und des Bildes. Die Fokussierung auf diesen Aspekt des Barthes’schen Œuvres gründet zunächst auf der Beobachtung, dass Barthes’ Einsicht in das irreduzible Ineinander von Aisthesis und Semiosis - wenn auch nicht ausschließlich, so doch in besonders prägnanter Weise - in den Blick tritt, wo er sich eingehend mit Fragen der Bildlichkeit und Schriftlichkeit befasst. Barthes ist hier weit davon entfernt, die von ihm untersuchten kulturellen Phänomene - seien diese nun alltäglicher oder ästhetischer Art - auf der Grundlage eines aisthetischen Reduktionismus zu behandeln. Zwar zeigt er sich davon überzeugt, dass die Kategorie der Bildlichkeit nicht aus dem Einflussbereich der Sprache herauszulösen ist, wie heutzutage von namhaften Bildtheoretikern gefordert wird (cf. Boehm 2007). Jedoch führt ihn die Gewissheit, dass “der Semiologe Schrift und Bild auf gleiche Weise behandeln darf”, da es sich bei beiden medialen Registern um Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 174 “Zeichen” handele (Barthes 2010 a: 259; Hervorh. im Original), nicht zu einer einseitigen sprachanalytischen Rationalisierung des Bildes. Der frühe Barthes bekennt sich offen zu einer “generalisierte[n] Auffassung von Sprache” (ebd.: 253), der zufolge alles, was in irgendeiner Form bedeutungsvoll ist, zu einer Schrift - und somit zu einem semiotischen Phänomen - wird (cf. ebd.). Diese Auffassung zielt allerdings mitnichten an der Sinnlichkeit der Zeichen vorbei. Es sind nie nur abstrakte Bedeutungsgehalte allein, die Barthes’ semiologisches Interesse auf sich ziehen; vielmehr sind es immer auch die materielle Praxis der Zeichensetzung wie auch die sinnliche Dimension der Zeichenrezeption, die im umfangreichen Corpus seines Werkes verhandelt werden. Anders gesagt: Wenn Barthes das Reich der Zeichen unter der Prämisse einer generalisierten Auffassung von Sprache untersucht, die selbst wiederum auf einer generalisierten Auffassung von Schrift beruht, dann leistet er dies auf der Basis eines Sprach- und Schriftverständnisses, in dem die Sinnlichkeit der Zeichen niemals in einem Hegel’schen Sinne zu Gunsten des Begrifflichen ‘aufgehoben’ wird. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Sachverhalt in Barthes’ Variations sur l’écriture, die für die Barthes-Forschung gewissermaßen eine Neuentdeckung darstellen und in diesem Themenheft erstmals in der ihnen gebührenden Intensität untersucht werden. 1973 entstanden, blieb der Text aus bislang ungeklärten Gründen zu Barthes’ Lebzeiten unpubliziert. Erst im Jahr 1994 wurden die Variations in Frankreich in den Œuvres complètes zugänglich gemacht; in Deutschland erschien der Text 2006 unter dem Titel Variationen über die Schrift. Publiziert wurde eine Abhandlung, die in gewissem Sinne in einer Reihe mit jenen Arbeiten steht, in denen sich zu Beginn der 1970er-Jahre ein Umbruch im Denken Barthes’ vollzieht. Plakativ gesagt, ereignet sich in dieser Zeit die Wendung vom ‘Strukturalisten’ Barthes zum ‘Poststrukturalisten’ Barthes, wobei seine Überlegungen zur Schrift den wohl sinnfälligsten Teil dieser Entwicklung widerspiegeln: In L’empire des signes (1970) ist die japanische Schrift Projektionsfläche für eine Utopie des Zeichens, in der die ‘Zeichenleere’ Freiheit von der Repression des Konnotativen verspricht, während das Schriftzeichen als Phänomen der Oberfläche zur Chiffre für unterschiedlichste kulturelle Bereiche - von der Küche bis zum Stadtplan - wird. In Le plaisir du texte (1973) ist die Schrift schließlich nichts weniger als eine “Wissenschaft von den Wollüsten der Sprache” (Barthes 2010 b: 14). Das Phänomen der Schrift im Allgemeinen sowie die Praxis des Schreibens werden auf diese Weise zu Paradebeispielen für die Sinnlichkeit der Zeichen insgesamt. Wie Ottmar Ette (2010: 131) treffend bemerkt, kommt den Variations vor allem deshalb eine Schlüsselstellung im Barthes’schen Werk zu, weil sie eine Art “missing link” zwischen L’empire des signes und Le plaisir du texte darstellen: In L’empire des signes operiert Barthes innerhalb eines explizit fiktionalen Szenarios ‘Japan’ - “ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen” (Barthes 1981: 13) -, in dem die Zeichen für den westlichen Besucher von ihrer Bedeutungsfunktion befreit sind; die Variations wenden sich dagegen ausdrücklich der realen Schriftgeschichte und ihrer Darstellung zu. In Le plaisir du texte steht die Dynamik von Text und Leser im Vordergrund; demgegenüber wenden die Variations den Blick nicht primär auf den Text und seinen Leser, sondern auf die konkreten Praktiken des Schreibens, wodurch insbesondere der Anteil des gestuellen Vollzugs an der ‘Lust am Text’ mit besonderem Nachdruck hervorgehoben wird. Diese Schwerpunktsetzung ist insofern bemerkenswert, als Barthes durch sie ein explizit anti-phonozentristisches Schriftdenken zu begründen versucht, welches viele Argumente vorwegnimmt, die in der neueren Schriftlichkeitsdebatte - überraschenderweise ohne nennenswerten Rekurs auf Barthes - intensiv diskutiert werden (cf. Krämer/ Cancik-Kirschbaum/ Totzke 2012). So setzt Barthes in den Variations in Anlehnung an André Leroi-Gourhan Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 175 (1987) voraus, dass der menschliche Graphismus - und damit auch die Schrift - Eigenschaften besitzt, die von den medialen und phänomenologischen Registern des Mündlichen unabhängig sind. Seines Erachtens existiert zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein bedeutender “ontologische[r] Unterschied” (Barthes 2006: 49), durch den die Sphäre des Visuellen und Taktilen eine weitreichende Autonomie gegenüber der Sphäre des Hörens und Sprechens erhält. Schrift im ‘ursprünglichen Sinne’ bezeichnet für Barthes sodann in erster Linie eine “skripturale[…] Geste” bzw. den “manuelle[n] Sinn des Wortes” (ebd.: 8, 9; Hervorh. die Verf.). Leitend ist für ihn dabei der folgende Grundsatz: “[…] die Hand, das Auge lenken die Schrift, nicht die Vernunft der Sprache” (ebd.: 101). An anderer Stelle heißt es: “Die Schrift steht immer auf Seiten der Gebärde […]: sie ist taktil, nicht oral” (ebd.: 171; Hervorh. im Original). Hinter Worten wie diesen steht selbstredend keine grundlegende Sprachskepsis, wohl aber die Überzeugung, dass Schrift zuvorderst einen leiblichen, performativen oder - um einen von Barthes in Anspruch genommenen Ausdruck zu benutzen - rhythmischen Ursprung besitzt (cf. ebd.: 181). Es ist dies ein Ursprung, der nach Barthes’ Auffassung durch die traditionelle alphabetozentristische Engführung des Schriftbegriffs in Vergessenheit geraten ist. Unter anderem deshalb kritisiert er die traditionelle Vorstellung von der Schrift als eines sekundären semiotischen Systems, dessen Funktion ausschließlich darin bestehe, die gesprochene Sprache dauerhaft zu fixieren, als einen beklagenswerten “Übelstand” des abendländischen “Ethnozentrismus” (ebd.: 31). Für Barthes liegt auf der Hand, dass das Phänomen der Schrift nicht einfach nur für ein diskursives Medium des Sagens, sondern immer auch für ein aisthetisches Medium des Zeigens steht. Die semiotische Dimension der Schrift ist für ihn von daher untrennbar mit der Dimension der Aisthesis verbunden. Um die Variations sur l’écriture in historischer und systematischer Perspektive als einen Schlüsseltext sowohl für das Barthes’sche Œuvre als auch für die gegenwärtige Schriftlichkeitsdebatte kritisch zu reflektieren, skizzieren wir im Folgenden das Verhältnis von Barthes’ Ausführungen zu seinen zeitgenössischen Quellen einerseits und zur neueren Schrifttheorie andererseits. Im Anschluss daran umreißen wir Aspekte des Postsemiotischen im Barthes’schen Denken, auch über seine Überlegungen zur Schrift hinaus, um noch einmal auf die Frage zurückzukommen, ob die Semiotik ihre beste Zeit hinter sich hat. Generell gilt es in Bezug auf die Schwerpunktsetzung dieses Themenheftes folgenden Aspekt im Auge zu behalten: Wenn die nachstehenden Beiträge den unterschiedlichen Konstellationen von Aisthesis und Semiosis im Barthes’schen Werk nachspüren, so ist damit kein einheitliches Theorem postuliert; tatsächlich erweist sich das Verhältnis von Aisthesis und Semiosis als Gemengelage. Nicht nur neigen diverse Texte Barthes’ in unterschiedlichem Maße der einen oder anderen Seite zu, auch das Verhältnis der beiden Bereiche changiert. So spielt Barthes in manchen Schriften Aisthesis und Semiosis gegeneinander aus (etwa indem er die Autonomie des Signifikanten feiert oder umgekehrt die allgemeine Anwendbarkeit sprachbezogener Kategorien postuliert); an anderen Stellen scheinen sie miteinander verwoben oder komplementär zu sein - und oft genug lassen sich beide Bewegungen im selben Text festmachen. Diese komplexen Verhältnisse zeigen sich auch in der Vielfalt der Aspekte, die in den Beiträgen des vorliegenden Themenheftes zur Sprache kommen. Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 176 3 Barthes’ Variations sur l’écriture (1973) - ein neu zu entdeckender Schlüsseltext für die Schrifttheorie Die Variations sur l’écriture liefern einen Kommentar zu philologischen und linguistischen Schrifttheorien und konkreten Phänomenen der Schriftgeschichte. Sie analysieren die Schriftforschung der damaligen Zeit auf ihre grundlegenden Denkfiguren hin und setzen ihnen einen Schriftbegriff entgegen, der die materiellen und performativen Aspekte der Schrift hervorhebt und auf diese Weise mit einer weitgehend phonozentrischen Tradition radikal bricht. Damit einher geht ein grundlegender Wandel des Schriftbegriffs innerhalb von Barthes’ eigenem Werk: Stand in früheren Arbeiten der Begriff der écriture als Bezeichnung für “eine Spielart des literarischen Stils” (ebd.: 7) im Fokus, tritt an dessen Stelle nun der Begriff der scription zur Bezeichnung des “muskuläre[n] Akt[es] des Schreibens, der Prägung der Buchstaben” (ebd.) sowie zur Reflexion jener gestischen Aspekte des Schreibprozesses, deren Neuigkeitswert bereits im vorangegangenen Abschnitt hervorgehoben wurde. Die Variations präsentieren ihre Reflexionen in vier Kapiteln, deren einzelne Abschnitte alphabetisch - und nicht etwa systematisch - angeordnet sind. Auf diese Weise ‘variieren’ die Reflexionen tatsächlich über das Thema Schrift, ohne es für einen systematischen Gesamtentwurf zu vereinnahmen. Gleichwohl zeigt sich, dass die beiden ersten Kapitel Illusions und Système eine Auseinandersetzung mit den in der Literaturliste der Variations (cf. ebd.: 193f.) aufgeführten Autoren führen: Barthes bezieht sich mit den Arbeiten von Gelb (1963 [1952]), Diringer (1948) und anderen auf die vornehmlich philologisch orientierten Gesamtdarstellungen der Schriftgeschichte, die für den Schriftdiskurs der 1950er-Jahre prägend waren. Dabei zeigt sich, dass Barthes, manchmal - fast wie im Vorübergehen - eine ganze Reihe von Gedanken vorbringt, die in frappierender Weise Entwicklungen der neueren Schriftforschung entsprechen: Wer ethnozentrische Ansätze in Schrifttypologie und Schriftgeschichte kritisiert, wer die mediale Dimension von Schrift untersucht oder die Vielfalt ihrer Funktionen und wer die konkrete Situation des Schreibens und den historischen Kontext einer Schreibpraxis in den Blick nimmt, kann sich in gewisser Weise auf Barthes’ Analysen aus den 1970er-Jahren beziehen. Umgekehrt zeigt sich im Vergleich aber auch, wo Barthes durch seine an der Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus orientierte Herangehensweise an manchen Stellen in die Irre geht. Eine Rekonstruktion dieser Zusammenhänge verdeutlicht, wie Fragen der Schriftgeschichte und -theorie mit solchen der Semiotik im weitesten Sinne verwoben sind und was die Hinwendung zur Performativität und Materialität von Schriftzeichen theoretisch impliziert, nämlich eine Neuverhandlung des Verhältnisses von Aisthesis und Semiosis. Barthes entwirft seinen Schriftbegriff in den Variations gegen einen zeitgenössischen Schriftdiskurs, dessen mythologische Aspekte er entlarven möchte - und überträgt damit sein Anliegen der Mythologies auf den wissenschaftlichen Diskurs. Seine knappe kritische Analyse verweist auf drei Zusammenhänge, die in diesem Diskurs einen Mythos der Schrift erzeugen und im nächsten Abschnitt dieser systematischen Einführung kritisch rekonstruiert werden sollen. 3.1 Logozentrismus und Ethnozentrismus Erstens stellt Barthes den Zusammenhang von Logozentrismus und Ethnozentrismus heraus (cf. Barthes 2006: 41). Schrift wird - wie weiter oben schon gesagt - traditionellerweise als sekundäres Zeichensystem aufgefasst, dessen ausschließlicher Sinn darin besteht, gesprochene Sprache wiederzugeben. Entsprechend werden Schriften danach eingeteilt, welche Ein- Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 177 heiten der gesprochenen Sprache sie wiedergeben: Lautschriften (Alphabete, Silbenschriften), Wortschriften und Ideenschriften (die ganze Sätze wiedergeben). Diese Einteilung birgt die Gefahr einer historisierenden Interpretation, die die Geschichte der Schrift als eine Evolutionsgeschichte vorstellt, deren telos dann das Alphabet darstellt (cf. ebd.: 27ff.). Alphabetische Schriften gelten aus dieser Perspektive als besonders gute Abbildungen der gesprochenen Sprache und werden als die besten Systeme angesehen - Barthes bezeichnet diese Einstellung als “Alphabetozentrismus” (ebd.: 75; Hervorh. im Original) und kommentiert sie ironisch mit den Worten: “wir sind die besten” (ebd.: 75; Hervorh. im Original). Damit trifft Barthes sehr genau die problematischen Aspekte in Werken wie Gelbs A Study of Writing. Gelb, der in seinem einflussreichen Werk den Terminus ‘Grammatologie’ (cf. Gelb 1963: 23) für die Wissenschaft von der Schrift geprägt hat, nimmt eine Dreiteilung der Schriftsysteme in Alphabete, Silbenschriften und Wortschriften vor (wie die meisten Schriftgeschichten verlegt er das, was Barthes ‘Ideenschriften’ nennt, in die Vorgeschichte der Schrift im eigentlichen Sinn). Seine Typologie steht im Dienst eines allgemeinen Evolutionsmodells der Schrift. Gelb postuliert ein “principle of unidirectional development” (ebd.: 200), das besagt: “writing […] must pass through the stages of logography, syllabography, and alphabetography in this, and no other order” (ebd.: 201). Die ethnozentrische Logik, die Gelbs Darstellung strukturiert, hat eine lange Tradition. Man kann hier an das Hegel-Zitat denken, dem Derridas Grammatologie zu Bekanntheit verholfen hat und dem zufolge die Alphabetschrift “la plus intelligente” (zit. nach Derrida 1967: 11) sei. Auch an bestimmte Aspekte der Humboldt’schen Buchstabenschrift wäre zu denken, die in eine ähnliche Richtung weisen (cf. Humboldt 1963). Schließlich findet die Tradition einer ethnozentrischen Entwicklungslogik ihre Fortsetzung in schrifttheoretischen Arbeiten der 1960erbis 1980er-Jahre. Hervorzuheben wären hier die Arbeiten von Goody/ Watt (1986) und Havelock (1987), die nicht nur die Geschichte der Schrift selbst, sondern vielmehr die Rolle der Schrift in der Geschichte rekonstruieren möchten. Für sie verbindet sich die Entstehung des griechischen Alphabets mit dem ‘griechischen Wunder’ und erhält so gleichsam die Rolle einer prometheischen Initialzündung für die gesamte westliche Zivilisation. Barthes’ Analyse des Alphabetozentrismus passt auf diese Autoren fast noch besser als auf diejenigen, auf die sich seine Überlegungen stützen, da sich das “wir sind die besten” dort vom strukturellen Problem (wieder) zur expliziten These entfaltet hat. Das Grundmuster, das Barthes hier ausmacht, ist also eine typische Denkfigur, die sich im westlichen Schriftdiskurs in vielfältigen Abwandlungen reproduziert findet. Auf bemerkenswerte Weise trifft Barthes’ Kritik sich hier mit den neueren Entwicklungen der Schrifttheorie: Gelbs Darstellung der Schriftgeschichte ist inzwischen vielfach kritisiert worden, sowohl hinsichtlich ihrer Interpretation der historischen Fakten als auch hinsichtlich der allgemeinen teleologischen Struktur des Modells und deren ethnozentrischen Implikationen (cf. exemplarisch die Einschätzung von Coulmas 2003: 15f.). 3.2 Die Reduktion der Schrift auf ihre Transkriptions- und Kommunikationsfunktion Zweitens diagnostiziert Barthes ein für den damaligen Schriftdiskurs typisches (und seiner Auffassung nach insbesondere vonseiten der Sprachwissenschaft forciertes) “transkriptionalistische[s] Vorurteil” (Barthes 2006: 69). Dieses besagt, dass Schrift gesprochene Sprache schlicht transkribiert. Es geht einher mit der Auffassung, gesprochene Sprache diene ausschließlich der Übermittlung von Informationen. Getreu dem Motto: Sprache übermittelt Bedeutung, Schrift hält Sprache fest. Weder Schrift noch Sprache werden in dieser Auf- Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 178 fassung in ihrem medialen Eigensinn erkannt. Vielmehr wird ihnen ein Ideal der Transparenz angetragen, das sie als Medien zum Verschwinden bringt. Gegen diese Sichtweise hält Barthes fest, dass die Domäne der Schrift über die gesprochene Sprache und den Bereich des Sprachlichen insgesamt hinausgehe (cf. ebd.). Zum einen gibt er zu bedenken, dass man von einer ursprünglichen Transkriptionsfunktion nicht ausgehen könne. Zum anderen hebt er hervor, dass die Schrift immer auch andere als kommunikative Funktionen ausgeübt habe. Des Weiteren ruft Barthes in Erinnerung, wie sehr Schrift und gesprochene Sprache neben diesen historischen und funktionalen Faktoren durch soziale Aspekte (die Barthes an dieser Stelle nicht weiter ausführt) und mediale Unterschiede getrennt seien. Dabei werden Letztere von ihm als physische gedacht: Die Schrift ist “mit der Hand verbunden” (ebd.) und unterscheidet sich damit schon rein körperlich von der gesprochenen Sprache. Die Spur dieser Geste ist für Barthes insbesondere im Ideogramm fassbar: “das Ideogramm beispielsweise transkribiert eine Geste, die ihrerseits Zeichen einer Handlung ist” (ebd.). Wir würden heute eher von ‘Logogrammen’ sprechen, aber gemeint sind Schriften wie das Chinesische (cf. ebd.: 29); man kann annehmen, dass Barthes hier die chinesische Kalligraphie und ihre Rückbindung an die Geste des Schreibens vor Augen steht. Diese Ausrichtung auf die Geste des Schreibens findet ihr Echo in aktuellen Arbeiten zur Geste in Schrift und Zeichnung (cf. Richtmeyer & Goppelsröder 2014; Stingelin 2004; Giuriato 2005; Zanetti 2006 ). Mit dem Blick auf die Handschrift werden auch weitere Dimensionen der Schrift wesentlich, die nicht in eine reine Logik der Transkription passen, sei es das Schreibmaterial (cf. Barthes 2006: 173ff.) oder Aspekte wie Kursivität (cf. ebd.: 149f.) und Farbe (cf. ebd.: 149). So lässt sich die von Barthes kritisierte Auffassung auch als ein Ausblenden der Dimension der “Schriftbildlichkeit” (Krämer 2005: 24) fassen. Der mediale Eigensinn von Schriften rückt die Schriften natürlicher Sprachen in eine Reihe mit z.B. mathematischen oder musikalischen Notationen und unterläuft so die Vorstellung einer unüberwindlichen Opposition von Sprache und Bild, von diskursiven und ästhetischen Darstellungsweisen, die eine herrschende Denkfigur unserer Tradition ist. Nicht nur diagnostiziert Barthes die Verdrängung der spezifischen Medialität der Schrift im Schriftdiskurs, er bietet auch eine Erklärung für ihre Entstehung: Schrift ist nicht nur kein transparentes Medium für gesprochene Sprache; vielmehr projizieren wir umgekehrt die Strukturen der Schrift auf die gesprochene Sprache. Die Vorstellung von der Sekundarität der Schrift und ihrer Bestimmung zur Transparenz auf die gesprochene Sprache hin sind, so lautet es in den Variations, selbst nichts anderes als eine “alphabetische Illusion” (Barthes 2006: 51; Hervorh. im Original). Was man als Funktionsprinzip des Alphabets zu erkennen meint - die Wiedergabe der gesprochenen Lautfolge -, wird als Bestimmung der Schrift insgesamt gesetzt; Schriften anderen Typs und andere Gebrauchsweisen von Schrift werden ausgeblendet. Auch hier benennen die Variations Problembereiche, die zu den wichtigsten und fruchtbarsten Untersuchungsbereichen in neueren Arbeiten zur Schrifttheorie gehören. Die Erkenntnis, dass Schrift als Medium nicht “transparent” sein kann, sondern für uns vielmehr ein “Modell der Lautsprache” (Günther 1995: 15) darstellt, hat zu einer Fülle von psychologischen, linguistischen, wissenschaftshistorischen, kulturwissenschaftlichen und philosophischen Untersuchungen zum Verhältnis von Schrift und sprachlichem Wissen geführt. Zu nennen sind etwa die Fülle der Untersuchungen zur Frage der ‘phonologischen Bewusstheit’, d.h. zur Frage, inwieweit die Fähigkeit, sublexikalische Einheiten in der gesprochenen Sprache zu erkennen, vom Erlernen einer Schrift abhängt (cf. die Übersicht in Homer 2009). Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 179 Der Einfluss der spezifischen medialen Eigenschaften der Schrift auf unser Bild von der Sprache ist auch der Ausgangspunkt von Olsons (1991) Arbeiten zur Entstehung metalinguistischer Fähigkeiten sowie einer Reihe von Arbeiten zur Rolle der Alphabetschriften in der Entwicklung linguistischer und logischer Kategorien in der okzidentalen Tradition (cf. z.B. Stetter 1999; Totzke 2004). Gemeinsam ist diesen Ansätzen bei all ihren Unterschieden die Überlegung, dass Schrift Sprache in bestimmter Weise festhält und sie daher als Gegenstand der Betrachtung gemäß ihrer (der Schrift) eigenen medialen Charakteristika vor Augen stellen kann. 3.3 Logozentrismus und die Ausblendung der konkreten Situation des Schreibens Drittens stellt Barthes den Zusammenhang von Logozentrismus und dem Ausblenden der konkreten Situation des Schreibens mit ihren sozialen, materiellen, physischen und psychischen Bedingungen und Konsequenzen dar. Barthes räumt der Betrachtung von Schriften als Systemen im Sinne des klassischen Strukturalismus, d.h. (theoretisch) in Absehung von ihrer Verwendungssituation, durchaus ihren Raum ein: In der Tat stellt Barthes als antilogozentrische These die Behauptung auf, dass Schrift Sprache ist: “Es hat in der Tat zwei Sprachen gegeben, die von zwei verschiedenen Zonen des Cortex abhängen” (Barthes 2006: 49). Die geschriebene und die gesprochene Sprache sind zwei unterschiedliche Modalitäten der Sprache. Und Barthes fügt hinzu: “wir besitzen geradezu zwei Sprachen” (ebd.: 53), insofern wir gleichsam in einer Diglossiesituation leben, in der wir zwei Sprachen mit unterschiedlichen Funktionspotenzialen in unterschiedlichen Kontexten verwenden. Schrift ist eine unabhängige Modalität von Sprache - und in gewisser Hinsicht wie eine eigene Sprache -, gerade nicht ein bloßer technischer Trick, ein gadget, wie es ein Ursprungsmythos will (cf. ebd.: 80), das dem Bereich des Sprachlichen äußerlich wäre. Diese Grundeinsicht, dass Schrift Sprache ist - und damit auch Gegenstand linguistischer Untersuchung -, begann sich bereits in den 1980er-Jahren auch in der Sprachwissenschaft selbst durchzusetzen; inzwischen hat sich die Schriftlinguistik als Teildisziplin der Linguistik etabliert. Jenseits dieser systematischen Betrachtungsweise ist Schrift aber für Barthes vor allem als konkrete Schreibpraxis zu sehen. Im Format der Variations haben ausführliche Fallstudien keinen Raum, aber Barthes deutet zumindest an, wie etwa sozio-ökonomische, medienhistorische und körperliche Aspekte des Schreibens von Bedeutung für die Untersuchung von Schrift sein können. Insbesondere geht es Barthes aber um letztere, um die scription. Denn sie stellt die Verbindung her zwischen den schrifttheoretischen Aspekten und dem Motiv der jouissance. Das letzte Kapitel der Variations, das eben diesen Titel trägt, widmet sich ebenso dem Schreibduktus wie Schreibmaterialien, dem Rhythmus der Schreibbewegung, den Ritualen des Schreibens, dem kulturspezifischen Verhältnis von Körper und Schrift, der Psychologie des Kopierens usw. Diese historische Vielfalt der Schriftpraktiken wird zunehmend als solche auch Thema der Schriftforschung. So spricht etwa Lurie (2011: 2) in seiner Studie zu den Anfängen des Schriftgebrauchs in Japan von “plural literacies”, gerade auch in Hinblick auf Phasen der Schriftgeschichte, für die die Frage der Lesbarkeit von Schriftzeugnissen rückblickend nicht mehr entscheidbar, der Gebrauch also nicht mehr rekonstruierbar ist. Auch in den Einzelstudien, die im Umkreis der sogenannten New Literacy Studies entstehen, wird eine solche Pluralität der Praktiken im Rahmen soziolinguistischer Analysen vorausgesetzt (cf. z.B. Sebba 2007). Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 180 Diese drei beschriebenen Themenkomplexe hängen systematisch miteinander zusammen: Die Privilegierung der Kommunikationsfunktion der Schrift führt zur Abwertung ihres medialen Eigengewichts. Auf der Seite der Rezeption bringt sie die ikonischen Aspekte des Schriftzeichens zum Verschwinden; auf der Seite der Produktion zieht sie eine Abwendung von der Geste des Schreibens nach sich - und führt damit zu einer Aufwertung des Alphabets, das dem Ideal der Transparenz und des unverstellten Blicks auf die Semantik am ehesten zu entsprechen scheint. Barthes bringt gegen diesen Theoriekomplex in den Variations zum einen, wie dargestellt, die Vielfalt historischer Schreibpraktiken ins Spiel, in denen sich Aisthesis und Semiosis überschneiden. Zum anderen wendet er sich aber auch einer Reflexion über die Souveränität des Signifikanten und die Frage der Lesbarkeit zu. Die Aufsprengung der strukturalistischen Einheit von signifiant und signifié ist ein Leitmotiv der poststrukturalistischen Theoriebildung in den 1970er-Jahren und ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Zeichentheorie. Der Rehabilitierung des Signifikanten als Oberflächenphänomen wird gleichsam apotropäische Kraft gegen die Dominanz der Bedeutungsintention des Subjekts zugeschrieben. Wo Barthes dieser Spur folgt, spielt er Aisthesis und Semiosis mithin gegeneinander aus, wobei sich in den Variations mit aller Klarheit die Problematik dieser Konstellation zeigt. Barthes verabsolutiert einzelne Aspekte der Schrift und entfernt sich damit von den konkreten Schriftpraktiken, auf die er den Blick lenken möchte. So notiert er gegen die Privilegierung der Kommunikationsfunktion zur Frage der Lesbarkeit: dass die Schrift allem Anschein nach manchmal (immer? ) auch dazu gedient hat, das ihr Anvertraute zu verbergen. […] Die Kryptographie ist die eigentliche Mission der Schrift. Die Unlesbarkeit des skripturalen Systems ist, weit davon entfernt, mangelhaft, abstoßend zu sein, im Gegenteil seine Wahrheit (die Essenz einer Praxis vielleicht an seiner Grenze, nicht in seinem Zentrum). (Barthes 2006: 23ff.; Hervorh. im Original) Die Beobachtungen, auf die diese These sich stützt - nämlich, dass es einen rituellen und ästhetischen Gebrauch der Schrift gibt, der von semantischer Transparenz abgekoppelt ist (cf. ebd.: 31), dass es ein methodischer Fehler ist, okzidentale Werte der Klarheit und Effizienz auf beliebige kulturelle Kontexte zu projizieren (cf. ebd.: 31 und 43), und dass Schriftbeherrschung auch Herrschaftswissen ist und Schrift als Instrument sozialer Exklusion und Herrschaftssicherung dienen kann (cf. ebd.: 25 und 119ff.) -, diese Beobachtungen sind nicht nur plausibel und finden ihren Widerhall in der neueren Schrifttheorie. In ihnen deutet sich zugleich auch ein grundlegendes Problem an: Barthes’ Kritik an der Bestimmung des Wesens der Schrift über ihre Kommunikationsfunktion bewegt sich hier auf eine Logik der Umkehrung zu (“die Wahrheit liegt auf der anderen Seite” [ebd.: 27]), die - und das zeigt auch die vorsichtige Formulierung in der oben zitierten Passage - eine unglückliche ist. Denn wenn man eine “Nachtseite der Schrift” (ebd.: 25) bestimmen möchte, bringt man sich in die missliche Lage, die Pluralität konkreter Praktiken der Literalität, auf die man sich stützt, gerade wieder zu leugnen. Barthes’ Rede von einer gleichsam liminalen Wesensbestimmung (“die Essenz einer Praxis vielleicht an seiner Grenze, nicht in seinem Zentrum” [ebd.: 25]) trägt dem Rechnung, ohne eine Lösung des Problems weiter zu verfolgen. Barthes verhandelt die Problematik der Lesbarkeit und affirmiert die Souveränität des signifiant, wenn er noch nicht entzifferte Schriften einerseits und “die fiktiven Schriften wie sie von manchen Malern oder manchen Außenseitern imaginiert wurden” (ebd.: 77) andererseits, d.h. Kunstwerke, die mit nicht entzifferbaren schriftähnlichen ‘Zeichen’ arbeiten, vergleicht. Als Beispiele für die ersteren nennt Barthes die Schrift der Osterinseln und die Inschriften des Industals, für die letzteren Werke von Masson und Réquichot (cf. ebd.). Er gelangt zu dem Schluss: Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 181 6 Von einem Einfluss Barthes’ kann aufgrund der oben angedeuteten Editionsgeschichte natürlich nicht die Rede sein, auch Verweise auf die Variations gibt es im Bereich der Schrifttheorie bislang kaum. Das Interessante aber - das Verblüffende - ist, dass nichts, absolut nichts die wahren Schriften von den falschen Schriften unterscheidet: keinerlei Unterschied, es sei denn im Kontext, zwischen Nicht-Entziffertem und Nicht-Entzifferbarem. […] Was soll das heißen? Dass der Signifikant frei ist, souverän. Eine Schrift braucht nicht ‘lesbar’ zu sein, um eine Schrift im vollen Wortsinne zu sein. (Ebd.: 77ff.) Was im L’empire des signes noch Utopie ist - die Zeichenleere, die der Schrift in einem ausdrücklich fiktiven Japan ihre Souveränität diesseits jedes Sprachsystems verleiht -, wird in den Variations somit zum Faktum umgedeutet. Lesbarkeit gilt damit nicht länger als intrinsische Funktion der Schrift. Der mit dieser Zeichenleere ermöglichte Blick auf die Materialität des Schriftzugs, die wiederum denjenigen auf die scription freimachen soll, beruht auf einer folgenreichen, von Barthes gleichsam unter der Hand eingeführten Abstraktion. Denn wenn Barthes notiert: “keinerlei Unterschied, es sei denn im Kontext”, so impliziert dies, dass sich die Souveränität des signifiant nur dann behaupten lässt, wenn man von der Verwendung der Zeichen und jedem kontextuellen Hinweis darauf absieht, die aisthetischen Aspekte also völlig von der Zeichenfunktion ablöst. Diese abstrakte Betrachtungsweise dient Barthes dazu, einen in der phonozentrischen Tradition unterbelichteten Aspekt hervorzuheben; eine Definition der Schrift gibt sie unterdessen nicht her. Neuere Ansätze der Schrifttheorie versuchen demgegenüber, gerade der Vielfalt der Gebrauchsweisen Rechnung zu tragen. Grube/ Kogge beschreiben Schrift über drei Perspektiven: die “Operativität” (Typisierung), die “Referenz” sowie die “aisthetische Präsenz” (Grube & Kogge 2005: 12). In unterschiedlichen Gebrauchskontexten können diese Aspekte jeweils unterschiedlich bedeutsam bzw. auch ganz stillgestellt sein (cf. ebd.: 12f.). So lässt sich z.B. der Tatsache Rechnung tragen, dass Schriftzeichen im Rahmen ihrer aisthetischen Präsenz “ikonische Potentiale” (ebd.: 14) entfalten (können). Die von Barthes angeführten fiktiven Künstlerschriften können als Praktiken beschrieben werden, die die Aspekte der Referenz und Operativität stillstellen. Sie werden somit als Abstraktionsleistungen greifbar - ein Aspekt, der verloren geht, wenn man von der ‘Souveränität des Signifikanten’ spricht und damit schon von vornherein von seinen Kontexten und Verwendungsweisen abstrahiert. Was Grube und Kogge als “Struktur-Modell des Schriftbegriffs” (ebd.: 12) entwickeln, wird bei Stingelin (2004), Giuriato (2005) und Zanetti (2006) in medienhistorischer Perspektive für literarische Schreibprozesse untersucht, für die sie drei Aspekte unterscheiden: die “Semantik (Sprache)”, die “Benützung eines Schreibwerkzeugs (Instrumentalität)” sowie die “spezifische Körperlichkeit des Schreibaktes (Geste)” (Stingelin 2004: 18; cf. Giuriato 2005: 7; Zanetti 2006: 12); im Fokus steht dabei die scription und ihre Geschichte. Gemeinsam ist diesem Modell und demjenigen von Grube und Kogge trotz unterschiedlicher Erkenntnisinteressen das Bewusstsein, dass Schrift und Schreiben immer von mehreren Seiten zu beleuchten sind, und dass Schrift-Modelle flexibel genug sein müssen, um unterschiedlichen historischen Schriftpraktiken gerecht werden zu können. Barthes kann als Vorläufer dieser unterschiedlichen Entwicklungen in der neueren Schrifttheorie gelten. 6 Interessant sind die Übereinstimmungen vor allem deshalb, weil Barthes’ Überlegungen zur Schrift in den Variations in einem doppelten Kontext stehen: Sie sind einerseits eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Schriftdiskurs. Man kann Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 182 die Variations hier als Vollzug eines performative turn und eines material turn avant la lettre lesen - die Erschließung des Gegenstandsbereichs der Schrift über die Untersuchung von Schreibmaterialien, Schreibbewegungen, Gebrauchssituationen in bestimmten historischen Kontexten wird in Barthes’ Dossier bereits skizziert. Andererseits stehen die Variations aber auch im Kontext eines Gesamtwerks, in dem es unter anderem um die Natur des Zeichens und die Verstrickung unserer Begriffe davon in ideologischen Zusammenhängen geht. Das erlaubt Barthes, die wiederkehrenden Denkfiguren des Schriftdiskurses zu identifizieren und ihren Zusammenhang aufzuzeigen. Allerdings führt ihn seine zeichentheoretische Agenda auch dazu, eine Wesensbestimmung der Schrift vorzunehmen, die seinen eigenen Analysen zum Teil zuwiderläuft. Die Variations machen so deutlich, in welcher Weise unser Diskurs über Schrift in diese Fragestellungen eingebunden ist und welche allgemeinen philosophischen und zeichentheoretischen Entscheidungen wir treffen, wenn wir bestimmte Entscheidungen im Bereich der Schrifttheorie fällen - etwa über das Verhältnis von signifiant und signifié oder die Anforderungen an ein Modell der Schrift. Sie zeigen außerdem, dass zeichentheoretische Analysen, die Schrift und Schreiben ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, sich damit auch der historischen Vielfalt von Schriftpraktiken öffnen müssen. Zugleich zeigt die Betonung der körperlichen und visuell-aisthetischen Aspekte von Schrift, dass diese nicht allein semiotisch einholbar ist. Genauer gesagt: Hier zeigt sich an einem konkreten Untersuchungsbereich, wie schwierig es ist, im Einzelnen das Verhältnis von Semiosis und Aisthesis zu bestimmen, ohne einer Seite schlicht den Zuschlag zu erteilen. Barthes’ Denken eröffnet damit postsemiotische Perspektiven, die abschließend umrissen werden sollen: Barthes’ mythographische Analysen der materiellen Kultur, die Verortung der ‘Lust am Text’ im Leseprozess und die berühmte Unterscheidung zwischen punctum und studium des fotografischen Bildes verdeutlichen, wie sich das schwierige Verhältnis von Aisthesis und Semiosis durch das gesamte Barthes’sche Werk hindurch verfolgen lässt. 4 Postsemiotische Perspektiven “Kultur kann völlig unter einem semiotischen Gesichtspunkt untersucht werden” (Eco 1987: 54; Hervorh. im Original) - was Umberto Eco in Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen formuliert, kann als der common sense der semiotischen Theoriebildung gelten. Die Semiose, als Kern semiotischen Weltverstehens, bildet nach Peirce bekanntlich einen unendlichen Prozess der Ersetzung von Zeichen durch Zeichen. So wird “jedes Zeichen von einem nachfolgenden in potentiell endloser Reihung ausgedeutet” (Volli 2002: 30). Dass den Ausgangspunkt solcher Semiosen die unterschiedlichsten, dabei aber stets schon als zeichenhaft aufgefassten Objekte bilden können - denn “[n]ichts ist ein Zeichen, wenn es nicht als ein Zeichen interpretiert wird” (Peirce, zit. nach Nöth 1985: 36) -, haben diverse Arbeiten immer wieder gezeigt, so etwa Ecos Ausführungen zur Semiotik der Architektur und den verschiedenen semiotischen Aspekten etwa von Treppen (cf. Eco 2002: 293ff.). Nimmt man den Begriff der Semiose ernst, dann erscheint die Sprache nach gängiger Meinung als das privilegierte Medium, mit dem sich die gesamte als zeichenhaft begriffene Wirklichkeit - und das meint: die gesamte Wirklichkeit - erfassen lässt. In diesem Sinne erklärt auch Roland Barthes in seinem Vortrag zur “Semantik des Objekts” einem semiotisch nicht vorgebildeten Publikum, dass “alles, was in der Welt mehr oder weniger bedeutet, immer mit Sprache Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 183 7 Zu diesen und ähnlichen Denkfiguren in Barthes’ Œuvre cf. Richard 1988. 8 Zu Barthes’ Selbstverständnis als Schriftsteller cf. Bürger 1992 sowie kritisch dazu Ette 1998: 131-133, 163-167. Éric Marty spricht mit Bezug auf die Mythologies von einer “poétisation de ces choses”, die dem Umgang mit Dingen in den Werken von Francis Ponge oder Marcel Proust vergleichbar sei (Marty 2008: 191f.). vermengt ist: es gibt keine signifikanten Objektsysteme im Reinzustand; die Sprache greift immer als Relais an” (Barthes 1988 a: 187). Doch gerade die Objektwelt und die Frage nach der “Weise, in der die Objekte in der heutigen Welt bedeuten können” (ebd.), sind es, die Barthes nicht nur zu semiotisch versierten Analysen - wie etwa in den Mythologies (Barthes 2010 a) - veranlassen, sondern die ihn zugleich an die Ränder des Semiotischen und über das bloß Zeichenhafte hinaus führen. So räumt denn auch Eco ein, dass “die Gesamtheit der Kultur sub specie semiotica” zu betrachten nicht heiße, “Kultur sei nur Kommunikation und Signifikation, sondern es bedeutet, daß man sie gründlicher verstehen kann, wenn man sie unter semiotischen Gesichtspunkten betrachtet” (Eco 1987: 52; Hervorh. im Orig.). Eco weiß also durchaus darum, dass Kultur mehr ist als das bloß Zeichenhafte - und beschränkt sich letztlich doch wieder auf deren rein zeichenhafte Aspekte. Dagegen treibt Barthes diese Einsicht willentlich produktiv voran, indem er gerade “den logischen Widerspruch”, dieses “alte Gespenst” (beide Zitate Barthes 2010 a: 11; Hervorh. im Orig.), sucht, jene “Spalte[n]”, “Zwischenr[ä]um[e]” (ebd.: 22) oder “Haarriss[e]” (Barthes 2006: 99; Hervorh. im Orig.), 7 an denen der Anspruch der Semiotik auf eine vollständige Erfassung der Welt den Blick freigibt auf nicht-semiotische Aspekte der Wirklichkeit, an denen - anders formuliert - Semiosis und Aisthesis ineinanderwirken und eine körperliche Ergriffenheit erzeugen. In der neueren Diskussion um Semiotik und Hermeneutik hat insbesondere Dieter Mersch auf die “Residuen des ‘Asemiotischen’” (Mersch 2010: 13) aufmerksam gemacht. Unter dem Titel Posthermeneutik fasst Mersch das von den Zeichen “Unabgegoltene” (ebd.) unserer Semiosphäre, wozu “die Materialität der Dinge, die Leiblichkeit des Körpers” zählen, “aber auch das Übriggelassene, die untilgbaren Reste, derer wir nicht Herr werden, der Verfall, das Altern oder die zeitliche Erosion, die nicht erfasst, begriffen oder berührt werden können” (ebd.; Hervorh. im Orig.). Indem Barthes die Grenzen des Semiotischen in seinem Werk wiederholt überschreitet, erscheint er gleichsam als Vordenker einer solchen Posthermeneutik oder Postsemiotik (cf. Weyand 2013 b: 111f., 117f.). Gibt es einerseits berechtigterweise ein Einverständnis darüber, dass das Werk Roland Barthes’ von Diskontinuitäten und Wendungen gekennzeichnet ist (cf. Bensmaïa 1988: 182), wie sie für sein Schrift- und Textverständnis in den Abschnitten 2 und 3 dieser Einleitung ausführlich dargelegt worden sind, so bilden andererseits demgegenüber nicht nur das Problem der Signifikation (cf. Genette 1966: 188), sondern auch Aspekte des A- oder Postsemiotischen eine überraschende Kontinuität in Barthes’ Denken, die sich von den Mythologies bis zu La chambre claire nachvollziehen lässt. Diese postsemiotischen Elemente stellen die Semiotik - wie eingangs erwähnt - nicht grundsätzlich in Frage. Denn mit dem postsemiotischen Bewusstsein haben sich die das Semiotische überschreitenden Phänomene keineswegs erledigt, sondern verlangen, wenn darüber kommuniziert werden soll, danach, “durch anderes wahrnehmbar und bezeichenbar” (Mersch 2010: 13; Hervorh. im Orig.) gemacht zu werden, also semiotisiert und in die unablässige Zirkulation der Semiose eingeführt zu werden. Barthes’ Texte operieren häufig parallel an der ‘klassischen’ semiotischen Analyse kultureller Phänomene, die sie virtuos vollführen, begeben sich an die Ränder des Semiotischen und leisten durch ihre literarischen Verfahren 8 eine Erstsemiotisierung des Asemiotischen. Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 184 9 Zu den Mythologies, ihrer Entstehung und Rezeption cf. Weyand 2012. 10 Zur aktuellen Dingforschung cf. Böhme 2006; Daston 2004; Hahn 2005; Kohl 2003; Weyand 2013 a. 11 Auf diese Qualität einiger Mythologien Barthes’ weisen auch Eco und Pezzini hin: “Dans d’autres [mythologies; die Verf.], comme ‘La nouvelle Citroën’, ou dans des pages comme celles qu’il écrit sur la chevelure des Romains au cinéma, la signification agissait précisément à travers des objets, des choses, plutôt qu’à travers des mots.” (Eco/ Pezzini 1982: 39) 4.1 Materielle Kultur/ Dinge Analoges gilt, wo die Dinge selbst zu Zeichen werden - auch hier ist das Verhältnis von Semiosis und Aisthesis ein komplexes. Exemplarisch zeigt sich dies bereits in den Mythologies, jenen feuilletonistischen Artikeln, die zwischen 1954 und 1956 monatlich in der von Maurice Nadeau herausgegebenen Zeitschrift Les lettres nouvelles und 1957 gebündelt in Buchform erschienen. 9 Barthes nimmt in seiner Kolumne alltägliche Phänomene wie die Tour de France, Beefsteak mit Pommes Frites, das Gesicht Greta Garbos, Sandalenfilme oder Reinigungs- und Waschmittel in den Blick. Die bekannteste dieser Analysen ist Barthes’ Text über die Citroën DS 19. Barthes beschreibt das Automobil als ein “vollkommen magisches Objekt” (Barthes 2010 a: 196), beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die Namensgebung der DS, in der durch die Homophonie zur ‘déesse’ das Göttliche bereits als Zeichenassoziation angelegt ist. Barthes entwirft ein weiträumiges Assoziationsfeld, in dem die DS mit gotischen Kathedralen, dem Gewand Christi, Jules Vernes Nautilus, Fritz Langs Metropolis und modernen Haushaltsgeräten verknüpft wird. Es zeichnet die semiotischen Analysen der Mythologies aus, dass die Semantik der Dinge darin nicht allein auf sprachliche Konnotationen zurückgeführt, sondern - in Vorwegnahme aktueller Ansätze der material culture- und Dingforschung 10 - aus der Materialität der Dinge selbst entwickelt wird. 11 So gründet der Vergleich der DS mit dem nahtlosen Gewand Christi auf den neuartigen Gummifugen, die das Heckfenster einfassen, sowie auf den Verbindungsstellen zwischen den Blechteilen, deren “taktile[…] Erkundung” (ebd.: 198) Barthes zwar als kleinbürgerlich desavouieren will, zugleich jedoch textuell nachvollzieht und damit in ihr Recht setzt: Eifrig betastet es [das Publikum; die Verf.] die Ränder der Fenster, es streicht mit der Hand über die breiten Gummifugen, die das Heckfenster mit seiner verchromten Einfassung verbinden. […] Die Blechteile, die Verbindungsstellen werden berührt, die Polster betastet, die Sitze ausprobiert, die Türen gestreichelt, die Lehnen befühlt. (Ebd.: 197f.) Die “neue Phänomenologie der exakten Passung” (ebd.: 197), die Barthes der DS zuschreibt, will demnach körperlich erfahren werden und ist nicht vollends semiotisch einzuholen: Sie ist nur fassbar im sinnlichen Erlebnis ihrer aisthetischen Präsenz, durch “sinnlich-affektive Teilnahme” (Böhme 1995: 51). Wiederholt weist Barthes, insbesondere in seinem Nachwort “Der Mythos heute”, auf die “sinnliche Realität” (Barthes 2010 a: 262) des Signifikanten und Effekte der Präsenz im Alltagsmythos. Diese Präsenzeffekte sind aus der ideologiekritischen Perspektive, die Barthes in den Mythologies einnimmt, problematisch, weil sie mitverantwortlich dafür sind, dass der Alltagsmythos Geschichte als Natur, d.h. gemachte Aussagen als natürliche Gegebenheiten erscheinen lässt (cf. ebd.: 278). Trotz dieser Kritik vollziehen die Mythologies selbst Oszillationsbewegungen zwischen Bedeutungs- und Präsenzeffekten, wie sie Gumbrecht (2004: 210ff.) als charakteristisch für die Faszination durch Gegenstände des ästhetischen Erlebens ausgemacht hat. Mit diesem Wechselspiel und Ineinandergreifen von Bedeutung und Präsenz - oder: Semiosis und Aisthesis - partizipieren die Mythologies an einer Entwicklung der Faszination, die diese im Verlauf des Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 185 12 Rückblickend konstatiert Barthes, die Mythologies fielen in eine Schaffensphase, die von Faszination geprägt gewesen sei (cf. Barthes 1988 b: 8). 20. Jahrhunderts zu einer positiven Erlebnisweise im Umgang mit Dingen aufsteigen lassen (cf. Connor 1998; Hahnemann & Weyand 2009). 12 4.2 Lesen In den Variations findet sich ein Eintrag, der dieses Ineinander von Bedeutung und Präsenz, von Semiosis und Aisthesis anhand einer Manuskriptseite auf den Lektüreprozess überträgt: Unendlich. Ich habe eine Manuskriptseite vor mir; etwas, das gleichzeitig an der Perzeption, der Intellektion, der Assoziation teilhat - aber auch am Gedächtnis und am Genuss - und das man Lektüre nennt, setzt sich in Gang. Diese Lektüre, wo werde ich, wo kann ich damit innehalten? Sicher, ich sehe genau, von welchem Raum mein Auge ausgeht; aber wohin? Welchem anderen Raum passt es sich an? Reicht es hinter das Papier? (aber hinter dem Papier ist der Tisch). Welches sind die Ebenen, die jede Lektüre entdeckt? Wie ist die Kosmographie beschaffen, die dieser einfache Blick postuliert? Sonderbarer Kosmonaut, der ich bin, durchquere ich viele Welten, ohne in einer einzigen innezuhalten: die Weiße des Papiers, die Form der Zeichen, die Gestalt der Wörter, die Regeln der Sprache, die Zwänge der Botschaft, die verschwenderische Fülle der assoziierten Sinnebenen. Dieselbe unendliche Reise in der Gegenrichtung, auf den Spuren dessen, der schreibt: vom geschriebenen Wort kann ich zurückgreifen auf die Hand, den Muskel, das Blut, den Trieb, die Kultur des Körpers, seinen Genuss. Zu beiden Seiten erstreckt sich die Schrift-Lektüre bis ins Unendliche, bezieht den ganzen Menschen ein, seinen Körper und seine Geschichte; es ist ein panischer Akt, dessen einzige gesicherte Definition die ist, dass er nirgendwo innehält. (Barthes 2006: 155/ 157; Hervorh. im Original) Wenn der beschriebene Leseakt “nirgendwo innehält”, erscheint er als Prozess der unendlichen Semiose: Assoziationen, eine Fülle von Sinnebenen, die Regeln der Sprache, aber auch die Zwänge der Botschaft halten diesen Prozess in Gang und bewirken eine Lust am Text. Als ‘Schrift-Lektüre’ (und nicht allein Textlektüre) geht diese Semiosis mit einer aisthetischen Wahrnehmung einher: Die Weiße des Papiers sowie die Form und Gestalt der Zeichen und Wörter, also die Materialität des Schriftträgers und die Bildlichkeit der Schrift, wirken ebenso in die Lektüre wie der Text und sein Sinnpotential. Die Lektüre folgt damit dem von Sybille Krämer formulierten aisthetischen Grundpostulat: “[D]ie Materialität eines Sinns wird gegenwärtig nur in der Materialität eines Sinnlichen” (Krämer 2004: 20). Für Barthes führt dieser Weg noch weiter, von der Manuskriptseite zum Körper des Schreibenden. Doch welche Rolle kommt der Aisthesis und den Effekten von Präsenz zu, wenn es sich nicht um ein Manuskript handelt, sondern um einen gedruckten Text? 4.3 Text und Diegese Mit Le plaisir du texte legt Barthes eine Texttheorie vor, die die Autonomie des Signifikanten feiert. Barthes stellt der auf den Fortgang der Geschichte orientierten Lektüre eine Lektüreweise entgegen, der es um den Genuss des Signifikanten und der Signifianz (signifiance) geht. Diese andere Lesart läßt nichts aus; sie ist schwergewichtig, klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Beflissenheit und einem Fortgerissensein, ergreift an jedem Punkt des Textes das Asyndeton, Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 186 das die Sprache zerschneidet - und nicht die Anekdote: Nicht die (logische) Ausdehnung fesselt sie, die Entblätterung der Wahrheiten, sondern das Blätterwerk der Signifianz […]. (Barthes 2010 b: 21) Unter Signifianz begreift Barthes den “Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird” (ebd.: 77; Hervorh. im Original) und somit auch sinnlich, d.h. aisthetisch wahrnehmbar ist. Erfolgt die Rückbindung der Schrift an den Körper über die Hand, so entwirft Barthes für den Text eine gleichsam utopische, zumindest jedoch imaginäre Fundierung in der Stimme: Wäre es möglich, sich eine Ästhetik der textuellen Lust vorzustellen, dann müßte in sie eingehen: das Schreiben mit lauter Stimme. […] Das Schreiben mit lauter Stimme ist […] nicht expressiv; es überläßt die Expression dem Phäno-Text, dem regulären Code der Kommunikation; es selbst gehört jedoch zum Geno-Text, zur Signifianz […]. (Ebd. 82f.; Hervorh. im Original) Anstelle der “Klarheit der Botschaften” ist das Ziel dieser Ästhetik der textuellen Lust eine “von Haut überzogene[…] Sprache”, ein “Text, in dem man das Korn der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Lüsternheit der Vokale, eine ganze Stereophonie, die tief ins Fleisch reicht, hören kann” (ebd.: 83). Auf diese Weise wird der Körper des Schreibenden im Text präsent: “Das körnt, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: das lüstet” (ebd.: 84), lautet der letzte Satz von Le plaisir du texte. Bemerkenswert ist unter postsemiotischer Perspektive nicht nur, dass Barthes den Text über die Signifianz und damit insbesondere über den Signifikanten an den Körper rückbindet. Auch die Signifikatsebene der Diegese, d.h. der erzählten Welt, ermöglicht Effekte der Präsenz. So führt Barthes über die Lektüre eines Textes von Stendhal aus: In einem alten Text, den ich soeben gelesen habe (einer Episode aus dem Leben der Kirche, von der Stendhal berichtet), wird Nahrung benannt: Milch, Brotschnitten, Sahnekäse aus Chantilly, Konfitüre aus Bar, Orangen aus Malta, gezuckerte Erdbeeren. Ist dies noch eine Lust der reinen Repräsentation (die dann nur von einem Leser als Feinschmecker empfunden wird)? Aber eigentlich mag ich Milch oder derlei Süßspeisen nicht besonders, und ich projiziere mich kaum in die Details solcher Leckereien. Etwas anderes geschieht, was zweifellos an einen anderen Sinn des Wortes “Repräsentation” gebunden ist. Wenn jemand in einer Diskussion für seinen Gesprächspartner etwas repräsentiert, so führt er nur den letzten Zustand der Realität an, das Unbehandelbare, das ihr innewohnt. Genauso wohl der Romancier, der die Nahrung anführt, benennt, mitteilt (sie als etwas Mitteilbares behandelt) und damit dem Leser den letzten Zustand der Materie aufdrängt, das, was in ihr nicht überholt, zurückgedrängt werden kann […]. Das ist es! Dieser Ausruf darf nicht als eine Erleuchtung der Intelligenz aufgefaßt werden, sondern als die Grenze der Namengebung, der Imagination selbst. Es gäbe somit am Ende zwei Realismen: Der erste dechiffriert das “Reale” (was sich nachweisen, aber nicht sehen läßt); der zweite sagt die “Realität” (was sich sehen, aber nicht nachweisen läßt); der Roman, der diese beiden Realismen miteinander vermischen kann, fügt dieser Einsehbarkeit des “Realen” den phantasmatischen Schweif der “Realität” hinzu: Erstaunen, daß man im Jahre 1791 “einen Orangensalat mit Rum” zu sich nahm, wie in unseren Restaurants heute: ein Stück des historisch Intelligiblen und die Hartnäckigkeit der Dinge (die Orange, der Rum), schlicht da zu sein. (Ebd.: 59f.; Hervorh. im Original) Für Barthes entsteht die Lust am Text auch an diesen “Klüftung[en]” (ebd.: 61), an denen die textuelle Repräsentation sich öffnet und umschlägt in Momente der Präsenz, durch die die Dinge “schlicht da sind” in ihrer Materialität, dem “letzten Zustand der Materie”, dem, “was in ihr nicht überholt, zurückgedrängt werden kann”. Diese aisthetische Präsenz zeigt die Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 187 Grenzen der Semiosis auf: “Ich weiß wohl, daß dies nur Wörter sind, aber dennoch … (ich bin bewegt, als ob diese Wörter eine Realität aussagen würden).” (Ebd.: 62; Hervorh. im Original) 4.4 Das fotografische Bild Wenn sich dieses Erlebnis der Präsenz in Le plaisir du texte im Ausruf “Das ist es! ” artikuliert, so nimmt dies bereits eine zentrale Wendung aus La chambre claire vorweg: In seinem berühmten Versuch, zu einer “‘Bestimmung’ der P HOTOGRAPHIE ” zu gelangen, stößt Barthes auf die “unerhörte Verschränkung von Wirklichkeit (‘Es-ist-so-gewesen’) und Wahrheit (‘Das ist es! ’)” (Barthes 1989: 124; Hervorh. im Original). Durch dieses Ineinander von Wirklichkeit und Wahrheit erscheint für Barthes “[j]egliche Photographie” als “eine Beglaubigung von Präsenz” (ebd.: 97) des Gezeigten - eine Präsenz, in der “das Abbild bis an jenen verrückten Punkt [führt], wo der Affekt […] das Sein verbürgt” (ebd.: 124). Dabei wird das Es-ist-sogewesen zum punctum der Fotografie, jenem nicht kalkulierbaren Detail, durch das der Betrachter affiziert wird: “Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht” (ebd.: 36; Hervorh. im Original). Barthes führt das punctum zunächst als ein formales Gegenelement zum studium ein als einer Rezeptionsweise, die sich auszeichnet durch “die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit” (ebd.: 35). Mit dem Es-ist-sogewesen bestimmt sich das punctum nicht mehr über die Form, sondern über die “Dichte”, es “ist die Z EIT ” (ebd.: 105; Hervorh. im Original). Die entscheidende Differenz zwischen studium und punctum liegt in ihrem Verhältnis zur semiotischen Codierung: “Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht” (ebd.: 60; Hervorh. im Original). Das studium ist damit semiotisch erfassbar, das punctum kann dagegen nur aisthetisch erfahren werden, und doch bestimmt gerade dieses asemiotische Detail “plötzlich meine ganze Lektüre” (ebd.: 59). Es scheint, als sei die Semiosis in La chambre claire, Barthes’ letzter Veröffentlichung, damit zugunsten der Aisthesis an ihr Ende gelangt. Hat die Semiotik also ihre beste Zeit hinter sich? In seinem Nachruf auf Barthes hat Jacques Derrida die Untrennbarkeit von studium und punctum hervorgehoben: [C]ette apparente opposition (studium/ punctum) n’interdit pas, favorise au contraire une certaine composition entre les deux concepts. Que faut-il entendre par composition? Deux choses, qui encore composent ensemble. […] Séparés par une limite infranchissable, les deux concepts passent entre eux des compromis, ils composent l’un avec l’autre et nous y reconnaîtrons tout à l’heure une opération métonymique : le ‘hors champ subtil’ du punctum, son hors code compose avec le champ ‘toujours codé’ du studium. Il lui appartient sans lui appartenir, il y est insituable, ne s’inscrit jamais dans l’objectivité homogène de son espace cadré mais il l’habite ou plutôt le hante : ‘C’est un supplément : c’est ce que j’ajoute à la photo et qui cependant y est déjà.’ (Derrida 1981: 274; Hervorh. im Original) Das studium und das punctum sind demnach durch eine unüberwindliche Grenze getrennt - diejenige zwischen dem Außerhalb des Codes und dem immer Codierten -, und doch ist das punctum dem studium immer schon zugehörig. Ihr Verhältnis, und damit das Verhältnis von Semiosis und Aisthesis, ist demzufolge keines der Ersetzung. So wenig wie die Postmoderne ohne die Moderne und der Poststrukturalismus ohne den Strukturalismus auskommen, so wenig - davon sind die Herausgeber dieses Themenheftes überzeugt - gelangt die Semiotik an ihr Ende durch die Dringlichkeit postsemiotischer Fragestellungen. Die gegenwärtige Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 188 Legitimationskrise der Semiotik beruht auf einer teils begründeten, teils jedoch auf einer auf selektiver Rezeption der Semiotik fußenden Kritik. Ist die Semiotik in einigen ihrer einschlägigen und prominenten Positionen tatsächlich von einem aisthetischen Reduktionismus geprägt, so schließt dies noch keineswegs die Möglichkeit aus, Semiosis und Aisthesis zu verbinden. Wie die vorangehenden Ausführungen zeigen, erweist sich die Semiotik nicht nur als anschlussfähig an aktuelle Diskurse um Präsenz und Aisthesis; mit dem Œuvre Roland Barthes’ werden diese Aspekte von einem Klassiker der semiotischen Theoriebildung bereits auf vielfältige Weise verhandelt. Das Themenheft möchte auf diese Aspekte in Barthes’ Denken aufmerksam machen und dazu beitragen, seine Schriften für die weitere Diskussion um Semiosis und Aisthesis produktiv zu machen. 5 Danksagung Die Mehrzahl der Beiträge dieses Themenhefts geht auf eine von den Herausgebern veranstaltete Tagung desselben Titels zurück, die vom 26. bis 28. September 2012 am DFG- Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Institut für Germanistik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg stattfand. Unser Dank gilt daher an erster Stelle Prof. Dr. Sybille Krämer als Leiterin des Graduiertenkollegs. Ohne ihre Unterstützung hätte die Tagung (und in der Folge diese Publikation) nicht realisiert werden können. Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich danken wir für die Möglichkeit, die Beiträge als Themenheft der Zeitschrift Kodikas/ Code zu veröffentlichen - und nicht zuletzt für seine Geduld. Rahel von Minden hat uns kompetent bei der redaktionellen Bearbeitung einzelner Texte geholfen; dafür sei ihr herzlich gedankt. Bibliographie Barthes, Roland 1981: Das Reich der Zeichen, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1988 a: “Semantik des Objekts”, in: Barthes 1988 b: 187-198 Barthes, Roland 1988 b: Das semiologische Abenteuer, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1989: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2006: Variations sur l’écriture / Variationen über die Schrift, Französisch - Deutsch, übersetzt von Hans-Horst Henschen, mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Barthes, Roland 2010 a: Mythen des Alltags, vollständige Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin: Suhrkamp Barthes, Roland 2010 b: Die Lust am Text, aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Ottmar Ette, Berlin: Suhrkamp Bensmaïa, Réda 1988: “Vom Fragment zum Detail”, in: Henschen (ed.) 1988: 181-208 Blanke, Börries, Antonella Giannone & Pascal Vaillant 2005: “Semiotik”, in: Sachs-Hombach, Klaus (ed.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/ M.: Suhrkamp: 149-162 Boehm, Gottfried 2007: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press Böhme, Gernot 1995: Atmosphäre, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Böhme, Gernot 2001: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Wilhelm Fink Verlag Böhme, Hartmut 2006: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek: Rowohlt Roland Barthes und die Sinnlichkeit der Zeichen: Eine Einführung 189 Bühler, Karl 1999: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, ungekürzter Neudruck der Ausgabe von 1934, mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz, Stuttgart: Lucius & Lucius Bürger, Peter 1992: “Roland Barthes, Schriftsteller”, in: Ders. (1992): Das Denken des Herrn. Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus. Essays, Frankfurt/ M.: Suhrkamp: 90-108 Connor, Steven 1998: “Fascination, Skin and the Screen”, in: Critical Quarterly 40-1 (1998): 9-24 Coulmas, Florian 2003: Writing systems, Cambridge: Cambridge University Press Daston, Lorraine (ed.) 2004: Things That Talk. 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Halawa 2012: “Körperlose Anwesenheit? Vom Topos der ‘reinen Sichtbarkeit’ zur ‘artifiziellen Weltflucht’”, in: Dies. (eds.) 2012: Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin: Kulturverlag Kadmos: 86-108 Gelb, Ignace 1963: A study of writing [1952], 2. Aufl., Chicago: University of Chicago Press Genette, Gérard 1966: “L’envers des signes”, in: Ders.: Figures. Essais, Paris: Éditions du Seuil: 185-204 Giuriato, Davide 2005: “(Mechanisiertes) Schreiben.”, in: Davide Giuriato, Martin Stingelin & Sandro Zanetti (eds.) 2005: “Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen” Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München: Wilhelm Fink Verlag: 7-20 Goody, Jack & Ian Watt 1986: “Konsequenzen der Literalität” [1968], in Jack Goody, Ian Watt & Kathleen Gough (eds.) Entstehung und Folgen der Schriftkultur. 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Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München: C.H. Beck Krämer, Sybille 2004: “Was haben ‘Performativität’ und ‘Medialität’ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‘Aisthetisierung’ gründende Konzeption des Performativen”, in: Dies. (ed.) 2004: Performativität und Medialität, München : Wilhelm Fink Verlag: 13-32 Elisabeth Birk, Mark Halawa & Björn Weyand 190 Krämer, Sybille 2005: “‘Operationsraum Schrift’: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift”, in: Gernot Grube, Werner Kogge & Sybille Krämer (eds.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Wilhelm Fink Verlag: 23-57 Krämer, Sybille 2008: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Krämer, Sybille, Eva Cancik-Kirschbaum & Rainer Totzke (eds.) 2012: Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin: Akademie Krois, John Michael 2004: “More than a Linguistic Turn in Philosophy: the Semiotic Programs of Peirce and Cassirer”, in: Sats - Nordic Journal of Philosophy, 5.2 (2004): 14-33 Leroi-Gourhan, André 1987: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übersetzt von Michael Bischoff, 5. Aufl., Frankfurt/ M.: Suhrkamp Lurie, David B. 2011: Realms of Literacy. Early Japan and the History of Writing, Cambridge, Mass./ London: Harvard University Press Marty, Éric 2008: “Science de la littérature et plaisir du texte”, in: Europe, 952-953 (2008): 185-197 Mersch, Dieter 2002: Ereignis und Aura. 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Reality by Chance Richard Shiff (Austin) A number of Roland Barthes’s essays wrestle with identifying what constitutes a signifying element and what constitutes an “insignificant stretch [plage insignifiante]” within a text, photograph, or hand-rendered image. Barthes’s typical pattern of thought leads to reversals of significance, in which the negative of a positive becomes equally positive - a situation that undermines the structuralist sense of a play of dualistic differences. Examples from filmic narrative and the pictorial art of Cy Twombly factor into this study of the “real” in fictive representation. 1 Connection A second observation connects to a first, altering the sense. Whatever registers in consciousness, registers a difference. Human experience, C.S. Peirce wrote, is “the compulsion […] to think otherwise than we have been thinking” (Peirce c. 1905: 170). 1 X, if followed by Z, does not remain the same, nor does it convey the same sense that it assumes when followed by Y. Life moves on, changing. Because events continue to occur, their implications and our extended interpretations also change. One experience affects another, as if each were an eruption of reality from within a dreamlike, unchanging order - as if each were invading our dream as an alien force. Reality intervenes. It changes the sense of things. With or without external stimulation, thoughts are mental events that transform a person’s state of mind, as if the mind were pliant matter and subject to physical change. To put it another way: psychic activity assumes a physical form. The mind is a medium. We can imagine it as a surface that acquires projected images, each of which leaves a trace to be coordinated with all others. A simple mind would be analogous to a drawing composed only of lines or even a single line. The current extension of the line would require adjustments to its previous course to allow the whole to assume a compositional order with a potential for rationality, a hedge against future disruption. Reflective consciousness works to make sense - to dream a coherent meaning, giving order and structure to the projections of reality that continue to accumulate. Once a cultural order (an ideology, an imaginary) is securely in place, reality becomes a distraction. It causes involuntary passage from one sensation or thought to another. We may never know whether a second thought that follows a first strikes us because it feels right as a response to the distraction, or is itself the distraction, the interruption. If the latter, the K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Richard Shiff 192 connection between two observations appears all the more adventitious: first this sensation, now that, with the two associated solely by their sequence, their temporal succession, their chance contiguity. Are rationally entailed thoughts of a different kind? I like to think that they can be as distracting as unexpected occurrences. We never know where our logic leads us. Our most reasonable thoughts are elements of a more convention-bound order than utter randomness, yet still cause disruption. Perhaps logical thoughts are only moderately distracting, whereas abrupt changes of mind (instances of metanoia) are distracting in the extreme. Distraction, like reason, is a matter of degree. The course of life distracts us. It may be that the connection between two sensory or cognitive moments has no ultimate significance other than articulating the history of the consciousness that experiences it. For this living consciousness, the connection, no matter how evasive it is, defines reality, the moment of greatest awareness: “We are conscious of a dividing instant,” Peirce noted, “with its difference on the two sides” (Peirce c. 1890: 206). Like a linear boundary, the “dividing instant” between two thoughts or sensations becomes both connection and separation. A connection doubles as a disturbance or break. Any two successive observations - first this, then that - remain associated in actual fact, though their existence need acquire no higher sense of regularity or logical entailment. Their sequence and their very existence could have been otherwise. Reality is not a matter of how things must be, but of how they happen to be. “The principle of evolution,” Peirce argued, “requires no extraneous cause, since the tendency to growth can be supposed itself to have grown from an infinitesimal germ accidentally started” (Peirce c. 1891: 15). Like a distraction, the presence of reality, its interruptive force, comes in degrees: “If all things are continuous” - connected as they pass through their various states - “the universe must be undergoing a continuous growth from non-existence” - undifferentiated chaos - “to existence” - a world of differentiated entities in circumstantial relationship. Peirce concludes: “There is no difficulty in conceiving existence as a matter of degree. The reality of things consists in their persistent forcing themselves upon our recognition. If a thing has no such persistence, it is a mere dream” (Peirce c. 1897: 72). 2 The real The observations that drive a logical argument to a conclusion are analogous to those that structure a fictional narrative, directing its course. A narrative must make sense. It is a dream that, in contrast to the kind that interrupts sleep, reaches a satisfying resolution. If wellconstructed and efficient, a narrative includes no unproductive elements; each of its descriptive features contributes to the advancement of the narrative order. Its dreamlike logical perfection indicates its fictiveness. Yet each of its incidental details may be plausibly real. As in the case of either material or intellectual abstractions - paintings, sculptures, photographs, texts (including both logical arguments and fictional narratives) - the constituent elements (material marks, linguistic syntagms) possess a high degree of reality, but the composite whole is an imaginary totality, a product of creative fantasy. In 1968, Roland Barthes composed “L’effet de réel” (“The Reality Effect”), arguing that “the general structure of narrative […] appears as essentially predictive” (Barthes 1986: 142; emphasis original). Retrospectively, a reader perceives how each element prepares for some other, connecting with it. Any detail that fails to connect might justifiably be regarded as an error of composition. Yet Barthes’s “L’effet de réel” is a meditation on the apparent anoma- Reality by Chance 193 2 Peirce writes: “Chance [spontaneity] is merely the possible discrepancy between the character of the limited experience to which it belongs and the whole course of experience [regularity].” The incursion of an anomalous element of reality into a dreamlike fiction amounts to an instance of chance. lies and disconnections, the disjunctive, superfluous elements - factors of “narrative luxury” (ibid.: 141; emphasis original) - that never acquire a proleptic function in the story as it evolves. These elements seem to do nothing, as if they were (to invoke Peirce) accidental starts that went nowhere, beginnings lacking ends. Their only connection is that of placement next to this or that. Each is an interruption, if only minor. Barthes propelled his argument with a series of implicit questions met by a series of hypotheses. Maintaining a degree of digital order - a structuralist’s analytical economy of yes or no, presence or absence - he avoided speculative byways. Having none of the superfluity it addresses, “L’effet de réel” maintains a disciplined focus (a factor contributing to its influence: readily digested, a little Barthes goes a long way) (cf. Chatman 1978: 143ff.). With dispatch, Barthes reached his counterintuitive conclusion: “The very absence of the signified, to the advantage of the referent alone” - the inclusion of a descriptive reference that projects no ulterior meaning or purpose, that, with respect to the narrative, has no independent signification (hence, Barthes’s absent “signified”) - “becomes the very signifier of realism” (Barthes 1986: 148). Stated simply, meaninglessness acquires meaning. The element of no importance lends to everything else the importance of credence. By denoting a seemingly pointless element of a scene within a narrative, alluding to an object of no apparent narratological function, a writer succeeds in connoting reality. Any stray, random, wasteful reference of this kind - a reference that fails to refer to anything beyond itself - produces what Barthes calls the “reality effect.” Perhaps within reality itself, meaninglessness remains meaningless, like one grain of sand in relation to another. The situation changes only when happenstance intervenes: the grain of sand in your shoe, an irritant, an interruption, becomes different from all the sand on the beach. It may cause you to reflect on sand. Within the fictions of representation, meaninglessness acquires meaning even without the intervention of chance. Meaninglessness is chance, for if chance conveyed meaning, it would seem purposeful and intended, hardly a matter of happenstance (perhaps it would be chance to a lesser degree). Yet every discrete element, whatever its character, establishes a referential ground: “reality” is its default function. The element that makes no difference in the developing plot or moral of a story is the one that anchors the entirety of the text in the real. This is its rhetorical effect: “l’effet de réel.” Analyzing literary language from the inside out - allowing language to “write itself” (as opposed to writing out thoughts that somehow exist elsewhere) - Barthes realized that language generates its effects by its own play of differences, and what differs from an ordered fantasy or dream is the isolated bit of reality, the grain of sand severed from its connection to the order of the beach (cf. Barthes 1967: 898). By the digital logic of yes and no, if there is meaning, there must also be no-meaning: “The pure and simple ‘representation’ of the ‘real,’ the naked relation of ‘what is’ (or has been) thus appears as a resistance to meaning” (Barthes 1986: 146). Meaning is a dream. Reality is chance and has no meaning (cf. Peirce 1902: 78). 2 It remains in want of its dream. Barthes drew his initial example from the opening of Gustave Flaubert’s story “Un coeur simple,” where a barometer is identified among the disparate contents of a room, as if it merited attention: “An old piano supported, under a barometer, a pyramidal heap of boxes and Richard Shiff 194 3 Flaubert writes: “Un vieux piano supportait, sous un baromètre, un tas pyramidal de boîtes et de cartons.” 4 Barthes can imagine somewhat remote connotations that the piano and heap of containers might bear, but discovers no plausible possibility for the barometer, given the terms of Flaubert’s narrative. The disorderly piano might just as well have been located under a clock or a painting. cartons” (Barthes 1986: 141; Flaubert 1877: 193). 3 Barthes comments: “No purpose seems to justify reference to the barometer, an object neither incongruous nor significant, and therefore not participating, at first glance, in the order of the notable” (Barthes 1986: 142; emphasis original). 4 Details that fit the narrative, as well as details that pointedly do not, would be equally “notable,” attracting and meriting attention. But here, with the barometer, what the writer notes appears unworthy of being noted for either of the two reasons offered (congruity and a contrary incongruity). Barthes is less concerned to ask why an author as painstaking as Flaubert mentions the presence of an insignificant object, and more concerned to wonder what effect its appearance has on a reader. Several pages onward in Barthes’s essay, a reader has gained a degree of self-awareness, benefitting from the critic’s second pass: “Eliminated from the realist speech-act as a signified of denotation, the ‘real’ returns to it as a signified of connotation; for just when these details are reputed to denote the real directly, all that they do - without saying so - is signify it; Flaubert’s barometer [belongs to] the category of ‘the real’ (and not its contingent contents) which is then signified” (ibid.: 148; emphasis original). By metonymy, Flaubert’s arbitrarily selected bit of reality infects every other detail of the narrative. The superfluous element, the signifier of the real, a thing of no particular consequence, stands in for any other thing and all other things. Its reality is not only infectious but continuous: it remains in place, as if its meaning were still to develop. The sole property of the barometer, relevant to the narrative context, is its existence. As Peirce had claimed, “existence [is] a matter of degree. The reality of things consists in their persistent forcing themselves upon our recognition” (Peirce c. 1897: 72). To read Flaubert is to become aware of the barometer; yet, according to Barthes’s analysis, the singular barometer in the room central to Flaubert’s story - ironically, an object designed to index external conditions - represents real existence in its utter neutrality, its presence to itself. The barometer tends to pass unnoticed because it lacks all import. Perhaps its message (“this is real, and so is the rest”) remains subliminal - connected but not connected. 3 Insignificant stretches Observations connect to observations. Using Flaubert as his initial example, Barthes, by the end of his brief essay, has established the cause of the “reality effect.” What brings logical entailment to his argument? What constitutes connection? Along the way, he asks: “Is everything in narrative significant, and if not, if insignificant stretches subsist in the narrative syntagm, what is ultimately, so to speak, the significance of this insignificance? ” (Barthes 1986: 143; emphasis original) Readers familiar with Barthes will recognize the form of this question as consistent with his characteristic train of thought. The negative of a positive - insignificance, as opposed to significance - is being investigated under suspicion that it conveys meaning (it signifies) beyond simple negation, that it extends the range of possible meanings rather than marking a termination at the null point of meaning, its degree-zero of existence. If the negative of a positive acquires the character of a positive, can oppositional dualities ever generate reliable discursive stability? If positives no longer eliminate their Reality by Chance 195 5 Writing in 1961, Barthes was reflecting on film photography, not digital. negative antitheses from consideration, anything is possible. In this respect, Barthes’s analysis undermines the dualistic, yes-or-no foundation of much of his structuralist method. A creative thinker follows language where it leads, and here chance returns triumphant. A digital yes-orno, presence-or-absence, may not be the absolute division it purports to be. Barthes seems to acknowledge that yes and no - as well as any other polar dualities - are somehow connected and capable of exchanging properties. With regard to the magnetic poles of the physical planet, reversal would be traumatic. But oppositional extremes commonly reverse in the course of thinking, sensing, and feeling. The form of the exchange is often chiasmic: a sense of pain becomes pleasure, just as pleasure becomes pain. As with more “logical” patterns of thought, sometimes reversal hardly interrupts the flow of consciousness. And life moves on. Barthes was well prepared to consider the paradox of the “reality effect.” Several years previously, he identified what he called a “photographic paradox.” To explain it, he developed a similar rhetoric of exchange, reversal, and inversion: “The paradox is that the connoted (or coded) message develops here [in a photographic image] from a message without a code” (Barthes 1961: 130; emphasis original; cf. Barthes 2002 d: 1: 1123f.; Barthes 1985 c: 8). In other words, the connotation of photographic realism depends on the presumed denotative perfection of this medium. The image that lacks a code, that requires no translation, is nevertheless coded as “this is reality.” Because our initial thought is “denotation, 100 per cent, connotation, zero,” denotation is itself connoted by any ordinary photograph - all the more so, by the press photographs that Barthes used as his primary examples, since these were often the products of anonymous agents who had little incentive to aestheticize or otherwise doctor the image. 5 The connotative value of denotation corresponds to the significance of insignificance. To include superfluous, insignificant details of description within a narrative causes it to seem photographic, for an untouched photograph eliminates nothing from its view. These analytical observations are very Barthes-like. “Insignificant stretches”: I take this phrase from a translation readily available for Anglophone readers (cf. Howard 1986). Barthes’s French word for stretches is plages - he writes of “quelques plages insignifiantes” (Barthes 2002 c: 27). Plage refers to an undifferentiated but limited period of time or an extent of surface area, including any area of land (plage as zone délimitée), and, in common usage, a stretch of exposed, open land along a body of water: in English, a beach; in French, une plage (alternatively, une grève). To translate plages as beaches would disturb the contextual order of “L’effet de réel.” It would convert Barthes’s general application of this term (undifferentiated extent) to too specific a usage. The conversion would introduce metaphor, or perhaps catachresis (if the word plage signifies “beach” only because an expanse of space is sufficiently beach-like to transfer the name for a second proper use). In the context of typical issues of textual analysis, it would be misleading to claim that passages of gratuitous description have properties specific to beaches. These descriptive elements are merely stretches - of nothing in particular and between no particular locations and no particular moments. Their “reality effect” can erupt at any stage of the narrative. Because a stretch of intervening reality can extend for any distance or any time, it does not “stretch” in the physical sense of making an effort, extending itself. At least initially, it is more of a lapse than a crux. Its action seems passive, unwilled. Gratuitous effects of the real merely arise. Regarded in this manner, there may yet be something beach-like about these Richard Shiff 196 6 In several minor details, the version on www.dailyscript.com fails to correspond to the film as released. My quotations have been taken from the film itself. representational markers of reality. Passages of insignificant text, units of descriptive language that fail to advance or modify a narrative, resemble the constitution of beaches, which are stretches (étendues) of land that contain within themselves undifferentiated stretches - the innumerable elements of sand, gravel, or pebble, sometimes known geologically as shingle. If we were to divide a beach into segments, each part would look essentially the same as the whole as well as like the other parts. This is why the parts of a beach assume no meaning; they make no difference. The English word beach has a metonymic derivation, from constituent part to general whole: it first designated the shingle that covers a shoreline area; eventually, it referred to the area itself, a more abstract entity (cf. OED 2014). The etymology of the English word appears to invert the direction of its French counterpart, in which a specific instance of a general type, plage, borrows its name from the general abstraction used to designate all such forms of extension, including arrays as abstract as ranges of numbers. Barthes notes that “‘useless details’ […] seem inevitable: every narrative, at least every Western narrative of the ordinary sort nowadays, possesses a certain number” (Barthes 1986: 142). A single insignificant detail affects the entirety of a narrative, ensuring that we never escape reality in our fictions. The meaning of a detail - its potential to function in some respect, even though structurally and narratologically “useless” - falls to the judgment of a reader or viewer. This fact raises the possibility of indeterminate cases of significance and insignificance over which critics would fail to agree: hence, the practice of literary explication, commentary, and criticism itself. Whether a particular detail does no more than serve the reality effect of a representation is hard to specify. An interpreter can always imagine an obscure narrative function for each insignificant element, as if to protect the fictive dream from interventions of reality. As imaginative as he was analytical, Barthes might insist on pursuing the dream in the opposite way: the only function of certain anomalous elements in the narrative order would be to validate the literary dream by connecting it to bits of secure reality. 4 Pea stone An intriguing instance of narrative indeterminacy appears in The Man Who Wasn’t There, a film written and directed by Joel and Ethan Coen, released in 2001. Among its quirky features, The Man Who Wasn’t There presents a trial lawyer who decides that the Heisenberg uncertainty principle (or principle of indeterminacy) can be used as a legal defense, designed to raise “reasonable doubt” in the minds of a jury as they evaluate witness accounts and physical evidence. The lawyer epitomizes the uncertainty principle this way: “Your looking changes things […]. The more you look, the less you know” (Coen and Coen 2001). 6 To paraphrase: judgments of the real rest only on chance; the crucial fact will remain outside whatever order you attempt to impose. But this ironic link to Barthes’s “reality effect” is not the motivation for my introducing The Man Who Wasn’t There. The pictorial aspect of a technologically conventional film like The Man Who Wasn’t There is thoroughly photographic. This work neither resorts to hand-drawn or computerdrawn animation, nor have its directors admitted to any digital manipulation of imagery, Reality by Chance 197 7 I have substituted Barthes’s French term à la lettre for the translator’s word literally to restore the sense of partby-part analysis, which photographic images resist. though the cinematography is highly sophisticated (certain scenes appear to be composites of several tracking shots). According to Barthes, the photographic “analogon” - the point-topoint correspondence between a photograph and its model (analog, not digital) - presents a direct representation of reality even if, as in the case of filmic photography, the encompassing cinematic narrative is a fantasy: “In the photograph, since the denoted message is absolutely analogical - i.e., deprived of any recourse to a code, i.e., continuous - there is no need to look for the signifying units of the [primary] message” (Barthes 1985 c: 8; emphasis original). The identification of what appears is obvious. It is as it looks. Barthes elaborates on his notion, stating that analysis proves unnecessary if only because of its impossibility: “In front of a photograph, the feeling of ‘denotation,’ or if you prefer, of analogical plenitude, is so powerful that the description of a photograph à la lettre is impossible” (ibid.: 6f.). 7 A word by word description would fail, because the separate bits would code the image, converting analog to digital and mitigating the sense of plenitude, which can have no code. A photograph is an image of all connection, no separation. A footnote to Barthes’s text distinguishes the selectiveness of hand-drawing from the automatism of photography: “To describe a [representational] drawing is easier, since it ultimately involves describing an already connoted structure, one worked up with a view to a coded signification” (ibid.: 7; emphasis original). Presumably, any representational drawing applies a code - characterizing, interpreting, and modifying its model. To the contrary, even when selectively choosing aspects of the image, photography captures so many denotative features that it persists in connoting reality-in-general. If Barthes were alive in 2001 to view The Man Who Wasn’t There, he would appreciate its narrative complexity. Through several of its scenes, the film brings passive attention - and ultimately, an uncannily delayed notice - to a short stretch of insignificant land, a plage (in the general, abstract sense of this word). I refer to a residential driveway that leads from a public street to nowhere in particular, only to an unused garage. The driveway itself provides parking space for the homeowner’s automobile. Pictorially, it remains superfluous. As characters approach or leave the bungalow where essential segments of the narrative occur, they drive or walk over this piece of ground: this is only natural; this is reality. The several driveway scenes - all but the final one - are brief and merely transitional. Throughout most of the film, a viewer would surmise that the driveway is a manifestation of Barthes’s “analogical plenitude,” a feature of the unedited reality of the site chosen for filming. Residential streets in the United States typically have individual driveways of the type seen in the film. By the terms of the screenplay, the location is Santa Rosa, a town in California, stage-set as 1949. The property belongs to the primary characters in the narrative, Ed and Doris Crane. Their driveway is represented simply for what it is, as it is. To remove it from the picture would lend it significance by its absence, for its presence is expected. To retain it for the various scenes is to preserve its inherent insignificance. But the specific composition of the driveway eventually assumes an unexpectedly active role. This tempts me to evaluate it for what Barthes regards as the “predictive” function of narrative details. The driveway consists of pea stone, a smooth, rounded type of gravel, occasionally found in a natural state on beaches. In mid-twentieth-century America, pea stone was commonly used for residential areas requiring some kind of paving; it substituted for Richard Shiff 198 more permanent but more expensive methods. The scale of filmic representation renders indeterminate the individual components of a pea stone driveway. Like grains of sand or gravel on a beach, the stones are too small to register within the broad scope of the cinematic view. Yet they register by other means. As is customary, this narrative film has a sound track. When a person walks over pea stone, or when a car passes over it, its surface generates a distinctive sound unlike that of coarser types of gravel. As an aspect of The Man Who Wasn’t There, this sound is faint, but definitely audible. An individual previously unfamiliar with pea stone will come to recognize its memorable sound from experiencing the film. Having no narrative significance, the inclusion of this specific auditory feature is analogous to the reality effect of Flaubert’s barometer, a thing among more significant things within a residential setting. By comparison with the relatively spare, linear order of a literary narrative, photography - and even film, despite its strong narrative component - may seem to display an abundance of superfluous references to the real. Everything is included, nothing excluded from the camera’s view. Yet, one of the conceits of narrative cinema is to maximize the significance of incidental elements for the sake not only of the richness of the story but also the economy of its unfolding plot. General locations, specific background elements, the characters’ items of clothing: anything can be a candidate for retrospective significance in the course of the analogon-like recording of fictively composed scenes. As a film runs, just as in narrative literature, any particular cause of the “reality effect” is subject to become an active agent in the unfolding imaginative fiction - like a clue in film noir, initially unnoticed both by the characters and by viewers. My previous reference to “an uncannily delayed notice” hinted that attention returns to the pea stone of the Crane driveway. Because its distinctive sound repeats in each scene in which the driveway becomes a factor, the sound itself has the potential to gain symbolic value, like a chime announcing a time of day or night. This sound announces that we, as attentive viewers, are returning to or leaving the Crane residence. It would be natural to expect repeated allusions to any feature or quality within the filmic presentation to join the main line of the narrative. At the least, the sound of pea stone ought to refer back to itself, altering the absoluteness of its presence - a first instance being modified by a second, a second by a third, a third by a fourth. When Barthes argued that “the general structure of narrative [is] predictive,” he contrasted realistic description: “It has no predictive mark; ‘analogical,’ its structure is purely summatory” (Barthes 1986: 142f.; emphasis original). He was not referring to the coded description of pictures by words, but to verbal description at its most primitive and undeveloped, as if it were a list of things with no logical connectives, only those of position or sequence. Such description is its own conclusion. But it joins in a narrative fiction by producing the effect of the real. The pea stone in The Man Who Wasn’t There - like the passive protagonist of the film, Ed Crane - is neither here nor there. Like Ed, the pea stone is buffeted by chance. Although designed for the driveway, it fails to remain in proper order. Individual pebbles stray into adjacent areas of lawn and walkway, scattered by automobile tires and shoes. This is the functional disadvantage of the material, its behavior under actual conditions. It becomes an issue in a crucial flashback within the film narrative - a flashback for the viewer of the film, whereas for the fictive character Ed, it is his dream as he regains consciousness after a serious automobile accident. The scene closes as Ed and Doris (in contrast to Ed, a proactive personality) silently face the knowledge of a homicide to which each has inadvertently contributed. In the spirit of Barthes, however, let me leave the homicide and the overarching plot develop- Reality by Chance 199 ments aside, while pursuing the possible function of seemingly insignificant details. Barthes had pondered the “insignificant stretches” that appear within a text. What can the presence of a stretch of pea stone accomplish within the filmic narrative of The Man Who Wasn’t There? At the least, it motivates the scene in question, which amounts to Ed’s dreamlike recollection of his failure to communicate openly with Doris. “Pain in the neck,” a door-to-door paving salesman says, as he enumerates the problems that pea stone causes the average homeowner. He addresses Ed, who - in the dreamlike flashback - is sitting on the front porch of his bungalow, awaiting Doris’s return. It is an odd hour, 4: 40 in the afternoon, a subtle indication that discovery of the homicide has interfered with the normal work day. The salesman remarks that a piece of pea stone in the lawn, churned up by a lawn mower, is like “the odd sock”; and he feigns distress and frustration at the thought. What does an odd sock signify? A pair of socks is our everyday reality; a single, odd sock wants to tell the story of how it lost its connection to its mate. The odd sock loses more than its double; it loses its place in the dreamlike order of the world, becoming an anomaly, an annoyance. But which is more “real” - the single sock or the pair? When Ed, who lives a most ordinary life, is eventually tried for a second murder, one he did not commit, his lawyer defends him on the grounds that he has lost his place in the order of the universe. If he is guilty of anything, it is only of living in a world that refuses to accommodate his being. Yet it is Ed who represents reality. He embodies “Modern Man,” his lawyer says, as if invoking the comic ironies of Charlie Chaplin, the social theories of American liberals, and the European existentialism of 1949. Ed is guilty of failing to conform to the fantasy of flawless human behavior. Perhaps the reasonable question to ask of the odd sock and the pair is this: Which will appear more “real,” attaining l’effet de réel? Is the situation of the out-of-order element, relentlessly subjected to chance, the typical reality? Or is it the situation of the in-order element - a reflection of history, society, and culture, of human affairs as they ought to be? The answer is indeterminate. Flaubert’s barometer was suited to its place in the home but had no place in the story. A pea stone driveway is analogously ordinary and perhaps has the potential to interrupt, just as reality so often does. If a person’s attention turns to the sound of pea stone, it can be distracting. Pea stone in the lawn is a different kind of interruption: equally ordinary in its way, the salesman would say, because things always go wrong with this material (“pain in the neck”). A homeowner finds pieces of pea stone where they should not be, but have every material reason to be. Chance puts them there. Yet Ed, in his passivity, will respond to the importuning salesman: “Never bothered me.” Retrospectively, we realize that we too were never “bothered” by the pea stone, despite hearing its sound several times in the course of the film. This incursion of reality created no distraction. In the flashback, however, the audible signs of the physical existence of this material resound, as it becomes - after the fact - predictive of what we eventually come to know. As Peirce might observe, its degree of reality has increased. 5 Meaning from elsewhere In the previous section, I ventured a generalization: A photograph is an image of all connection, no separation. In many senses, both technical and interpretive, this is not the case. An image generated by conventional photographic emulsion breaks into discrete particles when sufficiently magnified by enlargement in the development stage or by projection; there is a Richard Shiff 200 8 The presumed innocence of a photograph does not cause us to become innocent viewers. We bring our expectations and previous experience to its reception, as well as being affected by its context of presentation. “Deciding what is being talked about is, of course, a kind of interpretive bet. But the contexts allow us to make this bet less uncertain than a bet on the red or the black of a roulette wheel” (Eco 1992: 63). physical limit to its resolution (cf. Shiff 2001). And when interpreting a photograph, yes, we can say that it represents the scene of a particular event just as it appeared. But most likely, we recognize the event because we discern a certain number of identifying elements - signifying elements - from within a mass of indecipherable or inconsequential (insignificant) bits of tonal information. 8 Yet, for Barthes, the remarkable feature of still photography and of other photographic media, such as film, is the capacity to connote connectedness, an “analogical plenitude,” which renders any photographic representation an image of all connection, even if not fully connected in a technical sense. If devoid of “insignificant stretches,” a narrative (textual or filmic) would amount to a digital code in which the divisions between the elements operated only as connectives, never as separations. Visualize a video screen: its pixels abut one another. Like members of a crowd vying for attention, the units of code jostle and bump. In Flaubert’s “Un coeur simple,” the barometer is not inactive, but less aggressively active than its neighboring units. It still signifies, generically rather than particularly. It is reality, and perhaps also a delay in the message, a bit of textual filler. Every digit in a coded representation changes whatever meaning is otherwise already present; no meaning remains fixed, regardless of the order in which we consider the elements. To regard a text in this fashion - to stress its analog rather than digital nature - is to analyze it as if it were a picture. It may be more accurate to claim that a text has the properties of a picture than to make the more common claim that a picture has the properties of a text. This is why Barthes, a critical writer, analyzes press photography, and why he accepts the challenge of analyzing the pictorial art of Cy Twombly. Analyzing pictures is chancy, because the location of the significant elements within the image as a whole remains to be determined. In 1979, Barthes published two rather similar essays on Twombly, and - to judge only by appearances - one either draws from the other, or each draws from its counterpart, exchanging references and phrasing, to and fro. To say that these two essays are similar is to note that Barthes presents the same understanding of Twombly twice over. The writings resort to the same examples and terminology, and a number of the sentences are identical. The final paragraphs of each differ by no more than a few words. Yet the two essays are dissimilar, differing rhetorically. One is quite expository; and the other, at least with respect to its fragmented, elliptical structure, is more poetic. In his capacity as theorist as well as writer, Barthes might qualify this distinction between exposition and poetry, just as he would wish to undermine a distinction between science and literature (cf. Barthes 1967: 897f.). He might claim that one essay was merely indulging in the poetry of, the rhetoric of … exposition. Unadulterated exposition would use colorless language, that is, a rhetoric of the reality effect, the connotation of denotation (as in photography). Though there are degrees of color, even white is a color. With regard to rhetoric, even transparency colors a text. The difference in tone in Barthes’s two essays on Twombly probably reflects the different destinations intended for his analysis. The more expository essay, known in English as “The Wisdom of Art,” was commissioned for Twombly’s New York retrospective at the Whitney Museum of American Art; this writing would have had to meet standards for accessibility by a general American readership (cf. Barthes 1979 b; Barthes 2002 e; Barthes 1985 d). The Reality by Chance 201 9 According to Leeman, Lambert also requested an essay from Michel Foucault, who declined. 10 Hero and Leandro is a four-part work consisting of three separate canvases and one work on paper; the “Leandro” inscription appears on Part I. Fig. 1: Cy Twombly: Hero and Leandro, Part I, 1981-1984, oil, crayon, and graphite on canvas. Taken from: Heiner Bastian (ed.) 1995: Cy Twombly: Catalogue Raisonné of the Paintings, Vol. 4, München: Schirmer/ Mosel: 105 more poetic and more elliptical essay is known in English by a colorless title that seems ironic in retrospect: “Cy Twombly: Works on Paper.” This title eliminates the troublesome Latin quotation used to identify the original French version, “Non multa sed multum” (not many but much), which refers to the contrast of quality to quantity (cf. Barthes 1979 a; Barthes 2002 b; Barthes 1985 b). The substitution of everyday English for rarefied Latin is in this instance immaterial, because the Latin phrasing figures prominently in the text, whether English or French. In fact, “Non multa sed multum,” the more poetic essay, was composed in 1976, having been commissioned by the editor of the comprehensive catalogue of Twombly drawings, Yvon Lambert, who had previously held two exhibitions of the artist at his Paris gallery. Barthes wrote the more expository - and, it seems, derivative - version for the Whitney Museum at the very end of 1978 (cf. Leeman 2001: 61). 9 The presence of Barthes within a catalogue, whether destined for a general audience or a select one, contributed to the prestige of his name. Barthes himself was sensitive to names. In the Whitney essay, he addressed Twombly by his proper surname. But in the more playful, more rhetorical essay, the artist becomes TW, leaving it to the reader to decide how to interpret this odd sign, the combination of upper-case T, upper-case W. It might be two consonants or a single compound consonant, sounded as a variety of diphthong, a sound not heard in French as tw, but more or less in words such as trois (three) and toit (roof). As in the case of pea stone, the sound of this sign might signify more than its look. Academics familiar with Barthes will probably find nothing that he discerns in Twombly’s art to be out of character with the writer’s established interests and attitude toward interpretive reading and viewing. Consider Twombly’s painting Hero and Leandro, completed in 1984 (fig. 1). 10 It happens to date a few years later than the time of Barthes’s two essays, but its mythological theme accords with the writer’s emphasis on Mediterranean culture. This is the cultural-history aspect of Barthes’s analysis; in the more expository essay, he links Twombly not only to the Italian culture that this American expatriate had adopted, but also to the classicism of the ancient Mediterranean and Roman world and of the French baroque painter Nicolas Poussin, who installed himself in Italy for the sake of his art. In the more poetic Richard Shiff 202 11 “Sometimes I like a title to give me impetus or a direction or a feel for the way [the painting] should go” (Twombly, as cited in Sylvester 2000: 176). essay, Barthes plays to a greater extent with the tension between pictorial marks and words. Hero and Leandro, like many of Twombly’s works, sets an idiosyncratically hand-written name against a relatively amorphous image that comes into greater focus because of the suggestiveness of the name. 11 Handwriting has its own version of a reality effect. When irregular and idiosyncratic - in the way that those who write by hand often cultivate their cursive script - handwriting represents the degeneration of the signifying mark (a legible sign) into a condition of materiality that signifies little other than the trace of the individual hand (legible perhaps as an index of the hand, but less reliable as a symbolic sign). In view of the title as well as the name “Leandro,” cursively scrawled across the canvas, Twombly’s smears of paint become convincing as a watery wave, despite their incongruous coloration, red and green. The mythical Leandro (Leander) drowned in the sea. Even the lumbering slant of Twombly’s handwriting, as he inscribes the name, seems coordinated with the putative wave, which bears the weight of the name in its flow, as if this name - this physical imprint of lettering - were the body, the corpse, of Leandro. Barthes was sensitive to the way that our recognition of the name - as an announcement of a theme, the story of Hero and Leandro - brings a connotation of sea-water to the applications of red and green paint, which, as denotation, are merely abstract, material smears. In turn, the wave-like paint brings connotation to the denotative handwriting. The paint, along with the coarse character of the handwriting, poeticizes this inscription all the more, by incorporating it as an active pictorial element. The script becomes more than just the abstract designator of the person Leandro. It seems to float on the sea and risks being submerged in the wave. This is the nature of a constructed picture: every element becomes something more than what it is in itself, even the written name, which becomes more than a title. Materially, not merely semiotically, the inscription becomes a metonymic substitution for the body, borne by the wave. Here I am, an interpreter after the fact, and neither Barthes nor Twombly. My interest centers in the way that Barthes views Twombly - whether Twombly’s art differs from, or is analogous to, both literary forms and photographic images. My experience with Twombly’s art is as longstanding as with Barthes’s writing, probably longer. So I come to this interpretive project lacking innocence. My mental attitude might actually correspond with the attitude that Barthes’s writing seems to project. More often than not, he was working on topics requested by others, claiming (according to one biographer) that he “rarely wrote an article without being asked to do so” (Stafford 1998: 17). This was true in the case of his Twombly assignment. With a certain passivity - like the fictional Ed Crane - Barthes was opening himself to a chance sequence of critical practice (his own writings) in which the effect of one on the next would be unpredictable because no one was managing the narrative order. He would learn the significance of his actions only as he moved along. I, too, prefer to receive writing assignments from others. It introduces a welcome factor of chance to my research. I am not the most consistent of scholars. My mind wanders from topic to topic, and if I immerse myself in reading Barthes one day, I might quickly turn to a different type of writer the following day. Roaming of this kind was characteristic of Barthes as well. Among his occupations, he was a journalist, accustomed to changing topics daily, responding to events, following coincidence and the coincidental requests of those who Reality by Chance 203 12 Pincus-Witten based his analysis on conversations with the artist in 1966 (Pincus-Witten, statement to the author, 8 January 2008). 13 “Whatever is ‘gauche’ about the left hand is indispensable to an advanced culture; it keeps us in touch with man’s venerable past, with a time when he was not over-skillful” (Focillon 1936: 67). Barthes himself was lefthanded (cf. Barthes 1977: 98). Fig. 2: Cy Twombly: Untitled, 1970, oil, house paint, and crayon on canvas. Taken from: Nicola Del Roscio & Julie Sylvester (eds.) 2013: Cy Twombly Gallery: The Menil Collection, Houston, New York: Cy Twombly Foundation: 81 commissioned his work. For all his capacity to analyze a text word by word, à la lettre, when it came to the topic of Twombly, he was willing to interpret without knowing very much, as if he were responding to a deadline or were anxious to keep moving onward. The most insightful early writing on Twombly is Robert Pincus-Witten’s relatively short review of the artist’s career published in 1968, which the author expanded to a longer essay in 1974 (cf. Pincus- Witten 1968; Pincus-Witten 1974). 12 During that period, Twombly was making large, rather abstract works in black and white. They look like script that lacks the words, or exercises of the arm and hand in preparation for writing (fig. 2). Barthes did not mention Pincus-Witten by name, but the American’s essay is the source of the quotations from Twombly that Barthes invoked. He also used Pincus-Witten’s information about Twombly’s practice of writing in the dark, the artist’s way of breaking free of habits of refinement. Twombly, Pincus-Witten had said, acquired a look of awkward left-handedness; this notion appears also in Barthes’s account, as does another of Pincus-Witten’s observations - Twombly as an “anti-colorist” (cf. Pincus-Witten 1968: 58f.; Pincus-Witten 1974: 62ff.; Barthes 1985 b: 163ff.). Had he not read Pincus-Witten, would Barthes have argued in this manner? Perhaps so, because these paths of interpretation had been applied to other modern artists; they are readily assimilated, given the drift of prevailing discourse. To cite one example, during the 1930s, the art historian and theorist Henri Focillon had made much of the aesthetic conceit of left-handedness. 13 But I suspect that the connection between Pincus- Witten’s essay and Barthes’s own was quite specific. It may be that someone familiar with the existing writing on Twombly suggested Pincus-Witten as the most useful guide then available. So the encounter of Barthes with Pincus-Witten could have been an accident of a research process, but it could also have been staged by a third party. On my part, I have never objected to allowing chance to generate my research. I have been pleased to let someone else pick the topic or ask me to study a body of art in which I might never have developed an interest. I became involved in working this way - perhaps I was Richard Shiff 204 acting on an inclination I already had - when I was an undergraduate student with access to the closed stacks of the central research library at Harvard University. I had few intellectual priorities, few hierarchies of intellectual value. I was academically open, naïve. From day to day, I would sit at the research desk of a different absent scholar, most of them candidates for a doctorate. I would skim through the selection of books that an advanced researcher had gathered. Even though I had no previous involvement with the particular topic, and often had to guess at what the topic might actually be, I was motivated by the feeling that I was gaining access to the cutting edge of knowledge, acquiring information that would not become public for at least several years to come. This information was denotative on the surface (often collections of primary documents) but connotative in a deeper respect because it had already been selected and arranged by an active intellect. I needed to guess at what the connotative message might be. From my perspective, each body of research was an odd sock, out of place in the universe. But so was I, not having a particular order to follow. There was an additional factor of fascination in reading this way. The links between the various topics became spatial and temporal rather than logical. One thing followed another thing, altering its import. My connection to these topics depended on the chance distribution of the location of the individual study carrels, assigned not by subject but by availability. When one doctoral student finished a dissertation and left the university, another would occupy the vacated desk. And, from day to day, my choice in where to read would depend on the temporary absence of the person who had gathered the particular body of research. I was playing a knowledge game for which chance set the rules. Twombly’s painted surfaces contain arrays of marks that look like nothing other than marks - ciphers, smudges, smears, jottings - little figurations, hard to gather into coherence. Do they follow only by chance? In the more expository of his two essays on the artist, Barthes refers to “the double problem of figuration and signification” (Barthes 1985 d: 183) - the fact that a sign has a figured or material form located in space and time, as well as a conceptual meaning, possibly timeless (although forever subject to change). Twombly makes both sides of this equation obvious, because he produces scrawls of marks, and often assigns a name, such as Bacchus or Orpheus, to the pictorial surface, whether as a title or cursively inscribed across the canvas as the image itself. Sometimes the smear or the scrawl and the name have the same likely referent. Perhaps the game is to make a discourse out of elements that are not consistently discursive, like making a narrative out of elements that advance the story as well as those that delay its denouement. Barthes’s theoretical point is this: any interpreted meaning is likely to translate into words; otherwise, we would never have thought of the meaning in the first place. And the meaning will translate with an economy of verbal equivalence that figuration alone will rarely be able to match. Artists and critics commonly note that drawing a line is like thinking (cf. Serra 1994: 52). But if the line fails to create a recognizable image, if it fails even to produce an indexical image, a clear trace of the action that produced the line, what would be the “thinking” of the line? Can a thought be a thought and yet mean nothing? To take another angle on the question: Would we notice a mark as an independent mark within a visual field if it were not that we had decided it must signify something? We need to have decided that the mark has the look of signification, even if we have no inkling of what significance it might assume. We study the process, not the product. Barthes writes of his effort “quite quickly on slips of paper, to make certain scribbles […]. I am imitating [Twombly’s] gesture […]. I am not copying the product, but the producing” (Barthes 1985 b: 171; emphasis original). Twombly’s gesture leaves “the impression of being ‘thrown’ […] to Reality by Chance 205 throw is an action in which are simultaneously inscribed an initial decision and a terminal indetermination: by throwing, I know what I am doing but I do not know what I am producing” (Barthes 1985 d: 181f.; emphasis original). The meaning is yet to be determined. To me, this resembles a definition of reality. It is also a definition of chance. Imagine looking at a piece of pea stone in a driveway - if we ever notice such particles individually. Or attempt to focus on a grain of sand on a beach. Can we regard the pebble or grain as a mark or sign of pea stone or sand? Left in their proper places, such elements signify little if anything. In a painting, however, tiny dots of ochre, set into an area next to a rather solid blue, might connote sand - not necessarily the individual grain, but the collective substance with the identity “sand.” This would become the meaning of each mark, given the pictorial context. Even something unidentified can have a verbalized identity, that of the anomaly, the odd sock, the irritating element out of order. 6 The nub Concerning the tension between meaningless figuration and meaningful verbalization, Barthes argues: “It is never naïve […] to ask, in front of a canvas, what it represents” (Barthes 1985 d: 183; emphasis original). We ask because we expect the production of an image to be motivated by a purpose, more than mere chance. We could be clever about an answer, holding that any painting represents the feelings of the artist; but this is unlikely to satisfy those who have never been indoctrinated with theories of aesthetic expression and the psychology of desire. Barthes makes his remark in the context of Twombly, because he realizes that people will wonder what the scrawling and smearing might signify in a straightforward way. Is its meaning aligned with its appearance? Does a smear represent smearing? If a canvas shows the handwritten name “Orpheus,” where is Orpheus? A name is not a portrait. A name can be a conceptual portrait, however; and it can be a representation by metonymy (substitute the abstraction of the name for the appearance of the person). Yet the typical viewer expects a representational, figured portrait to bear some degree of visual resemblance to its model - more metaphor than metonymy. Sooner or later, by one or the other of these rhetorical tropes, the public finds a meaning, even in the case of Twombly’s images of looping lines that appear to write nothing. To this end, Barthes states a general principle: “Meaning sticks to man: even when he wants to create non-meaning or extra-meaning, he ends by producing the very meaning of non-meaning or of extra-meaning” (ibid.). Here, again, the argument is characteristic Barthes: the negative of a positive becomes a positive. Just as a convincingly denotative photograph (signifying nothing outside itself) can morph into a connotative sign by assuming the look of a lack of coding (referring to “reality”), so a painting - if no other meaning emerges - can demonstrate a rhetorical point about either metaphor or metonymy. To view Twombly’s art is to recognize that we cannot escape its signifying force, even though, like a piece of pea stone in the lawn, it should be too insignificant to have assumed any meaning whatever. I like to imagine that each time Barthes turned the negative of a positive into a positive, he was just then passing the tipping point between a structural analysis and what we might call a post-structural analysis - right there, for example, in the course of writing the first pages of his essay on press photography in 1961, “The Photographic Message.” He may not have known where this gesture was leading him. In structural analysis, denotation and connotation can be opposed antithetically; but in post-structural analysis, even these struc- Richard Shiff 206 tural, rhetorical forms become dynamic and fluid. We can no longer rely on them to maintain their prescribed function. Barthes states that Twombly’s work “coincides with its appearance,” which is another way of referring to a producing that is not a production (Barthes 1985 b: 157). “Of writing, TW retains the gesture, not the product” (ibid.: 160). The formulation recalls Barthes’s sense of fully denotative images, that they have no coding and require no interpretation. If Twombly represents writing by writing a name on a canvas, we simply see writing (the lines), not a picture of writing (a text to be interpreted). Yet we wonder whether this is Twombly’s natural way of writing or an artistic, staged manner of writing, one that he created - his performance. Does the question not apply to all handwriting, even to all marking, to all gestures of signification? Are they not connoted by the nature of the gesture (call it “style,” if you will)? Such questions lead back to typical theories of expression, hard to avoid. At the very least, Twombly’s line becomes the metaphor of the literal, the convincing simulation of the real - it has the look of being a line so casually made as to appear virtually by chance. “Never mind if, in fact, the work is the result of precise calculation,” Barthes comments: “What matters is the effect of change or, to put it more subtly […] of inspiration, that creative force which is, in a sense, the euphoria of chance” (Barthes 1985 d: 181; emphasis original). We are left to make a critical choice, which may not be one: expression or chance. Twombly’s art gives the appearance of being made of nothing, of coming from nowhere. Like an anonymous photograph, its meaning is reality. It expresses chance. A slight protrusion of fibers within the weave of a piece of canvas - an imperfection, a nub - becomes the instigation for a composition. In other instances, Twombly might begin by noting an area of discoloration on a sheet of drawing paper, or a slight bump of dry pigment within an otherwise smooth application of a ground color. Such aesthetic nonentities are accented by the artist’s attention, each becoming an aesthetic event - a sensory interruption within Twombly’s life of art. He might circle the nub with a pencil line, perhaps adding a spot of color within the circle and several penciled arcs to one side. By this additive process, he generates his own chances, each as real as the last. Nub is a curious word. It refers to an insignificant imperfection in a fabric as well as to the most significant feature of a situation. Perhaps it could function as metaphor for the insignificant stretch that becomes the significant effect of the real: the nub of “Un coeur simple” is the barometer; the nub of The Man Who Wasn’t There is the pea stone. Barthes referred to knowing what he was doing but not what would result. If this was true of Twombly, things seem to have worked out for the best. Barthes writes of the artist’s “good luck” in dealing with accident - with irregularities, like nubs (cf. ibid.: 181f.). This is our situation, too, over and again: something insignificant (a nub) becomes significant (the nub). As one event follows another, we are the products and the causes of chance effects. We live a personal narrative of events we cannot predict. The line we draw, our gesture, produces a figure we would never conceive, had we not drawn it. We sometimes fail to recognize ourselves in photographs: even the most denotative image proves indeterminate and unreliable. Yet life remains rich within this pattern of insecurity. Given all the factors of chance, we have a chance at good luck. So when we conduct research, or write, or merely think, and when we realize how little sense we have of what meanings will emerge - significant or insignificant - we realize as well that we could be lucky. Reality by Chance 207 References Barthes, Roland 1961: “Le message photographique”, in: Communications 1 (1961): 127-138 Barthes, Roland 1967: “Science versus Literature”, in: Times Literary Supplement, no. 3422 (28 September 1967): 897-98 Barthes, Roland 1968: “L’effet de réel”, in: Communcations 11 (1968): 84-89 Barthes, Roland 1977: Roland Barthes par Roland Barthes, trans. Richard Howard, New York: Hill and Wang Barthes, Roland 1979 a: “Non Multa Sed Multum”, in: Lambert 1979: 7-13 Barthes, Roland 1979 b: “Sagesse de l’art”, in: Whitney 1979: 9-22 Barthes, Roland 1985 a: The Responsibility of Forms, trans. Richard Howard, Berkeley: University of California Press Barthes, Roland 1985 b: “Cy Twombly: Works on Paper”, in: Barthes 1985 a: 157-176 Barthes, Roland 1985 c: “The Photographic Message”, in: Barthes 1985 a: 3-20 Barthes, Roland 1985 d: “The Wisdom of Art,” in: Barthes 1985 a: 177-94 Barthes, Roland 1986 a: The Rustle of Language, trans. 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In his texts - especially those of the 1970s - he develops the basic foundation of an aesthetics that considers the process of writing as well as its products. In it, he stresses the material and physical aspects of writing more than its semiotic content and interprets the act of writing as “auto/ bio/ graphical” in the best sense of the word. “‘Sie haben geschrieben, dass die Schreibweise über den Körper geht: können Sie das erläutern? ’” (Barthes 2010 b: 91) 1 “sperme scriptural” Am Schluss von Sade Fourier Loyola (1971), im Kapitel Lebensläufe, ist im letzten der 22 von Barthes zusammengetragenen Biographeme zu Sades Leben das Folgende zu lesen: Mehr als fünfundzwanzig Jahre seines Lebens gefangen, hatte Sade im Gefängnis zwei Fixierungen: der Spaziergang und das Schreiben, beides gestanden ihm Gouverneure und Minister immer wieder zu, um es ihm dann immer wieder zu entziehen wie die Klapper dem Kinde. Bedürfnis und Verlangen nach dem Spaziergang verstehen sich von selbst (obwohl Sade ihren Entzug immer mit einem symbolischen Thema verband, dem der Fettleibigkeit). Die Repression des Schreibens kommt, wie jedermann sieht, der Buchzensur gleich. Aber das Quälende ist hier, daß das Schreiben in seiner Materialität unterdrückt wird. Man verbietet Sade “jeden Gebrauch von Bleistift, Tinte, Feder und Papier”. Zensiert wird die Hand, der Muskel, das Blut, der Finger, der über die Feder hinweg auf das Wort weist. Die Kastration ist umschrieben, das skripturale Sperma kann nicht mehr fließen. (Barthes 1986: 206f.) Trotz Barthes’ Lust an der sprachlichen Provokation und trotz all jener Lüste, von denen Sades Texte handeln, verdankt sich die Rede vom ‘skripturalen Sperma’ keiner dieser Passionen. Mit der Aufmerksamkeit erheischenden Formulierung bringt Barthes auf einen Begriff, was seine Ausführungen zu den Romanen des Marquis zuvor argumentativ entfaltet haben: dass nämlich die Tätigkeit des Schreibens nicht in erster Linie dem Zweck dienen muss, einen (vermeintlich) vorgefassten Sinn aufs Papier zu bringen, sondern um der Wollust willen geschieht. Das “Schreiben in seiner Materialität” - der Umgang mit “Bleistift, Tinte, Feder und Papier” (ebd.: 207) - stellt einen Akt körperlicher Sinnenfreuden dar, der für den eingekerkerten Marquis ebenso (über)lebensnotwendig ist wie der Spaziergang in heller Sonne und frischer Luft: “Ohne Spaziergang und ohne Feder leidet Sade an Verstopfung, wird Eunuch” (ebd.: 207). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Thorsten Gabler 210 1 Dass die Sprache eine “Gesetzgebung” ist, der man nicht entkommen kann, expliziert Barthes in Barthes 1980: 17f.; cf. ebenso Saussure 2 1967: 27: Die “Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zuläßt.” Indem es berichtet, das Spaziergehen und das Schreiben hätten dem Gefangenen von Sainte-Pélagie einen kurzzeitigen Ausbruch aus den Routinen und Strukturen des Gefängnisalltags ermöglicht, erzählt das letzte Biographem, das wie alle Biographeme allegorisch aufzufassen ist, am Beispiel des Marquis zugleich davon, wie der in den Routinen und Strukturen der Sprache gefangene Mensch kurzzeitig aus dieser Gefangenschaft ausbrechen kann. 1 Denn Sade, erläutert Barthes, sei das “seltene[…] Paradox” gelungen, “in einer von Sprache ganz und gar durchdrungenen Welt” (Barthes 1986: 22) eine ‘Sprache’ zu finden, die “nicht mehr gesprochen, sondern getan wird” (ebd.: 34) - und in der deshalb “der Sinn, der Verteiler von Gesetz, Klarheit, Sicherheit” (ebd.: 172), suspendiert ist: In der “stummen Handlung” des Schreibens (oder Gehens) “hört” der Sinn “auf” (ebd.: 22) und eine Logik des Körpers kommt zu ihrem Recht, die insofern im eigentlichen Sinn des Wortes ‘sadistisch’ ist, als das sinnlich-lustvolle, sich bar jeder instrumentellen Vernunft vollziehende Handeln des Körpers keinen Ort innerhalb der Regeln und Gesetze der Semiotik hat. Der Körper sei außerhalb der Sprache zu suchen (cf. Barthes 1986: 146), erklärt Barthes, um wenige Jahre später ergänzend hinzuzufügen, dass der “Körper seinen eigenen Ideen folgt” (Barthes 2010 a: 27). Das aber heißt, dass man es im Falle des 22. Biographems mit der Konfiguration einer Szene zu tun hat, die nichts Geringeres als eine in der Empfindungsfähigkeit - der - des schreibenden Körpers verankerte Theorie der Schrift entfaltet: eine “Ästhetik […] (falls dieses Wort nicht zu entwertet ist)”, die “bis zu ihrem Ende (restlos, radikal, in jeglichem Sinn)” (ebd.: 75) in der körperlichen Wollust des Schreibens gründet. Diese hedonistische Ästhetik rückt die somatische Dimension des Schreibakts unter einer Perspektive in den Mittelpunkt, in der Schreiben und Körper - écriture und corporéité - miteinander verschränkt sind. Wie nämlich der Körper des homo scriptor nur dann ‘zeugungsfähig’ ist, wenn ihm der Zugang zu Bleistift, Feder, Tinte und Papier nicht ‘beschnitten’ wird, können auch die Schreibmaterialien nur dann ihre Funktion erfüllen, wenn Hand, Muskel, Blut und Finger von ihnen Gebrauch machen. Um die Art dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Schreib- und Schriftkörper(n) zu charakterisieren, prägt Barthes die Formel vom ‘skripturalen Sperma’, die im Gegensatz zu all jenen Topiken, die eine Analogie zwischen biologischer Prokreation und schreibender Produktion metaphorisch konstruieren (cf. Wellbery 2002), die Beziehung von Schreib- und Schriftkörper als ein durch keinerlei konventionelles Zeichensystem zu dissimulierendes Verhältnis ernst nimmt. Denn das Attribut ‘skriptural’ erinnert dank seiner Etymologie daran, dass das Wort ‘Schreiben’ (écrire), vom lateinischen scribere stammend, eine “Einschreibungsgeste” (Barthes 2006 a: 159) bezeichnet, die darauf abzielt, “eine plane Materie zu zerteilen” (ebd.: 99), um “ins Innere” dieser “Materie ein[zu]dringen” (ebd.: 159). Der Schreibist also ein Penetrationsakt, und seine graphischen Hinterlassenschaften lassen sich insofern berechtigterweise als ‘Sperma’ bezeichnen, als die Inskriptionen in das ‘jungfräuliche’ Papier ebenso wie die Samenflüssigkeiten Residua sind, die sich ihrer Entstehung nach bei ihrem körperlichen Ursprung verorten lassen. Hinzu kommt ein Zweites: Bekanntermaßen ist Sperma das Ejakulat eines Körpers im Zustand sexueller Wollust. Barthes nennt diesen Zustand jouissance, und er wählt damit einen Begriff, mit dem er ansonsten die Erfahrung der “graphischen Liebkosung” (ebd.: 137) bezeichnet, wie sie die Hand, der Muskel, das Blut und der Finger im Kontakt mit Bleistift, “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 211 2 Cf. hierzu Frey 2 2003: 82f.: “Man kann ein Schreiben erwägen, das, obwohl es mitteilt, nicht im Mitteilen aufgeht, ein intransitives Schreiben, das nicht von einem zu Sagenden her bestimmt ist, sondern um seiner selbst willen stattfindet, so etwa wie das Gehen” (Hervorh. v. mir, T.G.). 3 Cf. Ette 1998: 345: “Der Schriftsteller schafft seine Vorläufer, doch die Vorläufer schaffen auch ihren Schriftsteller. Barthes wird zu einem Zögling der von ihm selbst geschaffenen Trinität.” 4 In den Lettres françaises vom 9. Februar 1972 gesteht Barthes: “Indem ich versuche, eine Reflexion über die Erotik der Lektüre ans Licht zu befördern, mache ich nichts anderes, als dem dogmatischen Diskurs entgegenzutreten” (Barthes 2002 a: 178). 5 Cf. Derrida 1974. Zum Verhältnis von Barthes und Derrida cf. Culler 1983. Tinte, Feder und Papier machen. Für Barthes ist die Tätigkeit des Schreibens eine mit dem Sexualakt vergleichbare “Praxis des Genusses” (ebd.: 11), bei der es darauf ankommt, dass sich im Schreiben der Körper erfährt. 2 Aufs Ganze gesehen, stellt der Akt des Schreibens in Barthes’ Augen eine radikal physiologisch zu denkende Verausgabung des Körpers dar: Es ist der Körper, der sich in die Materie einschreibt, wie diese ihrerseits auf jenen lebenden Organismus (zurück)verweist, dessen graphische Hinterlassenschaften sie in sich trägt. Dass Barthes diesen Gedanken in einem der Biographeme zu Sades Leben formuliert, ist freilich kein Zufall. Der etymologisch beschlagene Barthes führt die Bestandteile des Kompositums auf deren originäre Bedeutung ‘Leben’ ( ) und ‘Schreiben’ ( ) zurück, wirft damit die Frage nach den skripturalen Möglichkeiten des ‘Leben-Schreibens’ ( ) auf und gelangt so schließlich zur Gattung der Autobiographie als derjenigen Institution, die seit dem 18. Jahrhundert der (schrift)sprachlichen Selbstvergewisserung des Subjekts dient. 2 “scription” Die Biographeme über Sade sind Aussagen von Barthes ‘über sich selbst’, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen - wovon im nächsten Abschnitt ausführlich die Rede ist - macht Barthes die in Sades Leben und Schriften vorgefundene Verquickung von écriture und corporéité zum Thema seiner Autobiographie; zum anderen entspricht das Bild, das Barthes vom Marquis zeichnet, Barthes’ eigenem Selbstverständnis. 3 Wenn es nämlich von Sade heißt, dieser rufe überall dort, “wo er sich aufhält, […] furchtsame Verwirrung bei den Hütern der Ordnung hervor”, weil er einem “unartige[n] Kind” gleiche, das nicht aufhört, “seine ehrwürdigen, konformistischen Verwandten zu ›foppen‹ (das Foppen ist eine sadistische Leidenschaft)” (Barthes 1986: 199), dann treffen diese Beschreibungen gleichermaßen auf Barthes zu. 4 Wie Sade führt auch Barthes einen “hartnäckige[n] Kampf” gegen jede “Einsperrung [in] ein System” (ebd.: 206). Es sind die zeitgenössischen Schrifttheorien, denen Barthes den Kampf ansagt, weil diese die Funktion der “Schrift immer von der Sprache aus” (Barthes 2006 a: 27) bestimmen. Das gilt, wie Barthes sich ausdrückt, für die “alphabetische Illusion” (ebd.: 51) der strukturalen Linguistik - für diesen “ganze[n] szientistische[n] Mythos” (ebd.: 31), der behauptet, die Schrift sei eine “einfache Transkription der mündlichen Sprache” (ebd.: 49) - nicht minder als für die seit Jacques Derridas Grammatologie (1967) prominente, unter dem Schlagwort der différance firmierende poststrukturalistische Philosophie der Schrift. 5 Dabei bestreitet Barthes weder die Tatsache, dass die Schrift als ein “begrenzter Vorrat an elementaren Formen” eine “der Analyse zugängliche[…] strukturale[…] Konstitution” (ebd.: 73) besitzt, noch das Thorsten Gabler 212 6 Cf. Barthes 2010 a: 69: Es seien die ‘Intellektuellen’, die von einem “Ort aus sprechen, der von jeglicher Sinnlichkeit der Sprache gereinigt ist”. 7 Cf. Saussure 2 1967: 143: “Das Material, mit dem die Zeichen hervorgebracht werden, ist gänzlich gleichgültig, denn es berührt das System nicht […]; ob ich die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig.” 8 Ein solcher Ansatz ist in der scientific community auf vehementen Widerstand gestoßen - und tut es heute noch, wie Ette (2010 a: 107f.) hervorhebt: “[A]uch wenn dies immer wieder behauptet” worden ist, so Ette, seien “Lust und Wollust […] bei Barthes keine hysterischen Gefährtinnen später Jahre und auch keine erotisierenden Entwürfe seniler Sexualität: Sie sind Grundbausteine des Barthesschen Denk- und Schreibstils […]. Sie sind das vergessene Pärchen der Literaturtheorie, die den Lebens-Text, den Texte de la Vie, aus den Augen verlor, ohne es je zu bemerken”. Wie der Poststrukturalismus auf Barthes’ ‘Ästhetik’ reagiert hat (und noch immer reagiert), mag die folgende, von Ette kolportierte Anekdote illustrieren: Jacques Derrida, heißt es, soll im Jahre 1973 “am Rande seines Exemplars von Le Plaisir du texte […] notiert […]” haben: “Wie langweilig! Seitenlang zu sagen ‘Ich genieße, ich genieße’” (ebd.: 397). Faktum, dass sich der Sinn einer sprachlichen Äußerung “gemäß einer metaphorischen oder metonymischen Spur” (ebd.: 93) herstellt. Was Barthes missfällt, ist der Umstand, dass die Linguisten wie auch deren poststrukturalistische Kritiker ein Verständnis der Schrift pflegen, das den Fokus allein auf die diskursive, digital-diskret organisierte Zeichenhaftigkeit der Schrift legt und darüber das Schreiben in seiner Materialität vergisst. 6 So mag sich Derridas Schrifttheorie zwar durch ein Vokabular auszeichnen, das mit Spielmarken wie ‘Schrift’ und ‘Spur’ vorgibt, den Blick auf die graphische Materialität des Buchstabens zu richten; tatsächlich aber macht auch Derrida aus dem Geschriebenen eine “irreduzible[…] Idealität” (Barthes 1990 b: 122) und vollzieht damit dieselbe argumentative Volte wie Saussure, der die Materialität der Zeichen konsequent aus den systemischen Eigenschaften der (aufgeschriebenen) Sprache ausgeschlossen hat. 7 “Derartige Analysen vergessen”, bilanziert Barthes - und das sei “normal, handelt es sich doch um Hermeneutiken, die auf der ausschließlichen Erforschung des Signifikats beruhen” -, “die gewaltige andere Seite des Schreibens: die Wollust” (Barthes 2010 a: 52). Von dieser Kritik nimmt sich Barthes im Übrigen nicht aus. Auch ihm seien die körperlichen Dimensionen des Schreibens sowie deren psychologische und philosophische Implikationen erst spät, nämlich während seiner Reisen in den Orient und nach Fernost Ende der 1960er Jahre, bewusst geworden. Insbesondere der Aufenthalt in Japan sei es gewesen, bekennt Barthes, der ihm den Mut gegeben hätte, den Diskurs der Schrift “von einer Ökonomie aus zu halten, die die seines Körpers ist” (Barthes 2010 b: 184). 8 Der Umschwung in Barthes’ Denken der Schrift hat sich indes lange vorher angekündigt. Bereits in seiner ersten einschlägigen Abhandlung Le degré zéro de l’écriture (1953) formuliert Barthes den Gedanken, dass der Stil eines Textes “nicht Ergebnis einer Wahl oder einer Reflexion” ist, sondern einen “biologischen Ursprung” habe: Der Stil gründe in der “fleischliche[n] Struktur des Autors” (Barthes 2006 b: 16f.). Zu diesem Gedanken kehrt Barthes gute fünfzehn Jahre später, in den Anfang der 1970er Jahre zu Papier gebrachten, allerdings erst postum veröffentlichten Variations sur l’écriture (2002) zurück, um im Rekurs auf den Körper eine epistemologische Rekonfiguration des Schriftbegriffs im Zeichen der Wollust zu unternehmen. “Der erste Gegenstand”, erinnert sich Barthes in seiner Einleitung, auf den ich in meiner früheren Arbeit gestoßen bin, war die Schrift; damals aber habe ich dieses Wort in einem eher metaphorischen Sinne aufgefasst: für mich war es eine Spielart des literarischen Stils […]. Heute, zwanzig Jahre später - und durch eine Art Rückgriff auf den Körper -, ist es der manuelle Sinn des Wortes, dessen ich mich bedienen möchte, ist es die ‘Schreibung’ “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 213 9 Und dabei gilt: Selbst wenn die Funktion der Schrift allein darin läge, “die Laute der Sprache (in den Alphabeten) zu ‘transkribieren’”, ginge die Schrift dennoch in dieser Funktion nicht auf, “weil die Schrift immer auf Seiten der Gebärde, nie auf Seiten des Gesichts [steht]: sie ist taktil, nicht oral” (Barthes 2006 a: 171). (der muskuläre Akt des Schreibens, die Prägung der Buchstaben), die mich interessiert: dieser Gestus, mit dem die Hand ein Werkzeug ergreift (Stichel, Schreibrohr, Feder), es auf eine Oberfläche stützt und darauf eindrückend oder sanft streichend, fortgleitet und regelmäßige, rhythmisch wiederkehrende Formen einprägt (mehr braucht nicht gesagt zu werden: es handelt sich nicht zwangsläufig um ‘Zeichen’). Es ist also der Gestus, von dem hier gesprochen wird, und nicht die metaphorischen Auffassungen des Wortes ‘Schrift’: es wird nur von der handschriftlichen Schrift die Rede sein, derjenigen, die den Zug der Hand einschließt (Barthes 2006 a: 7ff.) Barthes’ Interesse gilt der physisch-taktilen, somatisch-kinästhetischen und erotogenen Geste “der Einschreibung des Leibs in einen systematischen Raum von Zeichen” (Barthes 1990 b: 121). Barthes nennt diese Geste ‘Schreibung’ (scription), und er stellt klar: “[W]ir ziehen dieses Wort, so pedantisch es auch sein mag, dem der Schrift vor” (Barthes 2002 c: 9). Denn weder ist die Schrift “die Daseinsweise des Geschriebenen” (ebd.), noch erfassen ihre Formen und Formate die “Erfahrungen der reinen Skriptur”, um die es Barthes geht: die “regelrechte Wollust zu schreiben, die Feder gleiten zu lassen, die Arabeske der Wörter ohne jede Rücksicht auf das, was sie sagen wollen, auszuzieren” (Barthes 2006 a: 135). Mit dem Begriff der ‘Schreibung’ verschiebt Barthes den analytischen Blick vom Produkt auf die Produktion und lenkt ihn damit auf ein Ereignis, das sich schlechterdings nicht beobachten lässt, weil es seinen zeit- und kausallogischen Ort vor der Schrift hat. Das ist jedoch nur vordergründig ein Problem. Denn Barthes weiß, dass der schreibende Körper von der Schrift aus als deren produktives Moment erscheint - und dass genau darin die Pointe der Schrift liegt: Es muss beim Blick auf die “graphische Materie” darum gehen, stellt Barthes klar, “rückblickend […] das frühere Werden der Hand [zu] sehen” (Barthes 1990 a: 179). Hierzu sei es nötig, sich nicht auf den Sinn der zu Papier gebrachten Wörter zu konzentrieren, sondern deren Sinnlichkeit wahrzunehmen: “Einer von Hand ausgeführten Schrift entnehmen wir [zwar] noch die Erkennbarkeit der Zeichen, aber […] [auch] Elemente […] von einer anderen Signifikanz […] ziehen unseren Blick (und bereits unser Begehren) auf sich: der nervöse Verlauf der Buchstaben, der Tintenfluß, der Schwung der Abstriche, all diese Vorkommnisse, die für das Funktionieren des […] Codes nicht erforderlich […] sind” (ebd.: 176), in denen sich aber gleichwohl der Körper beglaubigt - “und zwar ganz lebendig” beglaubigt, wie Barthes betont, weil die Striche auf dem Papier dessen “körperliches Wesen” (Barthes 2006 a: 155f.) dokumentieren. Folglich gilt, dass die “Beziehung zur Schrift […] die Beziehung zum Körper” (ebd.: 141) ist. Und auf die Frage eines Journalisten, wie denn die Äußerung zu verstehen sei, dass “die Schreibweise über den Körper geht” (Barthes 2010 b: 91), antwortet Barthes fragend: “Was kann ich von meiner Schrift kennen? ” - “[N]ur das, was ich von meinem Körper kenne: eine Kinästhesie, die Erfahrung eines Drucks, eines Triebes, eines Gleitens, eines Rhythmus” (Barthes 2006 a: 147); “ziehen Sie den Sinn” von den Schriftzeichen “ab”, fordert Barthes seine Leser auf: “[E]s bleibt der Körper” (ebd.: 137). 9 In diesem - dem Körper - hat die skripturale Geste ihren Ursprung, und als unteilbare, ‘in-dividuelle’ Geste dieses einen bestimmten Körpers umgibt sie die (Schrift-)Zeichen mit einer - wie Barthes sich ausdrückt - “Atmosphäre” (Barthes 1990 a: 168), die es dem Leser erlaubt, in einer Art “Zönästhesie” (Barthes 2005: 54) - einer - die körperliche Wollust des Schreibenden Thorsten Gabler 214 10 Man hat es im Falle von Barthes’ Autobiographie nicht mit einer Selberlebensbeschreibung im traditionellen Sinn zu tun, sondern mit einem auf die Wirkung von skripturalen und pikturalen Elementen hin berechneten Gesamtkunstwerk, dessen ‘schrift/ bild/ liche’ Architektur Barthes genau so, wie sie ist, autorisiert hat. Umso schwerer wiegt der Umstand, dass sowohl bei Neuauflagen (cf. Barthes 2010 c) als auch bei den Übersetzungen ins Deutsche (cf. Barthes 1978, Barthes 2010 b) und Englische (cf. Barthes 2010 d) Anlage und Abfolge der Schrift- und Bildelemente willkürlich um den Preis ihres selbstreferentiellen Spiels verändert worden sind. 11 Die Entscheidung des Matthes & Seitz-Verlags, Barthes’ Autobiographie unter dem Titel Über mich selbst zu publizieren, verkennt nicht bloß die Anlage des Textes (“Der Titel dieser Sammlung (X über sich selbst) hat eine analytische Tragweite: ich durch mich? Aber das ist doch gerade das Programm des Imaginären! ” [Barthes 2010 b: 180]); sie läuft auch Barthes’ Poetologie zuwider (“Mich kommentieren? Wie langweilig! Ich hatte nur eine Lösung: mich neu-schreiben” [ebd.: 168]). körperlich mitzufühlen. Bei der Lektüre von Handgeschriebenem werde, so Barthes, weil die handschriftliche Schrift diejenige sinnliche Technik ist, kraft derer “ein Körper einen anderen sucht” (Barthes 2002 c: 11), ein gemeinsam geteilter Raum der Wollust geschaffen. 3 “je de papier” Fünf Jahre nach der Veröffentlichung von Sade Fourier Loyola trägt Barthes erneut Biographeme zusammen, diesmal allerdings sind es die eigenen. Unter dem Titel roland BARTHES par roland barthes (1975) versammelt Barthes Erinnerungssplitter, die eine grundsätzliche Reflexion der Verquickung von Leben und Schrift, Körper und Schreiben erlauben. 3.1 “roland BARTHES par roland barthes” Dass Barthes’ Autobiographie an der Frage nach den Implikationen der Zeugung durch Schrift und der Erzeugung von Schrift interessiert ist, macht bereits das Titelblatt der Erstausgabe deutlich (Abb. 1). 10 Denn die Frage, mit welchem biographischen Subjekt man es im vorliegenden Fall zu tun hat, ist alles andere als leicht zu beantworten. Das liegt zum einen daran, dass Barthes, von der Verlagspolitik der Éditions du Seuil abweichend, die für die Reihe der écrivains de toujours den Titelzusatz ‘par lui-même’ (‘über sich selbst’) vorsieht, auf dem Titelblatt (s)einen Namen wiederholt. 11 Auf diese Weise führt er diejenige autobiographisch-literarische Gattungskonvention ad absurdum, die erzähltes und erzählendes Ich mit dem Autor in eins setzt. Denn die Wiederholung des Namens erzeugt keine Identität, sondern Differenz(en): Der beschreibende barthes ist vom beschriebenen BARTHES typographisch unterschieden, und beide ‘Barthes’ bilden im Syntagma roland BARTHES par roland barthes die Figur eines sich um die Präposition ‘par’ herum drehenden topographischen Kyklos, von dem, weil barthes auf BARTHES verweist, kein Weg (mehr) in eine außersprachliche Wirklichkeit führt: Das biographische Ich “vernichtet sich im Signifikanten”, erläutert Barthes, “weil es unmittelbar mit ihm Eins ist: indem ich mich schreibe, […] bin [ich] selbst mein eigenes Symbol” (Barthes 2010 b: 64). Zum anderen rückt das Titelblatt die Tatsache ins Bewusstsein, dass ‘hier’ BARTHES buchstäblich ‘auf’ oder ‘über’ - eben: par - barthes ruht. Denn dem Cover liegt eine von Roland Barthes selbst - par lui-même - angefertigte, während des Sommerurlaubs im August des Jahres 1974 entstandene und mit dem Titel Souvenir de Juan-les-Pins versehene “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 215 12 Ein Jahr nach seinem Aufenthalt in Japan beginnt Barthes selbst das Zeichnen. Dabei “zeichnete und malte [er] auf verschiedensten Arten von Papier, mit Vorliebe aber alla prima auf dem Briefpapier von Institutionen wie dem Collège de France” (Ette 1998: 446). 13 Cf. Barthes 2010 b: 42: “Mein Körper ist nur dann von allem Imaginären frei, wenn er den Raum seiner Arbeit wiedergefunden hat. Dieser Raum ist überall der gleiche, mit Geduld eingerichtet für die Wollust am Malen, am Schreiben, am Klassifizieren.” Abb. 1: Entnommen aus: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975: Titelblatt Zeichnung zugrunde. 12 Das ist keine Marginalie, sondern wesentlich: Indem das Cover den Titel roland BARTHES par roland barthes auf den von Roland Barthes produzierten Graphismen präsentiert, wirft es die grundsätzliche Frage auf, ob es neben dem “lexikographische[n] Sinn” der zu lesenden buchstabenschriftlichen Wörter nicht auch einen “modale[n] Sinn” schriftbildlicher Notationen gibt, ihr “Subjekt zu tragen, [es] aufblühen zu lassen” (Barthes 2006 a: 149). Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als Barthes’ “tachistische Klecksereien” (Barthes 2010 b: 109) auf dem Buchumschlag einem Photo innerhalb der Autobiographie zuzurechnen sind (und damit eine der rekursiven Anlage des Titels vergleichbare zirkuläre Struktur aufweisen), das zur Zeit von Barthes’ Aufenthalt in Juan-les-Pins (und wohl auch während der Niederschrift der Autobiographie) entstanden ist. Es zeigt einen Barthes in hellen Shorts und weißem T-Shirt, wie er unterschiedliche Papiere sortiert, und findet sich in einer Gruppe von Photographien, die motivisch dadurch miteinander verbunden sind, dass sie einen Einblick in Barthes’ Werkstätten gewähren (Abb. 2). Wenn Barthes im Zusammenhang mit den Photographien seiner Schreib- und Malszenen erklärt: Mon corps n’est libre de tout imaginaire que lorsqu’il retrouve son espace de travail. Cet espace est partout le même, patiemment adapté à la jouissance de peindre, d’écrire, de classer, 13 zählt er nicht bloß Begriffe wie ‘Körper’ (corps), ‘Raum’ (espace), ‘Wollust’ (jouissance), ‘Schreiben’ (écrire) und ‘Zeichnen’ (peindre) auf, die er im Rahmen seiner Autobiographie immerzu aufs Neue ausbuchstabiert; er verleiht vor allem seiner Überzeugung Ausdruck, dass Thorsten Gabler 216 14 Cf. Barthes 2006 a: 145f.: Die “Schrift hat […] von ihrem Ursprung an mit der Zeichnung im Bunde gestanden (das ist konform mit der Phylogenese, soweit man das prähistorischen Zeichnungen entnehmen kann, und mit der Ontogenese, weil, so Pestalozzi, das Kind bereits zwei Jahre früher zeichnen als lesen kann): es ist dieselbe Geste - die des Künstlers und die des Schreibers.” Abb. 2: Entnommen aus: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975: 42-43 Schreiben und Zeichnen miteinander verschwisterte Tätigkeiten sind, weil sie aus der gleichen körperlichen Geste und Wollust resultieren. 14 Deutlich macht Barthes diesen Zusammenhang - und hierin zeigt sich einmal mehr die rekursive Anlage von Barthes’ Autobiographie - wiederum auf den ersten Seiten seines Textes. “Die Bilderreihe”, heißt es dort, mit der die Autobiographie eröffnet - 39 Photographien aus dem Barthes’schen Familienalbum gehen dem Textteil voran -, erzähle “die Figurationen einer Vorgeschichte des Körpers”, und zwar diejenige von Barthes’ Körper, “der sich auf die Arbeit, die Wollust des Schreibens hinbewegt” (Barthes 2010 b: o.S. [8]) habe. Kulminations- und Endpunkt dieser Entwicklung “Zum Schreiben hin” (ebd.: o.S. [45]) sind die drei Photographien von Barthes’ “Schreibtischlandschaft[en]” (Ette 1998: 394), die “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 217 15 Cf. jüngst ebenso Wiethölter 2010: 94ff. 16 Cf. Barthes 2010 b: o.S. [5]: “All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.” 17 Cf. Barthes 2010 b: 142: “Dieses Buch ist keins von ‘Bekenntnissen’.” Zum Konzept des ‘autobiographischen Paktes’ cf. Lejeune 1975. 18 Unter dem Lemma “Das Buch vom Ich” (“Le livre du Moi”) wiederholt Barthes das Incipit und präzisiert: “All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird - oder vielmehr von mehreren. Denn das Imaginäre, unabwendbare Materie des Romans und Labyrinth der Vorsprünge, in denen derjenige abirrt, der von sich selbst spricht, wird von mehreren Masken (personae) aufgenommen, die je nach der Tiefe der Szene abgestuft sind (und doch ist keine Person dahinter)” (Barthes 2010 b: 141). Aus diesem Grund hat die Forschung Barthes’ Text “als ein Beispiel der Autofiktion gelesen, in dem Sinne, dass das theoretische Wissen um die sprachliche Konstruiertheit jeglicher Selbstaussage zum inszenierten autobiographischen Darstellungsprinzip selbst wird” (Wagner-Egelhaaf 2 2005: 203). Abb. 3: Entnommen aus: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975: Umschlagseite (Innen) als “Emblem[e] menschlicher Selbsterfahrung zwischen Körper und Schrift” (Neumann 1980: 393) 15 den Leser respektive Betrachter dazu einladen (sollen), über die Beziehung zwischen écriture, corps und jouissance nachzudenken. 3.2 “un personage de roman” Was Barthes zur Schreibweise des Marquis de Sade zu sagen weiß - dass zu schreiben nämlich “als erstes” bedeute, “das Subjekt […] zum Zitat zu machen […], jegliche Verquickung zwischen dem, der nachzeichnet, und dem, der erfindet, oder besser, zwischen dem, der geschrieben hat, und dem, der sich (wieder) liest” (Barthes 1986: 151) aufzuheben -, liest sich rückblickend wie ein vorweggenommener Kommentar zum poetologischen Programm der eigenen Autobiographie. Denn an die Stelle einer Verquickung von Autor und Leser setzt Barthes das oszillierende Spiel von Text und Textur, das auf der Innenseite des Buchumschlags mit dem dort platzierten Motto “Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman” 16 beginnt (Abb. 3). Statt die Authentizität der nachfolgenden Bekenntnisse zu beglaubigen, kündigt der einleitende Paratext den ‘autobiographischen Pakt’ auf, 17 indem er die Fiktionalität aller nachfolgenden Aussagen betont: Die Stelle des Autors nimmt “un personnage de roman” ein, und anstelle der Referenz auf eine außerliterarische Wirklichkeit referiert der Text auf die Archive der Literatur. 18 Mit seinem Incipit erteilt Barthes nicht bloß expressis verbis all jenen Schrift- Thorsten Gabler 218 19 Detaillierte Analysen zur narrativen Struktur von Barthes’ Autobiographie bieten: Kolesch 1996: 133-200; Langer 2005: 259-303; Oster 2006: 43-65; Schabacher 2007: 183-345. 20 Cf. ebenso Contat 1991. 21 Ähnlich: Neumann 1999: 416f. stellern, die versuchen, das integre Subjekt der idealistischen Philosophie und dessen autobiographische Erzählungen zu retten, eine Absage. Er tut dies auch ikonographisch, denn die schwarzweiß gestaltete Umschlagsseite zitiert den Kerngedanken aus Barthes’ Abhandlung über den Tod des Autors (1968), dass die Schrift jenes “Schwarzweiß” sei, “das jede Identität […] verlorengehen läßt” (Barthes 2006 d: 57). Sobald “erzählt wird”, argumentiert Barthes, “verliert die Stimme ihren Ursprung, tritt der Autor in seinen eigenen Tod ein” (ebd.), setzt sich “die Sprache selbst an die Stelle desjenigen […], der bisher als ihr Besitzer galt” (ebd.: 58), konstituiert sich der Text als “ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen” (ebd.: 61). Dementsprechend präsentiert sich Barthes’ Autobiographie als ein von vielen verschiedenen Figuren und Figurationen bevölkertes diskursives Plurales. 19 Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn dass ‘da’ - auf der Innenseite des Umschlags - etwas steht, und zwar die Kopie von etwas Handschriftlichem, für das ganz gewiss keine Romanfigur, sondern das historische Individuum Roland Barthes im mehrfachen Sinn des Wortes verantwortlich ‘zeichnet’, lässt sich allen Fiktionalitäts- und Fiktivitätsbeteuerungen zum Trotze nicht leugnen. “Die Theorie vom Tod des Autors”, betont Almuth Grésillon aus diesem Grunde, sei “schwer zu vereinigen mit der Realität einer sich auf dem Papier einschreibenden Hand” (Grésillon 1999: 34). 20 Tatsächlich hat Roland Barthes diesen Einwand selbst vorausgesehen und dadurch entkräftet, dass er die Schrift nicht bloß vom System der Sprache her, sondern ebenso als performative Praxis in seine Überlegungen mit einbezogen hat: Während der “Autor” als Instanz der Schrift schreibend in seinen Tod eintritt, so heißt es im Tod des Autors, entsteht der “Schreiber” zusammen mit dem Geschriebenen (cf. Barthes 2006 d: 60). Mit anderen Worten: Im handschriftlichen Incipit von Barthes’ Autobiographie treffen zwei Akteure aufeinander. Den einen - denjenigen, der sagt, der Leser möge das Gesagte als Äußerung einer Romanfigur betrachten - nennt Barthes ‘Autor’ (L’Auteur), während er denjenigen, dessen Handschrift sich zeigt, ‘Skriptor’ (scripteur) nennt. Der Clou des Incipits besteht nun darin, gleich zu Anfang der Autobiographie kenntlich zu machen, dass diese beiden Akteure miteinander unvereinbar sind: Man sieht “den Riss des Subjekts” (Barthes 2010 b: o.S. [7]), erläutert Barthes, insofern sich in der Schrift ein Subjekt zeigt, das je nachdem, ob es spricht oder schreibt, zu klassifizieren ist. 21 Dem Riss des Subjekts in ‘Autor’ und ‘Skriptor’ entspricht auf Seiten der Schrift ein Riss in “Notifikation (ich stelle meine Meinung auf und lade meinen Zuhörer vor)” und “Signatur (ich stelle mich zur Schau, ich kann nicht umhin, mich herauszustellen)” (ebd.: 196), oder - anders gewendet - die Diffraktion der Handschrift in Logosphäre - “Regime eines strikten Sinngehalts” (ebd.: 157) - und aisthesis - das “Mannigfaltige[…] des sinnliche[n] Werden[s]” (Barthes 2005: 261). Es ist exakt diese zwischen der Logik des Bedeutens und der Kinästhesie des schreibenden Körpers angesiedelte Ambiguität der handschriftlichen Schrift, die Barthes reizt und der er in seiner Autobiographie nachspürt. Eine dieser Spuren kündigt das Incipit an. Es ist nämlich keineswegs ein Zufall, dass die weiße Schrift auf schwarzem Grund an das Negativ einer Photographie erinnert; es ist ein Hinweis auf die Verwandtschaft von Auto- und Photo- Graphie. “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 219 Abb. 4: Entnommen aus: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975: 173 3.3 “l’ectoplasme de ‘ce qui avait été’” Im letzten Fünftel von Barthes’ Autobiographie findet sich eine Seite - die einzige -, deren eine Hälfte eine Photographie und deren andere das Faksimile einer handschriftlich verfassten Karteikarte zeigt (Abb. 4). Obwohl es zweifellos reizvoll wäre, der Frage nachzugehen, welche thematischen Beziehungen zwischen dem Motiv des 1974 geschossenen Fotos von Barthes’ Seminar und Barthes’ Notizen bestehen, wirft die Komposition der Seite doch eine grundsätzlichere Frage auf: die Frage nach dem spezifischen Potenzial, das beide Graphien miteinander teilen. Thorsten Gabler 220 22 In La chambre claire kommt Barthes sowohl auf die ‘Gattung’ der Biographeme zu sprechen (“In eben dieser Weise liebe ich bestimmte biographische Züge in der Vita eines Schriftstellers, die mich ebenso fesseln wie bestimmte Photographien; ich nannte diese Züge ‘Biographeme’; die P HOTOGRAPHIE steht im gleichen Verhältnis zur G ESCHICHTE wie das Biographem zur Biographie” [Barthes 1989: 38]) als auch auf jene Photographie seiner Mutter, die in roland BARTHES par roland barthes die Reihe der Photographien eröffnet (“Überdies konnte ich von diesen Photos, die ich von ihr besaß, nicht einmal sagen, daß ich sie mochte, mit Ausnahme des einen, das ich veröffentlicht hatte, auf dem man meine Mutter als junge Frau am Strand der ‘Landes’ spazierengehen sieht und wo ich ihren Gang, ihr gesundes Aussehen, ihre Ausstrahlung ‘wiederfand’” [ebd.: 73]). Die Photographie von Barthes’ Seminar lässt sich als Kommentar zur handschriftlichen Schrift auf der Karteikarte deuten: als eine materialiter vollzogene Reflexion dessen, was die Handschrift als Autogramm auszeichnet. Barthes selbst ist für eine solche Deutung der verlässlichste Gewährsmann, schließlich erklärt er gleich zu Beginn seiner Autobiographie, dass die “Bilder”, die im “Text”-Teil des Werks zu finden sind, “Bilder […] der Hand” seien, “die die Spuren einträgt” (Barthes 2010 b: o.S. [8]). Um zu verstehen, welche besondere Eigenschaft Barthes der Hand-Schrift zugesteht, ist es vonnöten, sich zunächst ins Gedächtnis zu rufen, worin für Barthes die eigentliche Kraft der Photographie liegt. In der - motivisch und thematisch mit seiner Autobiographie verknüpften 22 - Abhandlung La chambre claire (1980) gelangt Barthes zu der Erkenntnis, dass sich das Photo jeder semiologischen Klassifizierung entzieht, weil “der R EFERENT der P HOTOGRAPHIE nicht von der gleichen Art ist wie [bei] anderen Darstellungssysteme[n]” (Barthes 1989: 86). Im Gegensatz zur Sprache, deren “Übel” darin besteht, dass ihre Zeichen “für sich selbst nicht bürgen” können, weil sie “ihrem Wesen nach Erfindung” (ebd.: 96) sind, und anders als ein “gemaltes Portrait”, das bloß suggeriert, “sein Referent habe wirklich existiert” (ebd.: 87), habe die Photographie “ihren Referenten immer im Gefolge”, da beide - Photographie und Referent - “aneinander gebunden” seien, und zwar “Glied an Glied, […] als wären sie in einem ewigen Geschlechtsakt vereint” (ebd.: 13). Der ‘photographische Referent’, so Barthes, ist nämlich keine “möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv plaziert war und ohne die es keine Photographie gäbe” (ebd.: 86). Anders als die Produkte der bildenden und sprachlichen Kunst gibt das Photogramm die Anwesenheit des photographierten Körpers in einem bestimmten vergangenen Augenblick kund und ist ebendarum “niemals metaphorisch” (ebd.: 88). Wohlgemerkt: Es geht Barthes nicht darum, die Photographie als ein Medium zu begreifen, das zeigen würde, wie etwas wirklich gewesen ist: “Die P HOTOGRAPHIE ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück”, erläutert Barthes: Die Wirkung, die sie ausübt, besteht “in der Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist” (ebd.: 92). “[W]enn ich ein Photo betrachte”, gesteht Barthes in seiner phänomenologischen Studie, so “schließe ich unweigerlich in meine Betrachtung den Gedanken an jenen Augenblick […] mit ein, als sich etwas Reales […] vor dem Auge befand” (ebd.: 88). Was Barthes von der Photographie sagt, lässt sich mit Fug und Recht auch von der handschriftlichen Schrift sagen. Wie das Foto von Barthes’ Seminar ist auch die handschriftlich verfasste Karteikarte “die Verlängerung dieser Geste”, die “sagt: das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts” (ebd.: 12). Das von Hand Geschriebene ist ein “vom Wirklichen abgeriebenes Bild” (ebd.: 126), “eine Emanation des vergangenen Wirklichen” (ebd.: 99), oder eben “das Ektoplasma ‘dessen, was gewesen war’” (ebd.: 97). Und als ein solches ‘skripturales Sperma’ weist die Schrift “niemals über sich selbst hinaus auf etwas “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 221 Abb. 5a und 5b: Entnommen aus: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975: 187, 189 Abb. 5a anderes: sie führt immer wieder […] auf den Körper zurück” (ebd.: 12) der sich der Schreibfläche schreibend eingeschrieben hat. Und das wiederum heißt, dass man es im Falle der handschriftlichen Schrift mit einem Objekt zu tun hat, dem als Abdruck, Symptom und Spur die Eigenschaft zukommt, zu präsentieren, was man “das An-und-für-Sich des Körpers nennen könnte” (ebd.: 89). Denn sie vollführt - und “darin liegt ihre Verrücktheit” (ebd.: 126) - eine “perverse[…] Verschränkung […] des R EALEN und des L EBENDIGEN ” (ebd.: 89), die verlangt, dass “wir in ein und demselben Akt die manifeste Einwirkung (die Berührung mit dem Substrat, in dem der Abdruck sich bildet) und die Entfernung (die Distanz von dem Substrat, in dem der Abdruck sich zeigt) zusammendenken” (Didi-Huberman 1999: 46). 3.4 “un pur geste d’inscription” Zur Illustration des Gedankens, dass es sich bei handschriftlichen Hinterlassenschaften stets um “Remanenz[en]” (Barthes 2010 b: 53) handelt, die anrühren, weil sie als Spuren eines Körpers ein Medium körperlicher Erfahrungen sind, präsentiert Barthes auf den letzten Seiten seiner Autobiographie die Faksimiles zweier Schriftproben (Abb. 5a/ b). Von ihrem “üblichen Blabla” (Barthes 1989: 65) befreit, sprechen diese Schriftzüge nichts aus: “Sie sind da, Thorsten Gabler 222 23 Cf. dazu zuletzt Schabacher 2012. 24 Cf. Barthes 2006 e: 70: “Das Wort ‘Bio-graphie’ erhält wieder eine starke, etymologische Bedeutung.” präsentieren sich, aber sie haben keine Bedeutung, sie ‘meinen’ nichts: Sie zeigen” (Mersch 2002: 192), was Barthes auf den ersten Seiten seiner Autobiographie angekündigt hat: “diese[n] Körper” - Barthes’ leibhaftigen Körper -, “der sich auf die Arbeit, die Wollust des Schreibens hinbewegt” (Barthes 2010 b: o.S. [8]) hat. Bei den abgebildeten handschriftlichen Kostproben handelt es folglich um Dokumente einer “Somatographie” (Barthes 1990 b: 112). Was “La graphie pour rien… … ou le signifiant sans signifié” nämlich ansichtig werden lässt, ist die “reine[…] Geste der Einschreibung (und nicht des Ausdrucks)” (Barthes 2006 d: 60). Die Skripturen auf dem Papier sind Resultate und Manifestationen einer körperlichen Kinästhesie, die “keinem gelernten Modell, keinem vorgegebenen Programm, keinem Plan, keinem ‘Sagen-Wollen’ entspricht” (Grésillon 1999: 30). Auf den letzten Seiten von Barthes’ Autobiographie stellen die handschriftlichen Spuren einen Körper zur Schau, den kein literarischer Diskurs vor Augen zu stellen vermag - den Körper des Autobiographen: “Mein Körper wird niemals deiner sein” (Barthes 1990 a: 177). 4 “Écrire le corps” Es ist wiederholt behauptet worden, Barthes hätte sich vom Wirklichkeitsbegehren der Schrift und dem der Autobiographie verabschiedet. 23 Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Barthes nimmt beides in einem radikal wörtlichen Sinne ernst. 24 Für Barthes stellt die Geste des Schreibens - jede Geste des Schreibens - einen genuinen ‘auto/ bio/ graphischen’ Akt dar: ein ‘Sich-selbst-Einschreiben’ des fühlenden, bewegten, in Bewegung versetzten Körpers in ein konkretes Material. Man stelle sich vor - und Barthes führt dieses Gedankenexperiment in seiner Autobiographie durch -, es gäbe keine Faksimiles von Barthes’ Handschrift, sondern alles sei bloß mit der Maschine geschrieben: “[N]ichts wird zur Spur: […] keine Produktion: keine Annäherung; es gibt kein Entstehen des Buchstabens, sondern nur das Ausstoßen eines Stückchens Code” (Barthes 2010 b: 113) - und somit also auch kein Sperma des Skriptors und nichts mehr auf dem Papier, was an die Existenz des einen, ‘unnachahmlichen’ Körpers gemahnte. Genau hierin aber liegt für Barthes die autobiographische Wirklichkeit: in der Fähigkeit der Handschrift, eine im Realen situierte Hinterlassenschaft des Schreibers, eine ‘Inskription’ ( ) des ‘Lebens selbst’ ( ), zu sein. In Sade Fourier Loyola heißt es dazu ebenso treffend wie unmissverständlich: Dank der Prägungen, die der Schreiber dem Blatt zugefügt hat, vollzieht sich eine “freundschaftliche Wiederkehr des Autors”: Der wiederkehrende Autor ist zwar nicht der gleiche, der von unseren Institutionen […] identifiziert wurde; er ist noch nicht mal der Held einer Biographie. Der aus seinem Text heraus- und in unser Leben eintretende Autor ist keine Einheit: er ist für uns ganz einfach eine Vielzahl von ‘Reizen’. […] Keine (juristische oder moralische) Person, sondern ein Körper (Barthes 1986: 12). Der ‘Autor’ konstituiert sich im (Schrift-)Zuge des Schreibens; seine ‘Wiederkehr’ (oder, an die Rede vom ‘skripturalen Sperma’ anknüpfend: seine ‘Wieder-Geburt’) vollzieht sich “implizit, in verdrängter Form” als “eine Berührung mit dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod” (Barthes 2002 b: 385f.). Denn in den ‘auto/ bio/ graphischen’ Hinterlassen- “La relation à l’ecriture, c’est la relation au corps” 223 schaften berühren sich der abwesende, in seinen Inskriptionen auf Dauer gestellte Körper des Schreibenden und der anwesende Körper des Lesenden sinnlich: “[L]’écriture passe par le[s] corps” (Barthes 1975: 83). Bibliographie Barthes, Roland 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Seuil Barthes, Roland 1978: Über mich selbst, aus dem Französischen von Jürgen Hoch, München: Matthes & Seitz Barthes, Roland 1980: Leçon/ Lektion, Französisch und Deutsch, Antrittsvorlesung im Collège de France, gehalten am 7. Januar 1977, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1986: Sade Fourier Loyola, aus dem Französischen von Maren Sell und Jürgen Hoch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1989: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Roland Barthes 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1990 a: “Cy Twombly oder ‘Non multa sed multum’”, in: Barthes 1990: 165-183 Barthes, Roland 1990 b: “Erté oder An den Buchstaben”, in: Barthes 1990: 110-135 Barthes, Roland 2002: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980, aus dem Französischen von Agnès Bucaille- Euler u.a., Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2002 a: “Lust/ Schrift/ Lektüre”, in: Barthes 2002: 173-191 Barthes, Roland 2002 b: “Über die Fotografie”, in: Barthes 2002: 382-389 Barthes, Roland 2002 c: “Von der Rede zum Schreiben”, in: Barthes 2002: 9-13 Barthes, Roland 2005: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, herausgegeben von Eric Marty, Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Thomas Clerc, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2006 a: Variations sur l’écriture/ Variationen über die Schrift, übersetzt von Hans-Horst Henschen, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Barthes, Roland 2006 b: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur und Geschichte. Kritik und Wahrheit, aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2006 c: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2006 d: “Der Tod des Autors”, in: Barthes 2006 c: 57-63 Barthes, Roland 2006 e: “Vom Werk zum Text”, in: Barthes 2006 c: 64-72 Barthes, Roland 2010 a: Die Lust am Text, aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Ottmar Ette, Berlin: Suhrkamp Barthes, Roland 2010 b: Über mich selbst, aus dem Französischen von Jürgen Hoch, Berlin: Matthes & Seitz Barthes, Roland 2010 c: Roland Barthes par Roland Barthes, Paris: Seuil Barthes, Roland 2010 d: Roland Barthes by Roland Barthes. Translated by Richard Howard, New York: Hill & Wang Contat, Michel: “La question de l’auteur au regard des manuscrits”, in: ders. (ed.): L’auteur et le manuscrit. Textes de Philippe Lejeune, Paris: Presses Universitaires de France: 7-36 Culler, Jonathan 1983: “At the Boundaries: Barthes and Derrida”, in: At the Boundaries. 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Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Paderborn: Fink Lejeune, Philippe 1975: Le pacte autobiographique, Paris: Seuil Mersch, Dieter 2002: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink Neumann, Gerhard 1980: “Schreibschrein und Strafapparat. Erwägungen zur Topographie des Schreibens”, in: Gerhard Schnitzler in Zusammenarbeit mit Gerhard Neumann (eds.): Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann zum 60. Geburtstag, München: Fink: 385-401 Neumann, Gerhard 1999: “Schreiben und Edieren”, in: Heinrich Bosse und Ursula Renner (eds.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. Br.: Rombach: 401-426 Oster, Angela 2006: Ästhetik der Atopie. Roland Barthes und Pier Paolo Pasolini, Heidelberg: Winter de Saussure, Ferdinand 2 1967: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, herausgegeben von Charles Bally und Albert Sechehaye, Berlin: de Gruyter Schabacher, Gabriele 2007: Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ‘Gattung’ und Roland Barthes’ ‘Über mich selbst’, Würzburg: Königshausen & Neumann Schabacher, Gabriele 2012: “Das ‘Projekt RB’. Praxen des Autobiographischen und die Medien des Realen bei Roland Barthes”, in: Angela Oster und Karin Peters (eds.): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München: Fink: 135-157 Wagner-Egelhaaf, Martina 2 2005: Autobiographie, 2. und erweiterte Auflage Stuttgart, Weimar: Metzler Wellbery, David E. 2002: “Kunst - Zeugung - Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur”, in: Christian Begemann und David E. Wellbery (eds.): Kunst - Zeugung - Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i. Br.: Rombach: 9-36 Wiethölter, Waltraud 2010: “Von Schreib- und Schriftkörpern: Zur Materialität der Briefschreibeszene”, in: Waltraud Wiethölter und Anne Bohnenkamp (eds.): Der Brief - Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung, Basel/ Frankfurt a.M.: Stroemfeld: 92-133 1 “Je puis donc dire indifféremment: littérature, écriture ou texte” (III 1977: 804). Die Barthes-Zitate werden nach der dreibändigen Werkausgabe von Éric Marty zitiert, die Jahreszahl gibt den Erstdruck des zitierten Textes an. Darüber hinaus werden Siglen der Buchtitel verwendet, wie Barthes sie selbst in Roland Barthes par Roland Barthes auflistet (cf. III 1975: 243). 2 Abgedruckt in La règle du jeu (Barthes 1991: 53; 2002 als Einzelausgabe erschienen). “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” Zur Kontingenzerfahrung in der écriture bei Roland Barthes Bettina Lindorfer (Berlin) The following contribution focuses on the moment of chance in the figuration of Barthes’ concept of écriture. The central thesis is that Barthes’ écriture is not only varying between the extremes of semantic emptiness and a plurality of sense, but is also in an essential way marked by chance. This is evident in Barthes’ celebration of an écriture alla prima, a script accessible without detours and in absolute simultaneity: It seems to be situated outside any semiotic process - and does not only seem to accept the moment of chance, but moreover to attract and tempt it. 1 Écriture généralisée als ‘Haltung’ Als Schrift bezeichnet der späte Barthes nicht nur Texte, sondern auch den angemessenen Umgang mit ihnen, genauer gesagt eine Haltung des Produzierens und Rezipierens von Zeichen. So charakterisiert er ‘seine’ Semiologie - also die Disziplin, die seit Ende der 1960er Jahre im Namen von écriture operiert und zum Beispiel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France mit ihr gleichgesetzt wird 1 - nicht etwa als wissenschaftliche Methode, sondern als eine auf ‘die Nuancen’ abzielende Rezeptionshaltung: “l’attitude d’écoute, ou de vision, des nuances”, wie er in seiner einführenden Vorlesung zum désir de neutre 1978 erklärt. 2 Diese écriture kann streng genommen auf alles ausgedehnt werden: Sie ist eine Haltung zur Welt, zum Leben, ja die Welt selbst, sofern diese auf eine ‘richtige’ Weise arrangiert ist. Vor dem Grundaxiom der Barthes’schen Semiologie, dass nicht nur jedes Wort und jedes Komma, sondern auch jeder Schritt eines Boxers, jede Farbschattierung einer Autotür mit Bedeutung geladen und somit ‘lesbar’ ist, wird écriture zu einer Art Qualitätsmarker, der auf Bewegungen, alltägliche Vollzüge (Adressen erklären, Geschenke verpacken etc.) oder Artefakte (Straßenzüge, Gerichte, Theaterpuppen) angewendet wird, wie L’empire des signes eindrucksvoll vorführt. Damit folgt der Begriff dem Diktum Freuds in der Traumdeutung, wonach “das Wort” ein “Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen” und damit “sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit” ist (Freud [1900] 1978: 346). Bei K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Bettina Lindorfer 226 3 Das gilt zuallererst für Degré zéro de l’écriture, wo der Begriff in Wendungen wie “choix général d’un ton, d’un éthos”, “rapport entre la création et la société”, “un acte de solidarité historique” oder als “la morale de la forme” umrissen wird (I 1953: 147f.). 4 Einschlägig für die Debatte um diese Frage ist die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Searle in der Zeitschrift Glyph von 1977 (n° 1 und 2); cf. Culler 1982: 121-130. 5 Cf. FDA III 1977: 665; III 1979: 1014; PlT II 1973: 1496. Barthes weist dieser “nœud de signification” - um Lacans Ausdruck aufzugreifen (Lacan 1966: 166) - in mindestens drei unterschiedliche Richtungen: 1. Da ist die frühe écriture-Bedeutung als moralische Dimension der Form, 3 deren Metaphorizität Barthes zwanzig Jahre später in Wendungen wie ‘Idiolekt eines Kollektivs’ (II 1971: 1320) oder “variété du style littéraire, sa version en quelque sorte collective” (Barthes [1973] 2006: 6) hervorhebt. 2. Ende der 1960er Jahre kommt eine ‘grammatologische’ Richtung hinzu, die Schrift als konstitutiven Faktor jeder Äußerung versteht und damit deren unendliche Deutbarkeit meint; sie ist in der poststrukturalen Theorie verankert, derzufolge keine Äußerung einen eingrenzbaren Kontext hat: Vielmehr gilt der Kontext jeder Äußerung prinzipiell als unendlich erweiterbar, wodurch die Äußerungen selbst ebenfalls unendlich viele Bedeutungen annehmen können. 4 3. Und schließlich, Anfang der 1970er Jahre, gibt es jene am buchstäblichen Sinn von Schrift orientierte Bedeutung, in der Barthes einen “sens manuel du mot” beschwört, der mit Schreibung, Handschrift, Kritzeln (scription) paraphrasiert werden kann (cf. Barthes 2006: 6; II 1973: 1710f.). 1.1 Plurales, Unabschließbarkeit der Deutung Die Vieldeutigkeit von écriture ist also gewollt. Denn semantische Pluralität garantiert die Befreiung vom Diktat eines letzten Sinns: Der Ausdruck écriture steht bei Barthes wie ‘Text’ und ‘Literatur’ für das - lustversprechende - Widerspiel zwischen dem instrumentellen Sprachgebrauch des bloßen Informationsaustauschs auf der einen und dem Gewebe bewusst oder unbewusst mitschwingender Bedeutungen auf der anderen Seite. Dieses Widerspiel setzt die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem in Szene, die den Blick auf das ‘Gespaltene’ und ‘Ungezügelte’ des Subjekts freigibt (cf. PlT II 1973: 1510). Damit ist nicht nur alles deutbar, sondern auch unendlich oft: Das Schreckgespenst der unendlichen Semiose, gegen das Umberto Eco zu dieser Zeit längst zu Felde zieht (cf. Eco 1994: 164f.), wird bei Barthes als der Inbegriff der ‘Lust am Text’ inszeniert. 1.2 Zwei Arten des ‘Leeren’ Genau gegen diese Mehrdeutigkeit und unendliche Semiose scheint sich mir jedoch auch in den Texten Barthes’ seit etwa 1970 eine Stimme zu erheben, die die Strukturen unendlicher Verweisungen und immer neuer Bedeutungen polemisch als ‘Dröhnen’, als ‘Hämorrhagie’ bzw. als narzisstisches Geplapper 5 deklassiert und ganz im Gegenteil solche Ausdrücke aufwertet, die ein Leeres verkünden: le vide, le neutre, le degré zéro. So kommt es, dass der scheinbare “excès de subjectivité” in japanischen ‘Suffixwucherungen’ als “une manière de dilution, d’hémorragie du sujet dans un langage parcelé” gefeiert (und nicht etwa betrauert) “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 227 6 “[L]e vide est idéalement l’espace antérieur de toute sémiphanie” (SFL II 1972: 1076). wird (EpS II 1970: 750). Hinzu kommt, dass Bedeutungsleere nicht als Hohlheit oder Idiotie beklagt, sondern als ideale Seinsweise dargestellt und sogar die Schrift, dieses vormals plurale Sinnschichten verkörpernde Gebilde, auf die Seite der ent-leerenden Instanzen gestellt wird: “l’écriture est bien cette activité étrange […] qui arrête miraculeusement l’hémorragie de l’Imaginaire” (III 1979: 1014). Diese Idealisierung des vide de sens erweist sich als ein zweiter Gravitationspunkt des Barthes’schen Werkes, der in diametralem Gegensatz zur eingangs dargestellten Vielstimmigkeit steht. Er durchbricht, wie Philipp Roger feststellt, die Leidenschaft für das Vielstimmige, um die Vertikalität des Ereignisses zu betonen: La quête littéraire de Barthes s’organise autour d’une passion du sens traversée de la douloureuse, inextinguible soif de l’exemption du sens qui ferait revenir, virginale et innocentée, la ‘verticalité du Mot’. D’un côté: la sémiologie, le structuralisme, l’amour de l’idée, l’engouement pour le mathésis romanesque, l’art de l’effet, le cerne de la phrase, le Style, la connotation. De l’autre, en constant filigrane et par furtives émergences: l’incident, le satori, le trait, le projet rigoureusement vertical de la parole poétique, la profération amoureuse, le ‘C’est ça! ’, le photogramme d’Eisenstein, le coq-à-l’âne du maître zen, le haïku, la dénotation arrachée aux structures dont elle serait l’‘excipient’ et revenue comme notation. (Roger [1986] 1990: 415) Bereits 1963 spricht Barthes in der Zeitschrift Tel Quel über diese beiden Haltungen in Bezug auf die zeitgenössische Zeichenkritik, die er in zwei Lager teilt, nämlich “donne[r] une très grande plénitude” auf der einen und “‘néantiser’ le sens” auf der anderen Seite (EC I 1964: 1369f.). Man könnte nun einwenden, dass die Rede vom degré zéro, von der Vertikalität der Poesie und der reinen Denotation doch von Anfang an in Barthes’ Texten präsent ist und dort gar nicht wirklich im Gegensatz zur Vielstimmigkeit steht: Angefangen beim frühen Degré zéro de l’écriture (1953), wo das Leere schon im Titel prangt, über den Essay zum Eiffelturm von 1964, wo dieser als “signe pur” und “vide” apostrophiert wird (I 1964: 986), bis hin zur ‘Mantik’ des Ignatius von Loyola (1972) werden Nullpunkte und (sprachliche) Leerräume beschworen, die doch letztlich nichts anderes sind als Einladungen zu neuen, unendlich erweiterbaren Bedeutungen. So heißt es von dem als ‘reines’ und ‘leeres’ Zeichen eingeführten Eiffelturm im gleichen Atemzug, dass er ‘ alles bedeuten kann’, dass er ‘eine Form’ ist, “à laquelle les hommes ne cessent de mettre du sens” (ebd.). Ähnlich argumentiert Barthes mit Blick auf den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola: Die sprachliche Leere, die dessen Geistliche Übungen zu erreichen suchten, sei nur dazu da, ‘einer neuen Sprache’ den Weg zu bereiten; das Leere sei nämlich die Voraussetzung für die Instituierung des jesuitischen Zeichenuniversums, 6 aus dem kein Weg herausführe. Noch das Schweigen Gottes - also das Fehlen eines Zeichens - werde hier als ‘Zeichen’, oder zumindest als “retard du signe”, interpretiert: […] retournant la carence du signe en signe, [la mantique] est parvenue à inclure dans son système cette place vide et cependant signifiante que l’on appelle le degré zéro du signe: rendu à la signification, le vide divin ne peut plus menacer, altérer ou décentrer la plénitude attachée à toute langue fermée. (II 1972: 1093) In seinen Thematisierungen der Sprache des Jesuitengründers wird Barthes’ “ambivalente Beziehung zur Sprache” (Roger 1993: 39), seine Zerrissenheit “entre ‘mysticisme’ du Mot et culture rhétorique” (Roger [1986] 1990: 420, Anm. 44) am sichtbarsten. So wie die Bettina Lindorfer 228 7 Siehe zu diesem Punkt auch: “Le satori (l’événement Zen) est un séisme plus ou moins fort […] qui fait vaciller la connaissance, le sujet: il opère un vide de parole” (II 1970: 748). Geschlossenheit des jesuitischen Zeichenuniversums verhindert, dass ein ‘Nullpunkt des Zeichens’ als Nullpunkt wahrgenommen werden kann, so scheint doch auch Barthes, wie man einwenden könnte, Nullpunkte sofort als Deutungsaufforderungen zu verstehen. Der Einwand ist zweifellos berechtigt, denn viele Passagen funktionieren in der Tat genau so. Dieses in das jeweilige Deutungssystem integrierbare Leere, das nur als Projektionsfläche neuer Bedeutungen dient, meine ich hier jedoch gerade nicht, sondern vielmehr ein Leeres, das leer oder fast leer bleibt. Barthes vergleicht es mit der Erleuchtung (des satori) im Zen- Buddhismus: “et peut-être ce qu’on appelle, dans le Zen, satori, […] n’est-il qu’une suspension panique du langage, le blanc qui efface en nous le règne des Codes, la cassure de cette récitation intérieure qui constitue notre personne” (EpS II 1970: 798). 7 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieses radikalisierte Leere bildhaft und kontingenzorientiert zu denken ist. Ich gehe dazu in drei Schritten vor: Zunächst (Abschnitt 2) möchte ich zeigen, inwiefern es als ein Unmittelbares charakterisiert wird, mit dem bei Barthes eine Polemik gegen Sprachlichkeit und semiotische Prozesse einhergeht; anschließend (Abschnitt 3) werde ich das Unmittelbare als Bildhaftes identifizieren, das sich als eine plötzlich einsetzende und ‘mit einem Mal’ (d’un coup) zu lesende Größe erweist, um schließlich im letzten Abschnitt (Abschnitt 4) das scheinbare Paradoxon einer ‘unmittelbaren Schrift’ (écriture immediate) zu ergründen, das Barthes gegen Bedeutungswucherungen der abendländischen Tradition mobilisiert und mit dem er den Begriff der Kontingenz radikalisiert. 2 Radikalisiertes Leeres: Polemik gegen eine “machine à langage” “Industrieuse, infatigable, la machine à langage qui bruit en moi” (FDA III 1977: 665). Das radikalisierte Leere steht nicht nur auf irritierende Weise für Unmittelbarkeit, wie in den nächsten Abschnitten gezeigt werden soll, sondern es motiviert auch Barthes’ heftiges Polemisieren gegen ‘abendländisches’ Deuten, also gegen semiotische Prozesse im Allgemeinen und gegen die Sprache im Besonderen. Das Unabschließbare dieses Deutens erscheint nun als Bedrohung. ‘Sprachmaschinen’, d.h. sich gegenseitig unterjochende Deutungen, deren Treiben als strukturell unabschließbar gekennzeichnet wird, drängen sich in den Vordergrund, sobald ‘Sinn’ und ‘Sprache’ thematisch werden. Ihr Prinzip ist das Rechthaben-Wollen, ihr Modell ist die Szene: “Le langage est le champ de la Machè: pugna verborum. […] Le modèle - ou l’assomption - en est la ‘scène’” (III 1978: 870). In diesem Feld geht es darum, die Oberhand zu gewinnen, indem die eigene Deutung gegenüber anderen Sichtweisen auftrumpft, wie es in S/ Z heißt: “La nature du sens, c’est une force, qui tente de subjuguer d’autres forces, d’autres sens, d’autres langages” (II 1970: 659). Dieser Prozess des Sich-gegenseitig-Übertrumpfens wird in Roland Barthes par Roland Barthes als im Prinzip unabschließbar charakterisiert: “[La scène] montre à nu le cancer du langage […]: les répliques s’engendrent, sans conclusion possible, sinon celle du meurtre” (III 1975: 216). Das Entscheidende für meine Argumentation ist nun, dass Barthes dieses agonale Prinzip mit der Struktur der Sprache verknüpft: “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 229 8 My I 1957: 707f. und 718, Anm. 1 sowie im Interview Digressions (II 1971: 1285). 9 Larvatus prodeo: Das Motto der Flaubert’schen Schreibweise ist in diesem Sinne auch das Motto der Barthes’schen “philosophie de l’anti-Nature” (RB III 1975: 195); als weitere Beispiele werden Brechts episches Theater oder das japanische bunraku genannt. In allen wird betont, dass es darum gehe, Künstlichkeit nicht zu negieren, sondern sie im Gegenteil zur Schau zu stellen. Denn nur kulturell gesetzte Gesten seien als veränderbare erkennbar (cf. Oster 2012). La scène est comme la Phrase: structuralement, rien n’oblige à l’arrêter. La scène est […] interminable, comme le langage: elle est le langage lui-même, saisi dans son infini, cette ‘adoration perpétuelle’ qui fait que, depuis que l’homme existe, ça ne cesse de parler. (FDA III 1977: 651) Fassen wir vorläufig zusammen: Dass sprachliche Ausdrücke immer ‘Sekundär’-Bedeutungen mit sich tragen, ist auf der einen Seite die Voraussetzung für ihre Mehrstimmigkeit und die ‘Lust am Text’. Auf der anderen Seite drohen genau diese ‘Sekundär’-Bedeutungen das jeweils Gesagte sozusagen aus dem Untergrund zu überstimmen. Sie werden dann nicht als Bereicherung und lustvolle Pluralität wahrgenommen, sondern als ‘Wucherungen’, die sich gewaltsam aufdrängen und damit das hier und jetzt Gesagte ersticken (- besser gesagt ‘verdampfen lassen’: Barthes spricht wiederholt von “évaporation” 8 ). Der radikalisierte Nullpunkt, das ist meine These, richtet sich gegen diese Sinn- und Sprachwucherungen mit dem Ziel, das hier und jetzt Gesagte umso hörbarer werden zu lassen. Auf dem Weg zu diesem Ziel rücken nicht etwa sinnlose Zeichen ins Zentrum, sondern sprachliche Formen, die auf Anhieb ins Auge springen und die auf den ersten Blick inhaltlich erfassbar (‘zu lesen’) sind, die mit anderen Worten so aussehen, als würden sie (unschuldig) etwas ganz Einfaches sagen, so wie man ‘einfach mit dem Finger’ auf etwas zeigt. Es ist ein fast naiv zu nennender Zeichengebrauch, der Barthes vorzuschweben scheint. Modelle findet er in der kindlichen Zeigegeste, in der Sprache des japanischen Haiku oder in der modernen Malerei: [Le] haïku (le trait) reproduit le geste désignateur du petit enfant qui montre du doigt quoi que ce soit (le haïku ne fait pas acception du sujet), en disant seulement: ça! d’un mouvement si immédiat (si privé de toute médiation: celle du savoir, du nom ou même de la possession) que ce qui est désigné est l’inanité même de toute classification de l’objet […] le sillage du signe qui semble avoir été tracé, s’efface […]. (EpS II 1970: 804) Le signe - du moins le signe qu’il [le sémiologue-artiste] voit - est toujours immédiat, réglé par une sorte d’évidence qui lui saute au visage, comme un déclic de l’Imaginaire. (L III 1977: 812) Der Nullpunkt, von dem hier die Rede ist, verheißt also sowohl ein unmittelbares Sehen - und kein akribisches Deuten - auf der Seite des Rezipienten als auch einen unmittelbaren Akt auf der Seite der Produktion - kein Feilen am Text, kein Radieren, kein endloses Reformulieren. Die Ausdrücke “en une fois”, “dans la première vue”, “immédiat” und das zeigende “ça! ” müssen Barthes-LeserInnen aber aufhorchen lassen: Wird hier nicht einer naiven Spontaneität gehuldigt, vor der Barthes stets als einem Deckmantel des Stereotypen warnt? Immer wieder polemisiert Barthes gegen Unmittelbarkeit, Spontaneität oder Natürlichkeit, die er als ‘Mythen’ bzw. als bloß Stereotypen erzeugende Automatismen entlarvt, um im Gegenteil den Prozess des Produzierens, das Künstliche und immer kulturell Geprägte menschlichen Handelns in den Vordergrund zu stellen. 9 Ist also das en une fois nur auf den ersten Blick ein müheloses Schreiben oder Malen, hinter dem eigentlich sehr viel Übung steckt - vergleichbar vielleicht mit jener Lässigkeit und Coolness im Habitus frühneuzeitlicher Hofleute, die Bettina Lindorfer 230 10 Die sprezzatura von Castigliones Corteggiano ist dafür das klassischste Beispiel. Weiteres Anschauungsmaterial liefert der “gestuaire de désinvolture” des Film noir, den Barthes im Mythologies-Essay “Puissance et désinvolture” als “univers de la litote” feiert (My I 1957: 605ff.): Es verhält sich dabei ähnlich wie beim ‘westlichen’ (versteckten) Kochen im Gegensatz zur öffentlich ausgestellten Sushi-Zubereitung im ‘Reich der Zeichen’, wo etwa einem Aal sein Status als ‘Nahrungsmittel’ vor aller Augen eingeschrieben wird (cf. EpS II 1970: 763ff.). das mühevolle Einstudieren eines scheinbar spontan dahingeworfenen Blickes oder einer ‘fallengelassenen’ Bemerkung gerade nicht zu erkennen geben sollen? 10 Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass die unmittelbare Schrift weder zu Spontaneität noch zu Deutungsverweigerung aufruft und auch nicht als désinvolture zu interpretieren ist, sondern dass sie vielmehr die Körperlichkeit und Zeitlichkeit der écriture und damit ihre Ereignishaftigkeit in den Vordergrund rückt. In diesen Themen - E REIGNIS , K ÖRPER und T OD - ist ein radikalisierter Kontingenzbegriff am Werk, in dem, um es mit Wellbery zu formulieren, ein nicht theoretisierbarer, weil nicht funktionaler Einbruch von Exteriorität angezeigt wird (cf. Wellbery 1992 a: 161ff.; 1992 b). Der emphatische Kontingenzbegriff - ein essentielles Kennzeichen des Poststrukturalismus - führt einerseits dazu, dass der nicht theoretisch einholbare Zufall zu den Konstitutionsbedingungen der Texte gehört sowie dass Zufall und Tod andererseits eine unverfügbare Exteriorität thematisieren. 3 Unmittelbarkeit im Bild Der Gegensatz zwischen Pluralem und Leerem, zwischen langem Feilen an seinen Formulierungen und dem unmittelbaren Finden des ‘richtigen’ Ausdrucks besteht wie gesagt vom “anti-langage” der Mythologies bis zum letzten Buch La chambre claire, wo er sich in der Opposition zwischen punctum und studium manifestiert. Zunächst artikuliert er sich als Gegenüberstellung von Text und Bild. Das Bild - meist ist das fotografische: das ‘Licht-Bild’ gemeint - wird in den frühen Texten als Inbegriff des Unmittelbaren, des Unanalytischen und des Gewaltsamen gekennzeichnet. So wird es in den Mythologies als das beschrieben, was sich dem Betrachter ‘aufdrängt’, indem es seinen Inhalt ‘auf einmal’ präsentiert, ohne ihn zu analysieren: Sans doute, dans l’ordre de la perception, l’image et l’écriture, par exemple, ne sollicitent pas le même type de conscience. […] l’image est, certes, plus impérative que l’écriture, elle impose la signification d’un coup, sans l’analyser, sans la disperser. (My I 1957: 684; Hervorh. v. mir, B.L.) Dass das Bild seine Botschaft gebieterisch aufdrängt - als gäbe es in ihm nichts zu ‘deuteln’ -, ist auch die Botschaft vieler Passagen von La chambre claire: Si la Photographie ne peut être approfondie, c’est à cause de sa force d’évidence. Dans l’image, l’objet se livre en bloc et la vue en est certaine - au contraire du texte […]. C’est précisément dans cet arrêt de l’interprétation qu’est la certitude de la Photo. (CC III 1980: 1183) Das Bild ist deshalb aber nicht eindeutiger. Zumindest in La chambre claire weist der Ausdruck d’un coup auf das dem Subjekt nicht Gefügige: das Kontingente, das ihm zustößt und das nicht beherrschbar ist. Während das Unanalysierbare und Gewaltsame des Bildhaften in den Mythologies auf die Seite des Nichtintellektuellen und Pseudo-Klaren geschlagen wird, rückt es im späteren Werk auf die Seite der Kontingenz: “Telle photo, tout d’un coup, m’arrive” (CC III 1980: 1121). “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 231 11 Genannt wird hier das Piktogramm und das Quipu der Inka (I 1957: 684). Cf. dazu Variations sur l’écriture, wo die nostalgische Hinwendung zur Handschrift in eine Geschichte der Schrift eingebettet wird (Barthes 2006: 104). 3.1 “D’un coup” und “en bloc”: Das Bild als das Andere des Textes Verweilen wir einen Augenblick bei Ausdrücken wie d’un coup, en bloc oder en une fois. Dieses zentrale Charakteristikum des Bildes von den Mythologies bis La chambre claire ist nämlich alles andere als eindeutig. Es komprimiert mindestens vier verschiedene Bedeutungsaspekte: 1. Da ist zunächst das d’un coup, das dem Bild qua Medium zuzukommen scheint: Bilder zeigen ihren Inhalt simultan - im Unterschied zur gesprochenen, linear voranschreitenden Sprache. 2. Die Simultanität der Präsentation suggeriert des Weiteren, dass das im Bild Präsentierte auf einmal, d.h. schneller erfasst wird. 3. Ein weiteres damit zusammenhängendes Charakteristikum des Bildes verstärkt den Eindruck des Unmittelbaren: Es ist das im engeren Sinne Bildhafte des Bildes, das suggeriert, dass man es nicht dechiffrieren müsse, dass es seinen Inhalt direkt zeigt, ohne dass ein Code anzuwenden oder eine Sprache gelernt werden müsse. 4. Schließlich ist das Bild flächig und damit deutlicher körperlich als die ‘dahingehauchte’, scheinbar durchsichtige Rede. Die Materialität des Bildes, das seinen Inhalt in seiner Körperlichkeit präsentiert, ist anders als diejenige der immer im Verdacht des Metaphysischen stehenden Rede nicht negierbar. In einer Passage zu Loyola kommen diese vier Aspekte geballt zur Sprache: L’image est en effet, par nature, déictique, elle désigne, ne définit pas; il y a toujours en elle un résidu de contingence, qui ne peut être que pointé du doigt. Sémiologiquement, l’image entraîne toujours plus loin que le signifié, vers la pure matérialité du referent. (SFL II 1972: 1084f.) Der Gegensatz zwischen Bild und Text ist für Barthes jedoch alles andere als unüberbrückbar. Schon der Essay Le mythe aujourd’hui (1957) zeigt zwar, wie bereits zitiert, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Bild und Schrift auf, verneint aber mit Verweis auf die Geschichte der Schrift, 11 dass dieser Unterschied kategorisch sei: “l’image est, certes, plus impérative que l’écriture, elle impose la signification d’un coup, sans l’analyser, sans la disperser. Mais ceci n’est plus une différence constitutive. L’image devient une écriture, dès l’instant qu’elle est significative […]” (I 1957: 684; Hervorh. von mir, B.L.). 4 Unmittelbare Schrift: “écriture alla prima” “Je cherche une écriture qui ne paralyse pas l’autre. Et en même temps qui ne soit pas familière.” (III 1977: 759) Und umgekehrt gilt: Die Schrift wird da zum Bild, wo sie unmittelbares Schreiben sein will. Etwa zehn Jahre nach den Mythologies wird es Barthes genau darum gehen, wenn er danach fragt, wie die Unmittelbarkeit des Bildes durch Sprache erreicht werden kann. Barthes Bettina Lindorfer 232 Abb. 1: “ MU , le vide”. Entnommen aus: EpS II 1970: 749 Abb. 2: “Où commence l’écriture”. Entnommen aus: EpS II 1970: 759 versucht die Differenz zwischen Schrift und Bild zu überwinden, indem er die Schriftähnlichkeit des Bildes und die Bildhaftigkeit der écriture herausarbeitet. Doch wie werden Texte ‘bildergleich’, wie können sie unmittelbar berühren oder Wirkliches unmittelbar evozieren? Anders gefragt: Welches sind die Kennzeichen eines Sprechens, das ‘augenblicklich evident’ ist? Barthes stellt sich diese Fragen nicht erst 1980 in La chambre claire, sondern schon 1970 in L’empire des signes: Warum wirkt ‘die Schrift Japans’ - d.h. die Zeichen der japanischen Kultur - auf den Besucher nicht nur ‘weder exzentrisch noch gewöhnlich’ (II 1970: 802), sondern auch so unmittelbar? Eine Antwort ist: weil in L’empire des signes diese Schrift direkt vor den Augen des Lesers geschrieben wird. Dazu gehört zum einen, dass Bilder - gerade auch Bilder von Schriftzügen - gezeigt, d.h. abgebildet, werden (Abb. 1, 2); zum “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 233 12 Diese Technik des spontanen Pinselstrichs wird schon im Barock praktiziert (cf. Hofstätter 1975: 253). Abb. 3: Entnommen aus: EpS II 1970: 787 anderen beschreibt Barthes die Unmittelbarkeit der japanischen Schrift bzw. dieses ‘Japan’ genannten Ortes als eine “écriture alla prima” (EpS II 1970: 802). Dieser Begriff aus der modernen Malerei, wo alla prima eine Malweise mit einmaligem Auftragen der Farbe, ohne Unter- oder Übermalung, bezeichnet, 12 bringt auf den Punkt, wie sich die Zeichen hier zeigen: Ob in der Kalligraphie (Abb. 3), beim Spielen am Automaten oder beim Verfassen von Haikus, immer wird das ‘Land der Schrift’ als ein Ort beschrieben, in dem das Geschriebene zu keinem Zeitpunkt etwas Vorläufiges hat: Kein bloßes Skizzieren, kein Ausradieren und keine Korrektur des einmal Geschriebenen sei hier möglich, weil ‘Schrift’ als ein “accident contrôlé” zelebriert werde: “cette écriture […] où l’esquisse et le regret, la manœuvre et la correction sont également impossibles” (EpS II 1970: 802). Alla prima ist das, was auf der Straße passiert (cf. ebd.), die Einrichtung eines Zimmers (“comme si la chambre était écrite d’un seul coup de pinceau” [II 1970: 778]), eine Art zu schreiben (“une écriture irréversible et fragile” [II 1970: 806]) oder zu dichten (das Haiku als “un événement bref qui trouve d’un coup sa forme juste” [II 1970: 798]). Um das alla prima fernöstlicher Zeichenproduktion zu verstehen, ist es hilfreich, es seinem abendländischen Pendant in der modernen Malerei gegenüberzustellen: TW [gemeint ist Cy Twombly; B.L.] semble procéder à la façon de certains peintres chinois, qui doivent réussir le trait, la forme, la figure, du premier coup, sans pouvoir se reprendre, en raison de la fragilité du papier, de la soie: c’est peindre alla prima. (III 1979: 1046) Doch es gibt eine entscheidende Differenz zwischen Twombly und der fernöstlichen, in diesem Fall chinesischen, Kalligraphie: Twomblys Striche flottieren im zeichenleeren Raum. Sie sind ohne jedes Risiko des Verfehlens: “[L]e tracé de TW n’en comporte aucun: il est sans but, sans modèle, sans instance; il est sans telos, et par conséquent sans risque: pourquoi ‘se rependre’, puisqu’il n’y a pas de maître? ” (ebd.). Dagegen operiert der fernöstliche Maler auf dem Boden des Zeichens, das es darzustellen und eben nicht zu verfehlen gilt: “Tandis que le jet chinois comporte un grand danger, celui de ‘rater’ la figure (en manquant l’analogie)” (ebd.). Meine These ist nun, dass in L’empire des signes genau das interessiert: Das eigentlich Erhabene der alla prima-Technik ist für den Erzähler, dass sie das Wagnis auf sich nimmt, in Bettina Lindorfer 234 einer einzigen Bewegung Zeichen auszuführen, wofür man auch mehrere Anläufe und Korrekturgänge in Anspruch nehmen könnte. Bei diesen Zeichen handelt es sich nicht um die ins Freie lancierten Striche eines Cy Twombly, sondern um das Hervorbringen von sprachlichen Formen, die erstens auf Anhieb verständlich, d.h. lesbar sind und denen dabei zweitens ein Moment der Fragilität eingeschrieben ist. Diese Charakteristika werden für Barthes’ Ethik des Schreibens leitend: “Je désire la forme acceptable (lisible) comme une manière de déjouer la double violence: celle du sens plein, imposé, et celle du non-sens héroïque” (RB III 1975: 185). Formen, die misslingen können - nämlich dann, wenn sie nicht lesbar sind als das, was sie zu lesen geben sollen, wenn sie zu heftig aufgetragen werden und deshalb das Papier zerstören oder wenn sie so fremd sind, dass sie dem Adressaten Angst machen -, sind es, die Barthes anziehen. Sie werden als in einer einzigen Bewegung realisiert dargestellt. Entscheidend für das Prinzip der einzigen Bewegung ist das Moment des Risikos. Barthes führt dieses Prinzip am japanischen Automatenspiel pachinko vor, bei dem der Spielzug in einer einzigen Fingerbewegung bestehe. Damit wird das japanische Spiel in einen diametralen Gegensatz zum westlichen Gerüttel beim Flippern gestellt: Pour le joueur japonais, […] le doigté est immédiat, définitif, en lui seul réside le talent du joueur, qui ne peut corriger le hasard qu’à l’avance et d’un seul coup; […] cette main [du joueur] est donc celle d’un artiste (à la manière japonaise), pour lequel le trait (graphique) est un ‘accident contrôlé’. (EpS II 1970: 765) Automatenspieler werden zu ‘Künstlern’, sobald sie nicht nur auf eine einzige Bewegung der eigenen Hand absolut vertrauen, sondern dabei auch das Moment des Zufalls akzeptieren. Deshalb geht die Zelebration des alla prima einher mit einer Ästhetik des gewagten Wurfs, mit der auf Deleuzes Nietzsche-Interpretation angespielt wird. Die meist implizite Anspielung findet sich etwa bei - der euphorischen Charakterisierung des Buchstabens Z: “graphiquement, jeté par la main, en écharpe, à travers de la blancheur égale de la page, parmi les rondeurs de l’alphabet, comme un tranchant oblique et illégal, il coupe, il barre, il zèbre” (S/ Z II 1970: 626); - der heilsamen Wirkung der Haiku-Sprache: “[dans le haiku] rien n’a été acquis, la pierre du mot a été jetée pour rien: ni vagues ni coulée du sens” (EpS II 1970: 804); - der eigentlichen Leistung der japanischen Kalligraphie: “un art graphique véritable: [ne] plus travail esthétique de la lettre solitaire, mais abolition du signe, jeté en écharpe, à toute volée, dans toutes les directions de la page” (EpS II 1970: 806); - und schließlich findet sie sich eben auch in Barthes’ Zielsetzungen für sein eigenes Schreiben: “[l’écriture c’est] une énonciation […] à travers laquelle le sujet joue sa division se dispersant, en se jetant en écharpe sur la scène de la page blanche” (Réponses II 1971: 1320); “[“écrire”, c’est] retirer le moi de sa coque imaginaire […] en un mot jeter le sujet à travers le blanc de la page […] pour le disperser” (Jeunes chercheurs II 1972: 1419); “Je jouis continûment, sans fin, sans termes, de l’écriture comme d’une production perpétuelle, d’une dispersion inconditionelle, d’une énergie de séduction qu’aucune défense légale du sujet que je jette sur la page ne peut plus arrêter” (RB III 1975: 199). Die Kennzeichnung der angestrebten Sprache als lesbar und doch nicht allzu vertraut (“ni excentrique ni familier” [EpS II 1970: 802] bzw. als “accident contrôlé” [ebd.: 765]) mag einleuchten: Sie soll weder furchteinflößend anders noch restlos verwertbar sein. Doch warum soll dies alla prima geschehen? Warum sollen Zeichen und Wörter mit einem Mal geworfen und nicht umsichtig geschrieben werden? “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 235 Die Antwort auf diese Frage liegt in der Verbindung des alla prima mit Zeitlichkeit: Das korrigierende, ausradierende und immer wieder neu ansetzende Schreiben am Schreibtisch erhält durch die Philosophie des spontanen Pinselstrichs in gewisser Weise ‘reale’ Bedingungen: Das Schreiben alla prima soll momenthaft, aber nicht vergänglich sein. Es soll etwas momenthaft Hergestelltes dauerhaft machen und damit den Moment dauerhaft festhalten - zur Existenz bringen, wie Barthes mit Lacan (1975: 108) (wie auch mit Heidegger) schreibt: Le trait, libéré de l’image avantageuse que le scripteur voudrait donner de lui-même, n’exprime pas, mais fait exister. (EpS II 1970: 802) La baguette […] a une fonction déictique: elle montre la nourriture, désigne le fragment, fait exister par le geste même du choix, qui est l’index. (EpS II 1970: 757) [L]’événement graphique, est ce qui permet à la feuille d’exister, de signifier, de jouir. (III 1979: 1046) Le principe d’aventure me permet de faire exister la Photographie. (CC III 1980: 1121) Dem Skizzenhaften und Vorläufigen, das immer neuen Umarbeitungen offensteht, ist nach dieser Logik also mit seiner eigenen Abwertung als ‘bloße Skizze’ auch die Abwertung des Moments seiner Produktion eingeschrieben. Dem setzt Barthes die im Moment verankerte und dennoch gültige Skizze - écriture immédiate bzw. alla prima - entgegen. Sie trägt eben nicht frühere Momente des Feilens und Radierens mit sich, sie ruft keine schon einmal verwendeten Textbausteine wieder auf und verarbeitet sie neu, sondern ist ganz im Hier-und- Jetzt verankert. Sie wagt jetzt diesen Strich, von dem klar ist, dass er nicht umgearbeitet werden kann und genauso stehen bleiben (ex-istieren, sagt Barthes mit Lacan) wird. Bei dieser écriture alla prima ist aber auch klar, dass sie nicht ins Letzte planbar ist. Denn sie ist nicht Teil jener ‘gemäßigten Kontingenz’, die Äußerungen nach dem strukturalistischen Verständnis charakterisiert, wonach jedes Element einer Äußerung austauschbar ist, indem ein anderes aus dem gleichen Paradigma ausgewählt und an seiner Stelle im Syntagma eingesetzt wird. Die radikalisierte Kontingenz der écriture alla prima besteht vielmehr darin, dass sie das Kontingente dieser Auswahl nicht schamhaft verschweigt, sondern Kontingenz bewusst auf sich nimmt, ja ostentativ (larvatus prodeo) inszeniert: Die alla prima-Schrift weiß um ihre Kontingenz - sie tut nicht so (wie ein abendländischer Textarbeiter), als ob genau dieses Zeichen an genau dieser Stelle stehen muss; sie zeigt auf ihre Kontingenz, z.B. indem sie die Zerbrechlichkeit des Papiers als Grund für das Unwiderrufliche eines Pinselstrichs anführt, indem sie die Ästhetik des Wurfs thematisiert oder von aventure, von Dingen die ‘zustoßen’, spricht. Auch den Umgang mit dem Text denkt Barthes in diesen Termini des Unmittelbaren. Oft wird dabei, wie in Le plaisir du texte, der Lacan’sche Begriff der jouissance bemüht, der Merkmale des Bildhaften bündelt: La jouissance du texte n’est pas précaire, elle est pire: précoce; elle ne vient pas en son temps, elle ne dépend d’aucun mûrissement. Tout s’emporte en une fois. Cet emportement est évident dans la peinture, celle qui se fait aujourd’hui: dès qu’il est compris, le principe de la perte devient inefficace, il faut passer à autre chose. Tout se joue, tout se jouit dans la première vue. (PlT II 1973: 1521) Mit Roland Barthes par Roland Barthes ist zu ergänzen, dass diese Lust kurze Formen bevorzugt - das Haiku oder das Fragment -, weil nur sie unmittelbaren Genuss (“une jouissance immédiate”; [III 1975: 166]) versprechen und ‘auf den ersten Blick’ funktionieren. Bettina Lindorfer 236 13 Zur Affinität mit Nietzsches Sprachtheorie cf. Lindorfer 1998: 214-237 sowie Lindorfer 2012. Abwarten ist bei dieser Lust nicht gefragt, kein Aufschub, keine Differenz kommt ihr dazwischen, auch darin betont Barthes die Parallele zur modernen Malerei. In seinem blitzartigen In-Erscheinung-Treten erinnern diese Lustmomente des jouissance- Textes an Benjamins Konzeption des “Mimetischen”, dieser “magische[n] Seite” der Sprache (Benjamin [1933] 1980: 208), die “in jedem Fall an ein Aufblitzen gebunden [ist]” (ebd.: 206) 13 . In dieser Hinsicht erinnert Barthes’ später Zeichenbegriff, dem er in der eingangs zitierten Antrittsvorlesung am Collège de France positive und gleichbleibende Eigenschaften abspricht (cf. L III 1977: 811), an Benjamins Notiz zur Wahrnehmung von Ähnlichkeit in diesem Essay: “Sie huscht vorbei, ist vielleicht wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden. Sie bietet sich dem Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation” (Benjamin [1933] 1980: 206). Wo allerdings das Semiotische (“buchstäblicher Text, Sinnzusammenhang”) bei Benjamin noch als “Träger” dienen kann (ebd.: 213) bzw. als “Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann” (ebd.: 209), versucht Barthes, wie deutlich geworden sein sollte, mit seiner écriture alla prima einen anderen Seinsmodus des Schreibens erkennbar werden zu lassen, der nicht nur momenthaft aufleuchtet, sondern immer (im) Moment ist. Bibliographie Barthes, Roland 1993-95: Œuvres complètes, édition présentée par Éric Marty, 3 Bde., Paris: Seuil Barthes, Roland [1978] 1991: “Le désir de neutre”, in: La règle du jeu 5 (1991): 36-60; wieder abgedruckt in Thomas Clerc (ed.) 2002: Le neutre. Notes de cours au Collège de France. 1977-1978, Paris: Seuil Barthes, Roland 2006: Variations sur l’écriture. Französisch-Deutsch, übers. von Hans-Horst Henschen, Mainz: DVB Benjamin, Walter [1933] 1980: “Lehre vom Ähnlichen”, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (eds.) 1980: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 204-210 Benjamin, Walter [1933] 1980: “Über das mimetische Vermögen”, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (eds.) 1980: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 210-213 Castiglione, Baldassar 1998: Il libro del cortegiano, hg. v. Walter Barberis, Turin: Einaudi Culler, Jonathan 1982: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Eco, Umberto 8 1994: Einführung in die Semiotik, autorisierte dt. Ausg. von Jürgen Trabant, München: Fink Ette, Ottmar 1998: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Freud, Sigmund [1900] 1978: “Traumdeutung”, in: Anna Freud u.a. (eds.) 7 1978: Gesammelte Werke, Bd. II/ III, Frankfurt a.M.: Fischer Hofstätter, Hans H. 1975: Kunstgeschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Parkland Lacan, Jacques 1966: Écrits, wieder abgedruckt 1987, Paris: Seuil Lacan, Jacques 1972-73: Le séminaire XX. Encore, hg. v. Jacques-Alain Miller 1975, Paris: Seuil Lindorfer, Bettina 1998: Roland Barthes. Zeichen und Psychoanalyse, München: Fink Lindorfer, Bettina 2012: “Un troisième tour d’écrou. Die Leitfunktion des Realen für die écriture des späten Barthes”, in: Angela Oster und Karin Peters (eds.): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München: Fink: 185-200 Mounin, Georges 1970: Introduction à la sémiologie, Paris: Éd. de Minuit Oster, Angela 2012: “Larvatus prodeo. Realitäten des Wintergartenfotos in Roland Barthes’ La chambre claire”, in: Dies. und Karin Peters (eds.): Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München: Fink: 215-230 “Alla prima”, “d’un seul coup”, “immédiatement” 237 Roger, Philippe [1986] 1990: Roland Barthes, roman, Paris: Grasset Roger, Philippe 1993: “‘Une fidélité particulière à l'infini’ (de Barthes et des mystiques)”, in: Cathérine Coquio und Régis Salado (eds.): Barthes après Barthes. Une actualité en questions, Actes du colloque international de Pau 22-24 nov. 1990, Pau: Publ. de l’Univ. de Pau: 37-41 Wellbery, David 1992 a: “Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs. Eine Glosse zur Diskussion um den Poststrukturalismus”, in: Klaus W. Hempfer (ed.): Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne, Stuttgart: Steiner: 161-169 Wellbery David 1992 b: “Contingency”, in: Anne Fehn u.a. (eds.): Neverending stories. Toward a critical narratology, Princeton/ NJ: Princeton University Press: 237-257 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Volker Steenblock Philosophieren mit Filmen 2013, 192 Seiten €[D] 19,99/ SFr 27,50 ISBN 978-3-7720-8481-2 Dies vorliegende Buch empfiehlt sich jedem Leser und jeder Leserin für das Vergnügen, Filme noch einmal philosophierend zu betrachten, die wir alle schon einmal gesehen haben oder kennenlernen sollten. Die Filme und die philosophischen Gedanken und Texte, auf die dieses Buch verweist, können aber auch für Seminare und für die Schule genutzt werden. Folgende Filme werden unter anderem behandelt: Blade Runner, Truman Show, Matrix, King Kong, Und täglich grüßt das Murmeltier, Chocolat, Metropolis, Star Trek, Spiel mir das Lied vom Tod. “mehr, mehr, noch mehr! ” Schrift als Fetischobjekt bei Roland Barthes Catherine Marten (Berlin) Roland Barthes’ work on writing after 1973 is characterised by what he calls his “mana-word”, that is the word “body”. It is neither solely the writer’s nor the reader’s body that is of interest to Barthes, but rather the materiality of notation itself. This article tries to take Barthes’ concept seriously by developing a fetishistic semiotic model which is based on the fact that the term “fetish” occurs in significant passages of his later texts on writing and notation. The article condenses Barthes’ arguments into a fetishist strategy that is able to transform the text from a “mercantile object” to a euphoric practice of writing. This strategy, which the article attempts to examine in detail, also has a great effect on notation itself and its perception. 1 Einleitung Roland Barthes hat sein eigenes Werk in seinem 1975 erstmals erschienenen Text ROLAND BARTHES par Roland Barthes in fünf “Phasen” eingeteilt. Die letzte dieser “Phasen” firmiert unter dem “Genre” der “Moralität”, wobei Barthes nachdrücklich betont, dass unter “Moralität […] das genaue Gegenteil von Moral verstanden werden muss (es ist das Denken des Körpers im Zustand der Sprache)” (Barthes 1978: 158). Die Werke, die Barthes mit dieser jüngsten Phase seines Denkens - oder besser: dem Denken (s)eines Körpers - in Verbindung bringt, sind die 1973 entstandene Sammlung von Mikrotexten Le plaisir du texte sowie eben jener Text, in dem er besagte Einteilung vornimmt. Glaubt man dieser Einteilung - auch wenn es sich dabei, wie Barthes selbst schreibt, um ein “imaginäres Vorgehen” handelt -, so hat Le plaisir du texte nach den Phasen der “Lust am Schreiben”, der “sozialen Mythologie”, der “Semiologie” und der “Textualität” eine neue Phase in Barthes’ Denken eingeläutet. Zu dieser Phase der “Moralität” lässt sich so auch der 1973 geschriebene und postum erschienene Text Variations sur l’ecriture rechnen. Schon im Vorwort dieser Abhandlung wird die Verbindung zwischen ROLAND BAR- THES par Roland Barthes, Le plaisir du texte sowie den Variations sur l’ecriture dann auch überdeutlich. Barthes formuliert hier sein Programm folgendermaßen: Der erste Gegenstand, auf den ich in meiner früheren Arbeit gestoßen bin, war die Schrift, damals habe ich aber dieses Wort in einem metaphorischen Sinne aufgefasst […]. Heute, zwanzig Jahre später - und durch eine Art Rückgriff auf den Körper - , ist es der manuelle Sinn des Wortes, dessen ich mich bedienen möchte, ist es die “Schreibung” (der muskuläre Akt des Schreibens, der Prägung der Buchstaben), die mich interessiert: dieser Gestus, mit dem die Hand ein Werkzeug ergreift (Stichel, Schreibrohr, Feder), es auf eine Oberfläche stützt und darauf, eindrückend oder sanft streichend, fortgleitet und regelmäßige, rhythmische, wiederkehrende Formen einprägt […]. (Barthes 2006: 7) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Catherine Marten 240 1 Cf. hierzu den Beitrag von Thorsten Gabler in diesem Themenheft. Eben jener “Rückgriff auf den Körper” scheint es zu sein, der eine Achse durch die Texte der frühen siebziger Jahre bildet: Die Schrift, die laut Barthes ein “streng merkantile[s] Objekt, ein Instrument von Macht und Segregation, erstarrt im gröbsten Realen der Gesellschaften” ist, wird im Schreibakt wortwörtlich verflüssigt in eine “Praxis des Genusses, [die] mit den triebgebundenen Tiefenschichten des Körpers und den subtilsten und gelungensten Produktionen der Kunst liiert [ist]” (Barthes 2006: 9f.). In der lustvollen Schreibbewegung, der bei Barthes der lustvolle Lesevorgang entspricht, wird das erstarrte Objekt der Macht zu einem Gewebe - aus Schrift wird Text: Text heißt GEWEBE; während man dieses Gewebe aber bislang immer für ein Produkt, einen fertigen Schleier gehalten hat, hinter dem sich, mehr oder minder verborgen, der Sinn (die Wahrheit) befindet, betonen wir jetzt beim Gewebe die generative Vorstellung, daß sich der Text durch ein ständiges Verflechten selbst verfertigt und bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf, einer Spinne gleich, die in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. (Barthes 2010: 80) Wie Ottmar Ette in seinem Kommentar zu Roland Barthes’ Le plaisir du texte betont, unterscheidet sich der Textbegriff, den Barthes in diesem Mikrogramm mit dem Titel Théorie definiert, von dem poststrukturalistischen Textbegriff, der im Umfeld der Tel Quel gebräuchlich ist. Zwar würde auch hier, so Ette, der “abendländisch-phallogozentrischen Subjektphilosophie” eine Absage erteilt und “das Verständnis von einer unendlich offenen und selbstgenerierenden Textualität entgegengesetzt” (Ette 2010: 374); allerdings ginge Barthes noch einen entscheidenden Schritt weiter und verwandle die übliche Metaphorik vom Text als Gewebe in eine Metaphorik des Netzes. In einer solchen netzartigen Struktur gäbe es “keine durchgängigen Fäden […] mehr […], sondern eine Vielzahl zusätzlicher Verknüpfungen […], die in einer nicht länger geraden und gerichteten Relationalität alles mit allem verbinden” (ebd.). Die Betonung der referentiellen Funktion der Schrift findet ihre Entsprechung in einer sukzessiven Lektüre des Textes, die lesend den “Schleier” zu lüften vermag, um den darunter- oder dahinterliegenden Sinn zu erfassen. Die Dekonstruktion, die eng mit der Metapher des Texts als Gewebe verbunden ist, setzt diese sukzessive Lektüre bereits außer Kraft. Durch Aufschübe, Widersprüche und das beständige Verweisen der Signifikanten aufeinander gibt es keine klar auszumachenden Hierarchien mehr. Die Metapher des Netzes schließlich fordert ein anderes, jedoch in der Wortbedeutung enthaltenes, “Lesen”: Dieses gleicht eher der Bewegung eines diskontinuierlichen Einsammelns. Der Text wird simultan erfasst und fordert ein Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen ‘Knotenpunkten’. Durch die Einbringung des Körpers in die Schrift - die “Sekretion” der Tinte durch die Hand 1 - löst sich demnach nicht nur das Subjekt auf; vielmehr wird die Schrift durch das lustvolle Schreiben und Lesen zu einem Sammelsurium libidinöser Objekte, die gleichsam als ‘Knotenpunkte’ dieses Netzes hervortreten. Als solche ‘Knotenpunkte’ der Lust können bei Barthes durchaus die materiell vorhandenen und sinnlich wahrnehmbaren Wörter gelten: Kurzum, das Wort kann unter zwei einander entgegengesetzten, gleichermaßen exzessiven Bedingungen erotisch sein: wenn es im Übermaße [d.h. wortwörtlich, CM] wiederholt wird oder wenn es im Gegenteil unerwartet, dank seiner Neuheit sukkulent ist (in bestimmten Texten leuchten die Wörter, bilden ablenkende, unpassende Erscheinungen - und es tut wenig zur Sache, ob sie pedantisch sind […]). In beiden Fällen ist es dieselbe Physik der Wollust, die “mehr, mehr, noch mehr! ” 241 Furche, die Einschreibung, die Synkope: was ausgehöhlt, eingestampft ist oder was ausbricht, detoniert. (Barthes 2010: 55f.; Hervorh. im Original) Das “erotische” Wort zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es semantisch leer ist (“ausgehöhlt”, “eingestampft”) und durch seine aisthetische Gestalt aus der Textur hervortritt (“ausbricht”, “detoniert” - und eben nicht de-notiert). Roland Barthes hat eben diese Eigenschaften dem in seiner Theorie der frühen siebziger Jahre so wichtigen “Wort” des Körpers zugeschrieben. Der “Körper”, so heißt es in ROLAND BARTHES par Roland Barthes, sei das “Mana-Wort […], dessen brennende, vielgestaltige, nicht zu fassende und gleichsam sakrale Bedeutung die Illusion gibt, daß man mit diesem Wort auf alles antworten kann” (Barthes 1978: 141). 2 Wie wird das Wort … Fetisch? Barthes’ Beschreibung dieses magischen “Mana-Wortes” deckt sich mit der Beschreibung seiner “erotischen Wörter”: Für Barthes ist “es […] der Signifikant, der den Platz eines jeden Signifikats einnimmt” (ebd.). Und im gleich darauf folgenden Mikrotext Das überleitende Wort, fragt Barthes sich: “Wie wird das Wort Wert? ” (ebd.): Auf der Ebene des Körpers […]. So werden durch die Raster variabler Kompliziertheit “Lieblingswörter” geschaffen von Wörtern, die (im magischen Sinne des Wortes) “gewogen” sind, “wundersame” Wörter (leuchtend und glücklich). Es sind “überleitende” Wörter, vergleichbar mit den Zipfeln an Kopfkissen und Bettlaken, an denen das Kind beharrlich lutscht. Wie für das Kind gehören diese Lieblingswörter zum Spielfeld; und wie die überleitenden Gegenstände sind sie von einem ungewissen Statut; im Grunde setzen sie eine Art Abwesenheit des Objekts, des Sinns, in Szene: trotz der Härte ihrer Umrisse, der Kraft ihrer Wiederholung, sind es weich umflossene Wörter; sie wollen Fetische werden. (Ebd.: 141f.) Barthes beschreibt hier in lupenreinem psychoanalytischem Vokabular die Urszene der Fetischbildung: Das Kind reagiert auf eine für es selbst bedrohliche Abwesenheit (bei Freud bekanntermaßen die Abwesenheit des mütterlichen Phallus) mit einer paradoxen Bewegung. Einerseits muss es die “Abwesenheit des Objekts, des Sinns” leugnen; andererseits muss es diese anerkennen, um sich selbst ein fetischistisches Substitut zu erschaffen, das durch die Paradoxie dieser Bewegung “von ungewissem Statut” ist. Einerseits ist es materiell vorhanden - oder in Barthes’ Worten: “hart umrissen”; andererseits ist es durch sein transitorisches Dasein “weich umflossen”, da es zugleich auf den Mangel verweist, den es zu kompensieren versucht. Der Begriff des “Spielfelds” signalisiert deutlich, dass die Wörter aus ihrem üblichen Sinn- und Gebrauchskontext herausgelöst sind und ihre Verwendung nun anderen Regeln gehorcht. Aus einer sukzessiven Lektüre von Schrift, die darauf ausgerichtet ist, eben jenen “Schleier” zu lüften, der den Sinn der Worte verdeckt, wird ein diskontinuierliches Ein- und Ansammeln einzelner Wörter (das “beharrliche Lutschen” des Kindes an immer anderen Gegenständen). Der Fetischist sieht zugunsten der “Materialität” der Wortgestalt von ihrem Sinn ab. Oder anders - in Barthes’ Worten - gesagt: “Der Fetischist würde sich auf den zerschnittenen Text, auf die Zerstückelung der Zitate, der Formeln, der Stanzungen, auf die Lust am Wort einlassen” (Barthes 2010: 79). Die Konzentration auf den Begriff des Fetischismus, der in den drei hier behandelten Texten Roland Barthes’ an signifikanten Stellen auftaucht, soll mir im Folgenden helfen, ein “fetischistisches Zeichenmodell” zu entwickeln, das dazu dient, Barthes’ verschiedene Schriftbegriffe - den des “merkantilen Objekts” und denjenigen der “lustvollen Praxis” - zu Catherine Marten 242 beleuchten. Dabei interessiert mich vor allem, wie Barthes aus dem ‘Universal-Fetisch’ Schrift, als der eben jenes “erstarrte Schrift-Objekt” beschrieben werden könnte, durch den “Rückgriff auf den Körper“ ein durchweg positiv besetztes Fetischobjekt ‘herbeizaubert’: “Der Text ist ein Fetischobjekt, und dieser Fetisch begehrt mich” (Barthes 2010: 38; Hervorh. im Original). 2.1 Barthes’ Entdeckung des “dritten Terms” - der Fetisch als Versatzstück In ROLAND BARTHES par Roland Barthes referiert Barthes in konzentrierter Form die Grundkonstellation seiner Schrift- und Sprachtheorie der frühen siebziger Jahre: Alles scheint darauf hinzudeuten, daß sein [Barthes’ eigener, CM] Diskurs nach einer Zwei- Terme-Dialektik verläuft: die geläufige Meinung und ihr Gegenteil, die Doxa und ihr Paradox, Stereotyp und Neuerung, Ermüdung und Frische, Neigung und Abneigung: ich liebe/ ich liebe nicht. Diese binare [sic] Dialektik, das ist gerade die Dialektik des Sinns (markiert/ nicht markiert) und des Freudschen Spiels (Fort/ Da): die Dialektik des Werts. Doch stimmt das wirklich? Es zeichnet sich in ihm eine andere Dialektik ab und sucht zur Aussage zu kommen: in seinen Augen tritt durch die Entdeckung eines dritten Terms, der nicht Synthese sondern Verlagerung ist, die Widersprechung der Terme zurück: alles Ding kehrt wieder, doch kehrt es zurück als Fiktion, d.h. auf einer anderen Windung der Spirale. (Barthes 1978: 75; Hervorh. im Original) Der Text tut jedoch noch etwas ganz anderes, als zu referieren: er figuriert - und zwar indem er dem Leser durch die Betonung der Schriftgestalt eben jene Grundkonstellation des Barthes’schen Schreibens quasi hochkonzentriert und im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen stellt. Ein Leser, der - wie Barthes’ Fetischist - ausschließlich die Gestalt der Schrift wahrnehmen würde, ohne sukzessiv dem Schriftverlauf zu folgen, könnte auf den ersten Blick die Konstellation begreifen, die ein ‘normaler’ Leser erst entziffern müsste. Die in ihrer Gestalt betonten Wörter springen dem nicht-lesenden Betrachter geradezu aus dem Text ins Auge - oder anders gesagt: sie blicken ihn aus dem Text heraus an. Die Betonung der Wortgestalt erreicht Barthes durch die auffälligen Kursivsetzungen, die die zentralen Begriffe (“ich liebe/ ich liebe nicht, markiert/ nicht markiert, Fort/ Da”) aus dem Text hervortreten lassen und gleichsam materialisieren. Doch auch die für Barthes typische Verwendung von Schrägstrichen und Klammern verdeutlicht den semantischen Mehr- oder Eigenwert der Signifikanten: Sie figurieren bereits rein visuell das abgeschlossene binäre System, das der Text beschreibt. Auch das Fehlen dieser auffällig eingesetzten Schriftzeichen beim letzten kursiven Wort “Verlagerung” besitzt eine semantische Funktion, die sich bereits aus seiner Erscheinung ableiten lässt: Der allein stehende Zeichenkörper ist im wahrsten Sinne exzentrisch und sticht aus der durchgängigen binären Dialektik hervor, indem er als das “Andere” figuriert wird. Natürlich kann kein realer Rezipient, und sei er noch so fetischistisch veranlagt, vollkommen von der Bedeutungsebene der Wörter abstrahieren. Und so entfaltet sich auch erst im Wechselspiel von Betrachtung und Lektüre die gesamte Komplexität des Verhältnisses zwischen dem Sinn des Satzes und der Figuration seiner Wörter: Übersetzt man nämlich das im Französischen eher unübliche ‘déport’ nicht mit ‘Verlagerung’, sondern mit ‘Versatz’, so wird die Alleinstellung des dritten Terms oder - in Barthes’ Worten - seine “Atopie” innerhalb des Systems umso bedeutender: Der ‘Versatz’ ist - wie man lesen und sehen kann - keine Synthese, bildet aber die - deutlich als etwas anderes erkennbare - Verbindung zweier nicht zusammengehöriger Teile; er steht außerhalb des Systems, löst aber dennoch die “mehr, mehr, noch mehr! ” 243 Ordnung des Widerspruchs auf. All diese Eigenschaften des ‘Versatzes’ ‘materialisieren’ sich wiederum visuell in dem Schrägstrich, der jedes der Begriffspaare trennt und zugleich verbindet. Diese Beobachtungen mögen außerhalb eines ‘schriftbildlichen’ Theoriekontextes pedantisch erscheinen. Sie zielen jedoch genau in die Richtung der näheren Bestimmung des von Barthes erwähnten dritten Terms, der als Ausgangswie Fluchtpunkt der Semiose gelten kann. Dieser dritte Term, der nicht nur seinem Sinn nach, sondern auch sinnlich erfasst werden kann, deckt sich sowohl mit Barthes’ Beschreibung seiner “erotischen” wie seiner “überleitenden Wörter”. Stets ist es die hervorgehobene Gestalt des Signifikanten, die - im Wechselspiel mit dem Signifikat - einen Mehr- oder gar Eigenwert im semiotischen System erlangen kann und so einerseits die Einheit des sprachlichen Zeichens vorzutäuschen, andererseits dessen Bruch auszustellen vermag. In diesem Mechanismus ‘offenbart Schrägstrich verbirgt’ sich eine fetischistische Strategie, wie ich im Folgenden illustrieren möchte. 2.2 Von Freud zu Saussure - das Zusammenspiel von Differenz und Fetischbildung Die wohl kürzeste Definition des Fetischs als “Geschichte, die sich als Gegenstand ausgibt” (Stoller 1985: 155), stammt vom amerikanischen Psychoanalytiker Robert J. Stoller. Die Geschichte, die der Freud’sche Fetisch gerade nicht erzählt, wurde bereits angesprochen und ist vermutlich hinlänglich bekannt, sei hier aber trotzdem in aller Kürze noch einmal rekapituliert: Der Knabe entdeckt die Leerstelle, die für ihn bis dato der mütterliche Phallus besetzt hatte, und wird durch diese Entdeckung sogleich mit einer Kastrationsdrohung belegt. Um den horror vacui abzuwehren, setzt ein doppelter Mechanismus ein, den Freud mit dem Terminus der “Verleugnung” (Freud 1976: 313) fasst: Der Knabe muss zunächst die Leerstelle anerkennen, um sie sodann mithilfe eines Substituts besetzen zu können. Die Differenz, die auf den Knaben identitätsgefährdend wirkt, wird so vermittels eines überdeterminierten Objekts verfugt. Zugleich ist es aber genau diese Fuge, die den entstandenen Riss deutlich macht, geradezu materialisiert. Der Fetisch siedelt sich genau in der Differenz zwischen dem nicht existenten mütterlichen Phallus und dem realen Objekt an. Er ist dabei weder das eine noch das andere und doch beides zugleich, da er nur dank der paradoxen Bewegung der gleichzeitigen Anerkennung der Differenz und ihrer Verleugnung gebildet werden kann. Um jedoch einen funktionierenden, das heißt magischen Fetisch zu generieren, darf eines unter keinen Umständen offenbar werden: dass der Fetisch sich der Manipulation durch den Fetischisten verdankt und eine bloße Projektion von dessen Ängsten und Begehren auf ein bloßes Ding ist. Kurz, seine Geschichte muss hinter der Maskerade verborgen bleiben. Wenn es dem Fetisch dank seiner dinglichen Maskerade auch nicht anzusehen ist, dass er eine Geschichte hat, so ist seine Struktur dennoch - wie Hartmut Böhme betont - “primär prozesshaft” (Böhme 2006: 402) organisiert, wodurch es zu einem beständigen Oszillieren zwischen der Härte der Umrisse des Fetischobjekts und dem erneuten Abfließen seiner Macht kommt. Der Fetisch changiert stets zwischen magischem Objekt und durchschaubarem Substitut. Wie Freuds Fetischismus-Modell arbeitet auch Saussures Zeichenmodell mit einer binären Opposition, deren bedeutsamer und bedeutungskonstituierender Kern die ihr innewohnende Differenz ist. Das Zeichen gilt Saussure bekanntermaßen als psychische Einheit mit zwei Seiten. Wie die beiden Seiten eines Blatt Papiers sind der Zeichenkörper und das Vorstellungsbild - im psychoanalytischen Sinne das Objekt und das Phantasma - miteinander Catherine Marten 244 verbunden. Zugleich ist jedoch die Differenz das Entscheidende der Semiose, die Verbindung zwischen dem an sich bedeutungslosen, materiellen Element und dem Sinn ist mithin arbiträr (cf. Saussure 1967: 76ff.). Die Differenz, die konstitutiv für die Erzeugung eines - in diesem Falle sprachlichen - Umgangs mit Welt ist, kann und muss in gewissem Sinne jedoch auch zu verbergen versucht werden. In diesem doppelten Mechanismus lässt sich die fetischistische Grundkonstellation, wie Freud sie beschreibt, wiederkennen. Auch hier hat der Fetisch auf das Modell einen paradoxen Effekt: Erstens vergrößert er die Differenz, indem er sie anerkennt und auf diese Weise Signifikant und Signifikat entkoppelt. Zweitens kann er diese Differenz vergessen machen, indem er sie mit einem fetischistischen Substitut besetzt. So kommt es zu einem Oszillieren zwischen der Einheit des Zeichens und seiner Differenz. 2.3 Die Schrift als Universal-Fetisch Wie in den eingangs zitierten Barthes’schen “Dialektiken” hält der Fetisch sich als dritter Term innerhalb einer binären Opposition auf. Er ist dabei jedoch nicht Synthese dieser beiden Terme, sondern ein Versatzstück mit paradoxem Potential: je nachdem, ob der Fetisch seine kompensatorische oder seine aufspaltende Wirkung entfaltet, inszeniert er die Einheit von Zeichen und Sinn oder den Bruch zwischen Signifikant und Signifikat. In Barthes’ Worten gestaltet sich dieser Mechanismus folgendermaßen: Die Schrift braucht das Diskontinuierliche, das Diskontinuierliche ist gewissermaßen die organische Bedingung ihres Auftretens; aber dieses Diskontinuierliche ist historisch sehr mobil; wenn die Schrift einmal konstituiert ist, neigt sie bald dazu, sich zusammenzuziehen, einen regelmäßigen Raum ohne Riss auszufüllen […], bald umgekehrt dazu, sich weitestgehend zu teilen (so ist in unserer Maschinenschrift jeder Buchstabe vom folgenden getrennt). Die Schrift oszilliert zwischen dem Kompakten und dem Aufgelockerten, der Bindenaht und der Bruchkante. (Barthes 2006: 99f.) Das “Zusammenziehen” der Schrift beschreibt Barthes als einen Prozess der ‘Reduktion’. Die Schrift wird durch diese Reduktion nicht nur räumlich kleiner und enger, sie wird auch dichter. Das heißt: Der ihr immanente Riss wird durch eine Abstraktion von der Materialität des Signifikanten in Hinblick auf seine referentielle Funktion zum Verschwinden gebracht. Die Schrift wird so zu einer Art ‘Universal-Fetisch’ im Sinne des Marx’schen Geldfetischs. Wie das Geld, so besitzt auch die Schrift - auf ihre materielle Dimension reduziert - keinerlei Gebrauchswert, dafür aber universellen Tauschwert. Das magische Versprechen dieser Fetisch-Objekte lautet: unermessliche Waren durch Geld, unerschöpflicher Sinn durch Schrift: […] man hat einen gewissen Parallelismus zwischen der Erfindung des Alphabets und der des einheitlichen Münzgelds feststellen können: so wie der Buchstabe der kleinste gemeinsame Nenner aller Sinne und aller Erinnerung ist, so ist das Münzgeld (im mediterranen Bereich) das Maß aller Dinge: die Zivilisation verstrickt sich in einem Prozess der Reduktion: von den Worten zum Buchstaben, von den Gütern zum Münzgeld, wobei Buchstabe und Münze an sich selbst neutral, bedeutungslos sind. (Barthes 2006: 107; Hervorh. im Original) Obwohl dieses Versprechen hier wie bei jeder Art des Fetischismus an ein materiell vorhandenes Ding gebunden ist, muss im Falle dieser speziellen Fetische ihre Materialität gerade zum Verschwinden gebracht werden, um ihre (rein repräsentative) Funktion sichern zu können. Kurzum: Ihre magische Funktion erfüllt sich zwar durch ihre Materialität, aber in ihrer Repräsentationsfunktion. Die Schrift wird hier durch den Fetisch zu einem verdichteten “mehr, mehr, noch mehr! ” 245 Zeichen, das nicht nur den ihm immanenten Bruch, sondern zugleich seinen Fetischcharakter verschleiert. Es täuscht eine Einheit des Zeichens vor, die nur durch Maskerade gewährleistet werden kann. Seine Konstruiertheit und künstliche Sinnbeladung, dass “Buchstabe und Münze an sich selbst neutral und bedeutungslos sind”, muss der Fetisch auch hier um jeden Preis verbergen, um seine magische Funktion zu sichern. In den Variations sur l’écriture heißt es in diesem Sinne: “Jedes Alphabet ist eine Bastelarbeit” (Barthes 2006: 73; Hervorh. im Original), wobei auch und gerade die Offenlegung seiner historischen Bedingungen eine Gefahr für das Intakt-Sein des Schrift-Fetischs darstellt: Auch die Schrift muss ihre eigene Entstehung - die sich laut Barthes aus einem gestisch-bildlichen Ursprung entwickelt - verschleiern. Dies geschieht, indem die Geschichte der Schrift in den Mythos der Transkription gesprochener Sprache durch Schrift verwandelt wird. Barthes entschleiert diesen Mythos und demaskiert damit den Fetisch, indem er auf die materielle Dimension des Signifikanten fokussiert. Er ruft als Kronzeugen dieser Theorie “Pater Jacques Van Ginneken” (Barthes 2006: 59) auf, der den Ursprung der Schrift in einer Gebärdensprache gesehen habe, die der phonetischen Sprache weit voraus liege: Wissenschaftlich ist diese Hypothese aus der Luft gegriffen: dennoch lenkt sie die Aufmerksamkeit auf sehr wahrscheinliche Fakten: nämlich den direkten Übergang von der Geste zum Ideogramm (ohne die Zwischenstufe der phonetischen Sprache), sogar auf die Existenz eines wirklichen gestuellen Codes (wobei die Geste dann nicht mehr als “natürlicher”, “realistischer” Ausdruck des Handelns betrachtet wird), auf die Verflechtung der Codes untereinander (Code mit Code, und nicht Code mit Realem) und auf den sehr fernen Ursprung der Schrift, viel ferner als man annimmt. (Ebd.: 61; Hervorh. im Original) Mit dieser These ist aber nicht nur der Phonozentrismus, sondern zugleich der Alphabetozentrismus ausgehebelt. In Barthes’ Modell kann es den stetigen Fortschritt vom Piktogramm zum Ideogramm, zum konsonantischen Alphabet und schließlich zum vokalischen Alphabet schlechterdings nicht geben. Stattdessen existiert für ihn nur ein ganzer Haufen von “vertikale[n], horizontale[n], schräge[n], runde[n], halbrunde[n] Striche[n], Klammern, Schleifen” (ebd.: 73), von denen behauptet wird, sie repräsentierten die Lautsprache und den - innerhalb dieses Mythos mit der Lautsprache identischen - Sinn. Barthes zufolge ist es schlicht unsere Kultur, die dieses graphische Material in einem fetischistischen Akt mit Bedeutung belädt, um schließlich eine Welt zu erzeugen, in der jedem Zeichen und jedem Ding ein Sinn zugewiesen und es in das bestehende System eingegliedert werden kann beziehungsweise muss. Dazu Barthes in den Variations: Es gibt nicht-entzifferbare Schriften (die der Oster-Inseln, die des Indus-Tales) […]. Es gibt auch Schriften, dir wir nicht verstehen und von denen sich gleichwohl nicht sagen lässt, dass sie nicht-entzifferbar sind, weil sie schlicht und einfach jenseits aller Entzifferung liegen: das sind die fiktiven Schriften, wie sie von manchen Malern oder manchen Außenseitern imaginiert wurden. […] Das Interessante - aber das Verblüffende - ist, dass nichts, absolut nichts die wahren Schriften von den falschen Schriften unterscheidet […]. Es sind wir, unsere Kultur, unser Gesetz, die über den Referenzstatus einer Schrift entscheiden. Was soll das heißen? Dass der Signifikant frei ist, souverän. Eine Schrift braucht nicht lesbar zu sein, um eine Schrift im vollen Wortsinne zu sein. Man kann sogar sagen, dass von dem Augenblick an, da der Signifikant […] sich von jedem Signifikat löst und das referentielle Alibi entschieden fahren lässt, der Text […] in Erscheinung tritt. Denn um zu verstehen, was der Text ist, genügt es - aber das ist unabdingbar -, den Schwindel erregenden Schnitt zu sehen, der dem Signifikanten sich zu konstituieren, sich zu gliedern und sich zu entfalten erlaubt, ohne dass ihn noch irgendein Signifikat stützte. Die unlesbaren Schriften sagen uns (und nur das), dass es Zeichen gibt, aber keinerlei Sinn. (Barthes 2006: 77/ 79; Hervorh. im Original) Catherine Marten 246 3. Das Potenzial des Fetischs oder Die Rückkehr des Dings auf einer “anderen Windung der Spirale” Wir befinden uns nun quasi auf der anderen Seite des “Schwindel erregenden Schnitts”, auf der der Fetischist nicht mehr nach dem Sinn der Schrift fragt, sondern lustvoll ausruft: “mehr, mehr, noch mehr! Noch ein anderes Wort, noch ein anderes Fest.” (Barthes 2010: 16f.; Hervorh. im Original) Doch wie sind wir von der Seite des Gesetzes auf die Seite der Lust übergewechselt? Durch die paradoxe Struktur des Fetischs, die es erlaubt, den erstarrten Schrift-Fetisch in etwas zu verwandeln, das Freud einen “besonders raffinierten Fetisch” nennen würde, “in dessen Aufbau sowohl die Verleugnung wie die Behauptung der Kastration Eingang gefunden haben” (Freud 1976: 387). Dies geschieht bei Barthes wie gesagt über die Einsicht in den “Schwindel erregenden Schnitt” zwischen Signifikant und Signifikat, der zu einem Oszillieren dieser beiden Seiten des Zeichens führt, statt wie vorher den Signifikanten zugunsten des Signifikats vollständig abzublenden. Der Schnitt wird jedoch erst sichtbar, wenn ich diese Abblendung im wahrsten Sinne re-vidiere und mich auf das Anschauen des materiellen Zeichenkörpers besinne, indem ich den Augenblick herbeiführe, “da der Signifikant […] sich von jedem Signifikat löst und das referentielle Alibi entschieden fahren lässt”. Barthes’ Kritik am fetischistischen Umgang mit Schrift zielt also, wie inzwischen klar geworden sein dürfte, nicht etwa auf dessen Perversität. Er kritisiert vielmehr, dass die ansonsten transitorische und polymorphe Form des Fetischs in der “Persistenz der Reliquie, [der] abstrakte[n] und homogene[n], gewissermaßen monotheistische[n] und katholische[n], sprich: allgemeine[n] Form eines Systems” (Böhme 2001: o.S.) still gestellt wird. Der Fetisch muss also in Barthes’ Konzept durch den “Rückgriff auf den Körper” - und hier ist nicht nur der Körper des Schreibenden, sondern auch derjenige der Schrift gemeint - in einen positiven Fetisch umgemünzt werden: Über die Betonung des Signifikanten und die Einsicht in die Differenz des Zeichens wird der universelle Schrift-Fetisch von einem kulturell determinierten Gegenstand der Machtsicherung zu einer lustvollen Praxis des Schreibens und Lesens, die die Differenz nicht verleugnet, sondern mit ihr spielt. Die erstarrte Schrift, die bis dato Zeichen der Abwehr, der Gewalt und der kulturellen Determinierung war, wird so in einem individuellen körperlichen Prozess im übertragenen wie im wörtlichen Sinn verflüssigt. Dabei bewegt sie sich stets und unentscheidbar zwischen Affirmation und Subversion: “Text der Lust: der befriedigt, erfüllt, Euphorie erzeugt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, gebunden ist an eine behagliche Praxis der Lektüre” (Barthes 2010: 23; Hervorh. im Original). Dieser zweite, gewissermaßen umgestülpte Fetisch sitzt dem ersten also auf, braucht ihn, um in einer Art kritischen Mimesis all das offenzulegen, was die Schrift und damit ihr Erzeuger - die Kultur - von sich zu verschleiern suchte. Die Lust am Text ist nach Barthes “etwas sehr Kulturelles” (ebd.: 65) und das Spiel mit der Differenz etwas genuin Modernes: Von hier aus lassen sich vielleicht die Werke der Moderne bewerten: Ihr Wert ergäbe sich aus ihrer Duplizität. Darunter ist zu verstehen, daß sie immer zwei Seiten besitzen. Die subversive Seite kann privilegiert erscheinen, ist sie doch die Seite der Gewalt; aber nicht die Gewalt beeindruckt die Lust; die Zerstörung interessiert sie nicht; was sie will, ist der Ort des Sichverlierens, ist die Spalte, der Schnitt, die Deflation, das fading, welches das Subjekt im Herzen der Wollust erfaßt. Die Kultur kommt folglich als Seite wieder: in gleich welcher Form. (Barthes 2010: 15; Hervorh. im Original) “mehr, mehr, noch mehr! ” 247 3.1 Fetisch werden: Barthes’ unlesbare Schrift Durch das beständige Schwanken der Lust, ist nicht sie es, die für Barthes den Ausgang aus der Gewalt und aus der Kultur eröffnet, sondern die ihr einerseits verwandte, andererseits entgegengesetzte ‘Wollust’ oder ‘jouissance’. Um zugleich das Oszillieren zu blockieren und sich der Gewalt des Systems zu entziehen - um sich also, denkt man noch einmal an den Begriff des ‘déport’, aus einer vermittelnden Position, die man innehat, zurückzuziehen -, muss die Lust um ein weiteres Mal und diesmal bis ins Extreme gesteigert werden: Texte der Wollust. Die Lust in Stücken; die Sprache in Stücken; die Kultur in Stücken. Sie sind insofern pervers, als sie außerhalb jeder vorstellbaren Finalität sind - sogar jener der Lust - (die Wollust zwingt nicht zur Lust; sie kann sogar scheinbar langweilen). Kein Alibi hält, nichts stellt sich wieder her, nichts wird wieder einverleibt. Der Text der Wollust ist absolut intransitiv. Gleichwohl reicht die Perversion nicht aus, um die Wollust zu definieren; das Extrem der Perversion definiert sie: das stets deplazierte [sic] Extrem, das leere, mobile, unvorhersehbare Extrem. (Ebd.: 66; Hervorh. im Original) Die extreme Perversion macht so die materielle Seite des Textes, den Signifikanten, zum Subjekt. Man denke noch einmal an Barthes’ Satz: “Der Text ist ein Fetischobjekt, und dieser Fetisch begehrt mich” (ebd.: 38; Hervorh. im Original). Indem ich mich dem Text hingebe, mache ich mich selbst vom Subjekt zum Objekt, zum Gegenstand bzw. zum Körper, der sich in nichts von meinem Fetisch unterscheidet. Nur so kann ich an dem Ort, der bisher zwar vom Fetisch besetzt, aber unerreichbar war, mit diesem verschmelzen. Der atopische Ort, der laut Barthes nur durch den Prozess des “Abdriftens” zu erreichen ist (cf. ebd.: 28f.), ist nämlich just die Differenz, die der Fetischist aus Angst vor der Leerstelle stets zu meiden versucht hat. In dem Moment, da ich mich mit dem Fetisch lustvoll vereinige und ihn bis zum Extrem anschwellen lasse, vergrößert sich die Differenz und wird zugleich ausgefüllt, bis es innerhalb und außerhalb dieser Differenz nichts mehr gibt - außer: meinen mit dem Fetisch verschmolzenen Körper. Ich besitze so zwar immer noch einen kulturell und historisch determinierten Körper, dieser kann sich jedoch durch übersteigerte Affirmation allem, was ihn determiniert, entziehen: Asozialer Charakter der Wollust. Sie ist der abrupte Verlust der Sozialität, und gleichwohl folgt daraus kein Rückfall zum Subjekt (zur Subjektivität), zur Person, zur Einsamkeit: Alles geht verlustig, ganz und gar. Extremer Hintergrund der Heimlichkeit, kinoschwarz. (ebd.: 52; Hervorh. im Original) Die Kinoschwärze ist auch der eigentliche Fluchtpunkt von Barthes’ Wollust und eben nicht das weiße Blatt Papier, das darauf wartet, beschrieben zu werden. Dieser Umstand kann kaum verwundern, mutet Barthes’ Umgang mit dem “Schrift-Objekt” doch primär als theoretisches “Spiel” an. Dabei liegt die Stärke, man könnte auch sagen: der Trick seiner Ausführungen darin, sich auf keinen festen Begriff - auch nicht den des Fetischs - festzulegen, sondern genau das immerwährende Oszillieren, das er im Text beschreibt, auch durch die Unbestimmbarkeit seiner Begriffe zu performieren. So ist im Text zwar von der Loslösung des Signifikanten vom Signifikat, von “sukkulenten”, “eingestampften” und “detonierenden” Wörtern die Rede, die das Potenzial besitzen, den Leser in den Zustand der Wollust zu versetzen; jedoch bleiben diese de facto konturlos. Zwar könnte man mit Barthes selbst argumentieren, dass der Zustand der Wollust epiphanisch, unvorhersehbar und vor allem “un-sagbar, unter-sagt” (ebd.: 31, cf. auch ebd.: 13) ist. Trotzdem gibt es in Barthes’ Theorie einen Ort, an dem die Wollust scheinbar programma- Catherine Marten 248 Abb. 1: Entnommen aus: Roland Barthes 1978: Über mich selbst, Berlin: Matthes & Seitz: 202 tisch statthat und mithin einen Teil ihrer Atopie aufgibt: das Kino. Hier, wo man den Klang der Stimme “aus größter Nähe” (ebd.: 84; Hervorh. im Original) aufnimmt, “und in ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit, den Atem, die Rauheit, die Fleischlichkeit der Lippen, die ganze Präsenz der menschlichen Schnauze hören läßt”, gelingt es, so Barthes, “das Signifikat in weite Ferne zu rücken” (ebd.: 84). Das “vokale Sprechen” (ebd.: 82f.), das Grundbedingung für diese Materialisierung des Signifikanten ist, meint - wie Barthes betont - “keinesfalls das Sprechen” (ebd.: 83), sondern das “Schreiben mit lauter Stimme” (ebd.: 82; Hervorh. im Original). Das Resultat eines solchen Schreibens wäre - verlassen wir noch einmal das Kino und kehren zu Barthes’ Handschrift zurück - vielleicht nicht so sehr ein “erotisches Wort”, sondern am ehesten jene “unlesbare Schrift”, die im Anhang von ROLAND BARTHES par Roland Barthes zu finden ist (Abb. 1): Diese aus Barthes’ eigener Feder stammende visuelle ‘Materialisierung’ des Konzepts von einem freien, vom Signifikat entkoppelten Signifikanten (cf. Barthes 1978: 202) zeigt auf anschauliche Weise, wie Barthes’ Schriftbegriffe sich wechselseitig durchdringen. In dieser ‘Kritzelei’ ist das Oszillieren zwischen konventionellem “erstarrten Objekt” und körperlicher “lustvoller Praxis” auf Dauer gestellt. Bibliographie Barthes, Roland 1978: Über mich selbst, Berlin: Matthes & Seitz Barthes, Roland 2006: Variations sur l'écriture/ Variationen über die Schrift, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Barthes, Roland 2010: Die Lust am Text, Berlin: Suhrkamp (= Suhrkamp Studienbibliothek 19) Böhme, Hartmut 2001: “Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext”, in: Volker Gerhardt (ed.) 2001: Marxismus. Versuch einer Bilanz, Magdeburg: Scriptum: 289-319, im Internet unter http: / / www.culture.huberlin.de/ hb/ static/ archiv/ volltexte/ texte/ fetisch.html [23.01.2014] Böhme, Hartmut 2 2006: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (= rowohlts enzyklopädie 55677) Ette, Ottmar 2010: “Kommentar”, in: Barthes 2010: 87-502 Ette, Ottmar 2011: Roland Barthes zur Einführung, Hamburg: Junius Freud, Sigmund 1976: “Fetischismus”, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Werke aus den Jahren 1925-1931, Bd. 14, Frankfurt/ M.: Fischer: 311-317 Saussure, Ferdinand de 2 1967: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: De Gruyter Stoller, Robert J. 1985: Observing the Erotic Imagination, New Haven, CT: Yale University Press “Une sorte de remontée vers le corps” Skizze einer Ästhetik der körperlichen Responsivität im Ausgang von Roland Barthes’ Überlegungen zur Pseudo-Schrift Katia Schwerzmann (Berlin/ Lausanne) The sensory dimension of writing, which is never fully neutralised in the process of semiosis, remains aporetic in Derrida’s philosophy. I show how Barthes’ observations on pseudo-writing lead to his understanding of writing as a gesture, opening up post-structuralism to the body as absolutely non-repeatable, as the opposite of semiosis. The examination of Barthes’ account of the relationship between writing and the body leads to an aesthetic of physical responsiveness, which challenges the distinction between work, creator and viewer. In this regard ‘seeing’ can neither be reduced to the infinite decoding of signs nor to an immediate perception, but rather can be understood as the playful contact with signs. Barthes’ notion of writing contributes to overcoming the limits of Derrida’s account of the sensory quality of writing without jeopardizing the philosophical gain of deconstruction. 1 Barthes’ Auseinandersetzung mit dem Logozentrismus […] aus Gründen, die unter eine wahrhaftige Monumentalgeschichte fallen, haben wir Interesse daran zu glauben, zu behaupten, wissenschaftlich zu beweisen, daß die Schrift nur die “Transkription” der artikulierten Sprache ist: das Instrument eines Instruments: eine Kette, in deren Verlauf der Körper verschwindet. (dt. Barthes 1990: 162, frz. 2002 c: 346f.) Wenige Jahre nach Jacques Derridas Grammatologie (1967) formuliert Roland Barthes in mehreren Texten, am präzisesten aber in den Variationen über die Schrift (1973) (dt. Barthes 2006, frz. 2002 c: 267-316), eine eigenständige Kritik des Logozentrismus. Diese Kritik an der “Monumentalgeschichte”, die von Platons Phaidros bis zum Cours de linguistique générale von Saussure reicht, teilt mit derjenigen von Derrida einen gemeinsamen Gegenstand: die jahrhundertelange Vorherrschaft des Paradigmas der gesprochenen Sprache, die mit der Vorstellung einhergeht, dass Schrift als Derivat der Rede im Wesentlichen ein Transkriptions- und Kommunikationsinstrument ist (dt. Barthes 2006: 31, frz. 2002 c: 272). Während Barthes zwar ein ähnliches Vokabular wie Derrida verwendet, führen die ästhetischen Implikationen seines Schriftdenkens und insbesondere seines Umgangs mit der Materialität des Zeichens doch zu ganz eigenen Konsequenzen, so dass seine Position bestimmte Aporien in Derridas Schriftbegriff zu überwinden vermag. Der Logozentrismus, der bei Derrida die metaphysische Vorherrschaft der Präsenz als unmittelbarer Selbstidentität bezeichnet (Derrida 1999: 44), manifestiert sich paradigmatisch in der Aufwertung des gesprochenen Wortes als Selbstpräsenz des Subjekts und im Ver- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Katia Schwerzmann 250 ständnis der Schrift als “Supplements” des gesprochen Wortes. Diese für den metaphysischen Umgang mit der Schrift kennzeichnende Supplementarität und Sekundarität entsteht aus der strukturellen Möglichkeit jedes Schriftzeichens, in Abwesenheit des empirischen Kontexts seiner Produktion und des “semiotischen und internen” Kontexts einer gegebenen Verkettung von Zeichen zu funktionieren (Derrida 2001: 27). Diese “Kraft zum Bruch […] mit der Gesamtheit der Anwesenheiten, die den Moment [der, KS] Einschreibung organisieren” (ebd.), bedroht sowohl das metaphysische Verständnis der reinen Präsenz (bzw. des gesprochenen Wortes als Selbstpräsenz) als auch die Bändigung der Abwesenheit als modifizierter Präsenz. Aus diesem Grund wird die Schrift in der Metaphysik als Derivat der gesprochenen Sprache bestimmt und mit deren ‘voller’ Präsenz in Verbindung gehalten. Derrida führt aber in seiner dekonstruktivistischen Auseinandersetzung mit der Metaphysik aus, dass der Präsenz eigentlich der “generative Mechanismus” (Kogge 2005: 137) der Ur-Spur oder différance zugrunde liegt. Die Ur-Spur ist sowohl Temporalisation im Sinne der in der “Gegenwart eingeschriebenen Nicht-Präsenz des Anderen” als auch Verräumlichung im Sinne einer “Eröffnung der ursprünglichen Äußerlichkeit schlechthin” (Derrida 1983: 124). Ihre “Bewegung” ermöglicht das differentielle Spiel der Zeichen und wandelt die ‘Präsenz’ in ein unendliches Spuren- und Substitutionsfeld um. In diesem Sinne ist die Präsenz Spur einer Spur, anders gesagt: ein “Effekt” differentieller Verweise. Derridas Schriftdenken hat zur Folge, dass jedem Zeichen (inklusive der Stimme) eine graphematische Struktur (Wiederholbarkeit außerhalb des ursprünglichen Kontexts, Ersetzbarkeit und Verkettung in differentiellen Verweisen) unterlegt wird. Noch wichtiger: Die Erfahrung, die in der Metaphysik als unmittelbares, intuitives Verhältnis zur Präsenz verstanden wurde (ebd.: 106), wird als graphematisch verstanden. Sie bezieht sich auf keine reine Präsenz ohne Rest - denn solch eine originäre Präsenz gibt es nicht (Derrida 2001: 29) -, sondern findet immer schon innerhalb einer Verweis- und Wiederholungsstruktur statt und besteht im “unaufhörliche[n] Dechiffrieren” (Derrida 1999: 47). Obwohl Derrida die metaphysische Abwertung der Schrift als “sinnliche”, “räumliche” Äußerlichkeit in Frage stellt (Derrida 1983: 123f.), löst er ihre aisthetische Dimension - das sinnliche Beharren, das sie wahrnehmbar macht und ihr ein operatives Potential verleiht - in der Struktur der Wiederholung und Ersetzbarkeit als Eigenschaft jedes Zeichens auf. Die Evakuierung der aisthetischen Dimension der Schrift wird in der jüngeren Schriftforschung als erheblicher Makel in Derridas Denken angesehen (cf. z.B. Grube & Kogge 2005: 11). Dabei wird übersehen, dass Derrida konsequenterweise den sinnlichen Charakter der Schrift nicht mit ihrer aisthetischen Präsenz verbinden kann, die er gerade als Merkmal der Metaphysik zu überwinden versucht. Er befindet sich also in der paradoxen, vor dem Hintergrund seiner Prämissen aber notwendigen Situation, die metaphysische Abwertung der in die sinnliche Äußerlichkeit verdrängten Schrift zu hinterfragen, ohne sie mit der Präsenz verbinden zu können, die er gerade anderweitig zu dekonstruieren versucht. Das Problem des sinnlichen Rests als das Nicht-Zeichenhafte des Zeichens, das sich in der Semiose nicht auflösen lässt, obwohl es für ihr Funktionieren unerlässlich ist, bleibt bei Derrida aporetisch. Barthes, der sich im letzten Jahrzehnt seines Schaffens kritisch mit dem “mechanischen Charakter” der Sinnerzeugung und dem “unendlichen Zirkel der Sprache” (dt. Barthes 1981: 100, frz. 2002 b: 407f.) auseinandergesetzt hat, geht mit dem sinnlichen Rest des Zeichens - wie wir sehen werden - weder metaphysisch noch poststrukturalistisch um, indem er diesen weder auf ein Verständnis der Präsenz als unmittelbare Evidenz zurückführt noch in der Verweis- und Wiederholungstruktur der Zeichen auflöst, sondern in seinem Verhältnis zum Körper denkt. Dieser Schritt ist eng mit Barthes’ Kritik des Logozentrismus als Ethnozen- “Une sorte de remontée vers le corps” 251 1 Réquichot und sein Körper (dt. Barthes 1990: 219f., frz. 2002 c: 388f.), All Except you, à propos de Saul Steinberg (frz. Barthes 2002 c: 955f.), Variationen über die Schrift (dt. Barthes 2006: 77f., frz. 2002 c: 284), Semiographie André Massons (dt. Barthes 1990: 160f., frz. 2002 c: 345f.). 2 Man könnte hier hervorheben, dass die Pseudo-Schrift sich auf die Schrift als Kulturtechnik bezieht, dass sie in diesem Sinne nicht völlig referenzlos ist. Barthes interessiert sich aber nicht für diesen Aspekt, sondern für den Spurcharakter der Schrift, für ihren Bezug auf den schreibenden Körper. 3 Das Problem der Pseudo-Schrift kann mit Barthes’ “lebenslange[r] Sehnsucht nach dem Realen” (Peters 2012: 17) in Verbindung gebracht werden, die im 2012 erschienenen Sammelband Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen erkundet wurde. Diese Sehnsucht führt Barthes dazu, “in der Widerständigkeit der Zeichen, in beinahe körperlichen Signifikanten die Widerspenstigkeit des Realen im eigenen, literarisch gewordenen Text buchstäblich zu ‘realisieren’ und das Reale am Signifikanten zu ‘kristallisieren’” (ebd.: 21; Hervorh. im Original). Mehrere Arten von Kristallisierung scheinen sich dabei abzuzeichnen: Zunächst wird das Reale, obwohl es “undurchdringlich” bleiben soll, in der Photographie laut Eric Marty direkt denotiert. Dabei wird das Reale in einem Medium bewahrt, das es vor aller ideologischen, mythologisierenden trismus verbunden, der in einer Mythologie der Schrift besteht, die sie zum Signifikanten der abendländischen Rationalität macht. Aus dieser Perspektive stellt die Lautschrift als Resultat einer teleologischen Entwicklung vom Piktogramm zum Alphabet die Verkörperung der Effizienz von Kommunikation dar (dt. Barthes 2006: 29, frz. 2002 c: 271f.). Diese Schriftmythologie entwertet nicht nur das Ideogramm, sie evakuiert auch die rituellen und religiösen Funktionen der Schrift, wo der Sinn nicht vermittelt, sondern vielmehr verborgen wird. Die Konsequenz der instrumentellen Auffassung von Schrift ist von besonderer Bedeutung: Je mehr die Schrift als Instrument verstanden wird, desto transparenter wird sie im Bezug auf ihren Zweck - die Kommunikation - und desto weniger wird ihr Verhältnis zum schreibenden Körper beachtet. Im Gegensatz dazu beschreibt Barthes sein Interesse für die Schrift als “Rückgriff auf den Körper” (“remontée vers le corps”) (dt. Barthes 2006: 7, frz. 2002 c: 267). Ihm geht es dabei jedoch nicht um den sich stets entziehenden “Körper der geschriebenen Spur” (Derrida 1976: 303), sondern um den eigenen Körper in seinem gestischen Umgang mit der Schrift. Indem Barthes die Schrift als eine körperliche, muskuläre Praxis versteht (“Schreibung”/ “scription”, dt. Barthes 2006: 7, frz. 2002 c: 267), versetzt er das Problem ihrer sinnlichen Präsenz in das unauflösbare Verhältnis des eigenen Körpers zu den von ihm produzierten sinnlichen Resten. Dieses Verhältnis findet Barthes exemplarisch in einer spezifischen Art von Zeichen, denen er in Texten zu Masson, Réquichot und Steinberg besondere Aufmerksamkeit beimisst: Es handelt sich um das, was er mit Ausdrücken wie “fiktiver”, “falscher”, “unleserlicher”, “simili-” Schrift bezeichnet. 1 Es sind Signifikanten, die intrinsisch kein Signifikat, keinen Referenten, 2 keine Bedeutung haben - Zeichen, die einer ihrer Seiten beraubt wurden und die aus diesem Grund “die Identität zwischen der gezeichneten und der geschriebenen Linie” veranschaulichen (dt. Barthes 1990: 161, frz. 2002 c: 345f.). Die verschiedenen Bezeichnungen dieses graphischen Phänomens werden hier unter dem Begriff der Pseudo-Schrift gesammelt, da das Präfix pseudo die erwähnten Konnotationen des als ob enthält (“Pastiche”, “Plagiat” und “Fälschung”, dt. Barthes 1990: 160, frz. 2002 c: 345). Indem das “Pseudo-” nicht völlig dem entspricht, was es sein sollte, ohne dabei etwas völlig anderes zu sein, vermag es unbeachtete Aspekte des ‘wahren’ Phänomens zu beleuchten. Die Pseudo-Schrift ist eine ‘Schrift’, die nicht das ist, was ihr eine konventionelle Auffassung von Schrift zuschreibt, nämlich ein Kommunikationsinstrument zu sein. Sie verstellt die Schrift und enttäuscht die Erwartung an Lesbarkeit und Transparenz. Mehr noch: Indem sie eine Schrift ohne Signifikat ist, eröffnet sie einen sinnlichen Bereich, der der Semiose widersteht und das gestische Wesen der Schrift erscheinen lässt. 3 Katia Schwerzmann 252 Verzerrung schützt (cf. Marty 2012: 67). Zweitens wird das Signifikat im Haiku beispielsweise so “verdunstet”, dass das Zeichen das Reale ohne die Vermittlung der Bedeutung zu denotieren scheint und die Bedeutungsassoziationen zu beschneiden vermag (cf. Lindorfer 2012: 198). Die Pseudo-Schrift stellt vielleicht eine dritte Art von Kristallisierung dar: Indem sie laut Barthes in einer Geste völlig aufgeht, denotiert sie nichts mehr. Sie ist das Sinnliche, insofern sie sich als pure Medialität ohne Vermittlung von etwas zeigt. Dadurch unterbricht sie die Semiose und bringt den sinnlichen Rest des Realen, der am Zeichen haftet, zum Vorschein. 4 Die Ästhetik beschränkt sich hier nicht auf eine Theorie der Kunst, sondern bezeichnet den Umgang mit dem Sinnlichen im weiten Sinne und bezieht die Modi seiner Erfahrung mit ein. Ausgehend von Barthes’ Überlegungen zur “Pseudo-Schrift” soll gezeigt werden, dass sein Schriftdenken den Poststrukturalismus auf den Körper als das ‘Andere’ der Semiose öffnet und das Verständnis des Körpers auf eine Ästhetik der körperlichen Responsivität gründet. 4 Darunter verstehe ich im Sinne von Bernhard Waldenfels eine Ästhetik, die weder eine Produktionsnoch eine Rezeptionsästhetik ist, sondern die darin besteht, auf das Fremde, das Beunruhigende, das uns “sticht” (hier die bedeutungsfreien graphischen Phänomene), mit einer körperlichen, gestischen Tätigkeit zu antworten. Dabei wird die Singularität der responsiven Erfahrung weder in der Verweis- und Wiederholungsstruktur aufgelöst noch auf eine amediale Faszination zurückgeführt, sondern beruht auf einem Spielen, das als enge Berührung zwischen dem Körper und dem Zeichen zu verstehen ist. Um dies weiter auszuführen, werde ich zuerst Barthes’ gestische Bestimmung der Schrift erläutern, um dann das Sehen, an das sie appelliert, als eine gestische, haptische Tätigkeit darzulegen, die sich schließlich im Spielen vollzieht. 2 Die Wahrheit der Schrift als Geste Die Semiographie Massons berichtigt Jahrtausende Schriftgeschichte und verweist uns nicht auf den Ursprung (auf den Ursprung kommt es uns nicht an), sondern auf den Körper […]. Die Arbeit Massons sagt uns: Damit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbart (und nicht in ihrer Instrumentalität), muß sie unlesbar sein: Der Semiograph (Masson) produziert wissentlich, durch ein souveränes Elaborat, Unlesbares: Er löst den Schreibtrieb vom Imaginären der Kommunikation (der Lesbarkeit). (dt. Barthes 1990: 162, frz. 2002 c: 347; Hervorh. im Original) Barthes’ polemischer Ansatz zur Schrift besteht darin, die konventionelle Opposition von referentieller und referenzloser Schrift aufzulösen, um die Wahrheit der Schrift in dem, was sich ihrer Instrumentalität entzieht, zu verorten, so dass die Pseudo-Schrift zum Paradigma der Schrift “in ihrer Wahrheit” wird. Diese These ist umso provokanter, als sie von Barthes wie eine Evidenz dargestellt wird: Das Interessante aber - das Verblüffende - ist, dass nichts, absolut nichts die wahren Schriften von den falschen Schriften unterscheidet: keinerlei Unterschied, es sei denn im Kontext, zwischen Nicht-Entziffertem und Nicht-Entzifferbarem. Es sind wir, unsere Kultur, unser Gesetz, die über den Referenzstatus einer Schrift entscheiden. (dt. Barthes 2006: 77f., frz. 2002 c: 284) Die Identität der “wahren” und “falschen” Schrift wird zuerst als “absolut” behauptet, um dann durch den “Kontext” relativiert zu werden. So gilt die Differenz zwischen Entzifferbarkeit und Unentzifferbarkeit, zwischen Anwesenheit oder Abwesenheit der Bedeutung nicht als intrinsisches Merkmal der Schrift, sondern sie wird vielmehr in einer als unmotiviert (im linguistischen Sinne) dargestellten, kulturellen Entscheidung externalisiert. “Une sorte de remontée vers le corps” 253 5 Das kann man schon anhand der abgedruckten Werke von Saul Steinberg (frz. Barthes 2002 c: 956) und der Pseudo-Schriften am Ende von Roland Barthes. Über mich selbst feststellen (dt. Barthes 1978: 202, frz. 2002 c: 760). 6 “Hésitation? Non, car la majuscule tranche. Celle-ci marque que l’être du référent n’est pas seulement identifié par lui-même (nulle mention antérieure), mais qu’il est de plus distingué par lui-même, parmi les référents possibles […]. Comparable à la majuscule des noms propres, elle distingue un référent unique et en souligne l’identité à soi, maintenue dans la multiplicité indéfinie des apparitions lexicales; elle souligne du même coup que ce référent unique est une Idée” (Milner 2003: 17; Hervorh. im Original). 7 “Die Ideen (im platonischen Sinn) sind keine metallisch glänzenden, wie Begriffe geschnürte Figuren, sondern eher leicht zittrige, winzige Makulaturen auf vagem Grund” (dt. Barthes 1990: 189, frz. 2002 d: 690). 8 Obwohl Barthes in Cy Twombly oder Non multa sed Multum oft das Wort “Spur” verwendet, bevorzuge ich in den folgenden Ausführungen den “Rest” (cf. “reste”: frz. Barthes 2002 d: 706), um die Spezifität von Barthes’ Logik des Zusatzes gegenüber Derrida zu betonen. Denn während die Spur bei Derrida rein strukturell als Bedingung der Möglichkeit der Substitutionen verstanden wird, ist sie bei Barthes ein sinnlicher Rest, der sich gerade nicht substituieren lässt, sondern übrig bleibt. Statt die Negierung der Relevanz der referenziellen Funktion für den Schriftbegriff allzu schnell als die gewohnte poststrukturalistische Haltung abzutun, soll zumindest eingeräumt werden, dass aus einer rein phänomenologischen Perspektive der Unterschied zwischen einer noch nicht entzifferten Schrift und einer fiktiven, referenzlosen Schrift schwer zu fassen ist. 5 Nehmen wir Barthes’ Behauptung, dass die Pseudo-Schrift die Wahrheit der Schrift ausmacht, als heuristische Hypothese an. Worin besteht dann die Wahrheit - Barthes spricht in Bezug auf Cy Twombly vom “Wesen” - der Schrift? “TW bekundet auf seine Weise, daß das Wesen der Schrift weder in einer Form noch in einer Verwendung liegt, sondern bloß in einer Geste, die sie hervorbringt, indem sie sie nach sich zieht: ein Gewirr, beinahe ein Geschmier, eine Achtlosigkeit” (dt. Barthes 1990: 166, frz. 2002 d: 704). Dass Barthes nach der Schrift in ihrer Wahrheit und nach ihrem Wesen fragt, dass er den Anfangsbuchstaben von bestimmten Wörtern wie “Text” auf Französisch groß buchstabiert (frz. Barthes 2002 c: 347), so dass dieser Großbuchstabe - um Jean-Claude Milners Worte zu übernehmen 6 - die Selbstidentität des Referenten betont, überrascht: Denn wenn die Signifikanten frei spielen sollen, ohne von einem Signifikat bzw. Referenten unterstützt zu sein (dt. Barthes 2006: 79, frz. 2002 c: 284), impliziert das Wesen doch gerade die Existenz eines einheitlichen Referenten. Der Widerspruch zwischen der “Selbstidentität” des Referenten “Text”, “Schrift” und der freien Entfaltung der auf ihre sinnliche Seite begrenzten Signifikanten wird nur aufgehoben, wenn das Wesen für Barthes etwas grundsätzlich Sinnliches ist, eine sinnliche Idee, eine Idee, die die sinnlichen Eigenschaften des Dinges umfasst. 7 Um welche Eigenschaften handelt es sich? Und wie ist das Sinnliche zu verstehen? Nicht in dem friedlichen In-Sich-Ruhen der Dinge, sondern in einer Logik des Zusatzes (supplément), des Restes, 8 des Überschusses, die sowohl für die Dinge als auch für die Zeichen zu gelten scheint und die aus der Unterscheidung von Funktion und Wesen entsteht: Worin liegt das Wesen einer Hose (falls sie eines hat)? Sicherlich nicht in dem gestärkten und geradlinigen Gegenstand auf den Kleiderbügeln in den Kaufhäusern; eher in jenem Stoffknäuel, das achtlos aus der Hand eines Jugendlichen herabfällt, wenn er sich erschöpft, träge und nachlässig entkleidet. (dt. Barthes 1990: 166, frz. 2002 b: 704) Das Wesen eines Gegenstands offenbart sich laut Barthes, wenn dieser Gegenstand “aus dem Gebrauch gezogen wird”. In diesem Sinne hat das Wesen mit dem “Abfall” (“déchet”) zu tun, d.h. mit dem Rest als dem sinnlichen Zusatz, der zum Funktionieren des Dings bzw. Zeichens nicht erforderlich ist (dt. Barthes 1990: 176, frz. 2002 d: 712). Barthes betont also nicht die Katia Schwerzmann 254 9 Auch Derrida erwähnt in der Grammatologie das “Gewand” als logozentrisches Bild für die Supplementarität und Exteriorität der Schrift bei Saussure (cf. Derrida 1983: 62). Für Derrida ist dieses Bild problematisch, insofern die Schrift nie die reine Äußerlichkeit einer vollständigen Präsenz (das gesprochene Wort) sein kann: “Das Draußen unterhält mit dem Drinnen eine Beziehung, die wie immer alles andere als bloß äußerlich ist” (Derrida 1983: 62). Wenn die Schrift das gesprochene Wort supplementieren muss, heißt es schon, dass die Präsenzfülle des gesprochenen Wortes eine Leerstelle, einen Mangel enthält, der durch die Schrift ersetzt werden muss (Derrida 1983: 250). Diese Leerstelle der différance bedarf des Supplements und der Ersatzkette. In der Logik des Supplements ist die Schrift also nicht das reine Außen des gesprochenen Worts, da sie vom Wort intrinsisch benötigt wird. In Barthes’ eigener Logik des Zusatzes ist die Schrift als sinnlicher Rest auch keine reine Äußerlichkeit, da sie auf den Körper über sein Verschwinden hinaus bezogen bleibt. 10 Der Rest ist für Barthes das Überflüssige, worin gerade “das ganze ‘Zweckfreie’ des Menschen, seine Perversion, seine Verausgabung” besteht (dt. Barthes 1990: 168, frz. 2002 d: 706). Es ist zugleich der Ort der Wollust: “Die Perversion ist die Suche nach einer Lust, die von keinem gesellschaftlichen oder Gattungszweck rentabilisiert wird” (dt. Barthes 2002 a: 254, frz. 2002 c: 874). medialen Merkmale der Schrift, die in der Semiose transparent werden, sondern vielmehr diejenigen, die der Semiose widerstehen. Die Schrift wird “als der eigentliche Überschuß ihrer eigenen Funktion” verstanden (dt. Barthes 1990: 161, frz. 2002 c: 346; Hervorh. im Original). Das Vokabular des “Zusatzes” erinnert an Derridas Logik des “Supplements” als ersetzendes Spiel der Zeichen. 9 Der Zusatz ist aber bei Barthes kein ersetzendes Supplement im Sinne von Derrida, sondern eine Bei-lage, insofern das Sinnliche sowohl neben dem Gebrauch liegt als auch den Gebrauch übersteigt. Der Zusatz erweist sich bei Barthes als das, was sich im Spiel der unendlichen Verweise gerade nicht ersetzen lässt. Während das Wesen der Dinge und Zeichen in ihrem sinnlichen Rest lokalisiert wird, ist dieser Rest jedoch nicht autonom, sondern steht vielmehr selber in Bezug auf einen Körper. Sowohl bei der auf dem Boden zurückgelassenen Hose als auch bei der Schrift ist das Wesen als Rest nicht unabhängig vom Körper zu denken, von dem der Rest abgelöst wurde. Sein Verhältnis zum Körper wird durch eine körperliche Geste mediatisiert, die Barthes wiederum als Rest bzw. als Zusatz der Tat definiert, als das, was im Gegensatz zur Tat auf nichts zielt, nichts will, alle Zweckmäßigkeit übersteigt. In diesem Sinne ist die Geste intransitiv, sie hebt “die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung” auf (dt. Barthes 1990: 168, frz. 2002 d: 706) und ist aus dieser Perspektive, wie Agamben ebenfalls betont, pure Medialität, die nichts vermittelt, also nichts Weiteres macht, als sich zu vollziehen und sich zu zeigen: “Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem” (Agamben 2006: 54; Hervorh. im Original). So wäre also die Logik des Zusatzes bei Barthes zu verstehen: Die Geste gilt als Rest des Körpers, der weitere Reste produziert. 10 Als Rest einer Geste bleibt Schrift auf den Körper bezogen, der ihn produziert hat, indem ihr Verhältnis zum Körper wie eine Resonanz der Geste, ein Echo in ihr aufbewahrt wird: Die zurückgelassene Hose bezieht sich als Stoffknäuel auf den trägen Körper des Jugendlichen, so wie die Schrift sich auf die träge schreibende Hand Twomblys bezieht. Beide sind eine Art von Abschuppung des Körpers und seiner Geste. Diese Abschuppung ist aber keine tote Spur, sondern wird vom Körper weiter belebt - worauf ich später zurückkommen werde. Da die Geste keine Ursache ist, ist die Schrift auch kein Resultat der Geste, sondern geht in sie über, was zu einer Erweiterung der Definition der Schrift als Geste führt. So offenbart die Pseudo-Schrift die gestische Wahrheit und die körperliche Natur der Schrift, indem sie purer Rest und d.h.: pure Geste ist. Die gestische Bestimmung der Schrift erlaubt es Barthes, “Une sorte de remontée vers le corps” 255 11 “[…] und dann ist diese Geste verrückt; feierlich eine Abgrenzung eintragen, von der unmittelbar nichts übrig bleibt, außer die geistige Remanenz einer Aufteilung, sich der vollständig rituellen und gänzlich arbiträren Vorbereitung des Sinns widmen” (dt. Barthes 1978: 52, frz. 2002 c: 627; Hervorh. im Original). sie nicht nur zweidimensional, sondern auch räumlich zu verstehen. Daher beginnt Schrift schon mit den “Teilungs- und Wegnahmegebärden” des “geschriebenen” japanischen Essens (dt. Barthes 1981: 27, frz. 2002 b: 362). Diese Gesten können als Schrift verstanden werden, insofern sie die “vollständig rituelle und gänzlich arbiträre Vorbereitung des Sinns” 11 vollziehen (dt. Barthes 1978: 52, frz. 2002 c: 627). Die Geste wird jedoch erst dann zur Schrift, wenn sie durch einen Code geregelt ist oder sich mit einem bestehenden Code auseinandersetzt. Im Bezug auf Schrift besteht der Code für Barthes nicht primär in den Regeln der Produktion und der Entzifferung der Mitteilung. Er ist vielmehr das, was die räumliche Orientierung der Gesten kulturell regelt (dt. Barthes 2006: 151f., frz. 2002 c: 302f.). Der ‘Duktus’ als Schreibgeste ist eine kodifizierte Geste, insofern ihre “Ordnung und Richtung” geregelt sind. Im Reich der Zeichen werden besonders viele Praktiken als schriftlich oder graphisch bezeichnet (man erinnere sich, dass das leere Zeichen als Geste laut Barthes die Differenz zwischen Schrift und Zeichnung auflöst): von der japanischen Kunst des Ikebana (dt. Barthes 1981: 63, frz. 2002 d: 386) zum Kochen und Essen (dt. Barthes 1981: 27, frz. 2002 d: 362) bis hin zum Marionettentheater (dt. Barthes 1981: 67f., frz. 2002 d: 390f.). Dort wird die Stimme als Schrift bezeichnet, indem sie nicht der Ausdruck einer Emotion ist, sondern durch ihre starke Kodifizierung zum Zeichen der Emotion gemacht wird. 3 Barthes’ Aufteilung des Sehens Die Pseudo-Schriften offenbaren nicht nur die gestische Wahrheit der Schrift, sondern auch, laut Barthes, das Wesen des Textes als Gewebe von Signifikanten, dessen Erkenntnis sich durch das Sehen vollzieht: Denn um zu verstehen, was der Text ist, genügt es - aber das ist unabdingbar -, den Schwindel erregenden Schnitt zu sehen, der dem Signifikanten sich zu konstituieren, sich zu gliedern und sich zu entfalten erlaubt, ohne dass ihn noch irgendein Signifikat stützte. Diese unlesbaren Schriften sagen uns (und nur das), dass es Zeichen gibt, aber keinerlei Sinn. (dt. Barthes 2006: 77f., frz. 2002 c: 284; Hervorh. im Original) Gerade wenn das Entziffern durch leere Zeichen verhindert wird, enthüllt sich der Text “im heutigen Sinne des Wortes” als “Raster”, “Gewebe” (dt. Barthes 1981: 19, frz. 2002 b: 356) von Signifikanten, die aufeinander verweisen, ohne dass diese Verweisstruktur durch ein Signifikat oder einen Referenten geregelt wird. Aber warum wird das, was der Text ist, gerade durch das Sehen (und Barthes setzt das Wort kursiv) der Pseudo-Schrift verstanden? Wie ist das Sehen bei Barthes zu verstehen? In den Variationen über die Schrift übernimmt Barthes Leroi-Gourhans Theorie der gegenseitigen Befreiung des Gesichts und der Hand als Ermöglichung der gesprochenen Sprache und des Graphismus, um das Auge mit der Hand zu verknüpfen: “das Gesichtsfeld hat seine eigene Sprache gehabt (die des Gehörs und des Gesprächs), die Hand ihre andere (die der visuellen Wahrnehmung [vision] und des gestischen Verlaufs [tracé gestuel])” (dt. Barthes 2006: 51, frz. 2002 c: 277). So gehört das Katia Schwerzmann 256 12 Die theoria - als Betrachtung eines Spektakels, Beobachtung eines geistigen Inhalts und Spekulation - verbindet auf Griechisch das Sehen mit dem Denken. Auge aus der Perspektive der Schrift zum System der Hand. Im Grunde operiert Barthes in Cy Twombly oder Non multa sed multum mit einer ähnlichen Aufteilung des Sehens zwischen einem “repressiven”, “kontrollierenden”, “rationalen” Sehen und dem, was als ein gestisches Sehen beschrieben werden könnte, wonach das erste die Hand zum Instrument seiner Zwecke macht, während das zweite hinter die Hand zurücktritt (dt. Barthes 1990: 171, frz. 2002 d: 708f.). Barthes verbindet das repressive, rein optische Sehen und dessen Zwang zur “Wirklichkeitstreue” und “Nachahmung” mit der “gesamte[n] Malerei unserer Vergangenheit”. Interessant ist dabei, dass das repressive Verhältnis zwischen Auge und Hand Werke produziert, die wiederum ein denkendes, sozusagen theoretisches 12 Sehen hervorrufen, welches das Werk als fertiges Produkt wahrnimmt. Insofern Twombly laut Barthes die Malerei vom Sehen zugunsten der Hand befreit hat, provoziert seine Kunst eine andere Art von Sehen, das die Bewegung (also die Geste) “erneut” sehen und “genießen” soll. Auch im Reich der Zeichen wird zwischen der “visuelle[n] Erfahrung”, die mit einer “gestische[n] Praxis” verbunden wird, und dem rationalen Sehen unterschieden, wo “Kenntnis gewöhnlich durch Stadtpläne, Führer, Telefonbücher, mit einem Wort: durch die gedruckte Kultur” sichergestellt wird (dt. Barthes 1981: 54, frz. 2002 b: 381). Das nicht repressive, körperliche Sehen geht bei Barthes - wenn auch nur potentiell - mit einer gestischen Praxis einher, welche darin besteht, das Werk “erneut” zu sehen, d.h. es gestisch nachzuvollziehen. Ich würde dieses Sehen als haptisch, berührend, nah bezeichnen, insofern es das Werk nicht als Produkt aus der Ferne rein optisch wahrnimmt, sondern indem es die im Werk aufbewahrte “Bewegung” durch eine nachahmende Tätigkeit erfährt. Dieses Sehen ist synonym für ein Lesen, das gerade keine Entzifferung sondern ein “Nachzeichnen” ist: Ich betrachte Hérodiade (1960) und habe wirklich nichts dazu zu sagen, außer die gleiche Platitüde: daß es mir gefällt. Aber plötzlich taucht etwas neues auf, ein Wunsch: der Wunsch, das gleiche zu machen: zu einem anderen Tisch zu gehen (nicht mehr dem Schreibtisch), Farben zu nehmen und zu malen, Striche zu ziehen. (dt. Barthes 1990: 201, frz. 2002 d: 700; Hervorh. im Original) Das japanische Blumengebinde besitzt ein Volumen; es ist ein unbekanntes Meisterwerk, wie Frenhofer, Balzacs Held, es erträumte, der hinter die gemalten Figuren gelangen wollte; und gerade kann man den Körper in den Zwischenraum der Zweige hineinbewegen, in das Licht des Aufbaus, kann man es zwar nicht lesen (seine Symbolik lesen), wohl aber den Weg der Hand verfolgen, die es geschrieben hat: eine wirkliche Schrift, weil sie ein Volumen schafft, weil sie der Lektüre verwehrt, bloßes Entziffern einer Botschaft zu sein (und wäre diese auch hochgradig symbolisch), und weil sie der Lektüre damit gestattet, die Spur ihrer Arbeit nachzuzeichnen [elle lui permet de refaire le tracé de son travail]. (dt. Barthes 1981: 61, frz. 2002 b: 386; Hervorh. im Original) Das Sehen ist in diesem Sinne keine Sinnkonstitution eines Gegenstands als dies oder das, eines Gegenstandes, den wir “auf etwas hin ansehen oder verstehen” (Waldenfels 2007: 329), wie in der Hellen Kammer, wo “ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte” (dt. Barthes 1985: 35, frz. 2002 d: 809; Hervorh. im Original), sondern eine Antwort. Und das, worauf ich als Betrachter antworte, konstituiere ich nicht selbst, wie “Une sorte de remontée vers le corps” 257 13 “Was der Antwort vorausgeht, ist kein fremder Wille, sondern Beunruhigung, Widerfahrenes, Pathos oder Appell, und all das kommt nirgendwo anders zur Wirkung als in der nachträglichen Antwort” (Waldenfels 2010: 157). “[…] das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren” (dt. Barthes 1985: 35, frz. 2002 d: 809). 14 Cf. Mersch 2004: 86. 15 “Faszination? Nein, die eine Photographie, die ich von den anderen unterscheide und die ich liebe, hat nichts von jenem flimmernden Punkt, der vor den Augen auf und nieder schwebt und einen das Haupt wiegen läßt; was sie in mir erzeugt, ist genau das Gegenteil von Benommenheit; vielmehr eine innerliche Erregung, ein Fest, auch eine Arbeit, der Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will” (dt. Barthes 1985: 26, frz. 2002 d: 803). 16 “Der Körper, das ist die nicht zu reduzierende Differenz, und zugleich ist er das Prinzip jeder Strukturation (da die Strukturation das Einzige der Struktur ist)” (dt. Barthes 1978: 190, frz. 2002 c: 747; Hervorh. im Original). Bernhard Waldenfels es signalisiert und Barthes selber in Bezug auf das punctum betont. 13 Das responsive Sehen ist hier eher eine “At-tention” (Waldenfels 2004: 221) (zunächst weder passiv noch aktiv), die die Differenz zwischen dem konstituierenden Subjekt und dem zu konstituierenden Objekt aufhebt und eine Bereitschaft, von einem Fremden, vom “Druck des Unsagbaren, das gesagt werden will” (dt. Barthes 1985: 26, frz. 2002 d: 803) berührt, affiziert, beunruhigt zu werden. 14 Aber dieses Berührtwerden ist bei Barthes keine reine Passivität, sie mündet nicht in einen faszinierten Blick, 15 sondern in eine Responsivität, die in einer belebenden Tätigkeit besteht (dt. Barthes 1985: 29, frz. 2002 d: 804). Wie läuft aber eine solche Responsivität im Fall des “geschriebenen” Blumengebindes oder der Zeichnung von Cy Twombly ab? Waldenfels erklärt die Appellkraft der Dinge folgendermaßen: “Aufforderungskomplexe zeichnen sich also dadurch aus, daß jeweils etwas auftritt, das nicht nur auf etwas anderes bezogen ist, sondern dazu aufruft, dieses andere herbeizuführen. Aufforderungscharaktere sind im eigentlichen Sinne keine Eigenschaften, sondern Fremdbezüge der Dinge” (Waldenfels 2007: 482; Hervorh. im Original). Worauf beziehen sich das japanische Blumengebinde und Twomblys Zeichnung? Gerade auf die körperliche Geste, die sie im Raum oder auf der Fläche eingeschrieben haben. Wie oben beschrieben, ist die Schrift oder im breiteren Sinne die Graphie ein Echo-Vermittler: Sie bewahrt die erzeugende Geste als Echo oder Vibration (was Barthes “Arbeit” nennt), welche den wahrnehmenden Körper dazu anregt, “die Spur ihrer Arbeit [der Hand, KS] nachzuzeichnen” (dt. Barthes 1981: 61, frz. 2002 b: 386). Die Affiziertheit führt zu einer nachahmenden Responsivität, die sich als genussvoll, kreativ und/ oder Erkenntnis erzeugend erweist: Ich ahme nicht direkt TW nach (wozu auch? ), ich ahme das tracing nach, das ich, wenn nicht unbewußt, so zumindest phantasierend, aus meiner Lektüre folgere; ich kopiere nicht das Produkt, sondern die Produktion. Ich trete sozusagen in die Fußstapfen der Hand. (dt. Barthes 1990: 178, frz. 2002 d: 715; Hervorh. im Original) Durch das Nachvollziehen der Produktion erfährt Barthes die Macht des Künstlers und seine eigene Ohnmacht sowie die Spezifität der Kunst von Twombly, die im “rarus” besteht (dt. Barthes 1990: 202, frz. 2002 d: 700f.). Das Nachvollziehen ist also kein bloßes Nachmachen, sondern ein Mitmachen im Sinne von Waldenfels: “Im bloßen Nachmachen entsteht dasselbe noch einmal, im Mitmachen entsteht Eigenes aus Fremdem” (Waldenfels 2010: 216). Das Mitmachen ist aber bei Barthes keine bloße Aneignung, sondern die Erfahrung der absoluten Singularität des Körpers des Anderen und seiner irreduziblen Differenz zum eigenen Körper (dt. Barthes 1990: 177, frz. 2002 d: 714). Der Körper gilt in diesem Sinne als das, was unwiederholbar ist, anders gesagt: als das Nicht-Zeichenhafte. 16 Katia Schwerzmann 258 17 “So geschmeidig, so schwerelos und so ungewiß der Strich auch sein mag, er verweist immer auf eine Kraft, eine Richtung; er ist ein energon, eine Arbeit, die die Spur ihres Triebs und ihrer Verausgabung aufzeigt. Der Strich ist eine sichtbare Aktion” (dt. Barthes 1990: 177, frz. 2002 d: 714; Hervorh. im Original). Barthes’ Verständnis des gestischen Sehens, das ich als eine responsive Auffassung des Sehens verstehe, hat ästhetische Konsequenzen. Barthes bevorzugt eine Art von Kunst (und von Text), die kein Produkt ist, sondern als Produktion wirkt. Es handelt sich um Werke, die ‘energetisch’ 17 sind, die jenseits ihrer Erzeugung weiter arbeiten, insofern sie den vom Trieb belebten Körper des Künstlers spüren lassen. Die graphische Kunst vermag es, durch ihre Linienhaftigkeit den produzierenden Körper und die Dynamik seiner Geste in besonderem Maße spüren zu lassen. 4 Responsivität und Spiel Das Werk als Produktion, Produktivität oder Arbeit hat sich bei Barthes als ein energetischer Brennpunkt erwiesen, der die mitmachende Tätigkeit des Körpers provoziert. Wie soll diese Tätigkeit näher bestimmt werden, die sich jenseits der Trennung zwischen Subjekt und Objekt entfaltet? Eine Antwort kann in Barthes’ Spielbegriff gefunden werden, welcher sowohl das Verhältnis der Zeichen untereinander als auch den körperlichen Umgang mit ihnen bezeichnet und das Wechselspiel zwischen dem Produkt, dem Produzenten und dem Re-produzenten zu beschreiben vermag. Dieser Begriff scheint besonders geeignet zu sein, um die Verbindung des Poststrukturalismus mit einer Ästhetik der körperlichen Responsivität zu beleuchten. Der Begriff des Spiels hat bei Barthes zumindest drei verschiedene Bedeutungen, von denen die zwei ersten von Derrida geteilt werden, während die dritte sich auf den Körper hin öffnet. Erstens ist das Spiel im französischen Sinn von jeu ein Freiraum, ein Abstand. Jeu bezeichnet so den Raum zwischen lose miteinander verbundenen Elementen, der ihnen erlaubt, sich zu bewegen (dt. Barthes 1978: 80, frz. 2002 c: 651). In diesem Sinne ist der Leerraum zwischen den Zeichen die Bedingung der Möglichkeit ihrer Substitution und Kombinatorik. Das Spiel bezeichnet zweitens die Kombinatorik selbst, also das Verhältnis der Zeichen zueinander. Diese Kombinatorik wird als ein unendlicher Prozess verstanden, der in “das zwanghafte Spiel des Symbolersatzes”, anders gesagt: in eine leer laufende Semiose münden kann (dt. Barthes 1981: 103, frz. 2002 b: 40). Drittens kennzeichnet das Spiel den körperlichen, praktischen Umgang mit dem Schreiben bzw. Zeichnen. Barthes verweist im Text zu Twombly auf Winnicotts Unterscheidung zwischen dem geregelten game und dem freien play bzw. dem playing als Tätigkeit, um Twomblys Produktion als “Prozess der Handhabung” auf der Seite des playing zu situieren (dt. Barthes 1990: 179, frz. 2002 d: 716). Im Reich der Zeichen taucht der Spielbegriff in Bezug auf das japanische Essen auf, das mit den Operationen des Schreibens oder Malens verglichen wird. Spielen heißt dabei, diskrete, zerschnittene Elemente wegzunehmen und zusammenzustellen (dt. Barthes 1981: 25, frz. 2002 d: 358f.). Das Spielen besteht in diesem Sinne in einer körperlichen, lustvollen Tätigkeit, die sich frei von Codes, Regeln, festgelegten Ordnungen entfaltet. Die spielerische Antwort auf das Werk kann in Bezug auf Barthes’ Utopie des Amateurs auf die Reziprozität von Berühren und Berührtwerden zurückgeführt werden: “Der Amateur ist kein Konsument. Der Kontakt zwischen dem Körper des Amateurs und der Kunst ist sehr eng und gegenwärtig. Das ist das Schöne daran, und darin liegt die Zukunft” (dt. Barthes 2002 a: 238, frz. 2002 c: 861). Gegen die Massenkultur, die die Trennung zwischen Konsument “Une sorte de remontée vers le corps” 259 und Produzent vollzieht, zielt die Amateurkultur darauf ab, dass das Berührtwerden durch ein Werk sich in Berührung, d.h. Handhabung oder Spiel umkehrt. 5 Der Körper als das Andere der Semiose Der Ansatzpunkt meiner Überlegungen war das bei Derrida aporetisch gebliebene Problem des sinnlichen Rests der Schrift, der sich im unendlichen Verweisspiel und in der Ersatzkette der Zeichen nie völlig bändigen lässt. Barthes geht mit dem Sinnlichen ganz anders um: Indem er die Pseudo-Schrift zum Paradigma der Schrift in ihrer gestischen Wahrheit macht, verortet er das Sinnliche am Zeichen in dem, was sich dem Sinn bzw. der Funktion entzieht, und das heißt: in seiner Verbindung zum Körper und seiner Geste. Das Sinnliche ist bei Barthes weder der transparente Vermittler der Bedeutung noch die stumme, passive Materie, so wie die Hose/ Schrift weder in ihrem Gebrauch verschwindet noch bloß da liegt. Die Schrift bewahrt vielmehr in sich die Geste des Körpers, der sie da hat fallen lassen, als eine Resonanz. In seinem Verhältnis zum Körper ist das Sinnliche energetisch, es agiert auch jenseits des Verschwindens des produzierenden Körpers. Das Sinnliche arbeitet weiter, und diese Arbeit provoziert ein gestisches Sehen, das weder ein Entziffern noch ein unmittelbares intuitives Wahrnehmen ist, sondern eine Bereitschaft, berührt zu werden und dieses Berührtwerden in eine spielerische Tätigkeit umzuwandeln - was ich als körperliche Responsivität verstanden habe. Dies bedeutet, den sinnlichen Rest körperlich, gestisch nachzuvollziehen, das Mitmachen ohne das “Alibi des Sinnes” zu genießen (dt. Barthes 2006: 137, frz. 2002 c: 299) und die Produktivität des Werkes durch die eigene Produktion fortzusetzen. Barthes’ Schriftdenken kann dazu beitragen, das Problem der sinnlichen Dimension der Schrift in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, das nicht impliziert, die Errungenschaften von Derridas Dekonstruktion der Präsenz kurzerhand zu vergessen. Insofern die Schrift bei Barthes in ihrem unüberwindbaren Verhältnis zu einem als absolut singulär verstandenen Körper besteht, der jenseits seiner konkreten Präsenz als Rest oder Geste in der Schrift weiter arbeitet, schlägt Barthes einen Schriftbegriff vor, der nicht metaphysisch ist. Denn Schrift ist bei ihm keine bloße Äußerlichkeit, sondern bezieht sich immer auf die physiologische, muskuläre Dichte des Körpers. Genauso wenig wird die Schrift auf eine reine Präsenz zurückgeführt, da sie den schreibenden Körper in seiner Abwesenheit spüren lässt und in ihrer Arbeit Anwesenheit und Abwesenheit in Spannung hält. Barthes’ Schriftbegriff ergänzt insofern Derridas Poststrukturalismus um den Körper und macht aus dem sinnlichen Rest das nicht Ersetzbare, als dasjenige, was sich dem Sinn entzieht: “[Z]iehen Sie den Sinn ab, es bleibt der Körper, bald gezwungen, bald belohnt” (dt. Barthes 2006: 137, frz. 2002 c: 299). 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Variationen über die Schrift, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Derrida, Jacques 1976: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp Derrida, Jacques 1983: Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Derrida, Jacques 1999: “Die Différance”, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen-Verlag: 31-56 Derrida, Jacques 2001: “Signatur Ereignis Kontext”, in: Ders.: Limited Inc, Wien: Passagen Verlag: 15-45 Grube, Gernot, Kogge, Werner & Krämer, Sybille (eds.) 2005: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Fink Grube, Gernot, Kogge, Werner 2005: “Zur Einleitung: Was ist Schrift? ”, in: Grube, Kogge & Krämer (eds.) 2005: 9-21 Kogge, Werner 2005: “Erschriebene Denkräume. 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By contrast, the following paper argues that the ‘inscription through exscription’ should be thought of as a reflexive mode of writing, i.e. as a dia-logical relation of subject and object, conscious and unconscious, intention and contingency. It should not be reduced to either side of this dichotomy. In order to substantiate this claim I will reflect on the etymology of the latin word ‘resignare’ and propose a close reading of selected works by Cy Twombly and Friedrich Hölderlin. Thereby, I will gain a new understanding of ‘aesthetic scripturality’ in art and literature - i.e. of the idea of ‘writing of/ as resignation’. 1 Einleitung In seinen Studien zu Cy Twombly setzt sich Roland Barthes so intensiv wie kaum an einer anderen Stelle in seinem Werk mit einem Aspekt der ‘Schrift’ und des ‘Schreibens’ auseinander, den er wenige Jahre zuvor in einem davon abgelösten Kontext mit den Fragen “Wo beginnt die Schrift? Wo beginnt die Malerei? ” (Barthes 1981: 35) von zwei Seiten einfasst. Twomblys Arbeiten, so Barthes, zeichnen sich in der Überschreitung bzw. Verwischung der Grenzen von Linie und Schrift dadurch aus, dass sie nur ein “Anspielungsfeld der Schrift” (Barthes 1983: 8; Hervorh. im Original) darstellen, welches sie von zwei vorherrschenden Vorstellungen befreit und ein ansonsten unbesehenes Moment hervortreten lässt: “TW [Twombly; M.E.] sagt auf seine Weise, daß das Wesen der Schrift weder eine Form noch ein Gebrauch ist, sondern bloß eine Geste” (ebd.: 9). Die (ästhetische) Erfahrung, die Twomblys Zeichen- und Schriftzüge Barthes zufolge ermöglichen, entkoppeln das vonseiten idealistischer Kunsttheorie mehrstimmig geforderte Zugleich des ‘Produzierenden mit dem Produkt’ und lenken den Blick allein auf die ‘Schreibung’ respektive ‘Zeichnung’ der Hand: “Es wird nicht verlangt, das Produkt zu sehen, zu denken oder auszukosten, sondern die Bewegung, die hier angelangt ist, erneut zu sehen, zu identifizieren und sozusagen zu ‘genießen’” (ebd.: 16). Die Geste und ‘Gebärde’ des Zeichnens sei es, die sich - in Abgrenzung zur “Botschaft, die eine Information erzeugen” und zum “Zeichen, das eine Einsicht hervorbringen will” - als ein Produzieren ohne Produkt, wenn nicht sogar als ein Produzieren ohne Produzieren behaupten und so die “Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, Motiv und Ziel, Ausdruck und Appell” aufheben würde (ebd.: 11f.; Hervorh. im Original). Barthes nimmt diese Diagnose zum Anlass, daraus eine allgemeine Charakterisierung des K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Endres 262 1 Cf. Forcellini 1926: s.v. resigno; Fresne Du Cange 1954: s.v. resigno. 2 Cf. Forcellini 1926: s.v. resigno. 3 Cf. Quicherat 1878: s.v. resigno. ‘Künstlers’ (überhaupt) als “Gebärdenmacher” abzuleiten: Der Künstler “will einen Effekt herbeiführen und gleichzeitig will er es nicht; die Effekte, die er produziert, hat er nicht unbedingt gewollt; es sind zurückgewandte, umgedrehte, ausgebrochene Effekte, die auf ihn zurückfallen und Modifikationen, Abweichungen, Erleichterungen der Spur hervorrufen” (ebd.: 11). Die Bewegung der zeichnend-schreibenden Geste trägt für Barthes dabei eine paradoxe Gegenwendigkeit in sich, insofern sie - um der Fixierung und Stillstellung sowie den intentionalen Verbindlichkeiten zu entgehen und um zu vermeiden, zu einem Zeichen für anderes und nicht für sich instrumentalisiert zu werden - sich selbst zurücknehmen muss: Das Geschriebene ist “hingeschrieben worden, dann weggeschrieben; geschrieben, entschrieben; […] aber nur, um dieses Auswischen selber zu lesen zu geben” (ebd.: 19). Diesen Gedanken der ‘(ein)schreibenden Entschreibung’ möchte ich aufgreifen, ihn jedoch gleichzeitig von der Argumentation und den Konnotationen Barthes’ lösen. Das Gegenwendige des (ästhetischen) Schreibens ist meines Erachtens weder so zu verstehen, dass hier “das Leben (die Kunst, die Geste, die Arbeit) ohne Verzweiflung vom unvermeidlichen Verschwinden Zeugnis ablegt” (ebd.), noch kann es - in Barthes’ Terminologie - mit dem Begriff des ‘linkischen Schreibens’ gefasst werden, das im Zuge einer Auflehnung gegen die “repressive[] Rationalität” sich von jeder Kontrolle lossagt und unbewusst, ‘blind’ und ‘richtungslos’ nur noch dem “Verlangen [der] Hand” folgt (ebd.: 16). Zudem möchte ich darlegen, dass sich die Vorstellung einer Trennbarkeit des ‘Produzierens’ vom ‘Produkt’ und mit ihm die einer Ablösung des Subjekts vom Objekt des Schreibens nicht halten lässt und sowohl dem Anspruch der Überlegungen Barthes’ sowie dessen Beobachtungen mit Blick auf Twomblys Werk nicht gerecht werden. Demgegenüber zielt meine Studie darauf, die ‘(ein)schreibende Entschreibung’ von einem Wort her zu denken, das diese grundsätzliche Dichotomie (und alle aus ihr folgenden Gegensätze wie ‘Subjekt/ Objekt’, ‘aktiv/ passiv’, ‘bewusst/ unbewusst’, semantisch/ a-semantisch) an und in sich austrägt: vom Wort ‘Resignation’. Bevor ‘Resignation’ auf die Bedeutung ‘fromme Hingabe’, ‘ruhige Fügung’, ‘Selbstaufgabe in Ansehung göttlichen Willens’ oder (im weltlichen Bereich) ‘Amtsniederlegung’, ‘Rückerstattung’, ‘Rückzahlung’ oder ‘Verzicht’ reduziert wurde, wies das Wort eine ungleich reichere Semantik auf, die im Begriffsfeld der Schrift liegt. Seinen semantischen Ursprung besitzt das Wort in der Bezeichnung verschiedener Schreibhandlungen, die von basalen Vorgängen des Schreibens (‘Zeichen setzen’, ‘auftragen’, ‘eindrücken’ oder der entgegengesetzten Bewegung ‘Zeichen entfernen’, ‘auflösen’, ‘vernichten’, ‘aufheben’ 1 ) über konkrete Schreibpraktiken (‘schriftlich antworten’, ‘schriftlich widerlegen’, ‘schriftlich wiederholen, neu schreiben’ 2 ) und juristischen Vorgängen (‘einen Vertrag/ eine Urkunde gegenzeichnen’) bis hin zur Benennung von Handlungen reichen, die (wie beispielsweise das ‘Erbrechen eines Briefsiegels’ 3 ) in den weiteren Kontext von Schrift gehören. Vergleicht man die Bedeutungskomplexität des Resignationsbegriffs mit seiner heutigen Semantik, fällt auf, dass er seinen auf Schrift bezogenen, objektiven Charakter verloren hat und sich auf das Subjekt und dessen psychologische Verfasstheit reduzierte. Dieser Verlust ist symptomatisch: Die nivellierende Transformation, die das Wort ‘Resignation’ erfahren hat, RE/ SIGNATION 263 zeigt Parallelen zum Verständnis von ‘Schrift’, deren Materialität und Eigenlogik in ihrer sinnlichen Gestalt zugunsten ihrer Funktionalität als Aufzeichnungsmedium oder sekundäres Mittel der Präsentation und damit der ‘Verwendung’ durch das Subjekt in den Hintergrund trat. Ausgehend vom Begriff ‘Resignation’ soll im Folgenden ein Verständnis ästhetischer Skripturalität skizziert werden, das sich diesem Desiderat der Forschung annimmt und unterschiedliche Phänomene ‘resignierenden’ Schreibens in der Kunst und der Literatur untersucht - exemplarisch an Arbeiten von Cy Twombly und Friedrich Hölderlin. Geleitet von der Frage, was unter dem ‘Re-’ der Resignation als Index für ein gegenläufiges und zugleich wiederholendes Moment des Schreibens zu denken ist, begreife ich Resignation als sinnlich-sinnhafte Re-Aktion auf ein Anderes hin - sei es das weiße Blatt bzw. der Weißraum des (noch) Unbeschriebenen, sei es ein Schriftzug, ein einzelnes Wort oder ein ganzer Text. Dieses ‘Andere’ steht meines Erachtens immer schon im Horizont von Schrift, so dass Schreiben grundsätzlich eine im Wortsinn ‘re-signierende’ Handlung darstellt. Zugleich geht es mir darum, den Prozess der resignierenden Verfahrensweise in seiner Umkehrbewegung zur Abblendung oder Relativierung des Sprachcharakters der Schrift neu zu begreifen. Insofern die Materialität bzw. die aisthetische Dimension von Schrift - im Sinne Barthes’ - ihre Instrumentalisierung zu einem reinen Darstellungsmedium unterläuft, kann sie gerade Anlass einer konstitutiv ‘resignierenden’ Denk- und Schreibbewegung sein. Diese Revision des Schrift- und Schreibbegriffs impliziert dabei aber zugleich die Frage nach dem Subjekt des Schreibens. Die verschiedenen Aspekte der Resignation sind hier mit dem (von Barthes, wie oben zitiert, explizit) zurückgestellten Moment der ‘Verzweiflung’ zusammenzudenken anlässlich der vom Subjekt erfahrenen Unverfügbarkeit und Nicht- Beherrschbarkeit der Schrift. Der sinnlich erfahrene ‘Fremdkörper’ des Geschriebenen evoziert eine Skepsis des Subjekts gegenüber seiner sprachlichen Souveränität, indem er die Funktionalisierung von Schrift unterminiert und damit auch den Status eines ‘vorschriftlichen’ Gedankens. Mit meiner Studie zu Twombly und Hölderlin möchte ich zeigen, dass sich diese Resignation an der Sprache als Vermittlungswerkzeug in eine ästhetisch-produktive Resignation der Schrift positiv umwenden kann. Die materielle Schrift stellt als autonomer ‘Gegen-Stand’ mit einer eigenen Logizität den ‘Anderen’ innerhalb eines dia-logischen Produktionszusammenhangs dar. Der Refus subjektiver Souveränität und die zugleich entstehende sinnliche Stimulanz im vielgestaltigen ‘Kontakt’ mit der Körperlichkeit und Materialität von Schrift wird so zur Bedingung kreativer wie kognitiver Prozesse. Die Spannung zwischen ‘Setzen’ und ‘Ent-Setzen’ (an) der Schrift soll dabei letztlich (in kritischer Revision und Neubestimmung des Terminus Barthes’) als ‘(ein)schreibende Entschreibung’ verstanden werden - und damit als Resignation. 2 Twombly Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bilden auch für mich Arbeiten Cy Twomblys - in diesem Fall 38 Zeichnungen, die von Twombly unter dem Titel Letter of Resignation zu einem Zyklus zusammengefasst wurden. Twomblys ‘Letter’ sind Arbeiten auf Papier, die eine besondere Auseinandersetzung mit Schrift und ihrem Bildcharakter darstellen, insofern sie die Funktion des Briefes als Medium und Kommunikationsmittel formal thematisieren Martin Endres 264 Abb. 1: Entnommen aus: Cy Twombly 1991: Letter of Resignation, herausgegeben und mit einem Text versehen von Heiner Bastian, Berlin/ Rom: Schirmer Mosel, Blatt XXXVIII, verkleinert und gleichzeitig dekonstruieren. Der Letter of Resignation versammelt dabei nahezu alle Aspekte der Schrift, die in den genannten Bedeutungsrahmen von ‘Resignation’ gehören. Die Blätter zeigen unterschiedliche Formen von Streichungen, mehrfach sich wiederholende und überlagernde Überschreibungen, Übermalungen von Schriftlinien durch weiße Farbe, Einfügungen, nachträgliche Ergänzungen sowie Signaturen. Der doppelte Genitiv des Titels Letter of Resignation steht dabei für eine Verschmelzung von Darstellung und Dargestelltem: Twomblys Bilder diskutieren die Momente der Resignation nicht auf einer von der Materialität abgelösten Inhaltsebene, sondern sie sind Ausdruck eines re-signierenden Schreibakts im Akt des Zeichnens. Die Resignation in ihrer konstitutiven Paradoxalität von Zeichen-Setzen und -Aufheben reduziert sich bei Twombly jedoch nicht auf die nachträgliche Operation der Streichung oder Übermalung einer graphischen Spur, sondern vollzieht sich in actu. Auf dem Blatt XXXVIII (Abb. 1), der letzten Zeichnung des Zyklus, lässt sich besonders deutlich erkennen, dass die Buchstäblichkeit der Schrift bereits im Vorgang des zeichnenden RE/ SIGNATION 265 4 Die Assoziation mit der Kurrentschrift legitimiert sich auch durch die Lektürepraxis: Im Lesevorgang dieser Schrift ist das Wiedererkennen der Schriftgestalt bzw. des Schriftbildes gegenüber der Entzifferung einzelner Buchstaben dominant. Insofern die Wortgestalt sich dabei maßgeblich aus der spezifischen Relation von Oberlängen zu den Buchstaben der x-Höhe verdankt, kann Twomblys Nivellierung dieses Kontrastes als selbstreflexive ‘Deformation’ der Schrift verstanden werden. 5 Cf. Barthes 1983: 13: “In den Schriftzügen von TW [Twombly; M.E.] ist die Schrift [als Schrift; M.E.] kenntlich; sie läuft, sie gibt sich als Schrift. Indessen gehören die geformten Buchstaben keinem graphischen Code mehr an, […] auch nicht dem der Destruktion.” 6 Damit setzt sich Twomblys Schrift von jeder Form kalligraphischen Schreibens ab, das auf einer Verbindung von Schrift und Bild unter Wahrung des Buchstabenbzw. Schriftzeichencharakters basiert. Cf. ebd.: 8: Twomblys Schrift geht “[w]eit weg von der Kalligraphie, d.h. von der gestalteten, gezeichneten, gedruckten, gegossenen Schrift, also von dem, was man im 18. Jahrhundert die schöne Hand nannte.” 7 Cf. Barthes 2006: 78/ 79: “Une écriture n’a pas besoin d’être ‘lisible’ pour être pleinement une écriture.” / “Eine Schrift braucht nicht ‘lesbar’ zu sein, um eine Schrift im vollen Wortsinn zu sein.” 8 Cf. resignare in der Bedeutung ‘einen Vertrag/ eine Urkunde gegenzeichnen’ (Forcellini 1926: s.v. “resigno”). Schreibens ‘resigniert’, d.h. aufgehoben ist. In der an die Kurrentschrift 4 erinnernden Zick- Zack-Bewegung der Schriftlinie wird eine geordnete und distinkte Folge von Lettern - wie auch Barthes betont - nur noch imitiert 5 bzw. inszeniert 6 . Die acht gezeichneten ‘Zeilen’ zeigen eine am linken Blattrand immer wieder neu einsetzende Notation unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit, acht Schriftzüge, die an ihrem Ende zumeist in eine abflachende, an Kraft verlierende und dünner werdende Linie auslaufen. Die Zeilen können dabei als eine Form des Schreibens bezeichnet werden, die die Nähe zur ‘scriptura continua’ sucht, jedoch nur, um diese in einem wesentlichen Aspekt zu unterlaufen. Steht die ‘scriptura continua’ für ein Schriftverständnis, nach dem der ‘eigentliche’ Text sowie dessen Bedeutung erst im mündlichen Vortrag entsteht und das geschriebene Wort lediglich der Memorierung und als Lesehilfe dient, widersetzt sich Twomblys ‘Schrift’ dieser phonozentristischen Position: In ihrer Unlesbarkeit 7 unterminieren die Zeilen ein solches Denken, indem sie die Bedeutung des Geschriebenen gänzlich der materiellen Gestalt der Schrift überantworten und jede Vorstellung eines Sinns ‘außerhalb’ des Schreibens suspendieren. Nur an drei oder vier Stellen lässt sich ein Absetzen der Schreibbewegung innerhalb einer Zeile erkennen und damit von abgrenzbaren Sinn-Einheiten - etwa von ‘Worten’ - sprechen. Die Kontinuität der Schrift geht mitunter so weit, dass Schreiben und Überschreiben bzw. Überzeichnen aus einer Bewegung heraus erfolgen, die Signation und Re-Signation der auf sich selbst zurückkommenden, sich selbst durchkreuzenden und überlagernden Linie in einer künstlerischen Schreibhandlung zusammenfallen. ‘Strukturiert’ wird die Notation auf dem Blatt XXXVIII darüber hinaus durch die Neigung, Breite und ‘Laufweite’ sowie die durch die Größe der Schrift, die - setzt man eine Leserichtung von links oben nach rechts unten an - im Verlauf der Aufzeichnung zunimmt. Auch die ‘Impulsenergie’ des einsetzenden Schriftzuges sowie die ‘Geschwindigkeit’, in der sie sich im Verlauf einer Zeile abbaut, folgt dieser aufsteigenden Logik. Weiterhin wird die ‘Textur’ des Blattes durch den sich von Zeile zu Zeile vergrößernden Einzug bestimmt und schließlich durch die - noch am ehesten entzifferbare - rechtsbündige ‘Signatur’ Twomblys in der neunten Zeile. Diese Topographie der Zeichnung kann als eine kontinuierliche Entwicklung oder gar Emanzipation des Schreibens interpretiert werden, die ihren Zielpunkt in der ‘Unter-Schrift’ des Verfassers findet, die Formierung des zeichnenden Schreibens zu einer lesbaren und wiedererkennbaren Schriftgestalt also erst nach dem Durchgang durch den ‘Text’ möglich wird. Folgt man dieser Deutung, ist jedoch zu fragen, welche Funktion die Signatur besitzt. Ob sie diese Entwicklung des Schreibens ‘resignierend’ affirmiert und beglaubigt 8 oder ob sie als ‘Signatur’ überhaupt Martin Endres 266 9 Cf. Göricke 1995: 65: “Auf einer kleinformatigen Arbeit auf Papier von 1959 [Ohne Titel] ist die Signatur nicht nur ein integraler und konstitutiver Bestandteil der Komposition, sondern möglicherweise sogar ihr Grundmotiv und Sujet, das in allerlei Skripturen variiert wird. […] [Die Zeichnungen Twomblys; M.E.] machen deutlich, daß auch die Signatur - und damit der Repräsentant des Produzenten - nur ein Zeichen unter anderen ist und daß ihr dasselbe Schicksale des Heraufbeschwörens und Verschwindens widerfährt wie den anderen Elementen.” 10 Cf. Bastian 1991: Vorwort: Die “Physiognomie [von Twomblys Schrift; M.E.] ist das unkenntliche Preisgeben, der Augenblick, in dem das, was entstehen kann, auch dessen Verschwinden gewährt.” 11 Diese materielle Kopräsenz findet ihre Analogie in der Gleichwertigkeit von Schwarz und Weiß und ihrer Kontrastspannung der Bildlogik. Cf. Franz Kline, zit. nach Sandler 1974: 245: “Die Leute glauben manchmal, ich nehme eine weiße Leinwand und male ein schwarzes Zeichen darauf, aber das stimmt nicht. Ich male das Weiße ebenso wie das Schwarze, und das Weiße ist nicht weniger wichtig.” noch zur Zeichnung gezählt werden darf/ muss, 9 kann nicht eindeutig oder erschöpfend beantwortet werden. Vielmehr nimmt sie eine besondere Randstellung zwischen Innen und Außen des Kunstwerks ein: Indem sie einerseits eine graphisch-materiell klar angebbare Lokalität auf dem Blatt beansprucht, andererseits jedoch in ihrer Bedeutung weder nur der Textur der Zeichnung angehörig noch als souveräne Schreibhandlung des Künstlers identifizierbar oder fixierbar ist, wird sie zum Ort skriptural-ästhetischer Berührung: Der individuelle, nicht-wiederholbare Schriftzug ist zugleich Repräsentant des schreibenden Subjekts und objektives Moment innerhalb der (sich permanent) resignierenden Schriftlogik. Keine der beiden Seiten ist der anderen zeitlich oder logisch vorgängig, beide konstituieren und formieren sich erst im und durch das Ereignis ihres ‘Kontakts’. Doch nicht erst in dieser komplexen Bildordnung finden sich Aspekte eines ‘berührenden’ Schreibens der Resignation. Bereits die bloße Materialität der Zeichnungen des Letter of Resignation wird in dem aufgespannten Horizont sprechend. So ist es angesichts der konstitutiven Verschränkung von Schreiben und Zeichnen alles andere als nebensächlich, dass Twombly Papierblätter und nicht Leinwände als Malgrund wählt - für alle 38 Zeichnungen verwendet er 240/ 251 x 245/ 253 große, annähernd quadratische und relativ dicke Blätter des Papierherstellers Fabriano. Das recht kleine Format der Blätter evoziert damit den Eindruck von Briefpapier, mit dem - so lässt sich zumindest vermuten - eine Schreib- und Zeichenhaltung auf einer flach auf dem Tisch liegenden Schreibfläche verbunden ist, im Unterschied zu einer stehenden Staffelei oder dergleichen. Aber auch das Schreibbzw. Zeichenwerkzeug wird bedeutsam: Die Schriftlinien erfolgen hauptsächlich mit Bleistift - ein Material, das das Papier nicht ‘graviert’, sondern lediglich auf ihm aufliegt. Die ‘Unverletztheit’ der Schreibfläche infolge dieser nur ‘kontaktilen’ Schrift eröffnet so eine potenzielle Reversibilität des Schreibens, d.h. eine ‘resignierende’ restitutio ad integrum. 10 An der Zeichnung XXXVIII ist dieses ‘berührende’ Schreiben Twomblys besonders gut zu erkennen: Selbst an den Stellen, an denen der größere Druck des Bleistiftes auf dem Blatt einen breiteren Strich zur Folge hat, bleibt die Papierstruktur mit der ihr eigenen Textur sichtbar. Diese ‘Transluzidität’ der Schrift ist dabei nicht etwa nur der Verweis auf das ihr ‘Zugrundeliegende’ oder ‘Hintergründige’. Auch hier ist die Dia-Logizität und Kokonstituenz des resignierenden Schreibens zu beobachten, die uns zuvor am ‘Ort’ der ‘Signatur’ begegnete: Erst im Augenblick des Schriftzugs wird sowohl die graphische Spur des Schreibwerkzeugs als auch die Schreibfläche in ihrer besonderen Faktur und Widerständigkeit sichtbar. 11 Die Berührung von Schreibendem und Schrift spiegelt sich in Twomblys Zeichnungen folglich in der Materialität der Schrift selbst: In der Resignation kommt es nicht allein zu einem singulären Kontakt von ‘Subjekt’ und ‘Objekt’, sondern zugleich zu einem des Schreibenden mit einer Schrift, die wiederum nur im fragilen Kontakt zweier Materialien möglich wird. Mit Jean-Luc Nancy könnte man RE/ SIGNATION 267 Abb. 2: Entnommen aus: Twombly 1991: Blatt XIX, verkleinert diese doppelte Berührung der Resignation als eine potenzierte ‘Außenbeziehung’ beschreiben (cf. Nancy 2007: 111). Die Komplexität dieser ‘Außenbeziehung’ wird durch die formale Entfernung von einem klassischen ‘Schriftstück’ und der Loslösung von einer zeilenorientierten Textualität der Zeichnung noch erhöht. Blatt XXXVIII setzt - nicht zuletzt angezeigt durch die Signatur - nur den Schlusspunkt einer Schreib- und Zeichenbewegung, die sich über den gesamten Letter of Resignation erstreckt. Der finalen Rückkehr zu einer mehr oder minder herkömmlichen ‘Briefform’ gehen vielfältige Schreibweisen voraus, die immer wieder neu und in unterschiedlicher Pointierung und Akzentuierung die Bedingung der Möglichkeit von Schrift und Schreiben zur Darstellung bringen. Vor allem auf den mittleren Blättern des Letter kommt es zu einer Kompilation verschiedener Schreibmaterialien, die direkten Einfluss auf den Bildaufbau haben. Martin Endres 268 12 Vgl. Pfeifer 1993: 180a: s.v. “Buchstabe”: “Die in Holz oder Stein geritzten Runen haben durchweg einen senkrechten kräftigen Strich, den sogenannten Stab, nach dem das ganze Runenzeichen benannt ist.” Abb. 3: Entnommen aus: Twombly 1991: Blatt XVI, Ausschnitt, vergrößert Repräsentativ für diese Logizität des Zeichnens ist Blatt XIX (Abb. 2). Es bündelt gleich mehrere resignierende ‘Schreibstile’ - diese reichen von tendenziell in Schleifen sich entwickelnden Schriftzügen am oberen Bildrand über eine ‘wortähnliche’ Schrift darunter, deren diskrete graphische Einheiten einzelne Buchstaben erahnen lassen, bis hin zu eher gezackten Schriftlinien am unteren Bildrand, wie sie sich auch auf Blatt XXXVIII finden. Die gleichwertig nebeneinandergestellten Schreibstile oder -systeme werden somit in Spannung zueinander gesetzt und entfalten ihre jeweilige ‘Bedeutung’ erst in dieser spezifischen Differenz. Die an kindliche Schreibübungen erinnernden Schleifenlinien, Repräsentanten eines Schreibens also, das sich erst auf eine alphabetische Schriftordnung hin entwickelt, stehen direkt neben oder über einer Schrift, deren individueller Duktus die Buchstäblichkeit bis zur Unkenntlichkeit verschliffen hat. Zu dieser Resignation der ‘Schriftkompetenz’ eines Subjekts treten zwei miteinander historisch und kulturell entfernte Schriftsysteme: Auf der einen Seite eine an die Kurrentschrift erinnernde Schrift, die ihren Ursprung im 16. Jahrhundert hat und sich - zumindest im deutschsprachigen Raum - bis in die Mitte des 20 Jahrhunderts hält; auf der anderen Seite eine durch die vertikalen, leicht nach rechts geneigten und diskret voneinander stehenden Striche anzitierte germanische Runenschrift. Gerade der letztgenannte ‘Schreibstil’ wird in der Frage nach der von Twombly dekonstruierten ‘Buchstäblichkeit’ der Schrift bedeutsam: Der ‘Buchstabe’ geht etymologisch auf den senkrechten Hauptstrich der Runenschrift zurück. 12 Die Resignation der Schrift ist hier im regressiven Rückgang in eine Urform des Schreibens zu sehen - besonders deutlich ist diese Bewegung auf Blatt XVI zu erkennen (Abb. 3). Sind die ‘Staben’ hier zunächst noch durch vereinzelte Quer- und Schrägstriche miteinander verbunden und so in unterschiedliche Zeichen differenziert, verlieren sich diese Konnektive nach und nach - die Reduktion auf die Grundform des ‘Buchstabens’ geht also mit einer Destruktion ihrer ‘alphabetischen’ Qualität einher. Über die allgegenwärtige Resignation erreicht Twombly eine ästhetische Verdichtung und evoziert erneut eine einzigartige Berührung des Schreibens: Der zeitliche wie kulturelle ‘Kontakt’ erfolgt aufseiten des Objektiven über die Konfrontation verschiedener Schriftsysteme. Aufseiten des Subjekts entfaltet Twombly eine ‘Ontogenese’ des Schreibens, die von der historischen ‘Phylogenese’ der Schrift nicht zu trennen ist. Sowohl die Verschränkung von Synchronizität und Diachronizität als auch die Berührung verschiedener kultureller Ordnungen wird schließlich von der Kompilation römischer und arabischer Ziffern aufgegriffen. Besonders die arabischen Zahlen in der oberen Bildmitte können als eine zum Teil kontinuierlich aufsteigende Nummerierung zur Markierung von Prozessschritten gesehen werden, als chronologischer Index der nach und nach gezogenen Striche direkt unter ihnen. Die räumliche Dimension der Zeichnung wird somit explizit und RE/ SIGNATION 269 ‘expressiv’ um eine zeitliche erweitert. Synchron verstanden kann die Nummerierung jedoch auch für eine Hierarchie der Striche untereinander stehen. Eine wesentliche Erweiterung der Formensprache gewinnt die Zeichnung XIX zudem durch die Verwendung von blauem und hellbraun-gelblichem Buntstift sowie weißer Fassadenfarbe. Letztere wird im Horizont des resignierenden Schreibens und Zeichnens insofern sprechend, als sie - flächig aufgetragen - auf den ersten Blick als ein Versuch erscheint, den Malbzw. Schreibgrund zu restituieren, das Geschriebene durch Übermalung gänzlich zurückzunehmen und so das ‘unberührte’ Blatt wiederzugewinnen. Tatsächlich aber beschreibt auch dieser an Tipp-Ex erinnernde Farbauftrag eine doppelten Resignation: Zum einen besitzt die Fassadenfarbe an kaum einer Stelle eine solche Deckkraft, um das unter ihr Liegende gänzlich unkenntlich zu machen - die einzelnen Bleistiftlinien scheinen durch, und auch der Abrieb des Bleistifts verunreinigt das Weiß zu einem hellen Grau, das sich damit deutlich von der ursprünglichen Blattfarbe abhebt. Zum anderen ist die Deckfarbe nicht gleichmäßig aufgetragen und zeigt quer verlaufende Schlieren und Malzüge, die sich in dieser Gestalt erneut als ‘Zeichnung’ behaupten. Die resignierende ‘Schichtung’ erfolgt mitunter über zwei bis drei Stufen, in denen sich Bleistift-Zeichnung und gezeichnete Tünchung überlagern - doch auch diese Entwicklungsstadien sind zumeist nicht klar voneinander abzugrenzen, da die Ebenen ineinander verlaufen oder zueinander verschoben angeordnet sind und sich so auch quer zu ihrer Chronologie berühren. Davon zu unterscheiden sind die dick aufgetragenen ‘Farbkleckse’ - ihre resignierende Funktion grenzt sich von den eben beschriebenen Farbflächen ab, da sie nicht (nur) überdekken, zurücknehmen oder restituieren, sondern gleich einem Briefsiegel das Geschriebene ‘beglaubigen’ und sicherstellen und so für dessen Unversehrtheit und Unveränderlichkeit zeugen. Die graphische bzw. ‘graphologische’ Differenz zu den Farbflächen ist insbesondere durch die Umrandung und Rahmung der Kleckse durch hellbraun-gelblichen Buntstift gegeben, der sie gegenüber den übrigen Schrift- und Zeichenlinien abgrenzt und eigens betont. Die Assoziation mit Briefsiegeln begründet sich einerseits dadurch, dass keiner der Kleckse intakt ist: Alle weisen Riss- und Bruchlinien auf. Dieses nachträgliche ‘Erbrechen’ eines Siegels - sei es durch eine aktive nachträgliche Handlung des Subjekts, etwa durch bewusstes Biegen des Blattes, oder sei es durch die Eigenspannung des Materials, das ‘von sich aus’ bricht - wird noch bis Ende des 19. Jahrhunderts als Resignation bezeichnet (cf. ebd.; Quicherat 1878: s.v. “resigno”). Gleichzeitig wird das Siegel durch die fehlende Einprägung eines Siegelstempels resigniert: das sigillum (cf. Georges 1998: Sp. 2658, s.v. “sigillum”) wird in seiner Bild-im-Bild-Funktion dementiert, aber nur insoweit, als es keinen äußer(lich)en ‘Eindruck’ abbildet, nichts Äußeres repräsentiert - seine graphische Bedeutung gewinnt der Siegel-Klecks ausschließlich aus seiner eigenen Materialität. Das Blatt XIX zeigt überdies die für den Letter of Resignation charakteristischen Durchstreichungen. Entgegen dem ersten Eindruck sind diese jedoch weit mehr als ein “gewaltsame[s] Auslöschen”, ein “Aufruhr” oder “der graphische Strich, mit dem Kinder zornig die Signatur des unverstanden Faktischen löschen” (Bastian 1991: Vorwort). Auch repräsentieren die resignierenden Streichungen und Schraffuren gerade nicht eine ablösbare und für sich zu betrachtende Gegenbewegung zu einem bewussten, souveränen und intentional begründeten Schaffensprozess - sie sind keine Destruktionen einer zuvor intakten Konstruktion, die in ihrer Unversehrtheit fragwürdig wurde. Im Gegenteil: Die nachträgliche, überlagernde Skriptur lässt vielmehr die immer schon stattfindende Resignation in Twomblys Zeichnungen als solche hervortreten und verständlich werden. Die Selbstreferenzialität und -thematisierung des resignierenden Zeichnens besteht darin, die autologische, jede nach Außen gerichtete Martin Endres 270 13 Die Unentscheidbarkeit zwischen Schrift und Streichung findet sich auch exemplarisch auf den mit blauem Buntstift gezogenen Strichen auf Blatt XIX: Die horizontalen Striche in der rechten Bildmitte, die vereinzelt gesetzte Zahlen und Bleistiftspuren überzeichnet, sind in ihrer Funktion nicht von den drei schrägen Strichen in der unteren Bildmitte zu unterscheiden, die über einem weißen Farbfeld liegen. Abb. 4: Entnommen aus: Twombly 1991: Blatt XXVI, Ausschnitt, vergrößert Signifikation dementierende Schrift in ihrer Negation zu affirmieren. Die supplementäre Revision der gezeichneten Schrift durch einen neuerlichen Schriftzug führt - und hierin ist deren entscheidendes Moment zu sehen - zu einer Nivellierung der graphischen Ebenen: Die Streichung übersteigt ihre rein tilgende Funktion, indem sie einen piktographischen Wert innerhalb der gesamten Bildordnung erhält; sie gewinnt diesen Wert aber nur dadurch, dass sie den zuerst gezogenen Strich als non-alphabetische Schrift hervortreten lässt. Durch diese besondere ‘Resignation des Resignierten’, durch diese Vermittlung des einen durch das andere evoziert Twombly eine Sensibilisierung gegenüber der Individualität und Varietät der Streichungen: Form, Position, Materialität (Bleistift, Buntstift, Farbe) oder Strichstärke - alle Faktoren sind gleichermaßen zu beachten und auf ihre Bedeutung hin zu befragen. Besondere Aufmerksamkeit muss in diesem Zusammenhang den mehr oder minder spitz zulaufenden Streichungen zukommen, die - ohne abzusetzen - in Schleifen über Schriftpassagen und Zeilen gezogen sind. Diese lassen sich als eine um 90° ‘gedrehte’ Schrift lesen: Die erste horizontal verlaufende Aufzeichnungsschicht wird von einer zweiten, vertikal ausgerichteten überschrieben und durchkreuzt (Abb. 4). 13 Jeder Versuch, einer der Schriftebenen eine Priorität vor der bzw. den anderen zuzusprechen, scheitert. Die Autologizität der ‘resignierenden Resignation’ kann soweit gehen, RE/ SIGNATION 271 14 Generell lassen sich die sich selbst überlagernden der in einer durchgehenden Zeichenbzw. Schreibbewegung entstehenden Linien auch dreidimensional betrachten, und zwar in dem Sinn, dass den Schriftzügen mit jeder Überschreibung eine größere räumliche Tiefe zukommt bzw. sie sich mehr und vom Untergrund lösen und dem Betrachter zustreben. Abb. 5: Entnommen aus: Twombly 1991: Blatt VIII, Ausschnitt, vergrößert dass sie sich in ihrer Bewegung gänzlich vom Bezug auf eine bestehende Schriftlinie löst und einen eigenen, noch unbeschriebenen Raum auf dem Blatt beansprucht (Abb. 5). 14 Diesen Beobachtungen, die nur einen kleinen Ausschnitt der komplexen Formensprache Twomblys thematisieren konnten, möchte ich abschließend einige Überlegungen anschließen, die das resignierende Schreiben und Zeichnen des Letter of Resignation allgemeiner zu fassen versuchen - insbesondere mit Blick auf das darin enthaltene Moment der Berührung. Dabei ist zunächst die Rückbesinnung auf die mit dem Titel Letter of Resignation programmatisch genannte ‘Briefform’ leitend. Die Thematisierung des ‘Briefes’ gewinnt ihre Relevanz vor allem durch die doppelte Lesbarkeit des Titels: Der über 38 ‘Seiten’ sich erstreckende ‘Brief der Resignation’ ist zugleich die auf jedem einzelnen Blatt individuell stattfindende ‘Resignation des Briefes’. Twomblys gezeichnete Schrift ruft damit den gesamten Horizont der Momente auf, in dem der Brief als Kommunikationsmedium steht: Wer schreibt? An wen ist das Geschriebene adressiert? Welchen Inhalt, welche Information wird durch den Brief vermittelt? Welche Bedeutung hat dabei der Umstand, dass der Letter of Resignation nie ‘abgeschickt’ wurde, dafür aber in bislang vier Ausstellungen zu sehen war? Martin Endres 272 15 Dies markiert schließlich auch den Unterschied zur écriture automatique: Twomblys nicht-intentionales Schreiben zielt nicht auf die Darstellung eines ‘Unbewußten’, es besitzt kein ‘inneres Vorbild’ (cf. Breton 1941: 9). Die Resignation Twomblys überwindet die Diskussion um eine Präferenz oder Vorgängigkeit von Innen oder Außen, von Ratio oder Emotion, indem die schriftliche Berührung beide zugleich erfahrbar macht und unauflöslich ineinander verschränkt. 16 Cf. Lévinas 1999: 286: “Ohne Zweifel geht diese [Schrift; M.E.] der Sprache, die Urteile und Botschaften mitteilt, voraus: Es ist ein Zeichen, das von einem dem anderen durch die Nähe über die Nähe gegeben wird […] - vor der Konstitution eines jeden Zeichensystems […] - Zeichen, das von Un-Ort zu Un-Ort gegeben wird.” Bereits die Analyse weniger Blätter macht deutlich, dass Twombly sowohl die klassische Bedeutung als auch die herkömmliche Funktion des Mediums ‘Brief’ neu zu denken versucht, indem er dessen ‘Schriftlichkeit’ ins Extrem treibt. Entsprechend ist das auf den Blättern des Letter geführte ‘Zwiegespräch’ (Bastian 1991: Vorwort) nicht nur eines, das eine störungsfreie Kommunikation zwischen zwei Subjekten radikal dementiert, da sie keinen von der Schrift loslösbaren, lesbaren oder entzifferbaren Inhalt bereitstellen. Twombly geht noch einen Schritt weiter, indem er die Konstitution der Schrift auf dem Blatt mit der Konstitution des Ich, das schreibt, synchronisiert und gänzlich dem Ereignis der Berührung, dem Kontakt zwischen beiden überantwortet: Vor dem Augenblick des Schreibens existiert weder ein vorsprachlicher bzw. vorschriftlicher Gedanke, der lediglich ‘transkribiert’ würde und seine materiell-äußerliche Form erhielte - umgekehrt rekurriert die gezeichnete Schrift nicht auf ein bestehendes objektives Schriftsystem, gemäß dessen Logizität sich ein Gedanke im Schreiben entwickelt. 15 Die Re-Signation, verstanden als ‘Widerschreiben’ bzw. ‘schriftlich antworten’, benennt exakt die simultane Reziprozität dieses poietisch-schöpferischen Schreibens, in der das eine nur für und durch das andere statt hat. Damit schafft Resignation die “Nähe, diese[n] Kontakt, der nicht in noetisch-noematische Strukturen umgemünzt werden kann”, genau damit aber “das Worin für alle Übertragung von Botschaften ist - um welche Botschaften es sich auch handele”; sie ist die ‘ursprüngliche’ Schrift, die Schrift “ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation” (Lévinas 1999: 280). 16 Dies hat weitreichende Auswirkungen für die Frage nach der Subjektivität des Schreibenden - und letztlich auch nach der des Rezipienten. Twomblys Letter of Resignation ist kein “Psychogramm der Destruktion” (Bastian 1991: Vorwort), sondern zeigt eine komplexe ästhetische Praxis des Schreibens, die ein Selbst-Verhältnis des Subjekts (sowohl des Schreibenden wie des Lesenden) erst ermöglicht. Die Berührung mit der resignierten Schrift schafft erst die Bedingungen für ein “Sich-Spüren” (Nancy 2007: 119), der über das Schreibwerkzeug gestiftete Kontakt mit dem Papier den Kontakt mit einem ‘Ich’. Auch dieses ‘Ich’ kann nicht fixiert oder in Kontinuität überführt werden, da es sich in dem Augenblick in die unhaltbare Schriftlinie zurückzieht, in dem es von dieser geschaffen wurde. Das Ereignis des ‘kontaktilen’ Schreibens geht somit immer mit einer ‘Resignation des Subjekts’ einher, die zugleich produktionswie rezeptionsästhetische Aspekte beleuchtet. Die ‘Verzweiflung’ an der erfahrenen Absenz jedes Außerschriftlichen (sowohl eines vorsprachlichen Signifikats als auch eines schriftunabhängigen Ich) und die ‘Entsagung’ (dieses Denkens) aufgrund des permanenten Scheiterns im Vollzug und Nachvollzug des Schreibens an der Schrift schaffen den ‘Grund’, weiterzuschreiben bzw. den Rezeptionsvorgang zu wiederholen. Die graphische Spur auf dem Blatt ist Zeuge und Anlass dieser doppelten Resignation. Der Letter of Resignation als ‘resignation of the letter’ ist jedoch auch in der Bedeutung des letter als ‘Buchstabe’ zu bedenken. Auf den 38 Blättern zeigt sich eine ‘absolute’, a-semantische Schrift, die keine Referenz auf etwas außerhalb ihrer selbst besitzt. Die RE/ SIGNATION 273 17 Andererseits handelt es sich infolge der absoluten Materialgebundenheit sowie der Form- und Zeichenindividualität des graphischen Notats nicht etwa um die Repräsentation einer quasi-platonischen ‘Idee von Schrift’; cf. Barthes 1983: 14: “[W]as sich aufdrängt, ist nicht diese oder jene Schrift, auch nicht das Sein von Schrift, es ist die Idee einer graphischen Textur.” 18 Cf. hierzu Florian Coulmas’ Begriff der “Desemantisierung” als “Verlust eines außerhalb des Zeichens liegenden Bezeichneten” (Coulmas 1981: 130). fehlende Kontur der ‘Lettern’ lässt keine differentielle Bestimmung der Zeichen im Sinne von Buchstaben zu und streicht damit die Iterabilität und Lesbarkeit der Schriftzüge durch. 17 In Twomblys ‘Piktogrammen’ wird so nicht nur die repräsentationslogische Relation von Signifikant und Signifikat radikal in Frage gestellt, sondern auch der Signifikant selbst. Die Linien, die Twombly auf das Papier aufbringt, heben die Identität des Schriftzeichens in eine nicht-wiederholbare, nicht-kommunizierbare und allein ‘resignierbare’ graphische Spur auf. So (re)präsentieren die Notate das “Zwischenreich zwischen Graphematik und Graphik, zwischen sprachnotationalen und bildgenerierenden Zeichen” (Witte 2006: 37). Dieses Zwischen von ‘schriftlicher Zeichnung’ und ‘gezeichneter Schrift’ ist als Bewegung des Resignierens zugleich (Re-)Präsentation des künstlerischen Schaffensprozesses. Resignation in Form der ‘Schrift-Bildlichkeit’ ist bei Twombly als produktive Spannung der beiden Teile des Kompositums aufzufassen: Einerseits überwindet die Malerei das herkömmliche Schriftsystem und den mit ihm verbundenen Alphabetismus, andererseits gewinnt das Bild nur als schriftliches Zeichnen seinen ästhetischen Ausdruckswert. Diese spannungsvolle Berührung von Sprach- und Bildcharakter der Schrift immer wieder neu ins Werk zu setzen, ist das Movens des gesamten Letter of Resignation. Twomblys ‘Resignation’ schafft über den ‘Verlust’ der Schrift als einem idealen Zeichensystem einen singulären ästhetischen Erfahrungsraum. In diesem ist Schrift nicht mehr Instrument oder Abbild einer vorgängig mündlichen Sprache, sondern erhält im und als Resignieren seine piktographische Autonomie. Entscheidend dabei ist, dass das resignierende Schreiben über die De-Semantisierung 18 der Buchstaben und Worte hinausgeht. Simultan zu dieser Zurücknahme des traditionellen Schriftsinns durch die gezeichnete, der bloßen Linie sich annähernde Schrift erfolgt eine Re-Semantisierung des Schriftmaterials, insofern die individuelle graphische Einheit des Schriftzugs ihren Wert und ihre Bedeutung innerhalb der Bildkomposition erhält. Die Resignation Twomblys kann daher - in der Terminologie Barthes’ - als eine radikalisierte, durch das gegenläufige Adjektiv erweiterte ‘(ein)schreibende Entschreibung’ im Sinne Nancys gefasst werden: Das ‘Entschreiben’, “das die Wörter stets aufs neue von ihrem Sinn loslöst und sie ihrem [materiellen und räumlichen] Ausgedehnten” (Nancy 2007: 63) überlässt, begreift bei Twombly auch die Skriptur selbst mit ein: Auch der Strich, die bloße Schriftlinie oder Schraffur bleibt, wie das Wort, das nie “restlos in einem Sinn aufgeht” (und nie aufgehen kann) “im Wesentlichen zwischen den anderen [Strichen, Linien, Schraffuren; M.E.] ausgedehnt, derart angespannt, daß es sie berührt” (ebd.). Gleichzeitig schreibt sich in diese Loslösung ein neuer Sinn ein: Die Resignation führt nicht zu einer “end-lose[n] Linie”, der “Strich der selbst entschriebenen” Schrift ist nicht “unendlich zersplittert” (ebd.: 15), sondern konstituiert in seiner gegenläufigen Bewegung eine für jedes Bild bzw. jede Zeichnung singuläre Schriftordnung und Schriftlogik. Martin Endres 274 3 Hölderlin An die Analyse des Letter of Resignation möchte ich die Untersuchung literarischer Manuskripte anschließen, die ebenfalls die ‘Resignation’ als konstitutives Moment aufweisen. Es handelt sich dabei um Entwurfshandschriften Friedrich Hölderlins, wobei ich den Fokus auf Manuskripte des Homburger Foliohefts lege, einem für Hölderlins Werk zentralen Konvolut von 23 Doppelblättern (cf. Hölderlin 1986). Das Konvolut dementiert die Auffassung, wonach (allein) die ‘finale’ Textgestalt im gedruckten Buch und ein linearer Textverlauf Geltung besitzen für das Verständnis des Textsinns. Tatsächlich werden die strukturellen, syntaktischen und semantischen Momente von Hölderlins Entwürfen erst dann deutlich, wenn man sie auf ihre materielle Verfasstheit hin reflektiert. ‘Resignation’ steht bei Hölderlin im Unterschied zu Twombly für die schriftliche ‘Reaktion’ auf ein vom Subjekt des Schreibens empfundenes Ungenügen einer Äußerung hinsichtlich der intendierten Bedeutung des poetischen Sprechens; die Empfindung dieses Mangels wird zum Anlass eines prinzipiell unabschließbaren Schreibakts in Form einer graphischen Revision, Repetition und Supplementierung. Während bei Twombly die Desemantisierung des Schriftsprachlichen als Resignation des Schreibens zu begreifen ist, zeigen die Manuskripte Hölderlins zumeist einen dazu entgegengesetzten Schreibprozess: Die Handschrift entwickelt ihren semantischen Wert durch den Überschuss an skripturalem Material, das sich der linearen Ordnung der Worte und der Eindeutigkeit des Sinns widersetzt. Nicht die Negation von Lesbarkeit führt zum ästhetischen bzw. poetischen Ausdruck, sondern das komplexe Beziehungsgeflecht der Worte und Verse, ihre Simultanität, die die Chronologie des linearen Lesevorgangs subvertiert, sowie ihre irreversible Lokalität im zweidimensionalen Raum des Blattes. Allen ‘re-aktiven’ Überarbeitungen und Änderungen im Homburger Folioheft ist gemein, dass sie keine Tilgung des zuvor Geschriebenen zum Ziel haben; auch die seltenen Durchstreichungen von Worten oder Versen erhalten stets ihre Lesbarkeit. Hölderlins Resignation bricht so mit jener teleologischen Überbietungslogik, deren Ziel in der bestmöglichen ‘Fassung’ des Gesagten besteht. Dass die poetische Verfahrensweise der Resignation sich vielmehr durch eine konservatorisch-konstellierende Funktion auszeichnet und genau darin die besondere poetische Qualität des Geschriebenen begründet liegt, lässt sich besonders am unteren Rand des Blattes 307/ 9 erkennen (Abb. 6a/ b). Es handelt sich hier um die mittleren Verse der achten Strophe einer autographen Reinschrift von Brod und Wein. Zeigen die ersten drei Strophen nur geringe Änderungen Hölderlins, finden sich ab Strophe 4 weitreichende und tiefgreifende Überarbeitungen. Letztere bestehen weitestgehend in der Notation alternativer Verse, die, wie auf dem Faksimile zu sehen, zwischen die Zeilen der Grundschicht geschrieben sind. Die Resignation in der Bedeutung ‘schriftlich wiederholen, neu schreiben’ (Forcellini 1926: s.v. resigno) fügt der ersten Aufzeichnung jedoch nicht einfach einen zweiten, ablösbaren ‘Text’ hinzu. Die Beziehung der Aufzeichnungsschichten, d.h. ihre räumliche Stellung zueinander und die semantische Spannung, die aus der Engführung des Sprachmaterials resultiert, konstituiert die Bedeutung des Geschriebenen als Ganzem: Der zuerst notierte Vers erhält seine einmalige, an die Materialität dieser Handschrift gebundene Semantik durch das Hinzutreten des zweiten - und umgekehrt. Das Besondere dieser Aufzeichnung ist der ‘Anlass’ der Überarbeitung bzw. deren graphische Initiale. Entgegen der verbreiteten Meinung sind die Unterpungierungen oder Unterstreichungen bzw. -strichelungen bei Hölderlin nicht Markierung einer Restitution von RE/ SIGNATION 275 Abb. 6a: Entnommen aus: Homburger Folioheft, 307/ 9, Ausschnitt, verkleinert Abb. 6b: Entnommen aus: Friedrich Hölderlin 1986: Supplement III. Homburger Folioheft, in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von Dietrich E. Sattler u.a., Basel/ Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag: 35 zuvor Gestrichenem oder Überschriebenem - sie zeigen nicht das Ende eines Produktionsprozesses an, sondern dessen Anfang: Die Resignation von Worten und Versen durch Punkte oder Striche dient Hölderlin zu Kennzeichnung einer im Schreibvorgang fragwürdig gewordenen Formulierung, die es noch einmal zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern gilt. Die Striche unter den Versen in den Zeilen 63 und 68 gehören der Tintenfarbe und Strichstärke zufolge der ersten Aufzeichnungsschicht an und initiieren die Notation der späteren. Wie zuvor bei Twombly lässt sich also auch hier von einer ‘doppelten Resignation’ sprechen, und dies in gleich mehrfacher Hinsicht: Zum einen evoziert die markierende Re-Signation der ersten Schrift eine zweite, die die erste resigniert. Zum anderen ist aber auch die zweite, resignierende Aufzeichnungsschicht für sich genommen von einer doppelten Resignation Martin Endres 276 19 Das Wortfeld in Zeile 67 mit “Auseinander beinah” und “(Untheilbares) zu (deuten)” gewinnt in diesem Horizont eine eigene Bedeutung, die sich in der kontaktilen Konstellation des Geschriebenen auf dem Blatt spiegelt und den ‘Zusammenhang’ der Worte, ihre räumliche ‘Getrenntheit’ und gleichzeitige ‘Nähe’ sowie ihre ‘Mit-Teilbarkeit’ eigens thematisiert. geprägt: Der über Zeile 63 geschriebene Vers “Aber ([s ])…” beispielsweise enthält nicht nur Streichungen, sondern wird seinerseits von gleich mehreren darüber stehenden Notaten mit alternativem Wortlaut erweitert. Die Zeilen 60 (“eh es ko ¯ met, das Schiksaal”) und 61 (“[…] und eh es gehet das Schiksaal”) machen deutlich, dass die Resignation Hölderlins einen “logische[n] Raum” eröffnet, der “nicht mehr der Raum des Gegensatzes von Behauptung und Negation ist. Ich würde sagen, dass eben dies die Berührung ist” (Badiou 2010: 98). Der ‘Kontakt’ zweier widersprüchlicher Aussagen schafft eine Bedeutung des Geschriebenen, die jede logische Opposition überwindet. Das ungesagte, ungeschriebene, unmarkierte ‘Zwischen’ der beiden Notate, ihrer beider Bedeutung, die nicht auf eine der beiden Seiten zurückzuführen ist, hebt sich nicht in einem nennbaren tertium auf: 19 Hölderlin gelingt mit seinem resignierenden Schreiben, das “Inexistente eines Ortes, die Flucht des Fluchtpunktes zumindest für einen Moment zu lokalisieren, zu berühren” - ihm gelingt, wie zuvor Twombly, eine ‘(ein)schreibende Entschreibung’, oder anders ausgerückt: die “Heraus-Schreibung [exscription] des Inexistenten ein[zu]schreiben” (ebd.: 97). Eine zweite Parallele zu Twomblys Schrift ist in der Autologizität der ‘resignierenden Resignation’ zu sehen: Wie sich bei Twombly der überschreibend-streichende Schriftzug vom Bezug auf eine bestehende Schriftlinie freisetzt, so lösen sich auch bei Hölderlin die nach oben fortgesetzten Resignationen der zweiten Aufzeichnungsschicht von ihrem Bezugsvers in Zeile 63 und generieren neue Bezüge: Die Rede vom ‘kommenden Schicksal’ in Zeile 58 steht durch ihre Nähe zum Vers in Zeile 59 zugleich in einem anderen semantischen Kontext. Die durch die Resignation geschaffene Topographie des Blattes entsteht bei Hölderlin aber nicht nur auf Basis einer Reinschrift, d.h. im Zuge der Modifikation und Erweiterung einer bereits vorgegebenen Ordnung. Das Blatt 307/ 20 beispielsweise zeigt eine Verschränkung von gleich drei Aufzeichnungsschichten, die nach und nach die Orientierung an eine eindeutig bestimmbare Versabfolge preisgeben und genau dadurch einen singulären Bedeutungsraum schaffen (Abb. 7a/ b). Der Entwurf von Patmos, der auf der vorangehenden recto-Seite einsetzt, realisiert bis Zeile 13 einen regelmäßigen Versverlauf. Danach bricht die Handschrift in der ersten Aufzeichnungsschicht ab und setzt erst in Zeile 24 mit dem Vers “Und geblendet sucht’” wieder ein. In einer zweiten Aufzeichnung füllt Hölderlin den entstandenen Leerraum mit fünf Versen, die Streichungen und Einfügungen aufweisen. Bis zu dieser Stelle lässt sich noch von einer regulären Versordnung sprechen. Mit den Überarbeitungen ab Zeile 21, die das gesamte untere Drittel der Seite bestimmen, verändert sich diese Strukturlogik. Zunächst notiert Hölderlin rechts neben den Versblock der Grundschicht (Zeilen 24-31) eine zweite Verskolumne, die den ‘Wortbestand’ des zunächst Geschriebenen aufnimmt, jedoch - aufgrund eines alternativen Einstiegs - mit zum Teil verschobenen Versumbrüchen. Das Schreiben verändert damit zugleich seinen ‘Ort’ und seine ‘Richtung’: Die Verse werden nicht mehr ‘reaktiv’ in einen Leerraum zwischen bereits Geschriebenes gesetzt, sondern erzeugen erst einen solchen in Form eines ‘Zwischenschlags’ zweier Spalten. Diese Resignation Hölderlins, dieses ‘wiederholende Schreiben’ etabliert so die Spannung zweier Notate, die sich sowohl in der räumlichen wie semantischen Dimension der Schrift nahe stehen. Doch diese “Nähe ist nicht bloße Koexistenz, sondern Unruhe. Etwas passiert vom einen zum anderen und vom RE/ SIGNATION 277 Abb. 7a: Entnommen aus: Homburger Folioheft, 307/ 20, verkleinert Abb. 7b: Entnommen aus: Hölderlin 1986: 46 Martin Endres 278 20 Diese ‘Raumzeit’ der Aufzeichnungen Hölderlins ist bereits an der bloßen Materialität der Schrift, also der Farbe, Breite und Neigung der Schriftlinie wahrzunehmen. Die Schriftgestalt lässt bei Hölderlin konkrete Rückschlüsse auf seine poetische Verfahrensweise zu, insofern sie unterschiedliche Arbeitsphasen markiert. Das Schriftbild gibt Aufschluss über die produktionsästhetischen wie kognitiven Prozesse des Schreibens, da die Gedankenlogik mit der Schriftlogik korrespondiert: Schnell geschriebene Passagen, die an einer stärkeren Neigung der Schrift zu erkennen sind, zeugen von einem einheitlichen, in sich geschlossenen Gedanken, wohingegen resignierende Überarbeitungen meistens einen aufrechten und engeren Duktus aufweisen. Abb. 8a: Entnommen aus: Homburger Folioheft, 307/ 25, Ausschnitt, vergrößert Abb. 8b: Entnommen aus: Hölderlin 1986: 51 anderen zum einen, ohne daß die beiden Bewegungen allein durch das Vorzeichen unterschieden wären” (Lévinas 1999: 285). Durch die Konfrontation der beiden Kolumnen treten die durch die Versgrenzen unterschiedlich gesetzten semantischen Einheiten deutlicher hervor und fordern so eine Reflexion auf die individuelle Bedeutung der jeweiligen Rede. Diese konstitutive ‘Unruhe’ der Bezüge nimmt schließlich mit der dritten Aufzeichnungsschicht noch weiter zu, die genau an der Stelle einsetzt, an der die rechte Verskolumne über das in der linken materiell Ausgesprochene hinausgeht und um fünf Verse erweitert. Diese ‘Resignation der Resignation’ überschreitet dabei gleichzeitig die zuvor etablierte Schriftordnung in zwei Spalten: Die Notate in den Zeilen 35-41 lassen keine Zuordnung des Versverlaufs mehr zu - weder zu einer der beiden Seiten noch zur jeweiligen Aufzeichnungsschicht. So verschränken sich durch die Resignation auch bei Hölderlin die synchrone und diachrone Dimension der Schrift - was entsteht, ist eine quasi dreidimensionale ‘Raumzeit’ des Geschriebenen. 20 In den letzten drei Zeilen (42-44) findet diese besondere Konfiguration der Schrift ihren Höhepunkt, insofern hier keine dominante Schrift- und Leserichtung mehr auszumachen ist: Die vier Verseinheiten lassen sich sowohl vertikal wie horizontal lesen, wobei das rechte Kolon in Zeile 44 (“Uralt, an unzugangbaren”) noch dazu zyklisch an das linke Kolon in Zeile 42 (“An unzugan(b)gbaren Wänden”) anschließbar ist. Nur der Verzicht darauf, aus diesen vier Notaten eine linear-eindeutige ‘Textfassung’ herzustellen und sie damit auf eine Lesart zu reduzieren, wird der Eigenlogik der Schrift und ihrer Materialität gerecht. Der resignierende Schreibprozess realisiert sich bei Hölderlin aber nicht allein durch die konstellative Vermehrung des Wortmaterials, die eine Zunahme an semantischer Komplexität zur Folge hat. Blatt 307/ 25 zeigt einen Aspekt des Schreibens, der diese Verfahrensweise noch erweitert (Abb. 8a/ b). Die Überarbeitung in den Zeilen 29-31 besteht - neben Streichungen und einer Hinzufügung - in der Nummerierung dreier Worte in arabischen Zahlen, die eine Änderung ihrer Reihenfolge und damit eine partielle Transformation ihrer zunächst gesetzten Ordnung markiert. Hat die Nummerierung bei Twombly die Funktion, das RE/ SIGNATION 279 Abb. 9a: Entnommen aus: Homburger Folioheft, 307/ 48, Ausschnitt, vergrößert Abb. 9b: Entnommen aus: Hölderlin 1986: 74 Verhältnis der zeitlichen wie hierarchischen Logik der Schrift zu thematisieren, steht sie bei Hölderlin im Horizont der genannten ‘Raumzeit’. Entscheidend ist dabei, dass auch diese Form der Resignation keine Zurücknahme oder Tilgung des Geschriebenen bedeutet: Der Vers bleibt in seiner graphischen Gestalt erhalten und entwickelt so eine Spannung zwischen der materiell-realisierten Topologie der Aufzeichnung mit der ihr eigenen Chronologie auf der einen und der darin angezeigten, potenziellen, erst im Nachvollzug der gesamten Schriftordnung wirklich werdenden Strukturlogik der poetischen Rede auf der anderen Seite. Das letzte Beispiel für Hölderlins resignierendes Schreiben, auf das ich eingehen möchte, schließt direkt an das oben erläuterte Grundmoment von Twomblys gezeichneter Schrift an - wenn auch mit einer gänzlich anderen materiellen Phänomenalität (Abb. 9a/ b). Die Aufmerksamkeit gilt hier nicht dem Vers bzw. der Verseinheit “Ein glänzender Schild” in Zeile 4, sondern dem Bereich oberhalb und rechts neben dieser Aufzeichnung. Die in der Transkription von Sattler durch eckige Klammern gerahmten Leerräume markieren einen mit “stumpfer Feder eingedrückte[n], bis auf wenige Buchstaben unlesbare[n] Text” (Hölderlin 1986: 74). Die Schrift ist also - wie bei Twombly - bereits im Vorgang des Schreibens ‘resigniert’; deren Unlesbarkeit wird jedoch nicht durch eine Deformation der Buchstaben erzeugt, sondern durch den irregulären Gebrauch des Schreibwerkzeugs. Auch auf anderen Martin Endres 280 Manuskriptseiten finden sich mitunter Schriftzüge oder Streichungen mit tintenleerer Feder, jedoch stets nur am Ende einer Schreibbewegung: Hölderlin kommt es in diesen Fällen darauf an, in der Niederschrift nicht absetzen zu müssen, um die Feder in Tinte zu tauchen - die Kontinuität des Schreibvorgangs (und damit verbunden die Konsistenz der poetischen Rede) ist wichtiger als die Entzifferung der Schrift, die er erzeugt. Dass die Schrift sich aber, wie auf Blatt 307/ 48, nicht erst im Verlauf des Schreibens resigniert, sondern bereits im Wissen um ihr ‘Scheitern’ erfolgt, lässt sich produktionslogisch zunächst so deuten, dass Hölderlin in Ermangelung einer gespitzten Feder und Tinte die Entscheidung traf, die drei Verspartien zumindest ins Papier einzudrücken bzw. einzuritzen. Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, blieben die weiteren Aufzeichnungen auf der Seite davon unberührt. Tatsächlich jedoch ist die Schrift als resignierte Reflexionsgegenstand des Schreibens: Weder zieht Hölderlin die Einkerbungen der Feder zu einem späteren Zeitpunkt mit Tinte nach, noch werden sie mit anderen Notaten überschrieben. Je nachdem, ob die mit Tinte geschriebenen Verse der tintenleeren Schriftpassagen vorangehen oder erst später hinzugefügt wurden, lässt sich eine andere Schreibszene rekonstruieren: Im ersten Fall sind die bloßen Schreibspuren ‘resignierte Resignationen’, d.h. die Erweiterung des zuvor Geschriebenen, das gerade in seiner Revision Movens des weiteren Produktionsprozesses wird. Im zweiten Fall reagieren die lesbaren Verse auf eine solche Revision der Schrift; so beispielsweise in Zeile 4, in der “Ein glänzend Schild” als erste Vershälfte zu den sich anschließenden resignierten Schriftzügen gelesen werden kann. Die Materialität der Aufzeichnung gibt keinen weiteren Hinweis dafür, welchem Szenario der Vorzug zu geben ist; in beiden Fällen ist die Relation von Präsenz und Absenz, Lesbarkeit und Nicht-Entzifferbarkeit sowie Ein- und Entschreibung gleichermaßen wesentlich für die Verfasstheit und den Sinn der poetischen Rede. An den Manuskriptseiten wurde deutlich, dass sowohl der poetologische Reflexionsbereich literarischer Produktion als auch die poetische Bedeutung der Aufzeichnungen bei Hölderlin die Dimension des Schreibens als einem auf Wort- und Satzsemantik reduzierten Sprachdenken transzendiert. Hölderlins Dichten in Schrift und im Dialog mit ihrer materiellen Verfasstheit und Gestalt beschreibt eine resignierende Verfahrensweise, die jeder Instrumentalisierung von Sprache diametral entgegensteht; sie umfasst sowohl die psychologische Dimension der Resignation in der Erschütterung des Subjekts bezüglich seiner (sprachlichen) Souveränität durch die semantische ‘Autonomie’ des Materials als auch die Resignation als Re-Aktion, dem schriftlichen Verhalten zu dieser Erfahrung. Jede Aufzeichnung Hölderlins wird zu gleichen Teilen bedingt von der Intention des Autors einerseits und der Eigen- und Widerständigkeit der Schrift andererseits. Diese Eigenlogik der Schrift im Sinne einer ungeplanten bzw. unplanbaren graphischen Ordnung des Geschriebenen, die für Hölderlin als solche wiederum Anlass der Resignation wird, kann vor allem mit Blick auf den gesetzten thematischen Schwerpunkt der Untersuchung als ‘Kontingenz’ bezeichnet werden. Die Bedeutung des lateinischen Wortes contingere ist eng mit den genannten Momenten der Resignation verbunden, insofern es das gesamte Spektrum des (kon)taktilen Schreibens entfaltet. So benennt ‘Kontingenz’ ursprünglich nicht nur das einfache ‘Berühren’ eines Gegenstandes oder das ‘Sich-Berühren’ seiner Teile, die ‘Beziehung’ oder das ‘Verhältnis’ zu etwas anderem, sondern auch, in der Berührung etwas ‘teilhaftig’ zu werden und darin etwas ‘zur Darstellung zu bringen’ (cf. Georges 1998: Sp. 1616, s.v. “contingo”). Zudem beschreibt contingere in der Bedeutung von ‘sich treffen, sich fügen’ und ‘glücken, gelingen’ (cf. ebd.) das ästhetische Ereignis eines Kontakts, der strukturstiftende Qualität besitzt. RE/ SIGNATION 281 Die Wechselbeziehung von Intention und Kontingenz in jeder schriftlichen Äußerung, die gleichzeitig Relevanz für die gesamte Schriftordnung besitzt, lässt sich beispielsweise an der Spannung zwischen Zeilen- und Versgrenzen nachzeichnen: Zeilengrenzen sind in Hölderlins lyrischen Entwürfen im Gegensatz zu kontrollierten Versgrenzen zwar allein der Seitenbreite oder dem Weißraum des Blattes als verfügbarer Schreibfläche geschuldet. Die semantische Einheit jedoch, die dadurch erzeugt wird, initiiert oftmals eine schriftliche Reaktion und wird so zum Movens des poetischen Schreibens. Die Konsequenzen dieser Wechselbeziehung für den Autor wie für den Leser sind in einer grundsätzlichen Destabilisierung der Subjektposition zu sehen: Die ‘eigene Rede’ ist zugleich die des ‘Anderen’ (cf. Reuß 1990), der sie verändert und neue Bezüge schafft, das vouloirdire des Schreibens eines, das sich erst in einem kommunikativen Prozess herstellt. Dies steht in enger Verbindung mit Hölderlins poetologischer Grundüberzeugung, die sich gegen die Vorstellung einer ‘reinen’ Subjektivität als selbstsuffizientem Prinzip wendet und ihr die unhintergehbare Beziehung und ästhetische Vermittlung von Subjekt und Objekt entgegenhält. Das Geschriebene - und d.h., wie sich zeigen ließ, insbesondere die Struktur der materiellen Schrift - ist bei Hölderlin als die ‘individuelle Repräsentation’ dieser Vermittlung zu begreifen, als ‘utopische’ Einheit aufgrund ihrer Aktualisierung ‘jenseits’ der Trennung von Gesagtem und Vorsprachlichem, die zu keinem bestimmten Zeitpunkt eindeutig zu lokalisieren oder zu abstrahieren ist. Die Schrift ist daher Zeuge einer Vermittlung als dialogisches Schriftgeschehen. Besonders das Homburger Folioheft bestätigt mit der “Äußerlichkeit” der Schrift “als eines nichtreduzierbaren Elements auf dem Schauplatz der Bedeutung” (Wellbery 1993: 343) die prinzipielle Unablösbarkeit von Sinn und Sinnlichkeit, die Handschriften generell eignet. Entsprechend muss sich die Handschriften-Interpretation einer Manuskriptseite Hölderlins gegenüber der herkömmlichen Textinterpretation einer Druckseite dadurch auszeichnen, dass sie der ‘Selbstreferentialität’ und ‘Selbstberührung’ des Graphischen eine zentrale Rolle zukommen lässt. Die Analyse und Interpretation einer Handschrift steht so einer hermeneutischen Position gegenüber, die sich an einem außersprachlichen bzw. außerschriftlichen Signifikat orientiert und dieses zum einzigen Ziel des Verstehens erhebt. Aus dem Nachvollzug von Hölderlins resignierendem Schreiben erwächst die Aufgabe eines angemessenen methodischen Umgangs mit Entwurfshandschriften überhaupt, da der Verstehensprozess durch die komplexe Schriftordnung der Manuskripte permanent irritiert und immer wieder neu herausgefordert wird. Bibliographie Badiou, Alain 2010: Kleines tragbares Pantheon, aus dem Französischen von Elfriede Müller und David Horst, Berlin: August Verlag Barthes, Roland 1981: Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag Barthes, Roland 1983: “Non multa sed multum”, in: ders.: Cy Twombly, Berlin: Merve Verlag: 7-37 Barthes, Roland 2006: Variations sur l’écriture / Variationen über Schrift. Französisch-Deutsch, übers. von Hans- Horst Henschen und mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Bastian, Heiner 1991: “Semina Motuum”, in: ders. (ed.): Cy Twombly: Letter of Resignation, mit einem Text versehen von Heiner Bastian, Berlin/ Rom: Schirmer Mosel, n.p. Breton, André 1941: “Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus”, in: ders. 1967: Der Surrealismus und die Malerei, herausgegeben unter Beratung von Herbert von Buttlar u.a., Berlin: Propyläen-Verlag: 5-20 Coulmas, Florian 1981: Über Schrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag Martin Endres 282 Forcellini, Aegidio u.a. (eds.) 4 1926: Lexicon totius Latinitatis, 6 Bd. Bologna/ Pavia Fresne Du Cange, Charles du (ed.) 1954: Glossarium Mediae Et Infimae Latinitatis, Bd. 4, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1883-1887, Graz: Akademische Drucku. Verlagsanstalt Georges, Heinrich (ed.) 8 1998: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet, unveränderter Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage, 2 Bd., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Hölderlin, Friedrich 1986: Supplement III. Homburger Folioheft, in: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von Dietrich E. Sattler u.a., Basel/ Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag Göricke, Jutta 1995: Cy Twombly. Spurensuche, München: Schreiber Lévinas, Emmanuel 1999: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/ München: Karl Alber Nancy, Jean-Luc 2007: Corpus, Zürich/ Berlin: diaphanes Pfeifer, Wolfgang (ed.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin: dtv-Verlag Quicherat, Louis (ed.) 2 1878: Thesaurus Poeticus linguae latinae, Paris Reuß, Roland 1990: “… / Die eigene Rede des andern”. Hölderlins Andenken und Mnemosyne, Basel/ Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag Sandler, Irving 1974: Abstrakter Expressionismus. Der Triumph der Amerikanischen Malerei, Herrsching: Pawlak Verlagsgesellschaft Wellbery, David E. 1993: “Die Äußerlichkeit der Schrift”, in: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (eds.): Schrift, München: Fink: 337-348 Witte, Georg 2006: “Die Phänomenalität der Linie - graphisch, graphematisch”, in: Werner Busch, Oliver Jehle und Carolin Meister (eds.): Dimensionen der Linie. Zeichnung zwischen Expression und Experiment, München: Fink: 29-54 1 Im Anschluss an André Leroi-Gourhan formuliert Barthes, wie durch die vertikale Körperhaltung die Hand und der Gesichtsraum des Menschen frei werden und wie sich dadurch die manuelle Arbeit, das visuelle Gesichtsfeld und damit die Gebärden sowie die Sprache ausbilden (cf.Barthes 2006: 169 und Leroi-Gourhan 1984). Die Hand wird zu einer anthropologischen Grundbedingung für Sprache und Schrift, indem nicht der Laut, sondern die rhythmischen Bewegungen des Körpers als primäre Faktoren des ersten Graphismus festgelegt werden. Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” Carol Jana Ribi (Zürich) The following paper traces Roland Barthes’ use of the terms ideogram and ideographic in his Variations sur l’écriture and throughout his work: Ideograms reveal the gestural and iconic aspects of writing that are generally neglected in our alphabetic traditions. This ideographic conception of writing resonates strongly with Barthes’ quest for a novel theory of meaning in his later work. I will argue that Barthes’ theoretical discussion of Japanese haiku and bunraku in Empire of Signs establishes a number of elements crucial to such a renewal of semantic theory. The Empire of Signs focuses on the material and performative aspects of writing by way of a semantic abstinence, inspired by a (westernized) reading of Japanese Zen Buddhist traditions - Barthes establishes a connection with the traditions of Japanese art, but takes his analysis into a completely different direction. In particular, he describes haiku metaphorically as ‘anaphoric, yet meaningless gestures’, a description that, as will be shown, fits the ideograms just as well. 1 Einleitung “Schrift” wird bei Roland Barthes als “Rückgriff auf die Hand” gedacht und dies - wie der vorliegende Beitrag argumentieren wird - “umso mehr als sie die Gebärde nachzeichnet” in den “Ideogrammen” (Barthes 2006: 171). Es ist die haptische Dimension der Schrift (und nicht ihre phonetische Artikulation), die Barthes in Variations sur l’écriture (2006) - seiner 1973 verfassten, jedoch erst postum erschienen Schrift - interessiert. 1 ‘Schrift’ meint da nicht nur materielle Verschriftlichung des Gesagten oder Gedachten, sondern auch eine “physische, körperliche Geste der Schreibung”, deren Produkt die Skriptur ist (ebd.: 111f.). Das Ideogramm dient dabei als ‘Modell’ für die gestische Begründetheit der Schrift, denn es transkribiere eine “Geste, die ihrerseits Zeichen einer Handlung” sei (cf. ebd.: 69) und zerlege “andere Codes als die der artikulierten Sprache: Objekte, Gesten, Ideenkombinationen (im Falle der chinesischen Schrift) oder hervorragende Ereignisse (im Falle der Winter Counts der Dakota-Indianer)” (ebd.: 87; Hervorh. im Original). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Carol Jana Ribi 284 2 Barthes gebraucht die Begriffe ‘Ideogramm’ und ‘Piktogramm’ als systematisch gleichwertig, obwohl sie unterschiedlichen Schriftsystemen angehören. Relevant zeigt sich für ihn ihre semasiographische Eigenschaft sowie die Rückbindung an die Geste der Hand respektive den Körper. Im Hinblick auf moderne Beschreibungen von Schriftsystemen, wo ein anderer Sprachgebrauch gilt, sei exemplarisch auf Coulmas (2003) verwiesen. 3 Barthes geht es darum, die analytische Wortschrift von ihrer funktionalen Eigenschaft zu trennen, um ihre aisthetischen und performativen Dimensionen aufzuzeigen - seine Begriffsbildung des ‘Ideogramms’ und des ‘Ideographischen’ ist in diesem Sinne zu verstehen. Was die moderne chinesische Schrift angeht, so erkennt er ihre Lautgebundenheit an und verfällt demnach nicht dem von DeFrancis allgemein kritisierten Mythos der ‘ideographischen Schrift’ (cf. DeFrancis 2002: 19). 4 Roland Barthes stützt sich in seiner Interpretation der chinesischen Schrift (cf. Barthes 2006: 31f.) u.a. auf das Werk des französischen Sinologen und Soziologen Marcel Granet (1934): La pensée chinoise, das heute als überholt gilt. Der Hinweis auf Granet ist in L’Empire des signes nachzulesen (cf. Barthes 1981: 20). 5 Jacques Derrida entwickelt seine Schriftkritik bekanntermaßen in der Grammatologie (= Derrida 1994). 6 Zur unterschiedlichen Behandlung des Schriftbegriffes bei Barthes und Derrida siehe den Beitrag von Katia Schwerzmann in diesem Band. 7 Ottmar Ette weist in Roland Barthes: Eine intellektuelle Biographie darauf hin, dass die “Kryptographie” bei Barthes in Anlehnung an Jean-Paul Sartre eine Art “zweites Gedächtnis” meine, “das auf rätselhafte Weise unter Das ‘Ideogramm’ und ‘Piktogramm’ stellt für Barthes einen Gegenpol zur szientistischen Auffassung des kommunikativen Wesens von Schrift dar. 2 Es wird vom Alphabet abgegrenzt (cf. ebd.: 51) und an den Bereich des Graphischen und damit an die Hand und das Auge gebunden (cf. ebd.: 101). So lässt sich am ‘Ideogramm’ die körperbezogene Geste der Schrift, die Materialität der Schreibung und die aisthetische Dimension der Skriptur nachvollziehen (cf. ebd.: 113). Gleich zu Beginn macht Barthes darauf aufmerksam, dass die “analytische Schrift (Wortschrift), wie man sie in den (sumerischen, ägyptischen, chinesischen) Ideogrammen findet” (ebd.: 29; Hervorh. im Original), nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern einst auch einen symbolisch-rituellen Wert besaß. Als historisches Beispiel dient ihm die chinesische Schrift, die “zunächst ästhetisch und / oder rituell (im Dienste der Wendung an die Götter) und anschließend funktional (im Dienste der Kommunikation, Aufzeichnung)” (ebd.: 31; Hervorh. im Original) gebraucht wurde. 3 Diese Feststellung, die auf Barthes’ Lektüre anthropologischer Texte fußt, bedeutet nun nicht, dass Barthes sich mit den symbolisch-rituellen Eigenschaften der alten Schriften befassen würde, 4 sie dient ihm in erster Linie dazu, sich gegen die Begünstigung der Sprache vor der Schrift zu wenden. Wie Jacques Derrida 5 nennt er die Auffassung, dass die Schrift der Sprache nachgestellt sei, eine “alphabetische Illusion” (ebd.: 51; Hervorh. im Original), denn sie funktionalisiere die Schrift und stelle sie in eine sukzessiv-lineare Entwicklung, die vom Piktogramm und Ideogramm bis zur Lautschrift reiche, und werte damit das Ideogramm ab (cf. ebd.: 29f.). So ließe sich zunächst annehmen, dass Barthes das Ideogramm respektive die ‘ideographische Schrift’ als Beispiel für seine Kritik der ethno- und logozentrischen Sprachauffassung verwende und damit das Ideogramm dem dekonstruktivistischen Schriftbegriff annähere. Der Hinweis auf die dunkle Seite der (ideographischen) Schrift - dass sie der Verheimlichung und der Ermächtigung diente (cf. ebd.: 23ff.) - deutet jedoch an, dass sich der Schriftbegriff bei Barthes in eine andere Richtung als bei Derrida entwickelt. 6 Nicht die von jeglichen Kontexten befreite und ‘entzentrierte’ Schrift, sondern ihre vielschichtige, nicht einzuholende und sich verschiebende Bedeutung sowie die Grenze der Entzifferbarkeit zeige, wie in der ‘Unlesbarkeit’ die eigentliche Mission der Schrift bestehe, nämlich “graphische Dunkelheit” und “Kryptographie” zu sein (ebd.: 23). 7 Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 285 den neuen Bedeutungen fortlebe” und in Zusammenhang mit Ferdinand de Saussures’ “Wörtern unter Wörtern” gebracht werden könne (Ette 1998: 72). Barthes stellt sich selbst in Über mich selbst (1975) als Kryptograph dar, der Wörter unter den Wörtern anruft, ihre Bedeutung immer wieder verschiebt und damit die Unabschließbarkeit des semiotischen Prozesses betont: “er [der Semiologe; CJR] ruft Begriffe an und wiederholt sie unter einem Namen; er bedient sich dieses Namens wie eines Emblems (und praktiziert so eine Art philosophische Ideographie), und dieses Emblem entbindet ihn davon, das System vertiefen zu müssen, dessen Signifikant es ist (ein Signifikant, der ihm einfach nur ein Zeichen gibt)” (Barthes 2010 b: 85). 8 Wie Barthes in einer seiner späteren Vorlesungen am Collège de France ausführt, bedeutet ‘Beschreiben’ das “Ent-flechten” und “Auszupfen” von Nuancen; die Arbeit der Semiologie ist somit “das Hören und Sehen” von Nuancen (Barthes 2005: 40). In der ‘Be-Schreibung’ geht es also nicht mehr um die Transposition der Codes und ihrer Systeme - was am Anfang in den Mythologies der Ausgangspunkt war (cf. Barthes 2013 a) -, vielmehr sind das ‘Gleiten’ und die ‘zergliedernde Geste’ die semiologischen Leitbegriffe der späteren Texte Barthes’. 9 In den Variations sur l’écriture wird auch auf das Alphabet von Erté sowie auf die figurativen Buchstaben des Barock verwiesen (cf. Barthes 2006: 83). Die ‘Grenze der Entzifferbarkeit’ wird an der in zahlreiche “Graphik-Register” differenzierten “Keilschrift-Ideographie” exemplifiziert (ebd.: 23). So sind es auch die alten Schriftformen oder die Pseudoschriften in Kunstwerken (u.a. von Cy Twombly), die Barthes faszinieren. Denn bei ‘Kryptographien’ lässt sich die phonetische Zuordnung zu den Begriffen nicht herstellen, weil das Wissen über die (rituelle) Praxis und Verwendungsweise fehlt. Das, was dabei dennoch ins Auge sticht, ist der ‘Duktus’ der grafischen Gestalt (cf. ebd.: 153) sowie die Bildlichkeit. So übernimmt in Piktogrammen der Dakota das Bild die Erzählfunktion und “alles ist gleichzeitig Zeichnung und Satz-Phrase” (ebd.: 93). In den Piktogrammen treffen zwei Syntagmen aufeinander: das lineare Syntagma der Erzählung und das ausstrahlende Syntagma des Bildes (cf. ebd.: 95). Auf der grafischen Ebene verbinden sich die beiden Zeichensysteme des Ikonischen und des Diskursiven. Indem Barthes zwischen kommunikativ-funktionalen und rituell-ästhetischen Eigenschaften von Schriften unterscheidet, beginnt er, eine material-ästhetische Seite der Schrift ins Auge zu fassen. Entlang der Beschreibung der Schreibwerkzeuge nimmt er in Variations sur l’écriture eine ‘Umschrift der Schriftgeschichte’ vor und zeigt auf, wie nicht nur die kommunikativ-funktionale, sondern auch die technologische sowie aisthetische Seite der Schrift für sie prägend ist. Indem Barthes die Schrift ‘material-historisch’ denkt, sieht er sie der “Mutation der Wertesysteme” (ebd.: 49) sowie der technischen Errungenschaften ausgesetzt. So ist nachvollziehbar, dass er eine Schrift des ‘Stichels’ und eine des ‘Pinsels’ unterscheidet (cf. ebd.: 159). Die ‘Pinselschrift’ ist die ideographische Schrift: “eine Schrift der Be- Schreibung, der gesenkten Hand, der verhaltenen, ruhigen Zeichnung” (cf. ebd.: 159). 8 Sie unterscheidet sich von der ‘Ein-Schreibung’ der ‘Stichelschrift’, die im Gegensatz dazu “durchdringt”, ein “Geheimnis lüften will” und auf Singularität besteht (ebd.: 159). Damit wird die kulturelle Verschiedenheit zweier Schriften angedeutet. Die “Be-schreibung” entspricht dabei einer Idealität, die den Signifikanten öffnet und dazu bringt, sich zu “entfalten”, “wiederzukehren” und der “Pluralität den Weg zu bahnen” (ebd.: 159). Es geht um die Differenz zwischen einem vorschreibenden Buchstaben und dem emblematischen “barocken Buchstaben”, der sich in seiner Figürlichkeit und kunstvollen Darstellung präsentiert (Barthes 2013 e: 122). 9 Die japanische Schreibwarenhandlung ist in L’empire des signes - einem Ende der 1960er-Jahre verfassten und 1970 erschienen ‘Reisebericht’ über Japan - der Ort, an dem “die Hand mit dem Instrument und dem Material des Schriftzuges” zusammentrifft, nämlich da, wo die “ideographische Schrift” und ihre Instrumente über eine “nicht rückgängig zu machende fragile Schrift”, die eng an die Malerei gebunden ist, (metaphorisch) ‘Handel Carol Jana Ribi 286 10 Zur Definition des Begriffes ‘Ikonotext’ in Bezug auf Barthes‘ Texte cf. Ette 1998: 102ff. Abb. 1: Yokoi Yayû (1702-1783): Die Pilzjagd (Kinoko-gari), Japan, Edo-Zeit, Mitte 18. Jahrhundert, Tusche auf Papier, 31,1 x 49,1 cm, Zürich: Museum Rietberg. Reproduktion: Zürcher Hochschule der Künste, Archiv ZHdK führen’ (Barthes 1981: 116f.). Das Ideogramm, gekoppelt an seine Schreibmittel wie Papier, Pinsel und Faltbuch, verweist demnach nicht nur auf das technisch-kulturelle Wissen, sondern auch auf die (aus)führende Hand und ihre malerisch-ästhetischen Gesten. 2 “Die anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt“ Im als Ikono-Text 10 angelegten L’empire des signes findet sich eine Reproduktion der japanischen Tuschzeichnung Kinoko-Gari von Yoko Yayû, einem japanischen Samurai des 18. Jahrhunderts (Abb. 1). Yokoi Yayû war ein gebildeter yûhai, ein in vielerlei Künsten dilettierender Dichter, ohne Schüler eines berühmten Meisters zu sein (cf. May 2006: 11). Heute ist er als “Verfasser der leicht humorvollen haikai-Prosa (haibun) und als virtuoser Zeichner und Maler im Geist des Haiku (haiga)” bekannt (ebd.: 12; Hervorh. im Original). Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 287 11 Die Ausstellung fand unter dem Titel “Japanische Tuschmalerei: Naga und Haiga aus der Sammlung Heinz Brasch” vom 8. Juli bis 12. August 1962 im Kunstgewerbemuseum Zürich statt. Begleitend kam ein Werkkatalog unter gleichem Titel heraus. 12 Die Übersetzung aus dem Japanischen im Katalog lautet: “Beim Pilzesammeln / Wirkt habsüchtig selbst der Blick, / Der nach unten geht.” (Altherr 1962: 10) Roland Barthes vermerkte in einer Notiz zur Reproduktion, die im Anhang zu L’empire des signes enthalten ist: Quand ils cherchent des champignons, les Japonais prennent avec eux une tige de fougère ou, comme sur cette peinture, un brin de paille sur lequel ils enfilent des champignons. Peinture haïga, toujours liée au haïku, poème bref en trois vers: Il se fait cupide aussi, le regard baissé sur les champignons. (Barthes 1980: 148) Wie Barthes zur Übersetzung und Erläuterung des Haiku kam, ist nicht nachgewiesen. Klar ist jedoch, dass der erste Satz seiner Erläuterung, die den japanischen Kontext der Champignonsuche erhellt, nicht von Barthes selbst stammt. Dem Wortlaut nach zu schließen, entspricht die hier angeführte französische Textstelle einem Bild-Kommentar im Werkkatalog des Privatsammlers Heinz Brasch, in dessen Besitz sich das Original der Tuschzeichung in den 1960er-Jahren befand. Die Bestände der Sammlung wurden 1962 im Rahmen einer Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich gezeigt. 11 Der Werkkatalog wurde vom Kunstgewerbemuseum zur Ausstellung herausgegeben. Heute ist die Zeichnung in der Sammlung des Museums Rietberg Zürich zu finden (Louis 1998: 187). Weiter ist interessant, dass die Übersetzung des Haiku von derjenigen im Katalog abweicht. 12 Dies könnte darauf hinweisen, dass Barthes sich die Kalligraphie übersetzen ließ oder die drei kurzen Zeilen nach der Transkription im Werkkatalog selbst entschlüsselte. Der japanische Text des Haiku lautet in der Transkription: Ue o minu Me nimo yoku ari Kinoko-gari (Altherr 1962: 10) Ohne auf die sprachliche Qualität von Barthes’ Übersetzung (siehe oben) eingehen zu können, zeigt der oberflächliche Vergleich der Wortgestalt, wie im Japanischen mit phonetischem Gleichklang von Worten mit unterschiedlicher Bedeutung gearbeitet und wie ein strenger Rhythmus - kurze Zeile, lange Zeile und kurze Zeile - verwendet werden, was typische Merkmale für die Haiku-Dichtung bis heute sind. Die Sprache, die eine Szene, ein Gefühl und eine Blickrichtung zum Ausdruck bringt, wirkt sehr schlicht, beinahe lakonisch. Der Sinn hingegen scheint vielschichtig und komplex zu sein, und bedürfte eines Japanologen, um entschlüsselt zu werden. Barthes’ Auslegungen des Haiku folgen auch gänzlich einer anderen Richtung und würden kaum einen Kenner der japanischen Dichtung zufriedenstellen. Das Haiku dient Barthes als Folie für seine Utopie der ‘entsemantisierten Schrift’ und wird in “Le troisième sens” - einem zeitgleich zu L’empire des signes erschienenen Text in Cahiers du cinéma - als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” beschrieben Carol Jana Ribi 288 13 Als ‘anaphorisch’ bezeichnet man allgemein einen Ausdruck, der sich auf etwas rückbezieht oder auf etwas zurück zeigt. Dabei kann es sich um eine Wortwiederholung handeln, die als rhetorisches Stilmittel eingesetzt wird (Anapher), oder um deiktische Ausdrücke in der Alltagssprache (z.B. Pronomen oder Adverbien). 14 Die lateinische Eigenschaft obtusus - ‘stumpf’ - gewinnt Barthes aus der etymologischen Ableitung des Gegenstücks zu obvius, das den ‘scharfen’, ‘entgegenkommenden’ und symbolischen, informellen Sinn bezeichnet (Barthes 2013 d: 50). 15 In “Rhétorique de l’image” arbeitet Barthes das ‘rein Bildliche’ als ‘Rest’ heraus, der entsteht, wenn man vom Signifikanten und Signifikaten jegliche kommunikative Bedeutung abzieht (cf. Barthes 2013 c). Es bleiben einerseits die Materie und anderseits eine Virtualität des Sinns, die als Rest ein Oszillieren zwischen Materie und Virtualität produzieren. Der ‘stumpfe Sinn’ wird bei Barthes als ‘Signifikant ohne Signifikat’ beschrieben, gleicht somit in der Systematik dem Rest und stellt - so meine These - einen neuen Versuch dar, diesen Rest theoretisch zu erfassen. 16 Interessant ist zu erwähnen, dass Barthes bereits in seinen Ausführungen zu Bertolt Brechts Theater in den 1950er-Jahren Details und Nuancen von Gesten, Kleidern und Gegenständen beschreibt. Anhand Roger Pics’ Fotografien zur Aufführung von Mutter Courage, die Barthes 1957 zum ersten Mal als Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris gesehen hatte, führt er minuziös in die räumliche Beschaffenheit der Aufführung ein. Die Fotografien stellen für ihn dabei “Atome der Aufführung” und ein “imaginäres Museum von Mutter Courage” dar (Barthes 2001: 230); sie “belichten” und machen “sichtbar und erkennbar”, was im Raum der leeren Bühne an sparsam eingesetzten Gegenständen angeordnet war. Indem Barthes die Bilder von innen her beschreibt, entsteht eine zum flachen, zweidimensionalen Medium der Fotografie paradoxe Bewegung der Beschreibung von räumlichen Gegenständen - das sogenannte “Reich des Tuches” mit den Materialien armer Leute: derbe (Barthes 2013 b: 61). 13 In Barthes’ Erweiterung der Anapher durch den Zusatz “ohne bezeichnenden Inhalt” wird das rhetorische Stilmittel umgedeutet zu einer leeren Geste, die keiner sprachlichen oder kulturellen Bedeutung mehr zugeordnet werden soll. Sie gleicht nun mehr einer “Betonung”, “Falte” oder “Maske”. 3 “Der stumpfe Sinn” - ein neuer Signifikant In “Le troisième sens” tritt Barthes gegen einen ‘offensichtlichen Sinn’ (‘le sens obvie’) an, um ihm einen ‘stumpfen Sinn’ (‘le sens obtus’) entgegenzustellen. 14 Es ist die Fortsetzung einer Suche nach einem semiologischen Terminus, das ‘rein Bildliche’ zu beschreiben. 15 Am Beispiel der Filmstills - oder auch “Fotogramme”, wie sie Barthes nennt - aus Eisensteins Potemkin und Iwan der Schreckliche führt Barthes in einen sogenannten neuen ‘Signifikanten ohne Signifikat’ ein, der im ‘buchstäblichen Widerspruch’ zu gängigen symbolisch-informellen Bedeutungen steht. So führt er an einer Stelle diesen neuen Signifikanten ein: Der stumpfe Sinn hängt also mit der Verkleidung zusammen. Man betrachte den Spitzbart Iwans […]: Er sieht unecht aus und hält dennoch an der ‘Glaubwürdigkeit’ seines Referenten (der historischen Figur des Zaren) fest: Ein Schauspieler, der sich zweimal verkleidet (einmal als Schauspieler einer Geschichte, einmal als Schauspieler der Dramaturgie), ohne daß eine Verkleidung die andere aufhöbe; eine Schichtung von Sinn […]; das Gegenteil sagen, ohne auf das Widersprochene zu verzichten: Brecht hätte diese (zweigliedrige) dramatische Dialektik gemocht. (Barthes 2013 d: 54) Die Ausdrucksebene wird von der Inhaltsebene der Kleidung, der Masken und Gegenstände getrennt. Damit spaltet Barthes die dramaturgische Ebene von der dargestellten Geschichte ab. Dem Brecht’schen Verfremdungseffekt ähnlich wird die diegetische Ebene durch verzerrte und auffällige Materialität der Ausstattung unterwandert und durchbrochen (cf. Barthes 2013 d: 62). 16 So entwickelt Barthes entlang der Beschreibung dieser auffälligen Details den Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 289 Stoffe, Filz, Matten, Stricke, Säcke, Wäsche und Holz (ebd.: 236). Die materiellen Dinge sind Zitate oder Gesten, die den “Zusammenhang, den Vorgang der Verstrickung” unterbrechen, “um zu verblüffen und zu verfremden” (ebd.: 243). Die Gegenstände entziehen sich der attributiven Symbolebene, indem sie den durch die Armut und die Zeit bedingten “Verschleiß” betonen (ebd.: 238), der mit der theatralen Handlung verwoben ist. Der sense obtus scheint in der Beschreibung der Effekte und Wirkungen der Theaterausstattung bereits vorweggenommen. 17 “Der dritte Sinn, den man theoretisch situieren, aber nicht beschreiben kann, erscheint somit als Übergang von der Sprache zur Signifikanz” (Barthes 2013 d: 63; Hervorh. im Original). ‘Signifikanz’ ist im Sinne der ‘Signifianz’, dem ‘radikal offenen Bedeutungsprozess’, der eng mit der ‘jouissance’ als ‘unabschließbarem sinnlichen Erleben’ verbunden ist, zu verstehen (cf. Barthes 2010 a: 470). sogenannten ‘dritten und stumpfen Sinn’, der negativ bestimmt wird als weder semiotisches, noch symbolisches Zeichen (cf. ebd.: 60) und als der Objekt- und Metasprache entgegengesetzt. Er besitzt keine strukturale Eigenschaft und ist dennoch im Bild zu sehen; er ist nicht als ‘Rest’ oder ‘Überschuss’ einzuholen, erscheint selbständig als Drittes, steht der Bedeutungsebene entgegen, ‘durchfurcht’ und ‘unterbricht’ sie wie ein japanisches Haiku den herkömmlichen Sinn. Ohne ihn lässt sich problemlos kommunizieren (cf. ebd.: 58) und über ihn kann man sich “beiläufig oder ‘auf dem Rücken’ der gegliederten Sprache” verständigen “dank dessen, was im Bild nichts als Bild (und im Grunde sehr wenig) ist” (ebd.: 60). Das wenige Positive, was sich über den ‘stumpfen Sinn’ sagen lässt, ist, dass er einer “Betonung”, einem “Akzent” oder einer “Falte” gleicht, die auf dem “schweren Tuch der Informationen und Bedeutungen” erscheint (ebd.: 61). Seine auditive Dimension wird im Zusammenhang mit Eisensteins filmtheoretischen Überlegungen zur audiovisuellen Montage des Films hervorgehoben, das Hören enthält die Metapher, “die dem ‘Textuellen’ am besten entspricht: Orchestrierung (ein Wort von S.M.E.), Kontrapunkt, Stereophonie” (ebd.: 48). Auch sein Vergleich mit Ferdinand de Saussures’ Anagrammen spiegelt die auditive Dimension des ‘dritten Sinns’: Wenn er [der stumpfe Sinn; CJR] für mich offensichtlich ist, so vielleicht noch (vorläufig) aufgrund der gleichen ‘Verblendung’, die allein den unglücklichen Saussure zwang, aus dem archaischen Vers eine rätselhafte, ursprungslose und beschwörende Stimme herauszuhören, die des Anagramms. (Barthes 2013 d: 59f.; Hervorh. im Original) Was hier ironisch klingt, ist durchaus ernst zu nehmen: Die ‘Verblendung’, die angeblich Saussure ‘zwang’, eine ‘Stimme’ bei den ‘Wörtern unter Wörtern’ festzustellen, lässt sich als ‘Verfremdungseffekt’ oder ein ‘Moment des Staunens’ lesen, der das ‘Lesen’ und ‘Rezipieren’ zu einem Sehen und ‘Hören von Mehrdeutigkeit’ - ganz im Sinne Michail Bachtins Mehrstimmigkeit von Texten - macht (cf. ebd.: 48). So ist die ‘Verfremdung’ - wie sie Barthes in den Gegenständen in Brechts Theater oder Eisensteins Filmstills sieht - sowohl eine Verschiebung der Wirkungen, die in eine Mehrdeutigkeit der Lektüre im Sinne der Signifianz 17 führt, als auch ein paradoxales Entgleiten von Sinn zugunsten des Hervortretens von Materialität. In den Werken beider Avantgarde-Künstler - Brecht und Eisenstein - wurden diese Effekte intensiv genutzt. Damit oszilliert der ‘stumpfe Sinn’ als Terminus zwischen der Beschreibung von material-performativen und perzeptiv-ästhetischen Momenten in der Kunst. Carol Jana Ribi 290 18 Dieter Mersch arbeitet die aisthetische Dimension von Barthes’ theoretischen Bemühungen heraus und deutet die Begriffe des “stumpfen Sinns” und des “punctum” als Barthes’ Versuche, das “Ereignis als Setzung” und ein “Sichzeigen” zu erfassen (Mersch 2002: 194ff.). Wobei durchaus ein Unterschied in der Konzeption der beiden Begriffe bei Barthes besteht: Das ‘punctum’ ist im Gegensatz zum ‘stumpfen Sinn’ an die Subjektivität und Körperlichkeit des Betrachters gebunden und gehört bereits der Semiologie der “signifiance” und “jouissance” an, die Barthes in den 1970er-Jahren entwickelt (Ette 1998: 461). Mit anderen Worten: Das ‘punctum’ nimmt die Begriffsbildung des ‘stumpfen Sinns’ auf und verschiebt sie in eine neue Richtung (ebd.: 462). 19 Die entsprechende Stelle in “Le troisième sens” lautet: “Schließlich kann der stumpfe Sinn als eine Betonung angesehen werden, als die eigentliche Form eines Auftauchens, einer Falte (ja sogar einer Knitterfalte), die sich auf dem schweren Tuch der Informationen und Bedeutungen abzeichnet. Ließe er sich beschreiben (ein begrifflicher Widerspruch), so hätte er das Wesen des japanischen Haiku: einer anaphorischen Geste ohne bezeichnenden Inhalt, einer Schramme quer durch den Sinn (die Lust auf Sinn)” (Barthes 2013 d: 61; Hervorh. im Original). 4 “Ein Augenblick, der buchstäblich unfassbar ist” Die ‘Kunst des Haiku’, wie sie Barthes versteht, ist anti-deskriptiv und wendet sich gegen die Beschreibung von Eindrücken (cf. Barthes 1981: 105). Barthes’ Lektüre folgt der Vorstellung zen-buddhistischer Erleuchtungspraxis, die eine “Verhinderung des Sinns” anvisiert (ebd.: 100). Die Faszination der Sinnleere oder der angehaltenen Sprache führt Barthes dazu, die klassische japanische Dichtung im Geist des Zen auszulegen. Das Haiku besitzt eine ästhetisch vielfältige literarische Tradition, die nicht nur auf spirituell-philosophische Zusammenhänge zurückgeführt werden kann. Barthes’ Interpretation folgt einer esoterischen und eher westlichen Lektüre des Haiku. Sie ist durch die theoretischen Zusammenhänge, die Barthes für seine Semiologie aufzeigt, dennoch nicht gänzlich von der Hand zu weisen. So arbeitet er am Haiku die Grenze des Sagbaren sowie das Moment des ‘Sichzeigens’ heraus. 18 Auch ist die Nähe zu anderen eigenen Texten und Themen evident. Gerade im Zusammenhang mit dem ‘stumpfen Sinn’ erschließen sich Gemeinsamkeiten sowie Erweiterungen der Begrifflichkeiten. Der ‘stumpfe Sinn’ und das Haiku haben Eigenschaften gemeinsam, sie sind ‘Zitate’ oder Fragmente, die an eine “fragile Essenz der Erscheinung” und einen Augenblick, der “buchstäblich nicht fassbar ist”, gebunden sind (ebd.: 105). Und sie werden beide als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” beschrieben. 19 In der Formel der ‘anaphorischen Geste ohne bezeichnenden Inhalt’ bezieht sich ‘ohne bezeichnenden Inhalt’ auf einen Zustand der ‘angehaltenen Sprache’ (cf. ebd.: 102). Wenn der ‘Drang’ nach Klassifizierung und Semantisierung unterbrochen wird oder ins ‘Leere’ läuft und es nichts mehr gibt, das etwas aussagen könnte, dann tritt der ideale Zustand einer ‘flachen Sprache’ ein, in der es keine übereinander gelagerten Sinnschichten mehr gibt (cf. ebd.: 101ff.). Diesem idealen Zustand (des Zen) entspricht das Haiku in seiner Struktur insofern, als es nur aus kurzen Zeilen und keinen vollständigen Sätzen besteht, auf Konjunktionen verzichtet und den Zusammenhang der Zeilen offen lässt. In diesem Sinne fällt jeweils die folgende Zeile der vorhergehenden ins Wort (oder ins Bild), um die metaphorischen Erweiterungen zu unterbrechen. Darin ist das Haiku der modernen französischen Dichtung eines Stéphane Mallarmé sehr ähnlich, zum Beispiel in seinem berühmten Buch Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (1897). Barthes verweist im Übrigen auch mehrere Male auf den Dichter (cf. ebd.: 125, 138). Auf der Ebene des Gedichttextes kann jedoch keine vollständige Auflösung des Sinns geschehen, denn die einzelnen Worte bleiben les- und interpretierbar; es sind Zeichen mit, wenn auch uneindeutiger Referenz. Das Paradoxon, welches sich für Barthes daraus ergibt, Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 291 ist, dass die ‘Sinnleere’ in einer lesbaren Sprache geschieht. Das heißt, die Haiku-Dichtung kann die Sprache nicht verlassen. Was sie jedoch kann, ist, sich der deskriptiven und definitorischen Sprache entledigen, die in einer ‘ausschweifenden’ und ‘sinnüberfüllten’ westlichen Literatur vertreten sei (cf. ebd.: 114). Es gibt also so etwas wie einen ‘Sinn ohne Sinn’ oder auch eine ‘sinnschwangere Abwesenheit des Sinns’. Ganz abgesehen von der Spitze gegen die westliche Kultur, die immer alles erklären und ausführen muss, ist festzustellen, wie in Barthes’ Beschreibung der Modus des Zeigens an die Stelle des Sagens tritt: Das Haiku “schrumpft zur reinen und bloßen Designation. Es ist dies, es ist so, sagt der Haiku, es ist solches. Oder besser: Solches! ” (ebd.: 114; Hervorh. im Original). In der deiktischen oder anaphorischen Geste des Zeigens wird der Sinn zu einem Blitz, einem kurzen Moment von Klarheit, um sogleich wieder spurlos zu erlöschen (cf. ebd.: 115). So geht die Kunst des Haiku - besser die Kunst seiner Rezeption - in einem augenblicklichen ‘Sichzeigen’ auf. Die anaphorische Geste des Sichzeigens führt zu einer Ekstatik, einer ‘Schau ohne Kommentar’, was der Sprache vorgängig und an die Präsenz der Materialität sowie die Setzung und Verkörperung von Zeichen in Kunstwerken gebunden ist (cf. Mersch 2002: 194f.). Indem Materialität und Performanz in der Beschreibung des Haiku in den Vordergrund rücken, fällt auf, wie auf der Textebene die visuelle Dimension der kalligraphischen Zeichnung bisher unerwähnt blieb. Barthes hatte früh in seinem Ikono-Text die Tuschzeichnung von Yokoi Yayû eingefügt, ohne jedoch näher auf sie einzugehen (cf. Barthes 1981: 35). Nur eine lapidar hingeworfene, handschriftliche Notiz ziert den Bildrand der Reproduktion und stellt die Frage: “Où commence l’écriture? Où commence la peinture? ” (ebd.: 35). In L’empire des signes wird auf diese Frage nur implizit eingegangen - auf jeden Fall wird sie nicht im Sinne des sechs Jahre früher verfassten Aufsatzes “Rhétorique de l’image” verhandelt - nicht mehr die “Ontologie der Bedeutung” des Bildes (Barthes 2013 c: 28), vielmehr das Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild stehen im Fokus. Dieses Spannungsverhältnis nennt Barthes in der Präambel zum Text ein “visuelles Schwanken”: Der Text ist kein ‘Kommentar’ zu den Bildern. Die Bilder sind keine ‚Illustrationen’ zum Text. Beide dienten mir lediglich als Ausgangspunkt für eine Art visuelles Schwanken - ähnlich vielleicht jenem Sinnverlust, den der Zen als Satori bezeichnet. Text und Bilder sollen in ihrer Verschränkung die Zirkulation, den Austausch der Signifikanten: Körper, Gesicht, Schrift, ermöglichen und darin das Zurücktreten der Zeichen lesen. (Barthes 1981: 11) Der Ausgangspunkt für eine noch nicht näher definierte ‘Zirkulation’ zwischen Körper, Gesicht und Schrift, ist also zunächst ein “visuelles Schwanken” zwischen Bild und Text, das an der Kalligraphie exemplifiziert wird, die die Schrift der Malerei annähert. Schrift und Zeichnung werden in ihr als komplementär angesehen, das heißt auch als gleichwertig behandelt. Die Differenz zwischen den beiden Registern wird dadurch nicht aufgehoben, aber das Buch verbindet beide in einer malerischen Geste und verschiebt dadurch die Wahrnehmung: Das Zeichen wird auf der Ebene des Sehens verstanden und von der Lautlichkeit entkoppelt. In der Geste der Malerei wird die Schrift ihrem ursprünglichen Zweck der Kommunikation entfremdet. Indem die ‘Herrschaft des Codes’ und die ‘semantische Operation’ (die Interpretationskette) durch das Bild gestört werden, wird die Sprache ‘zum Verstummen’ gebracht. Was dabei umso mehr hervortritt, ist die an-ordnende und ein-teilende Geste der Kalligraphie, die sie mit der Schrift teilt. Damit wird nicht mehr die sprachliche Funktion der Schrift, sondern ihre performativ-graphische Geste des auf sich selbst bezogenen stummen Zeigens im Medium der Zeichnung beschrieben (cf. ebd.: 115). Carol Jana Ribi 292 20 Das vollständige Zitat, das Barthes einführt, lautet: “Die Schrift also, die taub ist für die Schreibfläche, weil sie auf einem Zurücktreten und einer unsichtbaren Verschiebung beruht (nicht von Angesicht zu Angesicht; sie regt nicht so sehr den Blick an als die Linienführung), einer Verschiebung, die den Träger in Bahnen einteilt, als wolle sie an die mehrfache Leere gemahnen, in der sie zustande kommt - die Schrift ist lediglich als Oberfläche abgehoben, hat sich zur Oberfläche verwoben, sie ist Abgesandte des Grundes, der nicht Grund hin zur Oberfläche, sondern eine Faser, die von unten her in die Vertikale ihres Drüber geschrieben ist (der Pinsel wird senkrecht gehalten) - das Ideogramm geht so wieder in die Spalte - Röhre oder Leiter - ein und lagert sich dort stufenförmig ab wie eine komplexe Schranke, die der Einsilber im Bereich der Stimme schafft: Diese Spalte kann man als ‘leere Manschette’ bezeichnen, in der zunächst ein ‘ein einzelner Zug’ erscheint, der Atem, der durch den gebogenen Arm geht, die perfekte Operation, bevor sie die der ‘verdeckten Spitze’ oder des ‘Fehlens von Spur’ wird.” (Barthes 1981: 79) 21 Barthes lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es sich bei den drei Gebärden auch um verschiedene Schreibweisen respektive Schriften des Bunraku handelt: “Der [sic] Bunraku praktiziert also drei gesonderte Schriften, die er gleichzeitig an drei Orten des Schauspiels zu lesen gibt: die Marionette, den Spieler und den Sprecher: die ausgeführte Gebärde, die ausführende Gebärde und die stimmliche Gebärde.” (Barthes 1981: 70) Diese Analogie zur Schrift wird von Barthes in Bezug auf die systematische Unterscheidung der Bewegungsweisen respektive der stillgestellten Bewegung (Spur) vorgenommen; der Vergleich wird nicht entlang der Systeme selbst angestellt. Die Unterscheidung zwischen ‘Systematisch’ und ‘System’ ist für Barthes’ Semiologie grundlegend (Ette 1998: 460). Wie im Textfragment von Philippe Sollers 20 - das Barthes in die Mitte des Buches und inmitten seiner Auseinandersetzung mit den Gesten des Bunraku setzt - lässt sich von der kalligraphischen Schrift sagen, dass sie ihren ‘Träger’ in ‘Bahnen’ teilt, als wolle sie an die mehrfache ‘Leere’ (der weißen Fläche) erinnern, in der sie zustande gekommen ist; sie stellt sich dadurch selbst aus, verweist auf ihre Beschaffenheit als Papier, Tusche und graphische Spur und lässt eine ihr vorgängige Operation erahnen, die sich zwischen Körper, Gesicht und Schrift ereignet (cf. ebd.: 79). In der “Zirkulation” zwischen “Körper, Gesicht, Schrift” (ebd.: 11) sind ‘Operationen’ respektive Produktionsweisen sowie Werkzeuge am Werk, die es für Barthes zu beschreiben gilt. Exemplarisch für dieses ‘Zirkulations-Verhältnis’ wurde neben das Zitat von Sollers eine Fotografie eingefügt; sie zeigt eine Hand, die einen Pinsel hält und gerade im Begriff ist, einen ‘Zug’ auszuführen. Sie hält ihr Werkzeug senkrecht zum Papier, nur die Spitze des Pinsels ist durch den leichten Druck der Hand gebogen. Die Fotografie zeigt im Grunde eine stillgestellte Geste des kalligraphischen Schreibens. Sie verweist auf die Gradation von Gesten, die die Züge einer Kalligraphie erst entstehen lassen. Und diese dem Produkt vorgängige Geste ist es, die Barthes interessiert, denn sie lagert sich in der Zeichnung ab. Die Operation des Malens selbst ist jedoch nicht mehr einholbar und bleibt als solche ohne Spur. Es sind vielmehr die Züge, der Duktus der kalligraphischen Zeichen, die zu Spuren einer Geste werden. So ist das Haiku bei Barthes auch eine Metapher für einen “diskontinuierlichen Zug” und ein “Ereignis” (ebd.: 114), das diesen Zug beinhaltet. 5 Die drei Gesten Wie bereits erwähnt, ist Sollers’ Text inmitten der Beschreibung des japanischen Puppentheaters Bunraku eingefügt. Und dies scheint nicht zufällig so zu sein. Denn das vorhergehende Kapitel “Die drei Schriften” führt am Beispiel des Puppenspiels eine Unterscheidung von drei Gestentypen ein. Es sind dies die “ausgeführte”, die “ausführende” und die “stimmliche” Geste (ebd.: 67). 21 Diese Unterteilung entspricht der Aufführungspraxis, dass drei Spieler eine Puppe führen und ein vierter die Geschichte rezitiert. Was Barthes an der Roland Barthes über das “Ideogramm” als “anaphorische Geste ohne bezeichnenden Inhalt” 293 Spielweise des Bunraku interessierte, ist die funktionale Auftrennung der Gesten in Puppenbewegung, Puppenführung und Stimme des Erzählers: Barthes unterscheidet die transitive Handlung der Puppenspieler, die codierte Geste der Figuren sowie die rhythmisierte Stimme des Vorlesers. Die Puppen-Spieler werden von keiner Kulisse verdeckt - im Gegensatz zum traditionellen europäischen Puppentheater. Der Bühnenraum ist offen und die Gesten sind allesamt sichtbar. Die Bedienung der Puppen ist hierarchisch aufgeteilt: Der Meister hält den Kopf und Rumpf sowie die rechte Hand der Puppe. Seine Gehilfen, die im Gegensatz zum Meister durch schwarze Ganzkörper-Masken verhüllt sind, teilen sich die linke Hand sowie die Beinpartie auf (cf. ebd.: 67). Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass alle drei Spieler in einer möglichst natürlich wirkenden, fließenden Bewegungsabfolge die einzelnen Gliedmaßen bedienen. Barthes’ Faszination ist die sichtbare Präsenz der Körperhandlungen der Puppenspieler, die eben nicht aus dem Hintergrund als unsichtbare magische Hand operieren; auch trägt im Unterschied zum Schauspieler-Theater die Puppe eine Verfremdung ins Spiel hinein: Nicht die Identifizierung mit den Puppen, sondern eine gestisch-stilisierte Darstellung wird verfolgt: “Die Emotion ist nicht länger Überschwemmung, sie wird Lektüre; die Stereotype verschwinden” (ebd.: 74). Es geht Barthes darum, am Bunraku die Diskontinuität der codierten Hand-Gesten nachzuvollziehen, um zu zeigen, wie sie in ihrer Aufführung codiert bleiben und vom Rezipienten ‘gelesen’ oder erkannt werden (cf. ebd.: 74). Wieder ließe sich Barthes’ Interpretationsweise kritisieren, indem man darauf verweist, dass das traditionelle Bunraku durchaus ein Pathos der Emotionen kennt und sehr wohl eine Identifikation hervorrufen will, sowie darauf, dass auch in Europa Figurentheater mit sichtbarem Ganzkörpereinsatz gespielt wurde und wird. Im Kontext der Überschrift “Die drei Schriften” ist jedoch von eine metaphorischen Auffassung auszugehen, in dem Sinne, dass die systematische Dreiteilung der Gesten Barthes’ Unterscheidung von Skriptur, Schreibung und Lektüre entspricht. 6 ‘In die Situation der ideographischen Schrift versetzt’ Wie lassen sich aber Gesten des (Puppen)Spiels mit denjenigen der Schrift verbinden? Und was hat dies mit der Kalligraphie, dem Haiku und dem Ideogramm zu tun? Im ersten Kapitel von L’empire des signes schreibt Barthes, dass der ‘Autor’ sich von “Japan” - einem durch seine Lektüre entstandenen imaginären Ort - in die “Situation der Schrift” versetzt sieht (ebd.: 14). Auf der gegenüberliegenden Seite zu dieser Aussage ist eine Kalligraphie des Schriftzeichens Mu abgebildet. So ist die ‘Situation’, in welche sich der Erzähler versetzt fühlt, diejenige der kalligraphischen Ideogramm-Schrift, die schwer zugänglich und kryptographisch wirkt - sei es, weil der ‘Autor’ der Sprache nicht mächtig ist oder sei es, weil die Zeichen so alt sind, dass ihre Bedeutung vergessen wurde. Durch diesen ikono-textuellen Zusammenhang gewinnt der folgende Satz eine neue Bedeutung: Ich kann auch ohne jeden Anspruch eine Realität darzustellen oder zu analysieren (gerade dies tut der westliche Diskurs mit Vorliebe), irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug) aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. (Barthes 1981: 13) Das ‘System’, das ‘gebildet’ wird, ist ein ‘ideographischer Raum’, der an das Gesicht, den Körper und eine ideographische Schrift gebunden und von ihnen begrenzt wird. Das, was sich in diesem Zwischenraum ereignet, bekommt die Systematik einer Schrift, auch wenn es um Carol Jana Ribi 294 das Essen oder Kochen, den Austausch von Geschenken oder Grüßen geht. Die den unterschiedlichen Zeichensystemen gemeinsame Systematik wird entlang der Gesten von codierten Handlungen festgelegt. Neben der kalligraphischen Schrift, die ein zentrales Beispiel ist, werden auch verschiedene andere Bewegungs- und Handlungsweisen wie das Kugelspiel “Patchinko” oder die Zubereitung des Ragouts “Sukiyaki” beschrieben. Das “Reich der Zeichen” lässt sich somit als ein ‘Reich der Gesten’ lesen, das “ausgedehnt und um so vieles weiter als die Sprache ist” (ebd.: 23). “Der Austausch der Zeichen” besitzt “trotz der Undurchsichtigkeit der Sprache und zuweilen gar wegen ihr einen faszinierenden Reichtum, eine bestrickende Beweglichkeit und Subtilität” (ebd.). Grund für diese Beweglichkeit ist eine den Zeichen zugrunde liegende Körperlichkeit, die in die körperliche “Beherrschung der Codes” und Gesten übergeht. In L’empire des signes sind die Gesten codierte Körperhandlungen, wie am Beispiel des Bunraku gezeigt wurde; sie unterteilen sich in die drei Stadien der Produktion, des Produktes und der Rezeption. Indem sie einteilen und Dinge andeuten, verbinden sie das, was im Raum auseinandergeht, sie sind wie die Schrift “genau jener Akt, welcher in derselben Arbeit vereint, was sich im ebenen Darstellungsraum allein nicht zusammenbringen ließe” (ebd.: 27). So verbinden Gesten der kalligraphischen Malerei die Materialität mit dem performativen Ereignis und der Aisthetik des graphischen Zuges, bringen diesen zum Stillstand, wandeln sich von einer Operation des Ziehens zur ausgeführten Geste (Spur) in der Zeichnung, die sich präsentiert, um eine audiovisuelle Vielzahl an Interpretationen und Lektüren hervorzurufen. 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KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Peter V. Zima Entfremdung Pathologien der postmodernen Gesellschaft 2014, VIII, 204 Seiten €[D] 19,99 / SFR 28,00 ISBN 978-3-8252-4305-0 Der Begriff Entfremdung, bisher vorwiegend auf die Arbeitswelt angewandt, wird hier mit verwandten soziologischen Begriffen wie Differenzierung, Anomie, Anonymität und Tauschwert verknüpft und als gesellschaftskritischer Begriff auf Bereiche angewandt, die jenseits der Produktionsprozesse liegen: Freizeit, Konsumverhalten und Medien. Durch diese Erweiterung des Terminus und seines Anwendungsbereichs trägt das Buch der Tatsache Rechnung, dass Entfremdung in der Postmoderne so allgegenwärtig ist, dass sie trotz des Unbehagens, welches sie - in Stress, Burnout oder Depression - bewirkt, kaum noch wahrgenommen und beim Namen genannt wird. Dass es sie gibt, lassen indessen die vielen Varianten der ästhetischen Verfremdung erkennen, die im letzten Kapitel als Reaktionen auf die soziale Entfremdung kommentiert werden. 1 “Les rues de cette ville n’ont pas de nom. Il y a bien une adresse écrite, mais elle n’a qu’une valeur postale, elle se réfère à un cadastre (par quartiers et par blocs, nullement géométriques), dont la connaissance est accessible au facteur, non au visiteur: la plus grande ville du monde est pratiquement inclassée, les espaces qui la composent en détail sont innommés. Cette oblitération domiciliaire paraît incommode à ceux (comme nous) qui ont été habitués à décréter que le plus pratique est toujours le plus rationnel […]. Tokyo nous redit cependant que le rationnel n’est qu’un système parmi d’autres.” (Barthes 1970: 376) Roland Barthes’ Schriftbilder Doris Kolesch (Berlin) This essay examines Roland Barthes’ notion of notational iconicity by investigating the interplay between text, image and sound. It primarily focuses on his books L’empire des signes and roland BARTHES par roland barthes, exemplifying key figures of his phono-iconographic universe. As a main result, it foregrounds the thesis that handwritten text, printed text, images, and other materials are intertwined through an ongoing process of contiguity. Thus, notational iconicity is a dynamic form of synergies between different sign systems and materials, unfolding a sensual bodily experience of writing, painting, reading or listening. 1 Im Reich der Zeichen Die Straßen dieser Stadt haben keine Namen. Wohl gibt es eine geschriebene Adresse, aber die hat ausschließlich postalische Bedeutung; sie bezieht sich auf ein Kataster (nach Vierteln und Blocks ohne jede Geometrie), das der Postbote kennt, nicht aber der Besucher: Die größte Stadt der Welt besitzt praktisch keine Klassifizierung; die Räume, aus denen sie besteht, sind namenlos. Diese Unschärfe in der Bestimmung der Wohnung erscheint solchen (wie uns) unbequem, die sich an die Festlegung gewöhnt haben, das Praktische sei stets das Rationalste […]. Tokyo erinnert uns indessen daran, daß das Rationale lediglich ein System unter vielen ist. (Barthes 1981: 51) 1 Zentrale Themen von Roland Barthes’ Denken und Schreiben sind in dieser Passage aus L’empire des signes versammelt: Fragen der Klassifikation ebenso wie Dimensionen der Benennung, Bezeichnung, Beschriftung und ihre Funktionen sowie schließlich der Sehnsuchtsort der Namenlosigkeit und Nicht-Klassifizierbarkeit, der vergegenwärtigt, dass ein ganz anderes Denken, Handeln und Schreiben möglich ist als das dem westlichen Subjekt geläufige. Barthes’ 1970 veröffentlichtes Buch kreist um eine Utopie des leeren Zeichens, um die Utopie des von Bedeutung freigesetzten Signifikanten. Obgleich Barthes in den 1960er- Jahren mehrfach in Japan und vor allem in Tokyo weilte, stellt L’empire des signes kein Buch über Japan dar. Vielmehr wird hier eine andere symbolische Ordnung als die westeuropäische entfaltet, die primär durch ihre Differenz zu westlichen Symbolsystemen gekennzeichnet ist: K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Doris Kolesch 298 2 “L’Orient et l’Occident ne peuvent donc être pris ici comme des ‘réalités’, que l’on essaierait d’approcher et d’opposer historiquement, philosophiquement, culturellement, politiquement. Je ne regarde pas amoureusement vers une essence orientale, l’Orient m’est indifférent, il me fournit simplement une réserve de traits dont la mise en batterie, le jeu inventé, me permettent de ‘flatter’ l’idée d’un système symbolique inouï, entièrement dépris du nôtre. Ce qui peut être visé, dans la considération de l’Orient, ce ne sont pas d’autres symboles, une autre métaphysique, une autre sagesse (encore que celle-ci apparaisse bien désirable); c’est la possibilité d’une différance, d’une mutation, d’une révolution dans la propriété des systèmes symboliques.” (Barthes 1970: 351) 3 Zum Begriff der Schriftbildlichkeit cf. Krämer 2003 sowie Krämer/ Cancik-Kirschbaum/ Totzke 2012. Osten und Westen dürfen hier also nicht als “Realitäten” verstanden werden, die man einander historisch, philosophisch, kulturell oder politisch anzunähern oder entgegenzusetzen suchte. Ich blicke nicht mit verliebten Augen auf ein ‘Wesen des Ostens’; der Orient ist mir gleichgültig, er liefert mir lediglich einen Vorrat von Zügen, den ich in Stellung bringen und, wenn das Spiel erfunden ist, dazu nutzen kann, mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystems zu “liebäugeln”. Was wir in der Betrachtung des Orients anstreben können, sind keine anderen Symbole, keine andere Metaphysik, keine andere Weisheit (wenngleich diese doch recht erstrebenswert erscheint), sondern die Möglichkeit einer Differenz, einer Mutation, einer Revolution im Charakter der Symbolsysteme. (Ebd.: 13f.) 2 L’empire des signes erhebt also explizit nicht den Anspruch, eine - wie auch immer geartete - japanische Realität zu beschreiben oder darzustellen. Barthes erfindet vielmehr ein Spiel, um mittels der Erfahrung der Differenz die Grenzen unserer Sprache und unserer symbolischen Ordnung herauszufinden. Anders formuliert: Wir erfahren in diesem Buch nichts - zumindest nichts Verlässliches - über das historische oder gegenwärtige Japan, dafür aber umso mehr über die Historizität und kulturelle Gemachtheit des uns scheinbar Selbstverständlichen. Lesend werden wir Zeugen des Entwurfs eines anderen Zeichen- und Sprachverständnisses, der Genese eines Schriftkonzepts, welches die Schrift nicht, wie die etablierten Wissenschaften von der Sprache - nämlich Linguistik, Sprachphilosophie oder auch angrenzende Disziplinen wie die Archäologie - auf Kommunikation und Bedeutungsübermittlung verpflichtet. Für die Genese dieses anderen Verständnisses von Schrift und Schreiben, so meine These, ist das Konzept der Schriftbildlichkeit zentral, welches ich im Folgenden insbesondere am Beispiel von L’empire des signes sowie der Publikation roland BARTHES par roland barthes aus dem Jahre 1975 zu entfalten suche (cf. Barthes 1975). 3 Dabei vertrete ich die Hypothese, dass der Begriff der Schriftbildlichkeit für die Beschreibung von Barthes’ Konzept von Schrift und Schreiben noch erweitert werden muss, geht es ihm doch - so möchte ich zu zeigen versuchen - um eine Phonoikonographie, d.h. um ein Schreiben des Textuellen, Bildlichen und Klanglich-Akustischen, welches mittels unterschiedlichster Medien und Materialien vonstatten gehen kann und diese in ein Verhältnis der Nachbarschaft, Bezugnahme oder auch Spannung zu setzen vermag. Angesprochen ist damit ein Prozess, der immer am lustvollen, erotischen Körper orientiert ist. 2 “Den Körper schreiben” Doch zurück zum eingangs geschilderten atopischen Tokyo. Barthes’ Japan fungiert als Differenz zur westlichen Ordnung. Entsprechend ist die in seinem Buch “Tokyo” genannte Stadt in Bezug auf ihre Orientierungs- und Klassifikationsmuster das genaue Gegenteil europäischer Städte. Die Straßen dort haben keine Namen, auch die Häuser besitzen weder Namen noch Hausnummern. Während wir Europäer gerne denken, das Praktische - so wie Roland Barthes’ Schriftbilder 299 4 “Tokyo nous redit cependant que le rationnel n’est qu’un système parmi d’autres. Pour qu’il y ait maîtrise du réel (en l’occurrence celui des adresses), il suffit qu’il y ait système, ce système fût-il apparemment illogique, inutilement compliqué, curieusement disparate: un bon bricolage peut non seulement tenir très longtemps, on le sait, mais encore il peut satisfaire des millions d’habitants, dressés d’autre part à toutes les perfections de la civilisation technicienne.” (Barthes 1970: 376) 5 “[L]es habitants excellent à ces dessins impromptus, où l’on voit s’ébaucher, à même un bout de papier, une rue, un immeuble, un canal, une voie ferrée, une enseigne, et qui font de l’échange des adresses une communication délicate, où reprend place une vie du corps, un art du geste graphique: il est toujours savoureux de voir quelqu’un écrire, à plus forte raison dessiner: de toutes les fois où l’on m’a de la sorte communiqué une adresse, je retiens le geste de mon interlocuteur retournant son crayon pour frotter doucement, de la gomme placée à son extrémité, la courbe excessive d’une avenue, la jointure d’un viaduc; bien que la gomme soit un objet contraire à la tradition graphique du Japon, il venait encore de ce geste quelque chose de paisible, de caressant et de sûr, comme si, même dans cet acte futile, le corps ‘travaillait avec plus de réserve que l’esprit’, conformément au précepte de l’acteur Zeami; la fabrication de l’adresse l’emportait de beaucoup sur l’adresse elle-même, et, fasciné, j’aurais souhaité que l’on mît des heures à me donner cette adresse.” (Barthes 1970: 376-381; Hervorh. im Original) wir es praktizieren, also in diesem Falle in Form der Kombination von Straßennamen und Hausnummern - sei das Rationalste, entwirft Barthes eine Stadt, in der gänzlich andere Verfahren der Orientierung sich als ebenso sinnvoll wie praktikabel erweisen: Tokyo erinnert uns indessen daran, daß das Rationale lediglich ein System unter vielen ist. Damit Wirklichkeit beherrschbar wird (in unserem Falle die der Adressen), genügt es, wenn überhaupt ein System existiert, und wäre dieses System auch scheinbar unlogisch, übermäßig kompliziert oder merkwürdig disparat: eine gelungene Improvisation kann nicht nur, wie man weiß, äußerst haltbar sein, sie kann auch die Bedürfnisse vieler Millionen Einwohner befriedigen, die im übrigen alle Perfektion der technischen Zivilisation gewohnt sind. (Barthes 1981: 51) 4 Dem europäischen System der Stadtpläne, Stadtführer, Telefonbücher und anderer sprachlichtextueller Orientierungshilfen setzt Barthes’ Tokyo eine Kombination verschiedener gestischer Praktiken entgegen. Zum Beispiel malen die Einwohner, fragt man sie nach einer Adresse, kleine Orientierungsskizzen, die immer von einem bekannten Ausgangspunkt, zumeist einem Bahnhof, ausgehen (Abb. 1 und 2): [D]ie Einwohner brillieren in der Verfertigung solcher improvisierten Zeichnungen, die, auf einem Stückchen Papier skizziert, eine Straße, ein Gebäude, einen Kanal, eine Eisenbahnlinie, ein Schild zeigen und den Adressentausch zu einer köstlichen Kommunikation machen, in der ein Körperleben, eine Kunst der graphischen Geste wiedererstehen: Es ist immer ein Vergnügen, jemandem beim Schreiben zuzusehen, erst recht aber beim Zeichnen: Von all den Gelegenheiten, da jemand mir auf diese Weise eine Adresse mitteilte, bewahre ich die Geste meines Gesprächspartners im Gedächtnis, mit der dieser den Bleistift umdrehte und mit dem am oberen Ende angebrachten Radiergummi vorsichtig die übertriebene Biegung einer Straße oder das Verbindungsstück einer Brücke ausradierte; obwohl der Radiergummi der graphischen Tradition Japans widerspricht, strahlte diese Geste doch etwas Friedliches, Liebkosendes und Sicheres aus, ganz so, als folgte selbst diese nebensächliche Handlung der Regel des Schauspielers Zeami, wonach der Körper “mit größerer Zurückhaltung arbeitet als der Geist”. In all dem ging es weit mehr um den Akt der Mitteilung als um die Adresse selbst, und in meiner Faszination hätte ich gewünscht, es möchte doch Stunden dauern, mir diese Adresse zu geben. (Ebd.: 52f.; Hervorh. im Original) 5 Doris Kolesch 300 6 “Qu’est-ce qu’un geste? Quelque chose comme le supplément d’un acte. L’acte est transitif, il veut seulement susciter un objet, un résultat; le geste, c’est la somme indéterminée et inépuisable des raisons, des pulsions, des paresses qui entourent l’acte d’une atmosphère (au sens astronomique du terme). Distinguons donc le message, Abb. 1: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 48f. Der Akt der Mitteilung scheint wichtiger zu sein als das Mitgeteilte selbst. Diese Korrelation zwischen der Ablehnung oder Zurückweisung des Sinns einerseits und einer Betonung körperlicher Performanz andererseits durchzieht L’empire des signes wie ein Leitmotiv. Barthes ist nicht am Resultat, am Ergebnis einer Handlung interessiert, sondern an der Geste, am plastischen, sinnlichen Körper in Bewegung: Was ist eine Geste? Etwas wie das Zusätzliche an einer Tat. Die Tat ist transitiv, sie will nur ein Objekt, ein Resultat herbeiführen; die Geste ist die unbestimmte und unerschöpfliche Summe der Gründe, der Triebe und der Trägheiten, die die Tat mit einer Atmosphäre (im astronomischen Sinn des Wortes) umgeben. Unterscheiden wir also die Botschaft, die eine Information hervorbringen will, das Zeichen, das eine Erkenntnis hervorbringen will, und die Geste, die alles übrige (das “Zusätzliche”) hervorbringt, ohne unbedingt etwas hervorbringen zu wollen. (Barthes 1990 a: 168; Hervorh. im Original) 6 Roland Barthes’ Schriftbilder 301 qui veut produire une information, le signe, qui veut produire une intellection, et le geste, qui produit tout le reste (le ‘supplément’), sans forcément vouloir produire quelque chose.” (Barthes 1979: 706; Hervorh. im Original) Abb. 2: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 50f. An diesen Begriff von Geste ist anzuknüpfen, will man Barthes’ Verständnis von Schreiben als eine Tätigkeit und Geste des Körpers rekonstruieren. Sprache und Schrift werden von ihm weder primär kommunikativ noch kognitiv gedacht. Sie kommen nicht als Medien der Information und Bedeutungsübermittlung in den Blick und auch nicht als Medien von Erkenntnis oder Gedächtnis, sondern als körperliche Aktivität, als wollüstige Signifikanz. Dabei optiert Barthes - und dies scheint mir wichtig - nicht einfach für das freie Spiel der Signifikanten, nicht einfach für eine potenziell unabschließbare Produktivität. Vielmehr interessiert ihn das “Spiel zwischen Körper und Schrift in seiner Geschichtlichkeit” (Ette 1998: 355). Schrift ist für Barthes eine graphische Transformation des Körpers. Oder anders gewendet: Sie ist für ihn eine materialisierte Gebärde des Körpers. Aber von welchem Körper genau ist hier die Rede? Nun, weder vom gesellschaftlich regulierten noch vom sprachlich kodierten und auch nicht vom persönlichen, subjektiven Doris Kolesch 302 7 “Il paraît que les érudits arabes, en parlant du texte, emploient cette expression admirable: le corps certain. Quel corps? Nous en avons plusieurs; le corps des anatomistes et des physiologistes, celui que voit ou que parle la science: c’est le texte des grammairiens, des critiques, des commentateurs, des philologues (c’est le phéno-texte). Mais nous avons aussi un corps de jouissance fait uniquement de relations érotiques, sans aucun rapport avec le premier: c’est un autre découpage, une autre nomination; […]. Le texte a une forme humaine, c’est une figure, un anagramme du corps? Oui, mais de notre corps érotique. Le plaisir du texte serait irréductible à son fonctionnement grammairien (phéno-textuel), comme le plaisir du corps est irréductible au besoin physiologique.” (Barthes 1973: 228; Hervorh. im Original) 8 “Ecrire le corps. Ni la peau, ni les muscles, ni les os, ni les nerfs, mais le reste: un ça balourd, fibreux, pelucheux, effiloché, la houppelande d’un clown.” (Barthes 1975: 750; Hervorh. im Original) Körper. Eine Überlegung aus Le plaisir du texte gibt recht präzise an, welchen Körper Barthes im Sinn hat: Die arabischen Gelehrten scheinen, wenn sie vom Text sprechen, den wunderbaren Ausdruck der gewisse Körper zu gebrauchen. Welcher Körper? Wir haben mehrere; den Körper der Anatomen und Physiologen, den die Wissenschaft sieht und ausspricht: das ist der Text der Grammatiker, der Kritiker, der Kommentatoren, der Philologen (das ist der Phäno-Text). Aber wir haben auch einen Körper der Wollust, ausschließlich aus erotischen Beziehungen bestehend, ohne irgendein Verhältnis zum ersten: das ist eine andere Aufgliederung, eine andere Benennung; […]. Der Text hat eine menschliche Form, er ist eine Figur, ein Anagramm des Körpers? Ja, aber unsres erotischen Körpers. Die Lust am Text wäre nicht reduzierbar auf sein grammatisches (phäno-textuelles) Funktionieren, so wie die Lust des Körpers nicht reduzierbar ist auf das physiologische Bedürfnis. (Barthes 1996: 25f.; Hervorh. im Original) 7 Anders formuliert könnten wir auch sagen: Barthes verfolgt ein paradoxes, ein widersprüchliches und ein utopisches Projekt, das dementsprechend nicht selten zu Missverständnissen oder gar zu Unmut ob seiner vermeintlich unklaren Begrifflichkeiten geführt hat. Er möchte den erotischen, nicht den gesellschaftlich, sprachlich und kulturell codierten und sistierten Körper schreibend, lesend, malend in Austausch mit anderen erotischen Körpern bringen, doch er weiß, dass dieser Körper - wenn überhaupt - nur über die Negation, die Entleerung und Verschiebung des Sinnes und nur durch die Durchquerung der kulturellen Symbol- und Zeichensysteme erreicht werden kann. Der Schluss von roland BARTHES par roland barthes zeigt dieses dynamische Spannungsverhältnis von Form und Formlosigkeit, von Codierung und Bruch, von Sinngebung und Negation paradigmatisch auf, indem diese vermeintlichen Gegensätze in der wechselseitigen Bezugnahme von Text und Bild in der Schwebe gehalten werden (Abb. 3): Wir sehen auf der rechten Buchseite eine Illustration aus Diderots und d’Alemberts Encyclopédie, auf der unter dem Stichwort “Anatomie” die Venenstämme eines Erwachsenenkörpers gezeichnet sind. Auf der linken unteren Buchseite findet sich folgender, sowohl auf das gesamte Buch als auch die nebenstehende Illustration zu beziehender Text: Den Körper schreiben Weder die Haut, noch die Muskeln, noch die Knochen, noch die Nerven, sondern das Übrige: ein Das, schwerfällig, faserig, wollig, ausgefranst, der Umhang eines Clowns. (Barthes 1978: 195; Hervorh. im Original) 8 Die Anatomie steht hier - neben der gesamten Medizin, aber auch der Psychologie und Psychoanalyse - stellvertretend für die Wissenschaft vom Körper, die einen anderen Körper entwirft, beschreibt, klassifiziert als jenen, den Barthes schreiben möchte. Der zu schreibende Roland Barthes’ Schriftbilder 303 Abb. 3: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: 182f. Körper ist schwer zu beschreiben, er ist “un ça” - unbestimmter geht es kaum, und auch die nachfolgenden Bestimmungen erfüllen nicht wirklich ihre Funktion, stellen sie doch einen Körper vor, der schwerfällig, faserig und ausgefranst ist wie der Umhang eines Clowns. Schweifen nun, in dem Bemühen, diesen anderen, nicht greifbaren, nicht bestimmbaren Körper vorzustellen und zu imaginieren, die Augen wieder auf die rechte Buchseite, entdeckt die Leserin plötzlich, dass die Unterschiede gar nicht so wesentlich und grundlegend sind. Denn die anatomische Zeichnung zeigt trotz oder gerade wegen ihres Anspruchs der peniblen Detailgenauigkeit ein faseriges, ausgefranstes Körperbild, dem durchaus groteske oder auch lächerliche Züge zugeschrieben werden können. 3 Das Theater der Gesten Wir haben bislang drei unterschiedliche Zeichensysteme und Medien in Barthes’ Büchern L’empire des signes und roland BARTHES par roland barthes vorgefunden: gedruckter Text, diagrammatische, graphische Skizze oder Bild sowie schließlich Handschrift. Wenden wir uns nun erneut einer Doppelseite aus L’empire des signes zu, und zwar jener Passage, in der es um Tokyo als Stadt ohne Zentrum und ohne Adresse geht (Abb. 2). Rechts unten ist - ohne weiteren Kommentar oder Erläuterung - ein handschriftlich abgedrucktes Vokabular des Rendez-vouz, der Verabredung, zu sehen. Dass dies kommentarlos erfolgt, erscheint insofern Doris Kolesch 304 9 “Fixer un rendez-vous (par gestes, dessins, noms propres) prend sans doute une heure, mais pendant cette heure, pour un message qui se fût aboli en un instant s’il eût été parlé (tout à la fois essentiel et insignifiant), c’est tout le corps de l’autre qui a été connu, goûté, reçu et qui a déployé (sans fin véritable) son propre récit, son propre texte.” (Barthes 1970: 358) 10 Cf. hierzu den Beitrag von Thorsten Gabler in diesem Themenheft. relevant, als die Verbindung von gedrucktem Text, Bild, Handschrift und anderen Materialien oder Verkörperungsformen des Schreibens hier nicht illustrativ zu verstehen ist; der Text erklärt nicht das Bild und umgekehrt. Es handelt sich vielmehr, so möchte ich argumentieren, um eine Serie der Kontiguität, um eine Nachbarschaft der Schreibweisen und Verkörperungsformen, die in ihrer seriellen wie simultanen Verkettung eine endlose Verschiebung des Sinns zu provozieren vermag. L’empire des signes stellt auf diese Weise ein nicht-abendländisches Theater der Gesten vor, das selbst in den einfachsten Alltagsverrichtungen - wie zum Beispiel der Tätigkeit des Essens, der Beschreibung eines Weges oder der Übergabe eines Geschenkes - künstlerische Gesten entdeckt, also symbolische Handlungen, die einen Überschuss, eine Aura an Stimmungen, Gefühlen, Neigungen und Ängsten mit sich führen, welche zeichen- und kommunikationstheoretisch nicht hinreichend erfasst werden können. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass Barthes’ Begriff der Geste Ähnlichkeiten zu Bertolt Brechts Konzeption der Geste und des Gestus aufweist, diesem anderen großen Denker der Theatralität im 20. Jahrhundert (cf. Brecht 1993 a und Brecht 1993 b). Denn beide betonen die Künstlichkeit und kulturelle Gemachtheit von Gesten. Beide unterstreichen darüber hinaus, dass Gesten ausgestellt und bewusst gemacht werden müssen. Auch rücken sie den körperlichen Vollzug, den in einer bestimmten Situation agierenden Körper in den Vordergrund. Eine wesentliche Differenz scheint mir allerdings darin zu liegen, dass Brecht die Geste primär kognitiv als ein Element kritischer Reflexion sieht, während Barthes ihre Gestalt in Raum und Zeit, ihre Körperlichkeit und Plastizität betont. Es geht bei Barthes um die konkrete Bewegung des Körpers, die nichts repräsentiert außer sich selbst. Eine Verabredung treffen (mit Gebärden, Skizzen und Namen) benötigt mit Sicherheit eine ganze Stunde; aber in dieser Stunde - für eine Nachricht, die nur die Sache eines Augenblicks gewesen wäre, wenn man sie gesprochen hätte (und die darin zugleich wesentlich und bedeutungslos gewesen wäre) - hat man den ganzen Körper des anderen erkannt, geschmeckt und aufgenommen, hat dieser (ohne wirkliche Absicht) seine eigene Erzählung, seinen eigenen Text ausgebreitet. (Barthes 1981: 23) 9 Es ist kein Zufall, dass hier die alltägliche Situation, eine Verabredung zu treffen, mit Worten beschrieben wird, die an die Beschreibung eines Sexualaktes erinnern. Wer da ohne Worte kommuniziert, erkennt den ganzen Körper des anderen, schmeckt ihn und nimmt ihn in sich auf. Diese Betonung des sensuellen Körpers, das Hervorheben der Lust und des Begehrens ist für Barthes’ Denken und Schreiben konstitutiv. 10 Ich möchte sogar behaupten, dass man seinen Begriff von Schreiben in seinen späten Werken wie folgt bestimmen könnte: Schreiben ist die körperliche Tätigkeit des Verschiebens und Zusammenführens getrennter, auseinander liegender Elemente und Zeichensysteme, so dass in deren Unterbrechung, deren fragmentarischem Neubeginn und den dadurch entstandenen Zwischenräumen eine erotische Anziehung entsteht. Sowohl beim Schreiben wie auch beim Lesen, Hören und Sehen, die analog zum Schreiben von Barthes als produktive, lustvolle körperliche Aktivitäten konzipiert werden, geht es ihm um die “Bewegung einer Aufnahme, eines Umschließens und Umfangens” (Ette Roland Barthes’ Schriftbilder 305 Abb. 4: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 6 Abb. 5: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 146f. 1998: 412), um ein Aufnehmen und Empfangen des Anderen. Daher die herausgehobene Rolle, die die Verabredung in L’empire des signes spielt, nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene, sondern auch formal, als Verbindung voneinander geschiedener Zeichensysteme, als Zusammenkommen des vermeintlich Nichtzusammengehörigen, als Annäherung des vormals Entfernten. Visualisiert wird dieser Prozess der Annäherung in L’empire des signes durch zwei Fotografien. Die beiden Portraits des japanischen Schauspielers Kazuo Funaki als Samurai (Abb. 4 und 5) rahmen als Beginn und Ende das Buch L’empire des signes. Die leichte Differenz zwischen diesen beiden Bildern einer filmischen Fiktion von Japan, der Spannungsbogen vom undurchdringlichen, unausdeutbar opaken Gesicht des Samurai hin zu jener visuellen Geste des angedeuteten, zugewandten Lächelns vergegenwärtigt im Medium des Bildlichen eben jenen Zwischenraum der Annäherung an eine andere Kultur, welche L’empire des signes schreibend entfaltet. Doris Kolesch 306 11 “Le rendez-vous Ouvrez un guide de voyage: vous y trouverez d’ordinaire un petit lexique, mais ce lexique portera bizarrement sur des choses ennuyeuses et inutiles: la douane, la poste, l’hôtel, le coiffeur, le médecin, les prix. Cependant, qu’est ce que voyager? Rencontrer. Le seul lexique important est celui du rendez-vous.” (Barthes 1970: 360) Abb. 6: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 74 Wenden wir uns daher der Geste des Schreibens zu. Diese Geste verbindet Barthes mit der Handschrift, weniger mit der Druckschrift der Schreibmaschine, die er gleichwohl beständig benutzte. “Die Schreibmaschine”, so Ottmar Ette, “verwandelt den Text in ein abgeschlossenes Produkt, zertrümmert die Produktion, die Spur der Schrift, unter dem unerbittlichen Hämmern ihrer Mechanik” (Ette 1998: 403). Barthes sieht die Schreibmaschine als machine d’écriture eher im Kontext einer surrealistischen écriture automatique, insofern die Maschine sich zwischen schreibendem Körper und Schrift drängt, die von ihr produzierten Tippfehler keinerlei Spur des Körpers mehr gewahren und das von ihnen zum Vorschein gebrachte Unbewusste das sprachlich strukturierte, also Lacan’sche Unbewusste darstellt. Demgegenüber stilisiert Barthes den Stift - ebenso wie den Malerpinsel - zur Verlängerung der Hand und Spur des Körpers (Abb. 6). Schreiben, Kalligraphie und Malen werden austauschbar und undifferenzierbar. Schreiben - wie auch Malen - kommt hier zunächst als körperliche Tätigkeit, als Geste der Hand in den Blick, als Kritzeln und Krakeln, als eine sinnlose, aber zugleich lustvolle Produktion. Die in L’empire des signes abgedruckte Handschrift (Abb. 7) ist Roland Barthes’ eigene Handschrift, die uns auch in roland BARTHES par roland barthes begegnen wird. So durchzieht ein handschriftliches, französisch-japanisches Lexikon der Verabredung in loser Folge die erste Hälfte von L’empire des signes (Abb. 8): Die Verabredung Schlagen Sie einen Reiseführer auf: In der Regel werden Sie darin ein kleines Wörterbuch finden; doch dieses Wörterbuch führt seltsamerweise nur langweilige und nutzlose Dinge auf: Zoll, Post, Hotel, Friseur, Arzt, Preise. Aber was heißt denn reisen? Zusammentreffen. Das einzige wichtige Wörterbuch ist das der Verabredung. (Barthes 1981: 28) 11 Roland Barthes’ Schriftbilder 307 Abb. 7: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: 91 Abb. 8: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 23 Doris Kolesch 308 12 “Je puis […], sans prétendre en rien représenter ou analyser la moindre réalité […], prélever quelque part dans le monde […] un certain nombre de traits […], et de ces traits former délibérément un système. C’est ce système que j’appellerai: le Japon.” (Barthes 1970: 351) Abb. 9: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: Deckblatt Abb. 10: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: Innenseite Die Leserinnen und Leser sind mit einem unauflöslichen Paradox konfrontiert. Zum einen nämlich setzt L’empire des signes mit einer deutlichen Markierung der Irrealität, der Nichtexistenz und Kontingenz der hier beschriebenen Welt ein: Ich kann […] ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen oder zu analysieren […], irgendwo in der Welt […] eine gewisse Anzahl von Zügen […] aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen. (Barthes 1981: 13; Hervorh. im Original) 12 Zugleich aber beglaubigen die handschriftlichen Notizen über die Verabredung und ihr Vokabular zum anderen die Existenz des Schreibenden. Sie suggerieren einen persönlichen Pakt zwischen dem Autor und dem Leser, der konträr zur behaupteten Irrealität der beschriebenen Welt steht. Noch stärker wird diese Paradoxie in roland BARTHES par roland barthes ausgespielt, welches unauflöslich zwischen Biographie, Autobiographie, selbstreflexiver Beschreibung und Fiktion oszilliert. Dabei wird das Buch eingeleitet mit einer Kritzelei von Barthes selbst sowie der folgenden handschriftlich notierten Leseanweisung auf der Innenseite des Buchcovers (Abb. 9 und 10): “All dies muß als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson Roland Barthes’ Schriftbilder 309 13 “Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman.” (Barthes 1975: 577) 14 Cf. zu diesem Punkt abermals den Beitrag von Thorsten Gabler im vorliegenden Themenheft. gesagt wird.” (Barthes 1978: 5) 13 Diese Leseanweisung ist natürlich paradox: Sie gibt der Leserin zu verstehen, das nun Folgende sei als Roman, mithin als Fiktion zu lesen. Zugleich aber suggeriert gerade die Handschrift eine vermeintliche Authentizität des Gesagten, bindet die Handschrift das Geschriebene zurück an einen konkreten historischen Körper, der in Raum und Zeit existiert oder zumindest existiert hat. Erzählte Figur und erzählende Figur treten hier auseinander - eine durchaus im Sinne Derridas zu verstehende différance, die vom französischen Originaltitel wunderbar vorgeführt wird: Denn der erste, beschriebene “roland BARTHES” ist sowohl typographisch wie auch vom Zeitraum seiner Lokalisierung und Existenz nicht identisch, nicht derselbe wie jener “roland barthes”, der hier schreibt. 14 Mit diesem Auseinandertreten zwischen beschriebenem und schreibendem Roland Barthes ebenso wie der Aufspaltung in ‘ich’ und ‘er’ zeigen uns die Bücher an, dass es in keiner Weise um Persönliches, um bloß Subjektives geht. Ein geläufiges Verdikt gegen die poststrukturalistische Dekonstruktion geht bekanntermaßen davon aus, dass diese auf ein idiosynkratisches Spiel der Verweisung, der persönlichen Assoziationen und subjektiven Bezugnahmen hinauslaufe. Genau das Gegenteil aber ist im Falle von Roland Barthes am Werk: Denn die Handschrift gilt ihm gerade nicht als Index der Persönlichkeit, als die sie ja gerne, insbesondere in Form der handschriftlichen Unterschrift, firmiert. So zeigt uns roland BARTHES par roland barthes, dass jener schwer greifbare Roland Barthes mindestens drei Handschriften besitzt und dass es eben die Ideologie, mit Barthes könnten wir auch sagen: die Mythologie der westlichen Konzeption von Handschrift ist, diese als eine Codierung vermeintlich vordiskursiver Dimensionen von Persönlichkeit und Individualität aufzufassen. Man betrachte vor diesem Hintergrund folgende drei Handschriften, die Barthes zufolge im Bett (“au lit”), draußen (“dehors”) sowie am Schreibtisch (“à une table de travail”) entstanden sind - und es sei nur am Rande vermerkt, dass die Karteikarte über die “Déesse Homo”, also die Göttin Homosexualität, eben nicht am vermeintlichen Ort der Sexualität, dem Bett, entstand, sondern am paradigmatischen Platz der wollüstigen Verschiebung des Sinns, dem Schreibtisch (Abb. 11). Doris Kolesch 310 Abb. 11: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: 79 Roland Barthes’ Schriftbilder 311 15 “La masse bruissante d’une langue inconnue constitue une protection délicieuse, enveloppe l’étranger (pour peu que le pays ne lui soit pas hostile) d’une pellicule sonore qui arrête à ses oreilles toutes les aliénations de la langue maternelle: l’origine, régionale et sociale, de qui la parle, son degré de culture, d’intelligence, de goût, l’image à travers laquelle il se constitue comme personne et qu’il vous demande de reconnaître. Aussi, à l’étranger, quel repos! J’y suis protégé contre la bêtise, la vulgarité, la vanité, la mondanité, la nationalité, la normalité. La langue inconnue, dont je saisis pourtant la respiration, l’aération émotive, en un mot la pure signifiance, forme autour de moi, au fur et à mesure que je me déplace, un léger vertige, m’entraîne dans son vide artificiel, qui ne s’accomplit que pour moi: je vis dans l’interstice, débarrassé de tout sens plein.” (Barthes 1970: 355) 4 Barthes’ phonoikonographisches Universum Kritiker könnten nach dem bislang Gesagten einwenden: Aber wo übersteigt denn das bislang Vorgestellte den Begriff bzw. das Konzept des Schriftbildlichen, wo überschreitet es die Verquickung von Text und Bild, von Sagen und Zeigen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Indem eine Dimension des Klanglich-Musikalischen eingeführt wird durch die Vorstellung von der Sprache als einer tönenden Haut, einem Klanggewebe und einer Klanglandschaft, welche dem Ohr schmeichelt und es verführt. Auch hier ist also die Negation, die Verschiebung, die Abwesenheit von Sinn Voraussetzung für einen ebenso musikalisierten wie erotisierten Sprachbegriff: Die rauschende Masse einer unbekannten Sprache bildet eine delikate Abschirmung; sie hüllt den Fremden (sofern das Land ihm nicht feindselig gegenübertritt) in eine Haut von Tönen, die alle Entfremdung der Muttersprache vor seinen Ohren haltmachen läßt: die regionale oder soziale Herkunft dessen, der da spricht; das ihm eigene Maß an Kultur, Intelligenz und Geschmack; das Bild, durch das er sich als Person konstituiert und das er von anderen erkannt wissen will. Und dann: Welche Ruhe im Ausland! Dort bin ich sicher vor Dummheit, Gewöhnlichkeit, Eitelkeit und weltmännischem Gehabe, vor Nationalität und Normalität. Die unbekannte Sprache, deren Atem, deren erregenden Hauch, mit einem Wort, deren reine Bedeutung ich dennoch wahrnehme, schafft um mich her, im Maße wie ich mich fortbewege, einen leichten Taumel und zieht mich in ihre künstliche Leere hinein, die allein für mich existiert: Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist. (Barthes 1981: 22) 15 Barthes betont hier die körperliche Aktivität des Rezipierenden, der nicht bloß passiv empfängt, sondern aktiv gestaltet und dessen Wahrnehmung zugleich eine Produktion darstellt, nämlich die Kombination, Neugruppierung, Zerlegung und Neuordnung des sich den Sinnen darbietenden Materials. Diese Akzentuierung der Tätigkeiten des Lesens, Sehens und Hörens darf nicht einfach als Ausdruck einer egomanischen Ichbezogenheit des Autors missverstanden werden. Es geht nicht darum, ein selbstverliebtes und sich als Nabel der Welt gerierendes Subjekt positiv zu sanktionieren. Barthes versucht vielmehr, jenen prekären Bereich zu thematisieren und zum Gegenstand seines Denkens und Schreibens zu machen, der von den etablierten Wissensformen und Disziplinen entweder verschmäht und übergangen oder durch simplifizierende Dualismen verleugnet wird. Jener Raum, in dem sich das Subjekt in der Reibung mit den sinnlich gegebenen Materialien überhaupt erst konstituiert und in dem gleichsam die Brücke zwischen den ansonsten so wohlgeschiedenen Kategorien der Sinnlichkeit einerseits und es Intelligiblen, also des qua Intellekt Erkennbaren, andererseits geschlagen wird. Doris Kolesch 312 16 “Par rapport aux systèmes qui l’entourent, qu’est-il? Plutôt une chambre d’échos: il reproduit mal les pensées, il suit les mots; il rend visite, c’est-à-dire hommage, aux vocabulaires, il invoque les notions, il les répète sous un nom; il se sert de ce nom comme d’un emblème (pratiquant ainsi une sorte d’idéographie philosophique) et cet emblème le dispense d’approfondir le système dont il est le signifiant […]. Venu de la psychanalyse et semblant y rester, ‘transfert’, cependant, quitte allègrement la situation œdipéenne. Lacanien, ‘imaginaire’ s’étend jusqu’aux confins de l’‘amour-propre’ classique. La ‘mauvaise foi’ sort du système sartrien pour rejoindre la critique mythologique. ‘Bourgeois’ reçoit toute la charge marxiste, mais déborde sans cesse vers l’esthétique et l’éthique. De la sorte, sans doute, les mots se transportent, les systèmes communiquent, la modernité est essayée (comme on essaye tous les boutons d’un poste de radio dont on ne connaît pas le maniement), mais l’intertexte qui est ainsi créé est à la lettre superficiel: on adhère libéralement: le nom (philosophique, psychanalytique, politique, scientifique) garde avec son système d’origine un cordon qui n’est pas coupé mais qui reste: tenace et flottant.” (Barthes 1975: 652f.; Hervorh. im Original) Jenen sprachlich nur schwer zu fassenden Bereich des sinnlich wahrnehmbaren Intelligiblen umkreisen Barthes’ Überlegungen. Und ein weiteres Fragment aus roland BARTHES par roland barthes über die Echokammer bzw. den “Widerhallraum” (“La chambre d’échos”) unterstreicht die Relevanz klanglicher, musikalischer und stimmlicher Dimensionen für dieses Unterfangen: Was ist er [der Autor; DK] im Verhältnis zu den Systemen, die ihn umgeben? Eher ein Widerhallraum: er gibt schlecht Gedanken wieder, er folgt den Worten; er stattet Besuch ab, d.h. erweist seine Ehre den Vokabularien, er ruft Begriffe an und wiederholt sie unter einem Namen; er bedient sich dieses Namens wie eines Sinnbilds (und praktiziert so eine Art philosophische Ideographie), und dieses Emblem entbindet ihn davon, das System vertiefen zu müssen, dessen Signifikant es ist […]. Aus der Psychoanalyse kommend und dort, wie es scheint, verbleibend, verläßt die “Übertragung” unbekümmert die ödipale Situation. Das Lacansche “Imaginäre” reicht bis hin zu der klassischen “Eigenliebe”. Die “Unredlichkeit” kommt aus dem Sartreschen System und geht zur mythologischen Kritik über. “Bourgeois” erhält das ganze marxistische Gewicht, geht jedoch immerfort zum Ästhetischen und zum Ethischen über. Auf diese Weise werden sicherlich die Wörter hin- und herbewegt, die Systeme kommunizieren miteinander, die Modernität wird ausprobiert (so wie man alle Knöpfe eines Radios ausprobiert, dessen Bedienung man nicht kennt), doch der Zwischen-Text, der hier geschaffen wird, ist buchstäblich oberflächlich: es wird liberal zugestimmt: der (philosophische, psychoanalytische, politische, wissenschaftliche) Name behält mit seinem Herkunftssystem ein Bindeglied, das nicht abgeschnitten wird, sondern verbleibt: hartnäckig und auf- und abwiegend. (Barthes 1978: 81; Hervorh. im Original) 16 Hier wird die moderne Schreibweise nicht nur intertextuell bestimmt, sondern vielmehr akustisch-auditiv und polyphon als “eine Musik von Figuren, Metaphern, Wort-Gedanken” (ebd.: 158), wie Barthes an anderer Stelle schreibt. Der Rückgriff auf die Radio-Metapher geschieht dabei keineswegs zufällig, sondern bringt einen weiteren, historisch signifikanten Medienwechsel ins Spiel: Der Autor probiert und kombiniert Wörter unterschiedlichster Wissensbereiche, Denksysteme und Diskurse vergleichbar einem Radiohörer, der durch Drehen am Frequenzknopf (eines analogen Radios) Inseln von Sinn im zusammenhanglosen Rauschen der Töne erzeugt und voneinander getrennte Kanäle des Sagens und Zeigens miteinander verbindet. Roland Barthes’ Schriftbilder 313 17 “Eu égard aux sons de la langue, l’écriture à haute voix n’est pas phonologique, mais phonétique; son objectif n’est pas la clarté des messages, le théâtre des émotions; ce qu’elle cherche (dans une perspective de jouissance), ce sont les incidents pulsionnels, c’est le langage tapissé de peau, un texte où l’on puisse entendre le grain du gosier, la patine des consonnes, la volupté des voyelles, toute une stéréophonie de la chair profonde: l’articulation du corps, de la langue, non celle du sens, du langage.” (Barthes 1973: 261; Hervorh. im Original) 18 “Il suffit en effet que le cinéma prenne de très près le son de la parole […] et fasse entendre dans leur matérialité, dans leur sensualité, le souffle, la rocaille, la pulpe des lèvres, toute une présence du museau humain […], pour qu’il réussisse à déporter le signifié très loin et à jeter, pour ainsi dire, le corps anonyme de l’acteur dans mon oreille: ça granule, ça grésille, ça caresse, ça râpe, ça coupe: ça jouit.” (Barthes 1973: 261; Hervorh. im Original) Unter dem Lemma “Stimme(n)”, entwirft Barthes entsprechend in Le plaisir du texte eine Ästhetik der Textlust, die Schreiben und Lesen sowie Sprechen und Hören zusammenführt, und zwar in der utopischen Praxis des lauten, vokalen Schreibens: Bezüglich der Töne der Sprache ist das laute Schreiben nicht phonologisch, sondern phonetisch; sein Ziel ist nicht die Klarheit der messages, das Schauspiel der Emotionen; es sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Triebregungen, die mit Haut bedeckte Sprache, einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache. (Barthes 1996: 97f.; Hervorh. im Original) 17 Es gehört zu den permanenten Sinnverschiebungen, die Barthes vornimmt, dass jenes laute Schreiben, wenn überhaupt, in einem Medium realisiert scheint, welches in meiner bisherigen Reise durch Barthes’ phonoikonographisches Universum noch ausgespart blieb, nämlich der Film: Der Film braucht nur den Ton der Sprache von ganz nah aufzunehmen […] und in ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit den Atem, die Rauheit, das Fleisch der Lippen, die ganze Präsenz des menschlichen Maules hören zu lassen […], und schon gelingt es ihm, das Signifikat ganz weit weg zu rücken und den anonymen Körper des Schauspielers sozusagen in mein Ohr zu werfen: das knirscht, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: Wollust. (Barthes 1996: 98; Hervorh. im Original) 18 5 Zwischen Text, Bild und Klang Ich habe zu zeigen versucht, dass es Barthes in seinem Entwurf des Schreibens wie des Lesens um die Suche und Gestaltung von Zwischenräumen geht - Räumen zwischen Text und Bild, zwischen Bild und Text sowie zwischen Text, Bild und Klang. Dazu abschließend drei Beispiele: Durch seine konkrete Gestalt, u.a. die regelmäßige Unregelmäßigkeit der Handschrift, die Einteilung in Absätze, die drei Kreuzchen, welche ein Spatium markieren und füllen, die nachträglich wie Sprechblasen eingefügten Korrekturen, Durchstreichungen und Überschreibungen, wie auch durch die Beschriftung “Korrekturen? Eher um der Lust willen, den Text zu bestirnen” (Barthes 1978: 111) - “Corrections? Plutôt pour le plaisir d’étoiler le texte” (Barthes 1975: 676) - wird der Text in Abb. 12 zum Bild. Die abgedruckte handschriftliche Notiz stellt eine Vorform oder Version des Eintrags “Le goût des algorithmes” dar, welcher in seiner Endfassung auf der gegenüberliegenden Buchseite in Druckschrift präsentiert wird. Doch die handschriftliche Notiz dient nicht dazu, über die Textgenese aufzuklären oder Varianten mitzuführen, sondern um eine andere Verkörperungsform geschriebener Sprache, ein andere visuelle Erscheinungsform und Materialisierung von Doris Kolesch 314 Abb. 12: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: 105 Roland Barthes’ Schriftbilder 315 Abb. 13: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 14f. Sprache in das normalerweise dem gedruckten Text vorbehaltene Buch einzuführen. In der poetologischen Tradition von Stéphane Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard wird der zum Bild geronnene Text so zur Konstellation, nicht zum Medium des Sinns. Doch nicht nur werden Texte zum Bild und überlagern sich nach dem Vorbild der Kalligraphie malerische, visuelle, handschriftliche, sprachlich-linguistische und materielle Dimensionen in Barthes’ Idealvorstellung eines Textes (Abb. 13), auch Fotografien sollen und müssen, so Barthes, gelesen werden. Ihre Posen der ‘Natürlichkeit’ sind Inszenierungen, zugleich geben sie, im Zeigen, etwas zu lesen, nämlich das ihnen zugrunde liegende System der Klassifikation, der Ordnung und Bewertung. So führen die beiden hier abgedruckten Portraitfotos von Roland Barthes und dem Schauspieler Teturo Tanba (Abb. 14) eine Japanisierung des Europäers und eine Amerikanisierung, eine ‘Anthony-Perkinisierung’ des Japaners vor. Auch das Gesicht also, wie Stimme und Handschrift, wird bei Barthes zum kulturell geformten Zitat - es ist nichts ‘Ursprüngliches’, nichts ,biologisch einfach Gegebenes’, sondern Resultat historischer, kultureller und medialer Darstellungswie Wahrnehmungsprozesse. Doris Kolesch 316 19 “Le ‘grain’, c’est le corps dans la voix qui chante, dans la main qui écrit, dans le membre qui exécute. Si je perçois le ‘grain’ d’une musique et si j’attribue à ce ‘grain’ une valeur théorique […], je ne puis que me refaire une nouvelle table d’évaluation, individuelle sans doute, puisque je suis décidé à écouter mon rapport au corps de celui ou de celle qui chante ou qui joue et que ce rapport est érotique, mais nullement ‘subjective’ (ce n’est Abb. 14: Entnommen aus: Roland Barthes 1970: L’empire des signes, Genève: Editions d’Art Albert Skira S.A.: 120f. Abschließend sei daher ein letztes, die vorgenannten Beispiele übergreifendes Beispiel für Barthes’ Phonoikonographie genannt: seine Konzeption des grain de la voix, des Korn der Stimme: Die “Rauheit” ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil. Wenn ich die “Rauheit” einer Musik wahrnehme und dieser “Rauheit” einen theoretischen Wert beimesse […], so kann ich nicht umhin, mir eine neue, vermutlich individuelle Bewertungstabelle zu erstellen, da ich entschlossen bin, meinen Bezug zum Körper des oder der Singenden oder Musizierenden zu hören und dieser Bezug erotisch ist, aber keineswegs “subjektiv” (nicht das psychologische “Subjekt” in mir hört; die Lust, die es sich erhofft, verhilft ihm nicht dazu, sich zu festigen - sich auszudrücken - , sondern, im Gegenteil, zum Selbstverlust). (Barthes 1990 b: 277) 19 Roland Barthes’ Schriftbilder 317 pas en moi le ‘sujet’ psychologique qui écoute; la jouissance qu’il espère ne va pas le renforcer - l’exprimer -, mais au contraire le perdre).” (Barthes 1972: 155) Abb. 15: Entnommen aus: Roland Barthes 1975: roland BARTHES par roland barthes, Paris: Éditions du Seuil: 61 Doris Kolesch 318 Mit dieser emphatischen Betonung der sinnlich-erotischen Momente des Sprechens, Singens, Schreibens, Lesens und Hörens korrespondiert ein medial vermeintlich konträres, da ‘stummes’ letztes Bild, welches in roland BARTHES par roland barthes neben Reflexionen des Autors über sein Klavierspiel und sein Schreiben abgedruckt ist (Abb. 15). Es handelt sich um eine Seite einer handschriftlichen Musikpartitur, welche Barthes zu einem Gedicht von Charles d’Orléans komponiert hat. Diese Gedichtvertonung ist mit dem Untertitel versehen: “Jouissance graphique: avant la peinture, la musique” (Barthes 1975: 636) - “Graphische Wollust: vor der Malerei die Musik” (Barthes 1978: 63), womit erneut Schreiben, Malen und Musizieren untrennbar miteinander verbunden sind. Bibliographie Barthes, Roland 1970: L’empire des signes, in: ders. 2002: Œuvres complètes, Tome III: 1968-1971, Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil: 347-444 Barthes, Roland 1972: “Le grain de la voix”, in: ders. 2002: Œuvres complètes, Tome IV: 1972-1976, Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil: 148-156 Barthes, Roland 1973: Le plaisir du texte, in: ders. 2002: Œuvres complètes, Tome IV: 1972-1976, Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil: 217-264 Barthes, Roland 1975: Roland Barthes par Roland Barthes, in: ders. 2002: Œuvres complètes, Tome IV: 1972-1976, Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil: 575-771 Barthes, Roland 1978: Über mich selbst, aus dem Französischen von Jürgen Hoch, München: Matthes & Seitz Verlag Barthes, Roland 1979: “Cy Twombly ou ‘Non multa sed multum’”, in: ders. 2002: Œuvres complètes, Tome V: 1977-1980, Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Paris: Éditions du Seuil: 703-720 Barthes, Roland 1981: Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag Barthes, Roland 1990 a: “Cy Twombly oder Non multa sed multum”, in: ders. 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag: 165-183 Barthes, Roland 1990 b: “Die Rauheit der Stimme”, in: ders. 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag: 269-278 Barthes, Roland 8 1996: Die Lust am Text, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag Brecht, Bertolt 1993 a: “Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt”, in: ders. 1993: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, herausgegeben von Werner Hecht u.a., Schriften 22, Berlin / Weimar / Frankfurt/ M.: Aufbau und Suhrkamp Verlag: 641-659 Brecht, Bertolt 1993 b: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, herausgegeben von Werner Hecht u.a., Schriften 23, Berlin / Weimar / Frankfurt/ M.: Aufbau und Suhrkamp Verlag Ette, Ottmar 1998: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Verlag Krämer, Sybille 2003: “‘Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift”, in: dies. & Horst Bredekamp (eds.) 2003: Bild - Schrift - Zahl, München: Fink: 157-176 Krämer, Sybille & Eva Cancik-Kirschbaum, Rainer Totzke (eds.) 2012: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie Verlag 1 Der Ausdruck ‘Text’ meint hier jeglichen dekodierbaren Gegenstand, sei es eine Buchseite, eine Körpergeste, eine bestimmte Art von Kleidung, einen gutturalen Gesang, usw. Wahrnehmung als (Preis-)Gabe Das Bild und die Ethik des Blicks bei Roland Barthes David Magnus (Basel/ Berlin) The aim of this paper is to show that the reading of what Barthes called the punctum in a photograph is intrinsically related to both the material aspect of the signs and the role of the body in perception and that the answer demanded by the ‘stab’ caused by the punctum constitutes the ethic dimension of the gaze at the photographic portrait. In order to reveal the perceptual relevance of sign texture and of the body in Barthes’ semiological analyses three interconnected verbs (writing, reading and looking) are scrutinized. A common characteristic to these forms of producing sense is revealed as a result of this examination: All three verbs represent types of medial performance in which the body is ‘seized’ by its surrounding world but approaches it at the same time, impregnating it with signification. Still the punctum is an exception, since it can not be approached, it rather ‘perforates’ the gaze. The wounded body is forced to react to the injury, it is called on to expose itself. This exposition provoked by the very perception of the punctum can be understood as a gift of the body. The ethical dimension of the gaze does not lie in any specific kind of answer to the photographic portrait, but in the need for an answer at all. 1 Einführung Roland Barthes’ Werk kann als ein Kompendium von ‘Welt-Lektüren’ betrachtet werden. Die größte Aufmerksamkeit seiner Analysen gilt dabei einer problematischen Seite der Zeichen, nämlich der je spezifischen Form ihrer materiellen Präsenz und der damit verbundenen Frage nach der Möglichkeit ‘rein aisthetischer’ Erscheinungen von Sinn. Barthes’ Überlegungen zu den medialen Bedingungen des Schreibens, des Lesens und des Blickens sind daher stets von einem prinzipiellen Interesse für die Sinnlichkeit des Zeichens durchtränkt, für die Textur des Signifikanten, die dem ihm jeweils zugewiesenen Signifikat vorausgeht. Womit man es allererst zu tun hat, ist also eine wahrnehmbare Anordnung, deren Sinn sich nicht unmittelbar ergründen lässt, deren materielle Widerstände sich teilweise gegen eine Signifikation sperren. Die Sperrigkeit solcher Prozesse der Signifikation beruht in einer ‘epidermischen Anhäufung’ von Sinn, in einem sinnlich nicht zu bewältigenden semantischen Überschuss der Zeichen, welcher in der Wahrnehmung ihrer Außenseite seinen Ausgang nimmt. Der Zugang zu dieser ‘Haut’ kann nach Barthes nur durch die Einbeziehung des Leibes in jenen Prozess erfolgen. Dieser fungiert als Zentrum medialer Aktivität und ermöglicht, den jeweils gelesenen Text 1 mit Sinn zu füllen. Die Lektüre impliziert eine Bewegung vom Leib hin zur Textur. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen David Magnus 320 2 Gegen diese Auffassung von Schrift wenden sich neben Barthes auch Jacques Derrida und zahlreiche Ansätze der zeitgenössischen Schrifttheorie (cf. Derrida 1967: 24f. und Derrida 1983: 25 sowie Koch/ Krämer 1997: 10ff. und Krämer 2005: 24ff.). Beim Schreiben, Lesen und Blicken handelt es sich also um besondere Formen des ‘medialen Agierens’. Von seinem ausgeprägten Interesse für den Aspekt der Signifikanz getrieben, wendet sich Barthes in seiner ‘Spätsemiologie’ dem Medium der Fotografie zu und stößt dabei auf eine wahrnehmungstheoretische Konstellation, bei der das Problem der Signifikation verschärft auftritt. Jenseits der allgemeinen Aufmerksamkeit, die er den meisten Bildern schenkt, entdeckt er in manchen fotografischen Porträts ein Detail, das seinen Blick ‘besticht’. Das vage Durchblättern (studium) wird von der ereignishaften Erscheinung des punctum unterbrochen. Letzteres kann, im Gegensatz zum studium, nicht aktiv angegangen werden. Vielmehr stellt es den Leib vor den Zwang, eine Antwort auf den Stich zu geben, impliziert also eine Gabe des eigenen Leibes, ein ‘mediales Reagieren’. Dieser Zwang zur Reaktion bildet den ethischen Zug des Blicks vor dem fotografischem Bild (vgl. hierzu unten Abschnitt 4). Um diesen Aspekt der Wahrnehmung anhand von Barthes’ Reflexionen über Fotografie theoretisch konturieren zu können, sollen zunächst die Voraussetzungen und Konsequenzen des ‘medialen Agierens’ beim Schreiben, Lesen und Blicken untersucht werden, wobei der Beziehung zwischen der Leiblichkeit des Subjekts und der Materialität der Zeichen ein besonderer Stellenwert innerhalb der Argumentation zukommen wird. Eine nähere Beschäftigung mit den zwei Elementen, welche die Lektüre des fotografischen Porträts bestimmen, wird schließlich eine Differenzierung zwischen medialer Aktion und medialer Reaktion ermöglichen. Letztere impliziert eine unausweichliche Antwort, die für die Herausarbeitung des ethischen Aspekts der Wahrnehmung des punctum fruchtbar gemacht werden soll. 2 Mediales Agieren 2.1 Schreiben Folgt man einer Grundüberzeugung Barthes’, so gibt es in der Sprache “nie etwas Wildes”, vielmehr “ist alles codiert” (Barthes 1978: 381). Die Schrift gilt dabei lange Zeit als die materiell fixierte Realisierung dieses Codes. 2 Doch Barthes wendet sich gegen die Wissenschaften, die in der Schrift “nur die (verspätete) Folge der Rede” (Barthes 2006 a: 27) sehen, betrachtet beide Medien in ihrer irreduziblen Differenz und weist darauf hin, dass “Herkunft und Zukunft des Buchstabens […] unabhängig vom Phonem [sind]” (Barthes 1970 a: 106). Die Schrift als Aufzeichnung mündlicher Rede und somit als reines Kommunikationsmedium aufzufassen, bildet für Barthes “ein[en] Übelstand unseres Ethnozentrismus, im Banne dessen wir der Schrift praktische Funktionen […] zuschreiben und die Symbolik verpönen, die das geschriebene Zeichen beflügelt” (Barthes 2006 a: S. 31f.). Diese für gewöhnlich abgeblendete Symbolik entzieht sich einem referentiellen Code, der als normative Kraft dem ‘wahren Sinn’ eines Satzes seinen syntaktischen Rückhalt zu geben scheint. In diesem Entzug lässt sich die ‘Mimik des totalisierenden Sinns’ aufdecken und die Gewichtung der unterschiedlichen Ebenen der semiosis neu ordnen: Der Kausalität von syntaktischer Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 321 3 Barthes scheint klare Vorstellungen zu haben, wie eine solche Souveränität erreicht werden könnte; die Strategie würde darin bestehen, “den Signifikanten näher[zu]bringen, ihn zum Riesen [zu] machen, zu einem Monster an Präsenz, das Signifikat bis zur Unmerklichkeit [zu] verringern […]” (Barthes 1973 a: 232). 4 In dieser Hinsicht versucht Barthes mit dem linguistischen Begriff der Diathese zu zeigen, wie das schreibende Subjekt beim Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird (cf. Barthes 1970 b: 25f.). Struktur und Bedeutung geht die Beziehung von Zeichen und Materialität voran. Jedes Zeichen impliziert aisthetische Präsenz, appelliert somit an die Sinne und ist daher kein Produkt “der Kommunikation, sondern der Signifikanz” (Barthes 1970 a: 106). In diesem Zusammenhang plädiert Barthes für eine Freiheit des Signifikanten, für seine Souveränität (cf. Barthes 2006 a: 79). 3 Die Schrift ist dabei fundamental mit dem Leib verbunden, ihm hat sie ihre Unabhängigkeit zu verdanken, denn die Schriftzeichen müssen sich als Signifikanten erst konstituieren und dies kann nur durch einen “Rückgriff auf die Hand” gelingen, weshalb diese “immer auf Seiten der Gebärde” (Barthes 2006 a: 171) stehen. Barthes’ Aufmerksamkeit gilt also dem handwerklichen Aspekt von Schrift, der Leiblichkeit des Schriftzugs als seiner körperlichen Eingravierung. Als bevorzugter Untersuchungsgegenstand rücken bei ihm daher unterschiedliche Formen der Handschrift ins Zentrum, welche die sinnliche Komponente des Mediums mit besonderer Virulenz zum Ausdruck bringen (cf. Barthes 1970, 1973 b und 1979). Der Buchstabe behält in der Schreibgeste stets seine zwei Gesichter: Einerseits fungiert er als “bleierne[s] Korsett”, das “die äußerste Zensur” bedeutet; andererseits markiert er jedoch “den Ausgangspunkt für eine Bilderwelt” und zieht damit “die äußerste Lust” (Barthes 1970 a: 105) nach sich. Wie können nun beide Gesichter im selben Medium koexistieren? In welcher Beziehung stehen beide zueinander? Diesen Fragen nachzugehen, setzt ein Umdenken in der Betrachtung von Schreiben als einem intransitiven Verb und von der Figur des schreibenden Subjekts als dem Urheber des Schriftzugs voraus: Was und ‘wer’ wird geschrieben? 4 Barthes’ Reflexionen über den leiblichen Aspekt von Schrift gehen mit einer Kritik der auctoritas scriptoris einher, welche die Vorgängigkeit und Sonderstellung des Verfassers als Schöpfer des Textes gegenüber der passiven Rolle des Lesers in Frage stellt. Der Schriftzug wird also nicht von einem vor dem Schreibakt existierenden Subjekt vollzogen, dieses konstituiert sich vielmehr während des Schreibens selbst. Es gibt folglich kein Sein vor dem Text, sondern “jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben” (Barthes 1968: 60; Hervorh. im Original). Die Sinnlichkeit des Zeichens, seine materielle ‘Präsenz’, impliziert zugleich ein materielles ‘Präsens’, in dem sich die Schreibgeste vollzieht. Im Präsens des Schreibaktes erfolgt die aisthetische Präsentation des Zeichens, wobei es beim Schreiben gilt, “alles zu entwirren, aber nichts zu entziffern”, denn “das Schreiben setzt fortwährend Sinn, aber nur, um ihn zu verflüchtigen” (Barthes 1968: 62; Hervorh. im Original). Die hier beschriebene Sinnverschiebung geht auf die von Barthes eingeführte Figur des ‘modernen Schreibers’ zurück (cf. Barthes 1968: 60), der in seiner Tätigkeit stets “kontratheologisch” vorgeht, handelt es sich beim Schreiben schließlich um “die Weigerung, den Sinn festzulegen, gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen, der Vernunft, der Wissenschaft und des Gesetzes” (Barthes 1968: 60). Mit der Unmöglichkeit einer endgültigen Bestimmung von Sinn geht eine Destabilisierung des klassischen Schreibsubjektes einher oder, mit anderen Worten, seine grundlegende ‘Identitätskrise’. Gewiss kommt der Zeichensetzung des ‘Schrift-Stellers’ eine entscheidende Rolle in der Semiose zu. Doch die Zeichenanordnungen täuschen die Einheitlichkeit der Botschaft - überhaupt die Existenz ‘einer’ Botschaft - nur vor. Barthes denunziert hiermit das “Autori- David Magnus 322 5 Nach Barthes kann sich nichts der Zuweisung von Sinn entziehen: “[D]ie Teller, von denen wir essen, besitzen gleichfalls immer einen Sinn, und wenn sie keinen haben oder dies zumindest vortäuschen, ja dann haben sie letztendlich den Sinn, keinerlei Sinn zu haben. Folglich entkommt kein Objekt dem Sinn” (Barthes 1967: 190). tätsmotiv”, nach dem es herauszufinden gilt, “was der Autor sagen wollte, und mitnichten, was der Leser versteht” (Barthes 1970 c: 30; Hervorh. im Original). Der Text stellt bei der Lektüre einen Ort des Dialogs dar, der nicht erst dann stattfindet, wenn die Organe eines Urhebers auskultiert werden, sondern indem man an der materiellen Realisierung der Zeichen - am Schriftbild - die eigene Zugangsweise, den eigenen Leib zu ergründen versucht. Im Kontext dieser Erkundung wird der Leser also mit seinen Bedürfnissen, mit seinem ‘semiotischen Trieb’ und schließlich mit seiner Sprache konfrontiert, denn “der Diskurs spricht für die Interessen des Lesers”, woran man erkennt, “daß das Schreiben nicht die Kommunikation einer message ist, die vom Autor ihren Ausgang nähme und zum Leser ginge; sie ist eigentümlich eben gerade die Stimme des Lesens: im Text spricht allein der Leser” (Barthes 1987: 152; Hervorh. im Original). An der widerständigen Natur des Geschriebenen, an der Materialität des Textes arbeitet sich also letztlich der Rezipient - genauer gesagt: der Leser-Schreiber - ab. Wenn die Schrift, wie Barthes es formuliert, “ein feiner Haarriss” ist, wenn es beim Schreiben darum geht, “eine plane Materie zu zerteilen, zu durchfurchen, zu unterbrechen” (Barthes 2006 a: 99; Hervorh. im Original), dann muss der Text vom Leser geschrieben werden. 2.2 Lesen In der Figur des Leser-Schreibers treffen zwei mediale Pole zusammen, für deren Annäherung die gesamte Semiologie Barthes’ steht, denn “der ‘Text’ verlangt, daß man versucht, die Distanz zwischen Schreiben und Lesen aufzuheben (oder zumindest zu verringern)” (Barthes 1971: 70). Trotz dieses symbiotischen Verhältnisses von Schreiben und Lesen nimmt letzteres bei Barthes eine besondere Stellung ein. Der Mensch befindet sich in einem fortwährenden Lektüreprozess, bei dem allen ihm begegnenden Gegenständen und Verhaltensweisen ein Sinn ‘aufgetragen’ wird 5 : “Der moderne Mensch, der Stadtmensch, liest ununterbrochen” (Barthes 1964 a: 165). Dabei kommt physiologischen Aspekten des Lesens eine besondere Bedeutung zu, etwa im Falle der Lesegeschwindigkeit, da sich die Anordnung der Zeichen oft “wie ein blockiertes Metronom” verhält; “lockern Sie das Korsett, explodiert der Sinn” (Barthes 2003: 18). Die von Barthes immer wieder hervorgehobene Rolle des Körpers im Leseakt deutet jedoch nicht auf einen leiblichen Monismus hin. Jede Lektüre wird in einem eingegrenzten Feld vollzogen, sie unterliegt einem Gesetz, dem sich der Leser unterzuordnen hat. Doch beide, das Feld der Lektüre und seine Gesetze, bleiben von der jeweils eigentümlichen Annäherung an den Text, die sich der ‘Gewalt des Autors’ entzieht, nicht unberührt. Sie werden stets neu definiert: Die denkbar subjektivste Lektüre ist immer nur ein von bestimmten Regeln aus betriebenes Spiel. Woher kommen diese Regeln? Bestimmt nicht vom Autor […]. Lesen heißt, auf den Appell der Zeichen des Textes und aller Sprachen, die sich durch ihn hindurchziehen und gleichsam die schillernde Tiefe der Sätze ergeben, unseren Körper (man weiß seit der Psychoanalyse, daß dieser Körper unser Gedächtnis und unser Bewußtsein weit übersteigt) arbeiten zu lassen. (Barthes 1970 c: 31) Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 323 6 Sarah Kofman beschreibt eine ähnliche Erfahrung in ihren Derrida-Lektüren: “[J]ede Lektüre ist Noch-einmal- Schreiben, Supplementarität, Sollizitation des gelesenen Textes. Wer sich zurückhält, etwas von sich selbst einzubringen, wer sich weigert, den Text zu befruchten, zu beackern, der liest nicht” (Kofman 2000: 60). 7 Bei Barthes wird der Begriff Relevanz noch sehr allgemein verwendet. Dieser wird bei Sperber und Wilson im Rahmen ihrer Relevanztheorie präziser konturiert (cf. Sperber/ Wilson 1986). Jede Lektüre impliziert eine Neubestimmung des Rahmens, in dem sie selbst vollzogen wird. Diese Neubestimmung kann nur durch die Einbeziehung des Leibes geschehen, der sich dem Spiel des Lesens hingibt (man muss ihn lediglich ‘arbeiten lassen’). Diesem Spiel bleibt nur derjenige Leser fern, der “den Text nicht hervorbringen, nicht auf ihm spielen, ihn nicht zerlegen, ihn nicht loswerden kann” (Barthes 1971: 71; Hervorh. im Original). 6 Doch wo fängt dieses Spiel an? Wie kommt es zur Bildung der Spielregel? Wie kann eine Lektüre überhaupt gestaltet werden, wenn sie “nichts als ein Aufblitzen von Ideen, Ängsten, Wünschen, Lustempfindungen und Unterdrückungen” (Barthes 1976: 33) darstellt? Barthes’ Suche nach einem dem Spiel des Lesens zugrunde liegenden Prinzip setzt bei dem Begriff der Relevanz an. Der aus der Linguistik stammende Terminus bezeichnet eine gewählte Perspektive, aus der man das gesamte Feld der Sprache betrachtet. 7 Würde man sich im Falle des Lesens auf eine Relevanz einigen können, so wäre eine Analyse der anagnosis (gr.: Lektüre) - eine “Anagnosologie” (Barthes 1976: 34) - möglich. Die Lektüre bietet jedoch keinen fruchtbaren Boden für eine solche Theoriebildung. Sie ist vielmehr ein äußerst labiles Unternehmen: “Lesenkönnen läßt sich in seinem Anfangsstadium bemessen und verifizieren, wird aber sehr rasch bodenlos, regellos, stufenlos und endlos” (Barthes 1976: 35; Hervorh. im Original). Worin liegt diese Unbeständigkeit, welche einer Stabilisierung der Lektüre beharrlich entgegenarbeitet? Barthes meint diesen Grund - wenn auch nur andeutungsweise - identifizieren zu können: Die Schwierigkeit einer Anagnosologie liegt im Begehren, das jeder Lektüre inhärent ist und “sich nicht benennen, ja (im Gegensatz zum ‘Anspruch’) nicht einmal aussagen [läßt]” (Barthes 1976: 38). Aufgrund ihrer in diesem sinnlichen Verlangen beruhenden Instabilität lässt sich der Ort, in dem sich die anagnosis vollzieht, nicht näher bestimmen. Zwar erfolgt eine Lektüre immer innerhalb einer Struktur, die sie nicht entbehren kann und die sie daher nie übersteigt, doch durch die leibliche Implikation des Lesers werden diese Strukturen gleichzeitig erschüttert: “Die Lektüre wäre die Geste des Körpers (denn man liest selbstverständlich mit dem Körper), der im selben Zug seine Ordnung setzt und pervertiert […]” (Barthes 1976: 36). Die Setzung jeglicher Strukturen zieht also gleichzeitig ihre eigene Perversion nach sich. Mit der potentiellen Wahl einer Relevanz würde notwendigerweise ihre “Ir-Relevanz” beziehungsweise ihre “Im-Pertinenz” (Barthes 1976: 35; Hervorh. im Original) einhergehen. Die Unmöglichkeit einer abschließenden Lektüre bezeichnet Barthes als das “‘Paradox’ des Lesers” (Barthes 1976c: 42). Dieses besteht darin, dass bei der Lektüre generell Zeichen jeglicher Art decodiert werden, durch die Anhäufung von Decodierungen bei einer potentiell unendlichen Lektüre sich der Sinn jedoch nicht mehr “einrasten” (Barthes 1976: 42) lässt. So gerät der Leser “in eine dialektische Umkehrung, letztlich decodiert er nicht mehr, sondern überkodiert; er entziffert nicht, er produziert, er häuft Sprachen übereinander, er läßt sie endlos und unermüdlich durch sich hindurchwandern: Er ist die Durchwanderung” (Barthes 1976: 42; Hervorh. im Original). David Magnus 324 Das von Barthes beschriebene ‘leibliche Lesen’ beruht nicht - zumindest nicht prinzipiell - auf der Wiedererkennung syntaktischer Relationen. Die Zerlegung einer Zeichenanordnung und die Analyse ihrer möglichen semantischen Bezüge bilden nur das Anfangsstadium des Lesens. Diesem kontrollierten Stadium einmal entwachsen, wird das Decodierungsvermögen des Lesers durch die Sedimentierung vergangener Lektüren ausgereizt. Die von Barthes suggerierte semantische Überlagerung deutet auf die aktive Beteiligung des Lesers an der Produktion von Sinn hin. Er wird zwar von der Zeichenumwelt in seiner passiven Rolle ergriffen, geht aber gleichzeitig mit seinem ‘informierten Leib’ aktiv auf sie zu, er lädt sie mit Sinn auf, nachdem die Codes durch ihn ‘hindurchgewandert’ sind. Der Leib bildet dabei das Zentrum dieser ‘Durchquerung’. Die aktive Rolle des Lesers und sein nicht näher bestimmbares Begehren nach dem Text lassen - so Barthes - wenig Hoffnung auf eine Anagnosologie, d.i. für eine “‘Wissenschaft’” oder “‘Semiologie’ des Lesens”: Jegliche strukturale Analyse der Lektüre würde an ihrer Unabschließbarkeit scheitern, denn “das Lesen wäre im Grunde eine ständige Blutung, mit der die […] Struktur zusammenbräche, sich öffnete, ausliefe, sich damit mit jedem logischen System deckte, das letzten Endes unabschließbar ist” (Barthes 1976: 42; Hervorh. im Original). Das Scheitern einer Anagnosologie ist demnach nicht mit einer Zerstörung des Codes verbunden, sondern mit der Schwierigkeit einer Analyse des Begehrens, mit der Unmöglichkeit einer theoretischen Konsolidierung dieses erotischen Elementes der Lektüre. Nach Barthes “kann ein Code nicht zerstört, sondern nur ‘gespielt’ werden” (Barthes 1968: 59). Doch dieser ludische Zwang wirft erneut die Frage auf: Was sperrt sich gegen die Aufstellung von Regeln für dieses Spiel? Die Schwierigkeit einer Wissenschaft des Lesens scheint in der “Panik der Struktur” (Barthes 1976: 43) zu beruhen. Diese Panik rührt aus der Unbeständigkeit des Codes, worunter Barthes nicht die Entwicklung einer Abbildungsvorschrift versteht, welche eindeutige Korrelate auf der Bedeutungsebene aufweist. Was für ihn den Sinn einer jeden Lektüre ausmacht, ist nicht die stabile Entzifferung der Zeichen, sondern ihre ‘semantische Migration’: Lesen ist in der Tat eine Spracharbeit. Lesen, das heißt Sinne finden, und Sinne finden, das heißt sie benennen. Aber diese benannten Sinne werden zu anderen Namen herangeführt, die Namen rufen sich, versammeln sich, und ihre Ansammlung will aufs neue benannt werden: so geht der Text vorbei: eine Benennung im Werden, eine unermüdliche Annäherung, eine metonymische Arbeit. (Barthes 1987: 16) Das Lesen als das Spiel der Bezeichnungen stellt nicht nur eine ‘Kontratheologie’ dar, sondern auch eine ‘Kontrateleologie’. Dass es sich bei der Suche von Sinn stets nur um eine Annäherung handelt, beruht auf der Unmöglichkeit, ein Ziel festzusetzen: Wie sollte denn der Endpunkt einer Lektüre vorausgesagt werden, wenn sich der Weg dahin erst während des Leseaktes entfalten kann? Wie könnte der ‘anvisierte Sinn’ semantisch umzingelt werden, ohne dass er gleich der nächsten Transnomination unterzogen wird? Die Bedeutungen - und mit ihnen die je spezifische Arbeit der Sinne - migrieren mit jeder Lektüre und so erklärt sich die Eventualität der Unlesbarkeit: “Das Unlesbare ist nichts anderes als das Verlorengegangene: schreiben, verlieren, erneut schreiben” (Barthes 1973 a: 232). Barthes’ Reflexionen über die konstitutive Rolle des Körpers und den flüchtigen Charakter des Sinns bei der Lektüre machen deutlich, dass der Leseakt “ohne die Bürgschaft des Vaters” (Barthes 1971: 69) vollzogen wird. Sie dienen einer Bestimmung des Ortes, von dem aus die Sinngebung erfolgt: dem menschlichen Leib. Beim Lesen geht es nicht um die Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 325 Enthüllung einer vor dem Text existierenden Struktur, die den Leser mit einem ihm vorausgehenden und fremden Sein konfrontiert, sondern um “die Lektüre des Subjekts, das ich bin, das ich zu sein glaube” (Barthes 1976: 33). Das Lesen-Schreiben impliziert also zugleich eine Arbeit am Körper - an der Gestalt - der Zeichen und am eigenen Leib. Diese Tätigkeit wird trotz des ludischen Umgangs mit dem Wahrgenommenen stets innerhalb einer Struktur verrichtet, die bei jeder Lektüre neu definiert wird. In diesem provisorisch eingegrenzten Feld können die Zeichen decodiert werden. Unter den medialen Handlungen, denen sich Barthes in seinen semiologischen Analysen widmet, gibt es jedoch eine, deren Eigendynamik sich einer Decodierung verschließt: der Blick. Auf diese unbeständige, ja unberechenbare Praxis sowie eine mit ihr eng verbundene mediale Form - nämlich das fotografische Porträt - soll im Anschluss näher eingegangen werden. 2.3 Blicken In einem Eintrag vom 19. März 1979 seiner Chronik erinnert sich Barthes an einer Begegnung mit einem alten Freund: - ‘Sie werden gar nicht älter.’ - ‘Sie auch nicht.’ - ‘Weil wir immer noch denselben Blick haben.’ (Barthes 2003: 60) Für Barthes kann der Blick nicht älter werden, eher veralten diejenigen, die eines Blicks entbehren. Doch wie konstituiert sich der Blick? Wie kann man ihn ‘behalten’ oder ‘verlieren’? Welche rätselhafte Struktur haftet dieser Handlungsform an? In einer Passage eines lange Zeit unveröffentlicht gebliebenen Textes versucht Barthes die ‘undurchsichtige’ Eigenart dieser Wahrnehmungsform zu erläutern: Ein Zeichen ist, was sich wiederholt. Ohne Wiederholung kein Zeichen, da man es nicht wiedererkennen könnte und das Zeichen auf dem Wiedererkennen beruht. Nun, bemerkt Stendhal, kann der Blick alles ausdrücken, läßt sich aber nicht im Wortlaut wiederholen. Der Blick ist somit kein Zeichen, aber bedeutungstragend. Welches Geheimnis steckt dahinter? Der Blick gehört jenem Bereich der Bedeutung an, dessen Einheit nicht das (diskontinuierliche) Zeichen ist, sondern die Signifikanz […]. In der Signifikanz gibt es zweifelsohne irgendeinen gesicherten semantischen Kern, andernfalls könnte der Blick nichts besagen: Ein Blick kann nicht buchstäblich neutral sein, es sei denn, um die Neutralität zu bedeuten; und ist er ‘vage’, so ist das Vage natürlich sehr hintergründig; aber dieser Kern besitzt eine Aura, ein sich endlos dehnendes Feld, in das der Sinn ausstrahlt, ohne seinen Eindruck (seine Eindrücklichkeit) zu verlieren. […] Das ‘Geheimnis’ des Blicks, die innere Regung, aus der er besteht, ist natürlich in jener Zone des Ausstrahlens angesiedelt. Somit stehen wir vor einem Objekt (einer Entität), dessen Wesen auf seiner Maßlosigkeit beruht. (Barthes 1977: 315; Hervorh. im Original) Der Blick scheint, anders als das wiederholbare Zeichen, einer grundlegenden Ereignishaftigkeit zu entspringen. Doch selbst in dieser eigentümlichen, nicht reproduzierbaren Präsenz, wird mit dem Blick stets etwas bedeutet. Der Blick bezieht Position und drückt etwas aus. Der aus dieser ‘Stellungnahme’ hervorgehende Sinn kann jedoch nicht aus zerlegbaren Elementen zusammengestellt werden - er gehört schließlich dem Bereich des Analogen an -, und auch dessen Wirkungsfeld ist nicht näher bestimmbar. Die Rätselhaftigkeit des Blicks beruht somit in einer der Signifikanz innewohnenden Unschärfe, in einem auf die Rauheit des Materiellen zurückzuführenden semantischen Überschuss. Die sinnlichen Quellen des Blicks sind dabei vielfältig, weil er synästhetisch agiert. Blicken impliziert immer “ein Zusammenspiel der (physiologischen) Sinne”, die sich mit David Magnus 326 8 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Barthes 1970 d und greifen in gewisser Weise auf die Argumentation über studium und punctum im nächsten Abschnitt voraus. 9 Beide Formen des Sinns analysiert Barthes anhand von Fotogrammen Sergei M. Eisensteins. In seinen Bildern überwiegt die konstruierte Symbolik, die darauf hindeutet, “daß die ‘Kunst’ S. M. Eisensteins nicht polysemisch ist. Er wählt den Sinn aus, setzt ihn durch und bewältigt ihn […]; der Eisensteinsche Sinn rafft die Mehrdeutigkeit hinweg” (Barthes 1970 d: 51). ihren Eindrücken wechselseitig bedingen: “Alle Sinne können folglich ‘schauen’, umgekehrt kann der Blick fühlen, hören, tasten usw.” (Barthes 1977: 316). Nach Barthes macht sich die Wissenschaft den Blick auf drei unterschiedliche Weisen, die miteinander verknüpft werden können, zu eigen: Sie versucht über den Blick an Information zu gelangen, Blicke in Beziehung zu setzen (Blickaustausch) und einen bestimmten Gegenstand oder ein spezifisches Phänomen in Besitz zu nehmen, wobei der Blickende selber ergreift, aber auch ergriffen wird. Aber selbst wenn dem Blick diese drei Funktionen zugeschrieben werden - die optische, die sprachliche und die haptische - kann er nicht stabilisiert werden und bleibt daher “ein unstetes Zeichen” mit einer eigentümlichen Dynamik, die sich dadurch auszeichnet, dass der Blick “von seiner eigenen Kraft gesprengt [wird]” (Barthes 1977: 315; Hervorh. im Original). Diese sprengende Kraft übersteigt die Ebene der Kommunikation, deren Analyse eine Semiotik der Botschaft erfordert, und die Ebene des Symbolischen - sowohl die referentielle als auch die diegetische Symbolik -, die in einer Art Neosemantik untersucht werden können. Die Eigendynamik des Blicks scheint sich vielmehr dort zu entfalten, wo der ‘dritte Sinn’ am Werk ist, in jenem Bereich also, der nicht benannt oder begründet werden kann. 8 Zu unterscheiden wären hier die Ebenen der Kommunikation und der Bedeutung von der Ebene der Signifikanz. Diese Unterscheidung betrifft wiederum zwei Formen, in denen Sinn auftritt: Einerseits kann der Sinn intentional sein, so dass eine gebündelte, von einem identifizierbaren Autor ausgehende Botschaft auf mich zugeht und dadurch die klassische Sender-Empfänger- Struktur beibehalten wird. Das ist der “entgegenkommende Sinn” (Barthes 1970 d: 50; Hervorh. im Original). Andererseits kann der Sinn “zugleich hartnäckig und flüchtig, glatt und entwichen” (Barthes 1970 d: 50) sein und damit auch schwer zu erfassen. Dieser wird nicht von einem Autor ‘gesetzt’, er wirkt wie ein Zusatz, ist “‘überzählig’” (Barthes 1970 d: 50) und entgleitet jeglicher Signifikation. Barthes bezeichnet ihn deswegen als den “stumpfen Sinn” (Barthes 1970 d: 50; Hervorh. im Original). Der entgegenkommende Sinn ist damit obvius, weil er ungeschützt vom Gewebe des Signifikanten zur Hand liegt und eine vorgefertigte Bedeutung trägt. 9 Der stumpfe Sinn hingegen ist obtusus, da er in seiner abgerundeten Erscheinung die vorbereitete Botschaft abschwächt. Er verleiht ihr “eine Art kaum greifbare Rundheit”, die jede Lektüre “abgleiten” lässt und damit eine “endlose Öffnung des Sinnfeldes” (Barthes 1970 d: 50) bewirkt. Diese Öffnung bereitet den Boden für sinnliche Zugänge, für die Einbindung von Gemütsbewegungen, für ein empfindsames Herantasten an das Objekt. Daher deutet Barthes an, “daß der stumpfe Sinn eine gewisse Emotion mit sich bringt” (Barthes 1970 d: 56; Hervorh. im Original), in ihm “steckt ein Erotismus” (Barthes 1970 d: 58). Der stumpfe Sinn lässt sich verorten, aber nicht bezeichnen und pflegt somit eine ambivalente Beziehung zum Zeichen. Er fungiert als Gegensatz zu den zwei klassischen Interpretationsebenen der Kommunikation und der Bedeutung und agiert dabei jenseits der Sprache, er geht “über die Kultur, das Wissen und die Information hinaus” (Barthes 1970 d: 50); er bewegt sich im ‘Milieu der Signifikanz’ und befindet sich damit stets an der Grenze des Sinns: Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 327 10 Die ‘Freiheit der Konnotation’, d.i. die Möglichkeit der Hinzufügung eines zweiten Sinns, liegt immer auf Seiten des Herstellers: “Die Konnotation, das heißt die Einbringung eines zusätzlichen Sinns in die eigentliche fotografische Botschaft, wird auf den verschiedenen Ebenen der Produktion der Fotografie herausgearbeitet (Auswahl, technische Bearbeitung, Bildausschnitt, Umbruch): Sie ist im Grund eine Kodierung des fotogra- [D]er stumpfe Sinn ist ein Signifikant ohne Signifikat; daher die Schwierigkeit, ihn zu benennen. […] Wenn man den stumpfen Sinn nicht beschreiben kann, so deshalb, weil er im Gegensatz zum entgegenkommenden Sinn nichts nachbildet: Wie soll man beschreiben, was nichts darstellt? […] [D]er stumpfe Sinn [liegt] außerhalb der (gegliederten) Sprache […]. (Barthes 1970 d: 60) Wie eingangs angedeutet, haftet der Sprache nach Barthes nichts Wildes an. Ein Sinn, der eines Signifikats entbehrt, kann demnach weder dem Bereich der Kommunikation noch dem der Bedeutung zugeordnet werden. Doch wenn die Materialität des Zeichens auf nicht Benennbares verweist, wie kann dann ihr Wirkungsfeld umgrenzt werden? Barthes deutet darauf hin, dass der stumpfe Sinn “zwar keineswegs überall […], doch irgendwo [existiert]” (Barthes 1970 d: 59; Hervorh. im Original). Dieses ‘irgendwo’, das den Einflussbereich des Blicks und des ‘dritten Sinns’ markiert, lässt sich theoretisch nicht beschreiben, bildet aber den “Übergang von der Sprache zur Signifikanz” (Barthes 1970 d: 63). In seinem gesamten Œuvre, und mit besonderem Impetus in seinem Spätwerk, begibt sich Barthes in solche Gefilde, in denen er die Möglichkeit der Arbeit an den Übergängen zwischen Sprache und Signifikanz vermutet. So wird die Fotografie zu einem seiner bevorzugten Untersuchungsfelder für die Erforschung dieser ungeklärten Beziehung. In der ‘Realität’ des fotografisch Abgebildeten wird die Interdependenz von Materialität und Bedeutung, zwischen Sinnlichkeit und Sinn nochmals und mit allem Nachdruck problematisiert. 3 Mediales Reagieren: Das fotografische Porträt zwischen studium und punctum Eine der größten Hürden einer semiotischen Analyse des fotografischen Bildes liegt in der Bestimmung des Inhalts seiner Botschaft. Zwar wird gewöhnlicherweise die ‘Wirklichkeit’ als Referenzebene vorausgesetzt, doch gerade dieser Umstand stellt ein besonderes Hindernis für ihre Auslegung dar, nämlich das Fehlen eines Hindernisses, d.i. die vermeintliche semantische Transparenz des fotografischen Mediums: Die Darstellung einer Person, einer Sache oder einer Landschaft in der Fotografie basiert auf ‘reiner Denotation’, lässt also keine Konnotation zu. Es scheint, als wäre es nicht notwendig, einen Code zwischen dem abgelichteten Objekt und seinem Bild einzufügen. Das Bild gleicht nicht dem Objekt - zumindest nicht materiell -, ist aber “das perfekte Analogon davon” (Barthes 1961: 13, Herv. im Original). Damit ist nach Barthes das semiotische Alleinstellungsmerkmal der Fotografie identifiziert: Das fotografische Bild “ist eine Botschaft ohne Code” (Barthes 1961: 13; Hervorh. im Original). Diese lapidare Aussage bezieht sich auf den Bildinhalt, jedoch nicht auf dessen Erstellung und Rezeption. Auf diesen beiden Ebenen lassen sich sehr wohl Konnotationsfaktoren feststellen, die vor allem auf die Produktionsbedingungen des jeweiligen Bildes zurückzuführen sind. Barthes nimmt hier speziell die Pressefotografie ins Visier, die, je nach Publikationskontext, bestimmte ästhetische und ideologische Kriterien zu erfüllen hat. Diese Kriterien, die ihre Manufaktur definieren, können einer Decodierung unterzogen werden, sie sind selbst jedoch nicht Teil der fotografischen Struktur. 10 David Magnus 328 fischen Analogons […]; man muß daran erinnern, daß diese Verfahren nichts mit Bedeutungseinheiten zu tun haben […]: Sie gehören nicht zur fotografischen Struktur” (Barthes 1961: 16). 11 Ding und Medium fallen beim fotografischen Porträt zusammen: “Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können ‘Chimären’ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist” (Barthes 2012: 86; Hervorh. im Original). 12 Aus diesem Interesse rührt auch eine der Leitfragen seiner Untersuchung: “Was weiß mein Körper von der PHOTOGRAPHIE? ” (Barthes 2012: 17). In der Spaltung der zwei angeführten Ebenen besteht der paradoxe Charakter der Fotografie: Einerseits fungiert sie als Träger einer Botschaft ohne Code, als “mechanisches Analogon des Wirklichen” (Barthes 1961: 14), oder wie es an einer anderen Stelle bei Barthes heißt: “Das Bild ist […] die Sache selbst” (Barthes 1984: 64; Hervorh. im Original). 11 Andererseits wird bei der Herstellung einer Fotografie das mechanische Analogon durch bestimmte Konstruktionsprinzipien codiert; jedes Foto zeigt auch in gewisser Hinsicht seine eigene “‘Schreibweise’” (Barthes 1961: 15). Zwei Kräfte scheinen nun an der Entstehung und Rezeption des fotografischen Bildes mitzuwirken: Die ‘Objektivität’ des Abgebildeten - es entstammt schließlich der ‘Wirklichkeit’ - und das factum dieser Momentaufnahme. Barthes fragt sich noch 1961: “Wie kann nun die Fotografie zugleich ‘objektiv’ und ‘besetzt’ sein, natürlich und kulturell? ” und schiebt die Antwort auf unbestimmte Zeit auf: “Diese Frage wird man vielleicht eines Tages beantworten können, wenn man erfaßt, wie die denotierte und die konnotierte Botschaft ineinandergreifen” (Barthes 1961: 15). Knapp zwei Jahrzehnte später sitzt Barthes an seinem Schreibtisch und blättert in Zeitschriften. Er entscheidet sich, das mögliche Interesse, das einige Fotos in ihm wecken, näher zu untersuchen. Bei der Betrachtung fotografischer Porträts unterscheidet Barthes drei Perspektiven, aus denen man sich mit dem Medium beschäftigen kann: Man kann ein Foto selbst schießen, sich fotografieren lassen und das daraus resultierende Ergebnis wahrnehmen. Anders formuliert: Man kann als “operator” (Photograph), als “eidolon” (Referent) und als “spectator” (Barthes 1961: 17; Hervorh. im Original) an diesem medialen Prozess teilnehmen. Letztere ist die Perspektive, die Barthes für seine Analyse einnimmt. Er wird damit “selbst das Maß des photographischen ‘Wissens’” (Barthes 1961: 17) und versucht als solches, ausgehend von persönlichen Empfindungen, ein Prinzip aufzustellen, das der Fotografie als Medium allgemein zugrunde liegen sollte. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Bilder in ihm ein leibliches Interesse wecken. 12 Als spectator regen ihn die Gemütsbewegungen an, die ein Foto auslösen kann. Das Betrachten der Bilder ähnelt dem Blick “in eine Wunde: ich sehe, ich fühle, also bemerke ich, ich betrachte und ich denke” (Barthes 1961: 30). Obwohl Barthes den emotionalen Aspekt seiner Herangehensweise betont, wirft die Beschäftigung mit den Bildern disparate Ergebnisse auf. Bei zahllosen Fotos macht er keinen Halt: Sie üben keinerlei Anziehungskraft auf ihn aus, er schaut sich diese nur kurz an, wird von ihnen nicht berührt, er fühlt sich teilnahmslos. Diese Apathie gegenüber belanglosen Fotos weckt in ihm kein Interesse, sondern im Gegenteil eine gewisse Aversion. Doch von einigen fühlt er sich ergriffen, “so als rührten sie an eine verschwiegene Mitte - einen erotischen Punkt oder eine alte Wunde” (Barthes 2012: 25). Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 329 13 Zu den folgenden Ausführungen cf. Barthes 2012: 33ff. 14 Es sei darauf hingewiesen, dass Barthes über andere Bedeutungen vom lateinischen studium, die dem zweiten Element nahe stehen, schweigt. Sein Hinweis auf eine Beteiligung ‘ohne besondere Heftigkeit’ deckt sich nicht mit einigen der möglichen Bedeutungen des Terminus’, wie etwa ‘eifrige Teilnahme’, ‘Lust’ oder ‘Begierde’. Der Grund einer solchen Unterlassung bei Barthes mag im Versuch einer schärferen Differenzierung zwischen beiden Elementen liegen. Für jede dieser beiden Wirkungsweisen des Fotos kann ein Element identifiziert werden. 13 Das erste entstammt dem angesammelten Wissen, dem Bereich der Vorkenntnisse, die eine ungezwungene Perzeption ermöglichen. Diese Perzeption ist insofern ungezwungen, als im Bild nur die konventionellen Inhalte bemerkt werden, welche einen ‘glatten’ Zugang zu der darin präsentierten visuellen Information gewähren. Zwar können diese Fotografien eine gewisse Anziehungskraft ausüben, sie können den spectator in gewisser Weise (be)rühren, doch unterliegen sie zwangsläufig einem allgemeinen kulturellen Interesse, “einem durchschnittlichen Affekt” (Barthes 2012: 35; Hervorh. im Original), bei dem das ‘geschulte Auge’ mitwirkt. Auf Französisch findet Barthes keine Bezeichnung für dieses Element; mit dem lateinischen Wort studium kommt er jedoch einer Definition seiner Verhaltensweise gegenüber zahlreichen Fotografien näher: Unter den verschiedenen Bedeutungen des studium sind für Barthes’ Argumentation die der Hingabe an eine Sache und die der Vorliebe (auch für jemanden) von besonderer Relevanz sowie die der Teilnahme, “doch ohne besondere Heftigkeit” (Barthes 2012: 35). 14 Das erste Element dient also einer stabilen Lektüre des fotografischen Porträts. Das zweite Element hingegen “durchbricht (oder skandiert) das studium” (Barthes 2012: 35; Hervorh. im Original) und impliziert die entgegengesetzte Bewegung: Nicht das Subjekt strebt nach einem Einblick in das Objekt, letzteres wird nicht mit - kulturell informiertem - Wissen umhüllt, “sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren” (Barthes 2012: 35). Das Wort punctum bezeichnet diese “Verletzung”, diesen “Stich” (Barthes 2012: 35f.), verweist auf jene kleine Aufspaltung, die jegliche stabile Lektüre zersetzt. Das punctum entzieht sich einer methodologischen Herangehensweise, da es einem “Wurf der Würfel” gleicht und damit den zufälligen Aspekt einer Fotografie bildet, der “mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)” (Barthes 2012: 36; Hervorh. im Original). Das studium rührt aus einer grundsätzlichen, kulturell bedingten Neugier für unsere Umwelt (nicht nur für fotografische Porträts). Barthes ordnet dieses Element dem Bereich “der unbekümmerten Wünsche, des ziellosen Interesses, der inkonsequenten Neigung” (Barthes 2012: 36) zu. Das studium kann sich über eine längere Zeitspanne erstrecken, es unterliegt einem je nach Subjekt spezifischen Streben nach Information oder einer allgemeinen Absicht. Man kann es methodisch begründen und dieser Methode entsprechend den Inhalt ‘filtern’ oder zerlegen. Die betrachteten Fotos können dabei schockierend sein, und doch verletzen sie beim studium nicht, sie rufen sogar eine gewisse Gleichgültigkeit hervor. Das punctum hingegen kann nicht angestrebt werden. Man kann sich auch nicht darauf einstellen, sondern lediglich reagieren: Der Blick wird von ihm befallen. Daher kann keine Methode dafür aufgestellt werden, es entzieht sich jeglicher technischen Vereinnahmung. Das punctum wird also nicht ‘aufgesucht’ oder ‘hofiert’; es kann nicht thematisiert oder theoretisch eingegrenzt werden, sondern blitzt unerwartet auf: Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig. Durch das Merkmal von etwas ist die Photographie nicht mehr irgendeine. Dieses David Magnus 330 15 Barthes betont: “Um das punctum wahrzunehmen, wäre mir daher keine Analyse dienlich” (Barthes 2012: 52; Hervorh. im Original). 16 Für die in diesem abschließenden Kapitel entwickelten Gedanken sind, neben den zitierten Primärquellen, die Studien von Busch 2004, Därmann 2005 und 2011, Mersch 2002 a und 2002 b sowie allgemein Därmann 2010 von besonderer Relevanz. Etwas hat ‘geklingelt’, hat eine kleine Erschütterung in mir ausgelöst, ein satori, eine zeitweilige Leere (es ist unerheblich, ob der Referent lächerlich ist). Seltsam: die tugendhafte Geste, mit der man sich der ‘vernünftigen’ Photos bemächtigt (auf die man ein einfaches studium verwendet), ist eine faule Geste (blättern, rasch und flüchtig ansehen, trödeln und sich beeilen); die Lektüre des punctum (des getroffenen Photos, wenn man so sagen kann) ist hingegen kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung. (Barthes 2012: 59; Hervorh. im Original) Die Lektüre des punctum verlangt, anders als die Arbeit des Leser-Schreibers am Text, eine Reaktion auf den unvermuteten Stich und nicht die aktive Suche nach möglichen Bedeutungen des wahrgenommenen Details. Die erforderte Reaktion kann durch keine methodische Zerlegung des Bildes geleistet werden. 15 Darüber hinaus, und trotz seiner blitzartigen Wirkung, besitzt das punctum “eine expansive Kraft” (Barthes 2012: 55), da das aus dem Foto hervorstechende Detail eine Resonanz auf das gesamte Bild haben kann: Das punctum wird zwar identifiziert, übt jedoch einen metonymischen Einfluss auf andere Aspekte des Porträts aus, etwa auf abgebildete Einzelheiten, die auf eine bestimme Epoche oder einen geographischen Kontext schließen lassen. All diese Details erkenne ich - so Barthes - “mit jeder Faser meines Leibs” (Barthes 2012: 55). Die Lektüre des punctum impliziert, wie bereits erwähnt, eine Verpflichtung, sie erfordert eine Stellungnahme, die sich nicht auf ein ästhetisches oder gar moralisches Urteil reduzieren lässt - “das punctum kann auch schlecht erzogen sein” (Barthes 2012: 53; Hervorh. im Original). Sie setzt vielmehr die Bereitstellung des eigenen Körpers, eine Gabe des eigenen Leibes voraus. Barthes formuliert diesen Aspekt der Wahrnehmung von fotografischen Bildern an einer zentralen Stelle von Die helle Kammer: “Beispiele für das punctum anzuführen bedeutet daher in gewisser Weise, sich preiszugeben” (Barthes 2012: 53; Hervorh. im Original). Welche Konsequenzen hat diese (Preis-)Gabe für die Betrachtung von Fotografien? Wie wirkt sich die (Preis-)Gabe auf die Beziehung von Materialität und Sinn aus? Beruht diese Relation nicht letztendlich auf einer Ethik des Blicks? Diesen Fragen soll abschließend nachgegangen werden, um Barthes’ Überlegungen zur Signifikanz des Zeichens für die Herausarbeitung des ethischen Aspekts der Wahrnehmung des Bildlichen fruchtbar machen zu können. 4 Wahrnehmung als (Preis-)Gabe und die Ethik des Blicks 16 Wie in den vorigen Abschnitten bereits gezeigt, sind die medialen Tätigkeiten des Schreibens, Lesens und Blickens von einer Implikation des Leibes durchtränkt, mit Hilfe derer die Arbeit an der materiellen Beschaffenheit des Signifikanten verrichtet wird. Das leibliche Engagement wird in der Geste des Schriftzugs, im Präsens des Schreibakts gefordert. Auch bei der Lektüre muss der Köper “auf den Appell der Zeichen” (Barthes 1970 c: 31) reagieren, wobei die Zerlegung einer Zeichenanordnung und die Analyse ihrer möglichen semantischen Bezüge nur das kontrollierte Stadium des Lesens darstellen und der Leib das Zentrum jeglicher Codierung bildet: Die Lektüre als “Benennung im Werden” (Barthes 1987: 16) zieht Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 331 17 In dieser Hinsicht bemerkt Barthes unmissverständlich: “Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht” (Barthes 2012: 60; Hervorh. im Original). sich durch den Leib hindurch und in dieser Durchwanderung werden jegliche Strukturen des Lesens pervertiert. Nicht zuletzt beruht die Rätselhaftigkeit des Blicks in jenem Zusammenspiel physiologischer Sinne, das der fortwährenden Neubestimmung jener Strukturen auf der Ebene des Signifikanten zugrunde liegt. Schreiben und Lesen stehen dabei für zwei eng miteinander verwobene Wahrnehmungsformen, die der Signifikation dienen. Beim Blicken hingegen wird kein Signifikat erzeugt, ein semantisches Problem, das in der Bildlichkeit - d.i. in den materiellen Nuancen - des fotografischen Porträts scharfe Konturen annimmt und das hier mit dem punctum in Verbindung gebracht werden soll, denn “dank dessen, was im Bild nichts als Bild […] ist, kommen wir ohne Worte aus” (Barthes 1970 d: 60), wobei mit diesem Verzicht eine Reihe wahrnehmungstheoretischer Herausforderungen einhergeht, die aus den besonderen aisthetischen Eigenschaften analoger Zeichen herrührt. Im Bild, das “in gewisser Weiße eine Grenze des Sinns ist” (Barthes 1964 b: 28; Hervorh. im Original), kann das Spiel mit dem Code nur als studium betrieben werden. Beim punctum fehlt hingegen jede Codierung 17 und diese Konstellation stellt den Leib vor eine andere Form des Bezugs zum Wahrgenommenen als die des ludischen Umgangs mit Signifikanten. Die aisthetische Dimension des Zeichens erreicht im punctum die äußerste Grenze des Sinns. Eine Konsequenz dieser Ausreizung der Bedeutungsebene ist der von Barthes angeführte Zwang der (Preis-)Gabe: Beim punctum kann der Leib nicht von sich selbst aus agieren, nicht den ersten Schritt hin zum ‘Detail’ machen. Er kann sich aber auch nicht zurückziehen, die Wahrnehmung des punctum erfordert vielmehr eine ‘Enthüllung des Selbst’. Dabei ist weniger relevant, wie diese (Preis-)Gabe im Detail erfolgt, sondern dass überhaupt seitens des Wahrnehmenden etwas preisgegeben werden muss und dass dies wiederum aufgrund einer Gabe des Bildes geschieht. Wenn beim Schreiben und Lesen mittels einer Arbeit am Text das Wahrgenommene mit Sinn imprägniert wird, so funktioniert diese Ökonomie der Sinne beim punctum nicht. Die vom punctum erforderte (Preis-)Gabe ist nicht einseitig, sondern impliziert, wie jedes Geben, eine Wechselwirkung (cf. Simmel 1992: 663, Anm. 1). Zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem entwickelt sich im Augenblick der Perzeption ein festes Band, das jedoch nicht in einer symmetrischen Beziehung besteht, denn “die exzessive Gabe des fotografischen Bildes” (Därmann 2011: 75) kann nicht im Sinne einer - mehr oder minder egalitären - perzeptiven Gegengabe konterkariert werden. Die von Barthes thematisierte (Preis-)Gabe entzieht sich daher einer strengen Ökonomie der Sinne, es handelt sich um eine ‘ziellose’ Antwort auf den Stich, um eine nicht näher zu bezeichnende Stellungnahme, um eine grundsätzliche Anerkennung des punctum, um seine Wahr-Nehmung. Die aus dem fotografischen Bild als punctum hervorstechende Gabe und die (Preis-)Gabe des Wahrnehmenden stellen keine konkreten Gegenstände oder Formen des Gebens dar, sondern - um eine Formulierung Jacques Derridas zu bemühen - “die Bedingung für ein präsent Gegebenes im allgemeinen, eine Gabe also, die das Element des Gegebenen überhaupt gibt” (Derrida 1993: 76). Was das punctum und die von ihm geforderte Stellungnahme geben, ist also das Moment der Wahrnehmung überhaupt, die im Falle des Bildes - anders als beim Text - weniger eine Arbeit am ‘Objekt’ als eine Arbeit am Selbst voraussetzt. David Magnus 332 18 Busch verweist in diesem Zusammenhang auf die “stiftende Funktion” und die “ethische Implikation der Kunst” (Busch 2004: 25f.). 19 Dieser performative Zug wird von Dieter Mersch beim Ereignis der Setzung von Sinn stets hervorgehoben: “Nicht was dabei im einzelnen zum Vorschein gelangt, ist relevant, sondern daß geschieht” (Mersch 2002 a: 290; Hervorh. im Original). Cf. auch Mersch 2002 b: 373ff. Mit dem von Barthes stets betonten Aspekt der Sinnlichkeit der Zeichen geht eine ‘Krisis der Signifikation’ einher, die von der Ereignishaftigkeit des fotografischen punctum verschärft wird, denn sein Stich bringt den Blick, jenes ‘unstete Zeichen’, ins Wanken. Die instabile Lage des Wahrnehmenden vor dieser Verletzung zieht eine Ethik des Blicks nach sich, die in jener Unausweichlichkeit der geforderten Antwort beruht. 18 Diese versagt sich bei fehlender Codierung - des Blicks, des punctum - jeglicher Normierung. Wie die von diesem Wahrnehmungsprozess ausgelöste Arbeit am Selbst genau vonstatten geht, kann nicht näher bestimmt werden, handelt es sich beim punctum doch um ein Ereignis, das eine ebenso unvorhersehbare Stellungnahme zur Folge hat. Die Ethik des Blicks, welche dieser Stellungnahme anhaftet, wird nicht von moralischen Prämissen determiniert - es gibt keine (bessere) Wahl vor dem punctum -, sondern von der Existenz einer Aufforderung überhaupt. 19 Das signifikatorische Hindernis rührt letztlich aus der Unmöglichkeit einer Benennung jenes Überschusses des punctum, der nur durch eine besondere Liebe registriert werden kann: Da es dem liebenden Subjekt nicht gelingt, die Besonderheit seines Verlangens nach dem geliebten Wesen zu benennen, greift er zu dem etwas dummen Wort: anbetungswürdig! […] Mit einer sonderbaren Logik nimmt der Liebende den Anderen als Ganzes wahr […] und zugleich scheint ihm dieses Ganze einen Rest zu enthalten, den er nicht aussprechen kann. […] Wenn aber anbetungswürdig alles sagt, so sagt es zugleich doch auch, was dem ‘Alles’ fehlt; es will jenen Aspekt des Anderen bezeichnen, dem mein Verlangen speziell gilt, aber dieser Aspekt ist nicht zu bezeichnen […]. (Barthes 1984: 37f.; Hervorh. im Original) Das Verlangen des Subjekts wird vom Stich des punctum in eine (Preis-)Gabe umgemünzt. Die Liebe stellt die Bedingung der Möglichkeit für die Wahrnehmung jenes Details dar, sie liegt jener (Preis-)Gabe zugrunde. Die Gabe des fotografischen Bildes tritt dabei stets als Herausforderung blitzartig auf (kann man der Gabe des Bildes je gewachsen werden? ). Der hier skizzierte Grundzug einer Ethik des Blicks würde den Aufruf implizieren, immer zur Stelle zu sein, im Hier und Jetzt der Reaktion auf den Stich, um angesichts der sinnlichen Präsenz des Details im Bild mit der Präsenz des eigenen Leibes, mit einer Zuneigung zu antworten. Sowohl beim punctum als auch bei der Liebe geht es schließlich zugleich um die Aufforderung zu einer Stellungnahme und um ein Versprechen, um Aktualität und Verschiebung von Sinn, “denn es gibt keine Wahrheit, die nicht an den Augenblick gebunden wäre” (Barthes 2005: 44). Das punctum der Fotografie wird im Augenblick der Verletzung zu demjenigen Element, das den Wahrnehmenden zum Liebesbekenntnis - im Sinne der Interessenbekundung, der Responsivität - zwingt. An den Grenzen des Sinns wird daher nur das wahrgenommenen, was anbetungswürdig ist. Bibliographie Barthes, Roland 1961: “Die Fotografie als Botschaft”, in: Barthes 1990: 11-27 Barthes, Roland 1964 a: “Die Machenschaften des Sinns”, in: Barthes 1988: 165-167 Barthes, Roland 1964 b: “Rhetorik des Bildes”, in: Barthes 1990: 28-46 Wahrnehmung als (Preis-)Gabe 333 Barthes, Roland 1966: “Semantik des Objekts”, in: Barthes 1988: 187-198 Barthes, Roland 1968: “Der Tod des Autors”, in: Barthes 2006 b: 57-63 Barthes, Roland 1970 a: “Der Geist des Buchstabens”, in: Barthes 1990: 105-109 Barthes, Roland 1970 b: “Schreiben: Ein intransitives Verb? ”, in: Barthes 2006 b: 18-28 Barthes, Roland 1970 c: “Das Lesen schreiben”, in: Barthes 2006 b: 29-32 Barthes, Roland 1970 d: “Der dritte Sinn”, in: Barthes 1990: 47-66 Barthes, Roland 1971: “Vom Werk zum Text”, in: Barthes 2006 b: 64-72 Barthes, Roland 1973 a: “Réquichot und sein Körper”, in: Barthes 1990: 219-246 Barthes, Roland 1973 b: “Erté oder An den Buchstaben”, in: Barthes 1990: 110-135 Barthes, Roland 1976: “Über das Lesen”, in: Barthes 2006 b: 33-43 Barthes, Roland 1977: “Auge in Auge”, in Barthes 1990: 315-319 Barthes, Roland 1978: “Das Bild”, in: Barthes 2006 b: 381-389 Barthes, Roland 1979: “Cy Twombly oder Non multa sed multum”, in: Barthes 1990: 165-183 Barthes, Roland 1987: S/ Z, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1988: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 3 1984: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2003: Chronik, Berlin: Merve Verlag Barthes, Roland 2005: Das Neutrum. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2006 a: Variations sur l’écriture/ Variationen über Schrift, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Barthes, Roland 2006 b: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 14 2012: Die helle Kammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Busch, Kathrin 2004: Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, München: Fink Därmann, Iris 2005: Fremde Monde der Vernunft: Die ethnologische Provokation der Philosophie, München: Fink Därmann, Iris 2010: Theorien der Gabe: zur Einführung, Hamburg: Junius Därmann, Iris 2011: “Gaben, Bilder”, in: Rheinsprung 11 - Zeitschrift für Bildkritik, Vol. 1, Basel: eikones: 71-78 (Paginierte pdf-Version der Online-Ausgabe unter www.rheinsprung11.ch abrufbar) Derrida, Jacques 1967: “Kraft und Bedeutung”, in: Derrida 1976: 9-52 Derrida, Jacques 1972: “Signatur, Ereignis, Kontext”, in: Derrida 1999: 325-351 Derrida, Jacques 1976: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Derrida, Jacques 1983: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Derrida, Jacques 1993: Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink Derrida, Jacques 1999: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Grube, Gernot, Werner Kogge & Sybille Krämer 2005 (eds.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink Kofman, Sarah 2 2000: Derrida Lesen, Wien: Passagen Krämer, Sybille & Peter Koch 1997: “Einleitung”, in: Sybille Krämer & Peter Koch (eds.) 1997: 9-26 Krämer, Sybille & Peter Koch (eds.) 1997: Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen: Stauffenburg Verlag Krämer, Sybille 2005: “‘Operationsraum Schrift’. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung von Schrift”, in: Gernot Grube, Werner Kogge & Sybille Krämer 2005 (eds.): 23-57 Mersch, Dieter 2002 a: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Mersch, Dieter 2002 b: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink Simmel, Georg 1992: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908) (= Georg Simmel: Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a.M.: Suhrkamp Sperber, Dan & Deirdre Wilson 1986: Relevance: Communication and Cognition, Oxford: Blackwell Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Ludwig Binswanger Einnerungen an Sigmund Freud 2014, XXII, 114 Seiten €[D] 24,99 / SFR 32,50 ISBN 978-3-7720-8517-8 Der bekannte Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger (1881−1966) blickt in diesem Buch auf seine Begegnungen mit Sigmund Freud zurück. Die Texte entwerfen in vielen Details ein authentisches Bild von den Anfängen der psychoanalytischen Bewegung. Binswanger war Leiter des familieneigenen berühmten Sanatoriums „Bellevue“ in der Schweiz und ein lebenslanger Vertrauter Freuds. Besonders wertvoll sind diese historischen Dokumente, weil Binswanger mit Respekt und Einfühlungsvermögen, aber doch auch aus der Distanz schreibt. Obwohl fachlich oft anderer Ansicht und wissenschaftlich ganz eigenständig, war er bemüht, die Nähe zu Freud zu erhalten und verfolgte dessen Entwicklung mit großer Sympathie. Die Aufzeichnungen reichen von 1907 bis 1938, umfassen also die wichtigsten Jahre der Formierung der Psychoanalyse als Wissenschaft und Therapie. „Binswangers Buch (…) ist ein feines Dokument der Freundschaft zweier ungleicher und doch auch gleich gestimmter Männer.“ (Eveline List in ihrer Einleitung der Neuausgabe) Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess Barthes und die sinnliche Transmigration der Zeichen bei Arcimboldo Karin Peters (Mainz) Roland Barthes has been known for his love-hate-relationship with French classicism and its use of rhetoric. In contrast, his interest in baroque aesthetics seems rather sporadic. However, this paper rediscovers his analysis of Arcimboldo’s 16th century teste composte as an implicit theory of baroque semiotics, the sensual communication between literal rhetoric and pictorial ‘language’, and of the politics of baroque bodies. 1 Einleitung Zeitgleich zu dieser Sonderausgabe über Roland Barthes bereitet die Zeitschrift L’Esprit créateur eine Nummer vor, die 2015 unter dem Titel What’s so great about Roland Barthes? (Qu’importe Roland Barthes ? ) erscheinen soll. Rechtzeitig vor bzw. zum hundertjährigen Jubiläum seiner Geburt mehren sich die Publikationen über den Semiologen und Kulturkritiker wieder, werden unveröffentlicht gebliebene Schriften international zugänglich gemacht und neue Publikationsorgane wie etwa die französische Internetzeitschrift Revue Roland Barthes ins Leben gerufen. Barthes erlebt seit einigen Jahren nachgerade eine Renaissance, die wohl zu Recht dazu veranlasst, sich die Frage zu stellen, was seine Texte uns heute noch zu sagen haben. Eine mögliche Antwort darauf könnte es sein, Barthes’ Denken als eine ‘Semiologie des Körpers’ aus neuer Perspektive zu betrachten, und zwar in mehrfacher Hinsicht: als Semiologie, die Ästhetik ohne ihr körperliches Erleben nicht zu ‘denken’ vermag; als Zeichenlehre über das körperliche Zeichenlesen oder Zeichenspüren; und als Semiologie von figurierten Körpern, die bedeuten oder Bedeutung verweigern, in Frage stellen, aufschieben. Gewinn dieser Fragestellung des ‘Rolandiste’ (cf. Coste 2012: 78ff.) ist es unter Umständen, die heutzutage vielfältig gewordenen kulturwissenschaftlichen Lektüren von Körpern und ihren Figurationen um eine dezidiert zeichenorientierte Blickrichtung zu erweitern und insofern zu vermeiden, die eigene Lektüre ‘blind’ für die Affektqualität von Schrift- und Bild-Zeichen zu machen, die (Un-)Lust der Zeichen. Gerade in diesem Zusammenhang habe ich mich immer wieder gefragt, warum sich Barthes nicht mehr mit dem Barock beschäftigt hat, hat diese Epoche doch an plaisir Einiges zu bieten. Das reglementierte und disziplinierte französische Zeitalter der Klassik und insbesondere das klassische Theater schienen im Denken Barthes’ eine Vorrangstellung einzunehmen, wenn er sich auch durchaus immer wieder ambivalent zu ihnen positionierte (cf. zuletzt Coste 2000 und Forment 2014). Der späte Barthes wiederum, der sich von den K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Karin Peters 336 1 “Die Kombinationen des Sichtbaren und des Lesbaren konstituieren die dem Barock teuren ‘Embleme’ oder Allegorien.” (Deleuze 2000: 56) Evidenzeffekten des flüchtigen Sinns und einer Semiologie des Körpers in den Bann schlagen ließ, hat sich eher mit Fotografie, Film oder moderner Kunst auseinandergesetzt. Insofern ist es verwunderlich, dass er im Rahmen eines Ausstellungskataloges zwei Jahre vor seinem Tod dem Mailänder Manieristen Giuseppe Arcimboldo (um 1526-1593) einen kleinen Text widmet. In “Arcimboldo ou Rhétoriqueur et magicien” (1978) wird schnell klar, dass es das rhetorisch inszenierte, jedoch ‘intelligible’ System der barocken Kunst ist, das Barthes Unbehagen bereitet. Die allegorischen teste composte Arcimboldos wurden nicht ohne Grund von Zeitgenossen als caprici, als gelehrte Rätsel und höfisches Amusement bezeichnet: In ihnen wird, so scheint es, einer Kultur des gelehrten Geistes gefrönt, keiner erotischen Materialität der Oberfläche. An einer Stelle hebt Barthes explizit hervor, dass diese Bilder nicht dem künstlerischen Gesetz des alla prima gehorchen (welches ihn u.a. an den Bildern Cy Twomblys so faszinierte), sondern einem strengen Gesetz der Komposition, dem Gegenteil glücklicher ‘Flüchtigkeit’. Barthes’ Essay ‘rettet’ sich deshalb in eine Lektüre der sinnlichen Transmigration von Zeichen bei Arcimboldo, denn was Barthes an Rhetorik fasziniert, ist nicht ihr Katalog von ‘Phrasen’ und Mitteln der Überzeugung, sondern ihre Wirkung als die “dimension amoureuse de l’écriture” (Chassain 2014), sprich: als ein (durchaus widerspenstiges) Mittel, um Affekte ausdrücken. Andernorts hatte Barthes diese Fähigkeit und Energie der barocken Rhetorik bereits durchaus positiv aufgefasst: in einer Rezension zu der Übersetzung von De donde son los cantantes (Écrit en dansant, 1967) des Kubaners Severo Sarduy, welcher ihm in Paris durch die Gruppe Tel Quel und über den Verlag Seuil gut bekannt gewesen sein dürfte. Denn in “La face baroque” (1967) beklagt Barthes, dass französische Kultur im Namen von Stil und Transparenz jedes (barocke) Signifikantenspiel unterdrückt habe, das Barocke jedoch als “l’ubiquité du signifiant” (Barthes 1984 b: 266) gegenüber der moralischen ‘Nützlichkeit’ des Signifikats zu bevorzugen sei. Während das durch transparenten Stil propagierte Signifikat die Energie und Lust der écriture verschatte und diese zu einer “marchandise utile à l’économie de l’‘humain’” (ebd.: 267) mache, entlasse der Barock die Signifikanten aus ihrer Pflicht zu kommunizieren. Auf dessen Seite schlägt sich dann auch Barthes, wenn er in seinem eigenen Schreiben konsequent den “obtusen Sinn” (cf. Haverkamp 2012: 94) dem transparenten Zeichen vorzieht. Ich will im Folgenden zeigen, inwiefern Barthes sich also dennoch für die Lektüre barocker Ästhetik, der Sinn und Sinnlichkeit des barocken Bildes, eignet. Denn versteht man mit Gilles Deleuze Barock als eine Faltung des Materiell-Sinnlichen, Ästhetischen und Lesbaren 1 und spürt man dieser Einfaltung des Materiellen im Zeichen bei Barthes’ Analyse nach, lässt sich schließlich auch eine Hypothese zum Gebrauch von (Körper-)Zeichen im Barock aufstellen, die semiologisch argumentiert. In einem letzten Schritt möchte ich dazu eine Erweiterung der Thesen Barthes’ vorschlagen, um die politische Dimension des barocken Körperexzesses noch über Barthes hinaus zu konturieren. 2 ‘Dérèglement’ der Bild-Sprache bei Arcimboldo Barthes zufolge sind in der westlichen Kunst Bild und Text nur außerhalb des Klassizismus eine produktive Wechselwirkung eingegangen: “la lettre et l’image n’ont communiqué entre Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess 337 2 “Buchstabe und Bild haben miteinander nur innerhalb der ein wenig verrückten Ränder der Kreation kommuniziert, außerhalb des Klassizismus.” (Übers. v. mir, KP) 3 “Man könnte sagen, dass Arcimboldo als barocker Poet die Kuriositäten der Sprache erforscht, mit Synonymie und Homonymie spielt. Seine Malerei hat einen sprachlichen Grund, seine Imagination ist wahrhaft poetisch: sie erschafft keine Zeichen, sie kombiniert sie, tauscht sie aus, entblößt sie - genau was ein Spracharbeiter/ handwerker tut.” (Übers. v. mir, KP) 4 “Man kann den Diskurs des Bildes sehr wohl in Formen zerlegen (Linien und Punkte), aber diese Formen bedeuten nichts, bevor sie nicht zusammengesetzt wurden; die Malerei kennt nur eine Artikulation.” (Übers. v. mir, KP) elles que dans les marges un peu folles de la création, hors du classicisme” 2 (Barthes 2002 d: 497). Die teste composte Arcimboldos gelten ihm in dieser Hinsicht nicht nur als manieristischer Reflex auf die humanistisch-klassische Porträtmalerei, sondern als mediale “friction” (ebd.: 498). Die Bild-Sprache Arcimboldos sei als emblematische Schrift lesbar (“écriture emblématique” [ebd.]), in der Bildlichkeit und Schriftlichkeit gegenseitig in Bann geschlagen scheinen (“écriture et peinture sont fascinées, happées l’une par l’autre” [ebd.]). Um dies zu erläutern, greift Barthes zunächst auf Linguistik und Rhetorik zurück. On dirait que, tel un poète baroque, Arcimboldo explore les ‘curiosités’ de la langue, joue de la synonymie et de l’homonymie. Sa peinture a un fond langagier, son imagination est proprement poétique: elle ne crée pas les signes, elle les combine, les permute, les dévoile - ce que fait exactement l’ouvrier de la langue. 3 (Ebd.: 493ff.) Arcimboldo nimmt in den Rosenwangen die Bilder der Sprache ‘buchstäblich’ und bringt eine verrückt gewordene Analogie auf die Leinwand, “l’analogie devient folle” (ebd.: 495): Der Vergleich verwandelt sich in Metapher, die Wangen, die wie Rosen erscheinen, sind in der Tat Rosen geworden (cf. den Frühling aus dem Vier-Jahreszeiten-Zyklus, erstmals ca. 1555-60). Diese Dynamik zwischen verschiedenen Tropen nennt Barthes eine zentrifugale Bewegung, in der sich die Metapher über sich selbst stülpt und unendliche Sinnspritzer versprüht: “la métaphore tourne sur elle-même, mais selon un mouvement centrifuge : il y a des éclaboussures de sens à l’infini” (Barthes 2002 d: 495). Die Leinwand gehorcht demzufolge nicht nur dem rhetorischen System einer Bild-Sprache, die sich am Lexikon gebräuchlicher Tropen oder habitualisierter Metaphern bedient, sondern die Leinwand wird “laboratoire de tropes” (ebd.: 498) oder: Sinnküche. Barthes sieht darin eine Ähnlichkeit zur wunderbaren Welt des Märchens, weil die Sprache sich hier wie dort in konkrete Materie verwandelt: der Maler tritt als Zauberer auf, der eine magische Sprache ‘spricht’ bzw. zeichnet (cf. ebd.: 496f.). Arcimboldo ist in seinen Augen also: “Rhétoriqueur et magicien”. Wie deutet nun Barthes diese Bild-Sprache genauer? Hier läuft alles auf den Begriff des dérèglement hinaus: Barthes unterscheidet Sprache und Malerei, indem er Folgendes behauptet: Die Sprache als Sinnsystem kann auf einer ersten Ebene in kleinere Einheiten zerlegt werden: zuerst in Worte, die Teilelemente des Discours und sinntragende Einheiten bilden. Danach ist es wiederum möglich, diese zu teilen, wodurch man Phoneme oder Buchstaben als “unités insignifiantes” (ebd.: 497) erhalte. Sprache artikuliert also zweimal Sinn: auf der Ebene der Worte und auf Ebene des Discours. Die Malerei dagegen kenne nur eine “articulation”: “il est bien possible de décomposer le ‘discours’ du tableau en formes (lignes et points), mais ces formes ne signifient rien avant d’être assemblées ; la peinture ne connaît qu’une articulation” 4 (ebd.). Arcimboldo nun entregelt das System der Malerei und erzeuge, so Barthes, als echter Rhetoriker zwei Artikulationen, die sich aus drei Zeichenebenen zusammensetzen: Zum einen aus gemalten Zeichen (unités insignifiantes), zum zweiten aus Karin Peters 338 5 “Diesen eigentlich allegorischen Sinn kann ich nur wahrnehmen, indem ich mich auf die Bedeutung der ersten Einheiten beziehe: es sind die Früchte, die den Sommer machen.” (Übers. v. mir, KP) Abb. 1: Giuseppe Arcimboldo: Der Sommer, im Internet unter http: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 9/ 9a/ Giusep pe_Arcimboldo_-_Summer%2C_1573.jpg [19.09.2014] Denotationen mit einer entsprechenden Lexik (der ersten bedeutungstragenden Einheit) - Barthes nennt sie das Ergebnis der “Wahrnehmungsarbeit”; und schließlich zum dritten aus allegorischen Konnotationen einer culture métonymique (vergleichbar dem Konnotations- und Code-System, das er bereits 1970 in S/ Z entwickelt hatte). Als Rhetoriker faltet Arcimboldo in seiner Bild-Sprache Sinn und Sinn ‘übereinander’. Betrachtet man etwa die Darstellung des Sommers genauer, so könnte man den Deutungsprozess folglich in drei Einzelschritte untergliedern: Erstens sehe ich ein gemaltes Zeichen (gemäß des bekannten Spiels “ich sehe was, was Du nicht siehst”): es ist länglich, hat eine grüne Farbe mit helleren Einschlüssen, ist schräg platziert und leicht gewölbt. Es folgt zweitens: Ich sehe eine Gurke (das ist die ‘Arbeit’ meiner Wahrnehmung), dieses Gemüse bildet folglich eine sinnvolle Einheit. Drittens schließlich sehe ich, dass die Gurke im Bild Teil eines Ganzen geworden ist, das ein Paradigma von Feldfrüchten bildet, sprich: durch die Kombination von Objekten wird neuer Sinn gestiftet, die Konnotation ‘Sommer’ erzeugt - Ausdruck einer metonymischen Kultur. So funktioniert laut Barthes die Lektürerichtung der Bilder Arcimboldos. Jedoch formuliert Barthes, nachdem er diese mythologische Bild-Sprache analysiert hat, wie ihn ein Unbehagen beschleicht, das der glücklichen intellektuellen Operation der Lektüre zuwiderläuft. Denn der Sinn dieses Bildes “se dédouble” (Barthes 2002 d: 507), verdoppelt sich, als sähe man zwei Bilder gleichzeitig: man ‘liest’ einerseits einen ‘menschlichen Kopf’, indem man erfolgreich das Wahrgenommene auf die Kontur einer globalen Form reduziert; liest und versteht aber andererseits auch zugleich den allegorischen Sinn ‘Der Sommer’. Eine Besonderheit dieser Verdoppelung liegt darin, dass man durch die Allegorie hindurch auch noch auf die Tiefe der Denotation sehen können muss, will man nicht den Sinn des Paradigmas und damit den Sinn der Allegorie aus dem Auge verlieren: “ce sens proprement allégorique, je ne puis le concevoir qu’en me référant au sens des premières unités : ce sont les fruits qui font l’Eté” 5 (ebd.: 507). Beide Artikulationen der Bild-Sprache sind hier also ästhetisch kopräsent, müssen gemeinsam ‘gelesen’ werden und erzeugen einen fast körperlichen Schwindel. Es ist aber nicht minder bemerkenswert, dass Barthes nur in Rückgriff auf den Augensinn das rhetorische System Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess 339 6 “Jenseits der Wahrnehmung und der Bedeutung (die selbst lexikalisch oder kulturell ist) entwickelt sich eine ganze Welt des Wertes: vor einem Kompositkopf Arcimboldos komme ich nicht nur dazu zu sagen: ich lese, ich errate, ich verstehe, sondern auch: ich liebe, ich liebe nicht. Das Unwohlsein, das Entsetzen, das Lachen, das Begehren halten Einzug in die Feier.” (Übers. v. mir, KP) einer doppelten Bedeutung oder mythologischen Konnotation so recht ‘ins Bild rücken’ kann. 3 “Les marges un peu folles de la création”: Dargestellte Körper als “monstres structurales” Zur Erinnerung: Barthes hatte die Kombination aus Wort und Schrift die “marges un peu folles de la création” genannt. Was ist an diesen dargestellten Körpern folglich “fou” und was ist monströs? Barthes’ erster Schritt bestand darin, eine semiologische Beschreibung dieser Bild- Sprache zu leisten; darin stößt er jedoch an eine Grenze, die auch er nur mit Bezug auf die Wahrnehmung und deren affektiven Übersprung im Betrachter überwinden kann. Er geht also auf die Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit in der Wahrnehmung über und erläutert: Au-delà de la perception et de la signification (elle-même lexicale ou culturelle), se développe tout un monde de la valeur : devant une tête composée d’Arcimboldo, j’en viens à dire, non seulement : je lis, je devine, je trouve, je comprends, mais aussi : j’aime, je n’aime pas. Le malaise, l’effroi, le rire, le désir entrent dans la fête. 6 (Barthes 2002 d: 508; Hervorh. im Original) Hier ist mit der Entscheidung darüber, ob man etwas liebe oder nicht, der plaisir aber auch das Unbehagen in die Lektüre eingelassen. Man könne demzufolge eine testa composta von Arcimboldo nicht rein intellektuell lesen, und schlussfolgern: ‘ich verstehe das, ich habe das Rätsel gelöst, ich lese: Sommer’. Man wird auch zur Wertung angehalten: welche sinnlichen Effekte löst die Wahrnehmung der Zeichen beim Betrachter aus usw.; das gehört unweigerlich mit zur Sprache dieser Bilder. Dennoch ist Zurückhaltung geboten: Binäre Terminologien und binäre Dialektiken wie das ‘j’aime / je n’aime pas’ muss man in Barthes’ Sinnküche immer mit Vorsicht genießen. Es ist zumeist die Gegenüberstellung selbst oder der dritte Sinn, die ihn interessieren. So verhält es sich auch hier: Es ist eben genau das Wesen der doppelten Artikulation und die Herausforderung des ‘Doppel-Sehens’, die Barthes zufolge den Betrachter in das dérèglement der Zeichen stürzen: einerseits ist zwar das rhetorische Paradigma, aus denen ein solches Bild gebaut ist, konventionell und kulturell durchaus ‘geregelt’. Andererseits zerstört die Durchlässigkeit der Konnotation zur Ebene der Denotationen die Darstellungskonventionen des menschlichen Körpers, der ja auch immer mitgesehen sein will. Denn eine Gurke mag im Bildlexikon Arcimboldos eine Nase sein, aber eine Nase ist keine Gurke. Wenn sie es doch ist, kann der Betrachter der Arcimboldesken Bilder nicht umhin, sich innerlich erschrocken ins Gesicht zu fassen. So sprengt Arcimboldo die kulturell gezogene Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Unbelebten und erzeugt eine affektive Reaktion; Barthes nennt sie eine malaise der hypertrophen Bedeutungsvirtualität. Barthes spricht also insofern von der langue der Malerei, als er ihr eine doppelte Artikulation zuspricht und die Fähigkeit, dereglementierend eine Hypertrophie des (möglichen) Bedeutens hervorzurufen: Die Bilder Arcimboldos erzeugen auf der Leinwand ein “monstre Karin Peters 340 7 “Arcimboldo macht aus der Malerei eine veritable Sprache, er gibt ihr eine doppelte Artikulation […]. Alles geschieht, als ob Arcimboldo das pikturale System dereglementiere, es missbrauchend verdoppele, in ihm eine analoge Bedeutungsvirtualität hypertrophiere, und so eine Art strukturales Monster erzeugt, Quelle einer subtilen Malaise (weil eine intellektuelle), noch durchdringender, als wenn der Schrecken von einer einfachen Übertreibung herrührte oder einer einfachen Vermischung von Elementen: Weil alles auf zwei Ebenen bedeutet, funktioniert die Malerei von Arcimboldo wie eine etwas erschreckende Verweigerung der Bildsprache.” (Übersetzung v. mir, KP) structural” und im Betrachter eine “malaise intellectuel”, weil alles bedeutet, ja doppelt bedeutet, “à deux niveaux”: Arcimboldo fait de la peinture une véritable langue, il lui donne une double articulation […]. Tout se passe comme si Arcimboldo déréglait le système pictural, le dédoublait abusivement, hypertrophiait en lui la virtualité signifiante, analogique, produisant ainsi une sorte de monstre structural, source d’un malaise subtil (parce que intellectuel), encore plus pénétrant que si l’horreur venait d’une simple exagération ou d’un simple mélange des éléments : c’est parce que tout signifie, à deux niveaux, que la peinture d’Arcimboldo fonctionne comme un déni quelque peu terrifiant de la langue picturale. 7 (Barthes 2002 d: 497; Hervorh. im Original) Malaise erzeugt unter Anderem, dass der Mund des Winters nicht nur Pilz ist, sondern wie ein Krebsgeschwür aussieht, Sterblichkeit in den teste composte als Kompost-Memento mori und als exuberant exzessive Leiblichkeit vorgeführt wird. Das Unbehagen des eigenen Körpers an der Darstellung eines schier unwirklich wirklichen - toten - Körpers entzündet sich aber auch daran, dass diese körperliche Form komponiert und zusammengesetzt wurde, der Darstellung die glückliche Einheit des Entwurfs alla prima also abgeht: “C’est donc le procédé même de la ‘composition’ qui vient troubler, désagréger, détraquer le surgissement unitaire de la forme” (ebd.: 509). Mit der sorgfältigen Komposition exzessiver Leiblichkeit steht Arcimboldo nicht alleine. Er greift bekanntermaßen auf eine Formensprache des grotesken Körpers zurück, die dem Barock durchaus geläufig war. Schon in den 1550er-Jahren waren in Mailand groteske Literatur und Malerei groß in Mode. Sie stellen den in der Renaissance noch mehrheitlich gefeierten, geschlossenen Körpern einen karnevalesk offenen und sterblichen Körper gegenüber (cf. zur Unterscheidung Bachtin 1969). Ihren Ursprung haben dessen bildliche Darstellungen in volkstümlichen Jahreszeitenfesten, die Genealogie der inventio Arcimboldos ist hier also recht gut verbürgt. Literarisch lehnen sich die teste composte an die aus der Antike überlieferte Tradition der vituperatio an, an die Form des parodistischen Porträts (cf. Porzio 2011: 235). Es gibt diese auch in der Malerei, so etwa in karikierenden Darstellungen wie jener des erotischen Autors Pietro Aretino als Phallus-Gesicht. Das groteske Porträt, und insbesondere solcher Art, wie sie uns bei Arcimboldo begegnet, gilt schließlich als das, was die Grenzen einer taxonomischen Ordnung überschreitet (der “séparation des règnes” [Barthes 2002 d: 510], des “savoir” und “ordre classificateur” [ebd.: 511]). Die titelgebende transmigration ist semiologisch verstanden eine monströse Signifikation, die keine Grenzen kennt (“la Nature ne s’arrête pas” [ebd.: 510; Hervorh. im Original]). Arcimboldo arbeitet also gegen die habitualisierten Klassifikationen des Wissens seiner Zeit, wenn er belebte und unbelebte, tierische und menschliche, hässliche und schöne Materie magisch austauscht (“ce qui subvertit les classifications aux-quelles nous sommes habitués” [ebd.: 511]). Es ist gerade die ‘virtualité signifiante’ und ‘monstruosité structurale’ einer enthemmten Analogie, die jene von Barthes beschworene ‘malaise intellectuel’ hervorruft: Alles beginnt Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess 341 8 Cf. Christine Buci-Glucksmann zur “Dialektik des Sehens und des Blicks” (zitiert nach Deleuze 2000: 59) als optische Falte (ebd.: 60). Abb. 2: Giuseppe Arcimboldo: Das Wasser, im Internet unter http: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 7/ 77/ Arcim boldowater.jpg [19.09.2014] zu bedeuten - auch außerhalb eines ihm möglicherweise zugeordneten taxonomischen Ortes - und verweigert den beruhigenden Komfort einer reinen Denotationssprache. Besonders erschreckend wird dies in der Allegorie des Wassers. Wenn man sich die konventionelle Bildsprache eines rinascimentalen Frauen-Porträts vors innere Auge ruft, - immerhin künden davon noch die Perlen um den Hals und an der Ohr-‘Muschel’ - löst diese Darstellung Unbehagen aus: Selbst der geliebte Mund der Geliebten verwandelt sich darin in den bedrohlich wirkenden Schlund eines nassen Fisches. Hier wird nicht nur die Bildkultur des Porträts sondern auch der literarische Schönheitskatalog der Petrarkisten parodiert und der weibliche Körper verwandelt sich in natura morta. Wir haben es in der Tat mit einem ‘Monster’ zu tun, bei dem die Zeichen des Belebten/ Unbelebten, Schönen/ Hässlichen, Wertvollen/ Alltäglichen hin- und herwandern. 4 L’œil (terrible): Die Ästhetik des Abstands Die ‘verrückt gewordene’ Analogie - von der Ohr-Muschel zur Muschel, oder auch: von der petrarkistischen Dame zum ‘Fischkopp’ - nennt Barthes ein “mouvement centrifuge”, der unendliche Sinnspritzer versprüht (Barthes 2002 d: 495). In dieser Zentrifuge des Sinns gerät das Bild im wahrsten Sinne in Bewegung, denn Barthes konstatiert, das Doppel-Sehen und die Monstrosität des Gesehenen seien zu guter Letzt mit einer bewegten Wahrnehmung, einem Schwindel in der Perzeption verbunden. Die Bilder Arcimboldos erzeugten demnach keine Identität von Objekten, die einer Simultaneität in der Wahrnehmung geschuldet sind, sondern eine Rotation des Bildes (cf. ebd.). Der Rotationspunkt, um den das sehende Auge in engerem oder weiterem Abstand kreist, ist das Detail. Barthes zeigt dies exemplarisch, und nachgerade poetologisch, an der Darstellung eines Auges, das nicht nur für das destabilisierte Sehen sondern auch für das monströse Gesehene steht. 8 Er nennt es: “L’œil (terrible)” (ebd.: 493). Motiviert wird die Darstellung dieses Auges über die Homonymie von prunelle, ein Karin Peters 342 9 “Mittels einer Distanzanstrengung, indem ich die Ebene der Wahrnehmung ändere, empfange ich eine andere Botschaft, ein Apparat der Übersichtigkeit/ Weitsichtigkeit der, nach Art eines Entschlüsselungsrasters, mir erlaubt, plötzlich den globalen, den ‘wahren’ Sinn wahrzunehmen.” (Übers. v. mir, KP) 10 “Wenn Sie das Bild von nahem betrachten, sehen Sie nichts außer Früchten und Gemüse; wenn Sie sich entfernen, sehen Sie nichts mehr außer einem Mann mit einem schrecklichen Auge, in geripptem Wams, mit struppigem Kragen/ borstiger Erdbeere (Der Sommer): die Entfernung, die Nähe sind Gründer/ Verursacher von Sinn.” (Übers. v. mir, KP) Abb. 3: Giuseppe Arcimboldo: Der Herbst (Detail), im Internet unter http: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ b/ bf/ Giuseppe_Arcimboldo_-_Autumn%2C_1573.jpg [19.09.2014] Wort, das im Französischen sowohl Schlehbeere als auch Pupille bedeutet. Besonders eindrücklich ist dies in der Darstellung des Herbstes. Das schreckliche Auge ist sowohl abstoßend (“répulsif[…]” [Barthes 2002 d: 508]) als auch anziehend, hält den Betrachter zunächst auf Abstand, um ihn mit der Rotation des Bildes in die Nähe einer anderweitigen Bedeutung zu holen. Kann man es fast anfassen, wird es grauenhaft. Es ist dies ein Phänomen jener Vektorizität, ohne die man bei Barthes das Zeichendeuten schlicht nicht denken kann. Bei Barthes’ Arcimboldo-Interpretation tritt sie in einer Form auf, die ich die Ästhetik des Abstands nennen möchte. An die Stelle einer blinden Taktilität des nahen Nach-Spürens treten hierbei allerdings bemerkenswerterweise Augensinn und Übersichtigkeit (hypermétropie) als “efforts de distance”, als Distanzeffekte: “c’est par un effort de distance, en changeant le niveau de perception, que je reçois un autre message, un appareil hypermétrope qui, à la façon d’une grille de décryptage, me permet de percevoir tout à coup le sens global, le sens ‘vrai’” 9 (ebd.: 499). Barthes entwickelt dabei ein Modell ästhetischer Wahrnehmung in Bewegung und plädiert dafür, weil die teste composte selbst ‘mobil’ seien: sie zwängen uns zur Annäherung oder Entfernung, so dass der Betrachter in einen “rapport vivant avec l’image” (ebd.: 506) gerate. Der Blick des Betrachters oder Lesers relativiert also den “espace du sens” (ebd.), und die Kunst Arcimboldos, so Barthes, lässt den Blick des ‘Lesers’ in die Struktur der Leinwand ein. Betrachtung und Affekt sind so quasi sinnstiftende parole im Sprachsystem der teste composte und ihrer vektoriellen Aisthesis, aus der Weite sieht man den Globalsinn, aber aus der Nähe das Detail: Si vous regardez l’image de près, vous ne voyez que des fruits et des légumes ; si vous vous éloignez, vous ne voyez plus qu’un homme à l’œil terrible, au pourpoint côtelé, à la fraise hérissé (L’Eté) : l’éloignement, la proximité sont fondateurs de sens. 10 (Ebd.: 505) Diese vektorielle Aisthesis ist von Entfernung und Distanz bestimmt, jener rotierenden Abstoßung, die von der schrecklichen Nähe - dem terrible in der Materialität - heimgesucht wird. Hier ist es wie so viele Male bei Barthes die gesetzte Klammer (“L’œil (terrible)” [ebd.: 493]), in der sich ein zweiter Sinn verbirgt: Das Auge ist und ist nicht terrible, man sieht den Schrecken, und man sieht ihn nicht, man sieht doppelt. Was Barthes für die Bildlektüre als Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess 343 Operation des Abstands beschreibt, realisiert er somit als visuellen Einschub auch im Schriftmedium. Barthes geht also im Zuge seines Essays, ähnlich wie dann in La chambre claire, in einer doppelten Artikulation ans Werk: Im ersten Durchlauf bedient er sich noch des Simulakrums eines semiologisch-strukturalistischen Vokabulars, um seinen Gegenstand zu beschreiben, nur um dann im zweiten Durchlauf der Sinnlichkeit des Sinns und den Prozessen der Semiose den Vorrang zu geben. In der Figur des “œil (terrible)” materialisiert er die so ‘gedeutete’ ästhetische Erfahrung als Schrift-Bild, als deutende Geste. 5 La porte étroite: Kunst, Politik und eine mögliche Semiologie des Barock Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Während bisher die Funktionsweise der Zentrifuge im Mittelpunkt stand, sei noch die Frage erlaubt, welcher Sinn hier vielleicht - und wie - verspritzt wird? Woher rührt die malaise intellectuel, die von den Arcimboldesken Kreationen ausgelöst wird? Barthes betont, dass der Affekt, der beim Betrachten von Bildern ausgelöst werde, einem sozialen Pathos gehorcht, also dem Innersten einer Kultur entstammt: “c’est à l’intérieur de notre propre culture qu’elles suscitent le sens affectif” (Barthes 2002 d: 508). Eine - aus der Sicht Barthes’ - ‘rhetorische’ Analyse fragt im Übrigen immer nach dem kulturell abgesteckten Weg der Konnotation, der zwischen den Zeichen beschritten wird. In “L’analyse rhétorique” (1967) wie auch andernorts spricht Barthes von rhetorischen Signifikanten deshalb als “connotateurs” (Barthes 2002 b: 1273). In literarischen Texten erzeugen diese ein System konnotativer Semiotik, sprich: eine “second message” durch “décrochage” oder “amplification” auf Ebene der Signifikanten oder der Signifikate (ebd.: 1272). Für Barthes handelt es sich dabei um ein kostspieliges Informationssystem (“système d’information coûteux” [ebd.: 1274; Hervorh. im Original]). Es steht immer im Verhältnis zur geschichtlichen Situation einer Gesellschaft, die ihren jeweils spezifischen rhetorischen Code produziert hat. Die klassische Rhetorik mit ihrer Vorliebe für formale Tropen zum Beispiel sei so als Ausdruck eines elitären gesellschaftlichen Systems zu deuten. Der Barock bildet wohl dessen formale - und zentrifugierende - Rückseite. Tatsächlich sind auch die teste composte in ihre Zeit eingebettet. Arcimboldo war Hofmaler beim Habsburger Maximilian II. in Wien und u.a. verantwortlich für die Gestaltung mythologischer Festumzüge in Prag. Seine Allegorien standen wie die Kostümentwürfe für höfische Lustbarkeiten im Dienste der Verherrlichung des Kaisers. Daher gehorchen die teste composte zunächst nicht einer rein karnevalesken Körperlichkeit, sondern dem Gesetz der concordia discors, also der Übereinstimmung des Mannigfaltigen. Das Harmonieprinzip des Ganzen sollte die allumfassende Macht des Kaisers zum Ausdruck bringen. So zumindest die Oberflächenlektüre aus der Distanz des Bild-Lesers, der sich nicht vom “œil (terrible)” einer zwischen Nähe und Distanz schwindelig gewordenen Betrachtung affizieren lässt. Wie Barthes betont, stellen die Kompositköpfe jedoch unweigerlich die Ordnung der Dinge regelrecht auf den Kopf, weil sie die Klassifikationslinien zwischen dem Lebendigem und Leblosen, dem Schönen und Hässlichen, dem Wertvollen und Alltäglichen rhetorisch durchlässig machen. Im Zentrum dieser Ordnung rotiert die Darstellung des menschlichen Körpers: Erst das 17. Jhd. wird Bewegungen des Körpers in ein explizit taxonomisches System einspannen (z.B. in den Tanznotationen am Hofe Ludwigs XIV.), aber bereits die höfische Kultur des 16. Jhds. kennt eine regelhafte Körperkultur. Dazu gehört schließlich auch die Inszenierung Karin Peters 344 11 Cf. etwa auch die vergoldete Rüstung des Grafen Francesco d’Adda aus dem Jahr 1606, auf der die inszenierte Jagd deutlich als Adels-Privileg zur Schau gestellt wird (cf. Leydi 2011: 257). der aristokratischen Körper, wie sie in den Spektakeln der mascherate zum Ausdruck kommt. Die Maskenumzüge und -feste sind eine Praxis sozialer Zurschaustellung. 11 Nachgespielte Kriegszenen, mythische Götterdarstellungen oder die Darstellung allegorischer Figuren wie der Kardinaltugenden und artes liberales feiern den humanistischen Geist der Stunde. Sie verwandeln darüber hinaus aristokratische Körper und ihre Objekt-Attribute in Gegenstände des Staunens und rücken sie innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung an eine privilegierte Stelle. Die überaus kostspieligen Kostüme und der auffällige Masken- und Haarschmuck, den Arcimboldo entwarf, hatten mithin den Zweck, “di stupire e primeggiare” (Leydi 2011: 270), zu verblüffen und hervorzustechen. Über eine kulturell kodifizierte Klassifikation von Objekten, die mit der Darstellung symbolischer Körper einherging, wurden diese zu genuin sozialen Körpern innerhalb einer streng hierarchischen Gesellschaft. Qualität und Quantität von Objekten bestimmten dort den sozialen Stand. Körper wurden demzufolge in einer sozialen ‘Taxonomie’ verortet über die Objekte, die ihnen anhaften - man denke nur an die besondere symbolische Rolle von rarefizierter Materie im Petrarkismus, die metaphorische Bedeutung von Gold und Perlen, deren ökonomischer Wert in Schönheit und poetisches Prestige übersetzt werden kann. Arcimboldo hingegen entnimmt in den Kompositköpfen den literarischen und bildlichen Vorbildern der bereits erwähnten vituperatio gerade Elemente des alltäglichen Gebrauchs, die zu diesen rarefizierten Objekten im Kontrast stehen. Besonders eindrücklich kommt dieser Schock des Unvereinbaren in der Abbildung des Wassers zum Tragen, wo die wertvolle Perle noch als Trope zitiert, aber durch Rekontextualisierung enthabitualisiert und unheimlich wird. Es sind also kollektives Wissen und soziales Pathos, die die Schichtung von Sinn im Kunstwerk konstituieren. Fredric Jameson hat zu dieser Verbindung des Ästhetischen mit dem kollektiven Wissen, oder wie er sagt: dem ‘politischen Unbewussten’, Folgendes festgehalten: We may suggest that from this perspective, ideology is not something which informs or invests symbolic production; rather the aesthetic act is itself ideological, and the production of aesthetic or narrative form is to be seen as an ideological act in its own right, with the function of inventing imaginary or formal ‘solutions’ to unresolvable social contradictions. (Jameson 2009: 64; Hervorh. im Original) Jameson betont, dass die kleinste bedeutungstragende Einheit eines Klassendiskurses, das Ideologem, sich auch in Formen der Kunst finden lasse. Allerdings scheint er mir dabei auf ähnliche Weise produktiv zu schielen wie Barthes, wenn dieser Arcimboldo interpretiert. Die imaginäre Lösung unlösbarer sozialer Widersprüche im Sinne der strategy of containment (cf. ebd.: 104), wie Jameson es nennt, bleibt nämlich ästhetischer Akt. So ist die ästhetische Form keinesfalls als bloßes Behältnis ideologischen Inhalts misszuverstehen. Den Begriff der strategy of containment erläutert Jameson anhand einer Passage in Lévi-Strauss’ Tristes tropiques. Dort schildert Lévi-Strauss die Gesichtbemalungen von Frauen der Caduveo- Indianer. Jameson denkt sie weiter als “symbolic enactment of the social within the formal and the aesthetic” (ebd.: 63), weil in den Zeichnungen die sozialen Macht-Asymmetrien zwischen Klassen, Kasten, Geschlechtern und Altersstufen in formale Symmetrien verwandelt werden. Der Strukturalismus entdeckt den barocken Exzess 345 12 “Es scheint mir, dass im Allgemeinen einem Schriftsteller zwei Arten zur Verfügung stehen, in die Politik einzutreten […]. Erstens kann er dort durch die große Tür der Konzepte und Ideologien eintreten, indem er sein Werk einer profunden politischen Wahl unterwirft, zum Beispiel vom Typus des Marxismus oder, im Gegenteil, des liberalen Humanismus. Zweitens kann er dort durch eine viel schmalere Tür eintreten, die sich aber auf einen Weg hin öffnet, der viel weiter führt. Es handelt sich für ihn also darum, in der Art und Weise, wie die Menschen von der Politik sprechen, sie ausüben, dabei oft von ihr entfremdet werden, ein Ensemble von Bedeutungen zu erfassen, das zur Nahrung des Werkes wird.” (Übers. v. mir, KP) 13 Ähnlich argumentiert auch Jacques Rancière zum politischen bruit im Stil und der Sprache: “Un régime d’identification d’un art est un système de rapports entre des pratiques, des formes de visibilité de ces pratiques, et des modes d’intelligibilité. […] C’est à partir de là qu’il est possible de penser la politique de la littérature ‘comme telle’, son mode d’intervention dans le découpage des objets qui forme un monde commun, des sujets qui le peuplent et des pouvoirs qu’ils ont de le voir, de le nommer et d’agir sur lui.” (Rancière 2007: 15) Zur politischen Bedeutung des Bildes bei Roland Barthes cf. u.a. Farqzaid 2010. Ganz ähnlich äußert sich Barthes zur Rolle der Politik in der Kunst, wenn er in “Réponse à une question sur les artistes et la politique” (1965) schreibt: Il me semble que, en général, pour un écrivain, il y a deux manières d’entrer en politique […]. Premièrement, il peut y entrer par la grande porte des concepts et des idéologies en soumettant son œuvre à un choix politique profond, par exemple de type marxiste ou, au contraire, libéral, humaniste. Deuxièmement, il peut y entrer par une porte beaucoup plus étroite, mais qui ouvre sur un chemin conduisant plus loin. Il s’agit alors pour lui de saisir dans la façon dont les hommes parlent de la politique, en font, sont souvent aliénés par elle, un ensemble de significations qui devient l’aliment de l’œuvre. 12 (Barthes 2002 e: 1025) Zur Politik in der Form führt also ein schmaler Pfad, der nur über den Weg der Sprache selbst und nicht über den des Ausgesagten beschritten werden kann. 13 In der Auseinandersetzung mit den Kippphänomenen des Barock lohnt meines Erachtens der Rückgriff auf Barthes deshalb, weil man damit die Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrung und deren politischen ‘Weg’ neu in den Blick nehmen kann. An die Stelle einer deutenden Festschreibung dessen, was denn nun der Sinn - oder: die Ideologie - dieser Bilder sei, tritt bei Barthes das Konzept einer Transmigration der Zeichen in zweierlei Hinsicht: Die Transmigration im Bedeuten unterstreicht, dass die Semiosis der Kunst, auch wenn sie mit kulturell oder politisch festgelegten Codes arbeitet, nicht einfach stehen bleibt. Und die Vektorizität der Wahrnehmung unterstreicht, wie man schließlich vor dem Bild Distanz von und Annäherung an die Ideologie gleichzeitig - doppelt - sehen bzw. erleben kann. Denn die Bilder Arcimboldos funktionieren in der Tat wie die Gesichtsmalerei der Caduveo-Indianer, sie sind die barocke Variante einer “politico-historical pensée sauvage” (Jameson 2009: 65): Wenn im Barock der schöne Körper die mythologische Materie bildet für Körperdarstellungen, die eine elitäre Klasse und insbesondere die imperiale Macht verherrlicht, so wird diese soziale Asymmetrie bildsprachlich bei Arcimboldo in Bewegung gebracht. Das Soziale, um im Bilde Barthes’ zu bleiben, ‘ernährt’ das Ästhetische. Daraus kann man folgern, dass die Ideologie, wenn sie in Form einer ästhetischen strategy of containment begegnet, nicht das sein muss, was Barthes den verdickten oder angebrannten Sinn genannt hat (cf. Dünne 2012: 118), sondern eher kippt, ja im Aggregatszustand des Flüssigen auftritt. Karin Peters 346 14 “Man muss diesen banalen Dingen ihren übersinnlichen, fantasmagorischen Charakter zurückgeben, um dort die chiffrierte Schrift des sozialen Funktionssystems erscheinen zu sehen […]. [Man muss] die Wahrheit der Oberfläche sagen, indem man in die Tiefen reist und indem man den unbewussten sozialen Text artikuliert, der sich dort dechiffriert.” (Übers. v. mir, KP) Abb. 4: Giuseppe Arcimboldo: König Herodes, im Internet unter http: / / images.zeno.org/ Kunstwerke/ I/ big/ 72l051a.jpg [19.09.2014] Wie in Arcimboldo’s “Herodes” wird die politische Macht mittels der Körper und an den Körpern, die Arcimboldo zu verherrlichen offiziell aufgerufen war, als eine Macht über Körper inkorporiert - und dennoch un-heimlich. Ein ästhetisches Ideologem, oder ‘das Politische’, wirkt in diesem Sinne als unheimliches Signifikat, das unter habitualisierten Formen, deren Wahrnehmung und Deutung, aufscheinen kann. Oder, wie Jacques Rancière dies im Jahr 2007 über das Politische der Literatur formuliert: “il faut rendre à ces choses banales leur aspect suprasensible, fantasmagorique, pour y voire apparaître l’écriture chiffrée du fonctionnement social […]. [Il faut] dire la vérité de la surface en voyageant dans les profondeurs et en énonçant le texte social insconscient qui s’y déchiffre” 14 (Rancière 2007: 31f.) So erscheint es wieder aus der Rotation zwischen Nähe und Distanz, diesmal aber als blinder Hinterkopf eines toten Kindes: “L’œil (terrible)”. Bibliographie Bachtin, Michail M. 1969: Literatur und Karneval: zur Romantheorie und Lachkultur, München: Hanser Barthes, Roland 1984 a: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris: Seuil Barthes, Roland 1984 b: “La face baroque”, in: Barthes 1984 a: 265-267 Barthes, Roland 2002 a: Œuvres complètes, Bd. II: 1962-1967, hg. v. Éric Marty, Paris: Seuil Barthes, Roland 2002 b: “L’analyse rhétorique” (1967), in: Barthes 2002 a: 1271-1276 Barthes, Roland 2002 c: Œuvres complètes, Bd. V: 1977-1980, hg. v. Éric Marty, Paris: Seuil Barthes, Roland 2002 d: “Arcimboldo ou Rhétoriqueur et magicien” (1978), in: Barthes 2002 c: 493-511 Barthes, Roland 2002 e: “Réponse à une question sur les artistes et la politique” (1965), in: Barthes 2002 c: 1025 Chassain, Adrien 2014: “‘La rhétorique est la dimension amoureuse de l’écriture’: communication ordinaire et conversion théorique des affects chez Roland Barthes”, in: Revue Roland Barthes 1 (2014), im Internet unter http: / / www.roland-barthes.org/ article_chassain.html [12.08.2014] Coste, Claude 2000: “Roland Barthes ou la hantise du XVIIe siècle”, in: Elseneur 15-16 (2000): 379-394 Coste, Claude 2012: “Actualité française de Barthes (1980-2011)”, in: Oster & Peters (eds.) 2012: 71-85 Deleuze, Gilles 2000: Die Falte. 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Barthes’ Anagrammatik des Obtusen”, in: Oster & Peters (eds.) 2012: 89-99 Jameson, Fredric 2009: The Political Unconscious [1981], London/ New York: Routledge Leydi, Sylvio 2011: “Feste cortesi a Milano”, in: Ferino-Pagden (ed.) 2011: 255-281 Oster, Angela & Karin Peters (eds.) 2012: Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München: Fink Porzio, Francesco 2011: “Arcimboldo: le Stagioni ‘milanesi’ e l’origine dell’invenzione”, in: Ferino-Pagden (ed.) 2011: 221-253 Rancière, Jacques 2007: Politique de la littérature, Paris: Galilée Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@attempto-verlag.de • www.attempto-verlag.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Kathrin Nielsen Zeitatomistik und „Wille zur Macht“ Annäherungen an Nietzsche Phainomena 16 134 Seiten €[D] 18,00 ISBN 978-3-89308-440-1 »[ ... ] -unser wunderliches Dasein gerade in diesem Jetzt ermuthigt uns am stärksten, nach eigenem Maass und Gesetz zu leben: jene Unerklärlichkeit, dass wir gerade heute leben und doch die unendliche Zeit hatten zu entstehen, dass wir nichts als ein spannenlanges Heute besitzen und in ihm zeigen sollen, warum und wozu wir gerade jetzt entstanden.« (Nietzsche) Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben Das Haiku als ‘Sprachfotografie’ bei Roland Barthes und Andrej Tarkowskij Markus Rautzenberg (Berlin) In two seminal efforts the Russian film-director Andrej Tarkwoskij (in: Sculpting in Time) and the French philosopher Roland Barthes (in: The Preparation of the Novel) independently try to come to terms with iconicity (Bildlichkeit). While Tarkowskij argues from the perspective of a filmmaker who tries to understand what an image/ picture is, Barthes asks himself and his audience at the Collège de France how aesthetic presence can be transformed into language, and thus how it is possible to write a novel. From those seemingly different starting points both thinkers eventually arrive at the ‘small form’ of the Japanese Haiku as a kind of hybrid between iconicity and language. The following paper argues that they both discover what will be tentatively called a ‘language-photograph’, a photograph ‘made of language’ and vice versa: a use of language that works like photography. In an attempt to develop a theory of the novel Roland Barthes discovers a theory of photography (his groundbreaking book on the subject - Camera Lucida - was written immediately after the lecture series in question), and it will be argued that along the way Barthes as well as Tarkowskij are hinting at a theory of transmedial iconicity. “Mit diesem Wenigen an Sprache vermag das Haiku zu leisten, was Sprache nicht leisten kann: die Sache selbst zu evozieren.” (Barthes 2008: 79) 1 Zeitdruck. Andrej Tarkowskijs Theorie des fotografischen Bildes Andrej Tarkowskij zeigt sich in Die versiegelte Zeit (Tarkowskij 2012) als ein Filmtheoretiker, dessen Poetik und Ontologie des filmischen Mediums vor allem vom Fotografischen bestimmt ist. Im Gegensatz zu Sergej Eisenstein (1988, 2006), dessen Filmtheorie vorwiegend eine Montagetheorie ist, bei der es um die Übergänge, Ränder und Juxtapositionen der Einstellungen geht, ist für Tarkowskij die Einstellung selbst der entscheidende Faktor: “Das Filmbild entsteht nun aber während der Dreharbeiten und existiert innerhalb einer Einstellung” (Tarkowskij 2012: 169). Seine Theorie des Films konzentriert sich daher ebenso wie seine filmische Arbeit vor allem auf den Zeitraum zwischen zwei Schnitten, auf die Einstellungen selbst, nicht auf die Skandierung der Bilder durch die Montage. Der Faktor Zeit wird damit in seiner Bedeutung im Vergleich zur Theorie der Montage bei Eisenstein anders gewichtet. Für Tarkowskij ist der spezifische Rhythmus eines Films “nicht etwa eine metrische K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Markus Rautzenberg 350 1 Zum Bild als ‘Zeitcontainer’ siehe vor allem Aby Warburgs Theorie des Bildes als ‘Energiekonserve’. Cf. hierzu ausführlich Rautzenberg 2014. Abfolge von Filmstücken. Der Rhythmus konstituiert sich vielmehr aus dem Zeitdruck innerhalb der Einstellung.” (Ebd.: 176) Die Montage gilt dem Regisseur nicht als ein Spezifikum des filmischen Mediums, denn sie “existiert offenbar in jeder Kunst” (ebd.); gemeint ist, dass “Auswahl und Neuanordnung” (ebd.) für jede Formgenese in der Kunst notwendig ist. Die Montage im Film zeige demgegenüber keine “neue Qualität”, sondern bringe “lediglich das zum Vorschein, was bereits zuvor in den jetzt zusammengefügten Einstellungen angelegt war” (ebd.). Für Tarkowskij besteht die Aufgabe des Regisseurs somit darin, “einen eigenen individuellen Zeitstrom zu schaffen, in der Einstellung mein eigenes Zeitempfinden wiederzugeben, das von träge verträumten bis zu sich aufbäumenden, überschnellen Bewegungsrhythmen reichen kann” (ebd.: 179). Man denkt bei diesen Zeilen unwillkürlich an jene langen Einstellungen in den Filmen Tarkowskijs, die sich exzessiv mit Zerdehnung und Kontraktion von Zeit beschäftigen, in denen die Kamera in den Bewegungen schwelgt, die der Wind in eine Graslandschaft (Der Spiegel, Sowjetunion 1975) zeichnet oder eine Wasserströmung in ein Flussbett oder eine Pfütze (Stalker, Sowjetunion 1979; Solaris, Sowjetunion 1972): Man denke dabei nur an die verschiedenen möglichen Formen zeitlichen Spannungsdrucks. Symbolisch gesprochen, an die Unterschiede von Bach, Fluß, Strom, Wasserfall und Ozean. Deren Koordinierung erbringt ein einmaliges rhythmisches Gemälde, eine vom Zeitempfinden ihres Autors ins Leben gerufene organische Innovation. (Tarkowskij 2012: 180) Die Länge der Einstellung selbst steht dabei nicht so sehr im Mittelpunkt wie der ‘zeitliche Spannungsdruck’ innerhalb der Kadrierung: “Den filmischen Rhythmus bestimmt nicht die Länge der montierten Einstellungen, sondern der Spannungsbogen der in ihnen ablaufenden Zeit” (ebd.: 172). Aus diesem Spannungsbogen resultiert der ‘Zeitdruck’ der Einstellung, dessen Signum es ist, über den Rand der Bildbegrenzung hinauszustreben, eine Welt außerhalb des Rahmens des Filmbildes in das Bild hinein holen zu können. Wenn es daher in der Versiegelten Zeit heißt, dass das “Unendliche” etwas sei, das “der Bildstruktur immanent” ist (ebd.: 159), so ist damit nicht nur auf jene religiös-spirituelle Ebene verwiesen, die in den Filmen und Selbstzeugnissen Tarkowskijs stets auch eine Rolle spielt. Eingedenk der theoretischen Aussagen über das Filmbild als eines Zeitcontainers 1 , geht es bei Tarkowskij um einen Bildbegriff, der durch die Insistenz auf die Integrität des Einstellung nicht nur auf die fotografische Provenienz des Filmbildes verweist, sondern darüber hinaus die ‘Macht’ dieser Bilder jenseits des Visuellen verortet: Wie spürt man aber die Zeit einer Einstellung? Das Gespür stellt sich ein, wenn hinter dem sichtbaren Ereignis eine bestimmte bedeutsame Wahrheit fühlbar wird. Dann, wenn man klar und deutlich erkennt, daß sich das, was man in dieser Einstellung sieht, nicht in dem hier visuell Dargestellten erschöpft, sondern etwas sich jenseits dieser Einstellung unendlich Ausbreitendes andeutet, auf das Leben hinweist. (Ebd.: 173) An dieser Stelle kann leicht der Eindruck entstehen, Tarkowskijs Ausführungen würden in eine Art Bildesoterik münden, da Begriffe wie “Wahrheit” und “Leben” im genannten Zusammenhang nicht dazu angetan sind, den beschriebenen Sachverhalt zu präzisieren. Es geht Tarkowskij jedoch dezidiert nicht um eine über das Bildliche hinausgehende Semantik. Die Ebene des Signifikanten fällt vielmehr mit der Signifikatsebene zusammen. Der “Zeitdruck”, Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 351 die Innovationskraft des “zeitlichen Spannungsdrucks” als solche ist Kern des künstlerischen Ausdrucks im Bild. Ihre ‘Bedeutung’ ist mit ihrer Ausdrucksperformanz koextensiv. Es geht nicht darum, Ideen oder übergeordnete Konzepte zum Ausdruck zu bringen: “Das Spiel mit Begriffen kann letztlich nicht das Ziel irgendeiner Kunst sein, und ihr Wesen liegt auch keinesfalls in willkürlicher Begriffsverknüpfung” (ebd.: 169). Das “Unendliche” meint vielmehr das Zum-Ausdruck-Kommen eines visuell nicht Dargestellten, eines Möglichkeitsraums, der das aktuell Sichtbare wie einen Rahmen aus Potentialitäten umgibt. Das scheinbar Paradoxe bei Tarkowskij liegt daher in der Annahme einer Art ‘non-visuellen’ Bildlichkeit, die in der Lage zu sein scheint, das im Bild gerade Ausgelassene, nur Angedeutete, in Anwesenheit zu bringen, ohne dass dabei etwas direkt dargestellt wird. Angesprochen ist hier eine der Konnotation ähnliche Form der Anwesenheit, die jedoch nicht im Modus der Sprache oder dem sprachanaloger Zeichensysteme, sondern in der Wahrnehmung statthat. In den Logischen Untersuchungen Edmund Husserls heißt es an einer zentralen Stelle, in der es um das Phänomen der Appräsentation als der Mitgegenwärtigkeit des in der Wahrnehmung aktuell nicht Realisierten geht, von eben diesen Appräsentationen, dass sie als “im Kerngehalt der Wahrnehmung verbildlicht” gedacht werden müssen (Husserl 2009 [= Hua XIX/ 2]: 589). Wie bei Husserl geht es der Filmtheorie Tarkowskijs darum, jene Aspekte der Dingwelt, die der aktuellen Wahrnehmung abgewandt sind, als in das Bild integriert zu denken. Wichtig ist, dass mit der Abwesenheit des Appräsentierten keine Leerstelle bezeichnet ist, vielmehr geht es um das Register einer Mit-Gegenwärtigkeit im Bild, deren ‘Anwesenheit’ jedoch abseits räumlicher Präsenz konzipiert werden muss. Appräsentation entspricht im Bereich der Wahrnehmung dem, was im Reich der Zeichen als Konnotation bekannt ist: Der umgebende Raum, der die Möglichkeit anderer Aspekte stets offenhält und somit für das aktuelle Wahrgenommene als ‘Rahmen’ fungiert, vor dessen Hintergrund Wahrnehmung (bzw. Bedeutung) überhaupt erst möglich ist. Der im Bild erzeugte “Zeitdruck” verweist auf die Fotografie, indem der Akzent von der Montage auf das Bild selbst verlegt wird und dort auf etwas Nichtsichtbares, Undargestelltes in der Darstellung, etwas, dass die Sichtbarkeit durchpulst, ohne selbst sichtbar zu sein, hindeutet: auf einen non-visuellen Grund des Bildlichen, der mit einer Form von Anwesenheit assoziiert wird, die als Kategorie offenbar nicht räumlich, sondern zeitlich konzipiert werden muss. Aus diesem Grund ist das Entscheidende des Bildes für Tarkowskij nicht eigentlich dem Register des Sichtbaren zugehörig. Sein Bildbegriff ist somit transmedial: Das Bildliche ist nicht auf das Bildartefakt (Film, Foto oder Tafelbild) beschränkt und aus diesem Grund zeigt sich Bildlichkeit in Die versiegelte Zeit exemplarisch nicht in Film oder Fotografie, sondern in der Sprache, genauer: einer Form der sprachlichen Miniatur, die höchste imaginäre Verdichtung mit größtmöglicher semantischer Unbestimmtheit verbindet - dem Haiku. An ihr [der japanischen Dichtung, M.R.] begeistert mich der radikale Verzicht auch auf die versteckteste Andeutung ihres eigentlichen Bildsinnes, der wie bei einer Scharade erst allmählich dechiffriert werden muß. Das Haiku ‘züchtet’ seine Bilder auf eine Weise, daß sie nichts außer sich selbst und dann doch wieder so viel bedeuten, daß man ihren letzten Sinn unmöglich erfassen kann. Das heißt, daß das Bild seiner Bestimmung um so mehr gerecht wird, je weniger es sich in irgendeine begriffliche, spekulative Formel pressen läßt. Der Leser eines Haiku muss sich in ihm verlieren, wie in der Natur, sich in es hineinfallen lassen, sich in dessen Tiefen wie im Kosmos verlieren, wo es auch weder oben noch unten gibt. (Tarkowskij 2012: 154) Markus Rautzenberg 352 2 Tarkowskij zitiert hier das wahrscheinlich berühmteste Haiku Bashôs (Tarkowskij 2012: 154). 3 Cf. zum Beispiel: Boehm 2001, Belting 2001, Heßler/ Mersch 2009. 4 Vor allem sind hier zu nennen: “Die Fotografie als Botschaft” (Barthes 1961), “Rhetorik des Bildes” (Barthes 1964), “Der dritte Sinn” (Barthes 1970) sowie Die helle Kammer (Barthes 1985). 5 So auch zuletzt Helmut Lethen in Der Schatten des Fotografen (Lethen 2014: 95ff.). Es fällt auf, wie leicht sich hier “Haiku” durch “Fotografie” ersetzen ließe, ohne der Beschreibung etwas von ihrer deskriptiven Genauigkeit zu nehmen. Was Tarkowskij am Haiku fasziniert, ist eine durch Sprache erzeugte Bildlichkeit, ein kurzes hic et nunc, das in seiner geradezu provozierenden Knappheit an einen Schnappschuss, eine Momentaufnahme erinnert. Es scheint hier keine semantische oder hermeneutische Tiefendimension zu geben, alles liegt offen zutage und scheint trotzdem hermetisch verschlossen, transparent und opak zugleich zu sein. Ein Haiku wie Der alte Weiher! Es stürzt ein Frosch sich hinein - rauschendes Wasser 2 evoziert ein Bild im Moment des Lesens - nichts weiter. “Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung auszugeben” (ebd.: 155), ist für Tarkowskij gleichzeitig Definition des Haiku und Definition des fotografischen Bildes im Film. Das Haiku dient dabei als Katalysator für eine Theorie des Bildlichen, indem es als eine Art ‘Sprachfotografie’ entworfen wird, als ein Gebilde auf der Schwelle zwischen Sprach- und Bildartefakt. Dieser Schwellencharakter des Haiku ist auch deswegen von Interesse, weil er innerhalb aktueller Theoriediskussionen jenen Tendenzen entgegenwirkt, die Sprache und Bild als zwei kategorial unterschiedliche Weltzugänge postulieren. 3 So verstanden könnte eine Theorie des Haiku als ein Baustein einer Theorie des Bildlichen jenseits von iconic und linguistic turn dienen. 2 Die intensive Stummheit der Bilder. Haiku und Fotografie bei Roland Barthes 2.1 Mehr als Trauerarbeit: Fotografietheorie in Die helle Kammer Roland Barthes’ Schriften zur Fotografie 4 gelten als Grundlagentexte der Fotografietheorie und sind als solche neben Susan Sontags und Walter Benjamins Beiträgen aus keinem Seminar und keiner Einführung zu diesem Themenfeld wegzudenken. Insbesondere Die helle Kammer nimmt hier eine Sonderstellung ein, gilt dieses schmale Buch doch nicht nur als Durchbruch in der Fotografietheorie, sondern auch als theoretisches Vermächtnis des Semiologen und Philosophen, der im Jahr der Veröffentlichung durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam. In der Rezeption dieses Textes gibt es allerdings ein Ungleichgewicht, denn der vermeintlich biografische Anlass des Buches überschattet zuweilen die theoretischen Errungenschaften der Studie. Stets wird betont, dass Die helle Kammer aus einem bestimmten Ereignis im Leben Roland Barthes’ erwachsen sei, nämlich dem Tod der Mutter 5 , und es fehlt daher so gut wie nie die Erwähnung der Tatsache, dass jenes eine Foto (der Mutter), um das die Argumentationen des Textes sich dreht, im Buch selbst nicht reproduziert sei. So sehr Die helle Kammer ein persönliches Buch ist, das auf die Biographie Roland Barthes’ verweist, so falsch wäre es, diesen Text als eine Art Bekenntnisschrift des Autors zu missdeuten und damit in seiner theoretischen Valenz abzuwerten, denn Die helle Kammer markiert einen Wendepunkt im Werk Roland Barthes’. Durch ihre neuralgische Position in Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 353 6 Barthes umschreibt den Begriff der Signifikanz folgendermaßen: “Drittens ist das, worauf da und dort gehört wird (hauptsächlich im Feld der Kunst, deren Funktion oft utopisch ist), nicht das Auftreten eines Signifikats, das Objekt eines Wiedererkennens oder einer Entzifferung, sondern die Streuung schlechthin, das Spiegeln der Signifikanten, die ständig um ein Zuhören wetteifern, das ständig neue hervorbringt, ohne den Sinn jemals zum Stillstand zu bringen: Dieses Phänomen des Spiegelns nennt man Signifikanz (es unterscheidet sich von der Bedeutung).” (Barthes 1976: 263) Das “Spiegeln der Signifikanten” beschreibt ein Schillern der Signifikanten in ihrer Materialität, die Sinnlichkeit der medialen Oberflächen innerhalb der Semiose. dessen Denken erscheint Die helle Kammer - bedingt durch den Unfalltod des Autors - leicht als eine Abkehr von den zeichentheoretischen Positionen Barthes’ anstatt als das, was dieses Buch eigentlich ist: eine konsequente Auslotung und Weiterentwicklung der Zeichentheorie bis an den Rand ihrer Möglichkeiten. Tatsächlich ist Die helle Kammer zunächst die Bühne, auf der ein Ungenügen am strukturalistischen Denkstil artikuliert wird, ohne dabei jedoch das Interesse an der Signifikanz, der Praxis der Semiose, preiszugeben. 6 Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste Abschnitt die berühmten Analysen des studium und des punctum enthält und der zweite das bisher erreichte wieder revidiert, um über diese Begrifflichkeit hinaus jenes Noema des fotografischen Bildes zu erfassen, das sich einer Bedeutungszuteilung und semiotischen Einordnung strikt zu widersetzen scheint: das ‘Es-ist-so-gewesen’ und das ‘Das ist es! ’ der sinnlichen Evidenz. Während das punctum als ein Detail innerhalb der Fotografie beschrieben wird, dessen Signum es sei, den Betrachter zu ‘stechen’, unmittelbar zu affizieren, geht es Barthes im zweiten Teil der hellen Kammer um jenen Kern des Fotografischen, den er als das Noema dieses Medium zu erkennen glaubt - dessen Verhältnis zur Zeit: Zu der Zeit (am Anfang des Buches: das liegt schon wieder weit zurück), als ich mich nach meiner Vorliebe für bestimmte Photos fragte, hatte ich geglaubt ein Feld des kulturellen Interesses (das studium) von jener unerwarteten Textur unterscheiden zu können, die mitunter dieses Feld durchkreuzte und die ich das punctum nannte. Nun weiß ich, daß es noch ein anderes punctum (ein anderes ‘Stigma’) gibt als das des ‘Details’. Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die Zeit, ist die erschütternde Emphase des Noemas (‘Esist-so-gewesen’), seine reine Abbildung. (Barthes 1985: 105) Wie Tarkowskij stößt auch Barthes am Grund der Bilder auf das Problem der Zeit, auf die Art und Weise, wie Zeitlichkeit in Bildlichkeit verkapselt ist und erstere durch letztere unmittelbar erfahrbar wird. Es ist bekannt, dass diese ‘Entdeckung’ der Zeitlichkeit sich der Begegnung mit Fotografien der Mutter Roland Barthes’ verdankt - oder zumindest auf diese Weise in Die helle Kammer inszeniert wird. Die große affektive Qualität dieser Studie verdankt sich vor allem jenen eindringlichen Passagen, welche die Konfrontation des Autors mit diesen Bildern schildern. Jedoch ist es ebenso wichtig daran zu erinnern, dass diese Entdeckungen nicht aus dem Nichts kommen, sondern einer theoretischen Suchbewegung entsprechen, die Barthes’ Arbeit seit Beginn geprägt hat. Dieses spezifische punctum der Zeitlichkeit, das den zweiten Teil des Fotografie-Buchs dominiert, kommt daher nicht von ungefähr. Die Thesen und Entdeckungen der Hellen Kammer stehen in engem Zusammenhang mit Barthes’ Überlegungen zum Übergang von Sprache und Bildlichkeit, wie sie unmittelbar vor Abfassung der Hellen Kammer in den Vorlesungen am Collège de France entwickelt wurden, die in französischer Sprache erst 2003 ediert und 2008 unter dem Namen Die Vorbereitung des Romans und Das Neutrum auf Deutsch erschienen sind. Wie Tarkowskij stößt Barthes hier im Grenzland zwischen Sprache und Bild auf das Haiku, dessen Analyse eben diese Grenze als Scheindifferenz entlarvt. Zugleich sind in Auseinander- Markus Rautzenberg 354 7 Laut editorischer Notiz (cf. Barthes 2008: 127, Fußnote) ist Die helle Kammer direkt im Anschluss an die Vorlesungen, vom 15.04. bis zum 03.06.1979 niedergeschrieben worden. 8 Barthes geht mit diesem Plan innerhalb der Vorlesung sehr offensiv um, und die Lust am Zögern, das Ausschöpfen des Genusses an der reinen Möglichkeit des Schreibens ist dabei ein typischer Wesenszug des Barthes’schen Denkens: “Werde ich wirklich einen Roman schreiben? Ich sage dazu nur: Ich will so tun als ob ich mich anschickte, einen zu schreiben Ich will mich in diesem Als ob einrichten: Diese Vorlesung hätte den Titel tragen können ‘Als ob’.” (Barthes 2008: 57) Es handelt sich um das nie realisierte Romanprojekt “Vita Nova”; cf. hierzu das Vorwort von Nathalie Léger (ebd.: 17-30). 9 Der Zusammenhang mit dem für die ästhetische Moderne zentralen Aspekt der ‘Plötzlichkeit’ ist unübersehbar (cf. Bohrer 1981). setzungen mit dieser klassischen dreizeiligen Versform alle wichtigen Bausteine der Theorie des Fotografie, wie sie in Die helle Kammer ausgeführt werden, bereits präsent. Mehr noch: Die helle Kammer ist in ihrem theoretische Kerngehalt direkt aus den Vorlesungen zur Vorbereitung des Romans erwachsen. 7 2.2 “Ein Schreiben (eine Philosophie) des Augenblicks” In der Vorbereitung des Romans (2008) geht es um die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Schreibens - ein Thema, dass Roland Barthes Zeit seines Lebens beschäftigt hat. Die Vorlesungen gewinnen allerdings vor dem Hintergrund, dass er zu dieser Zeit selbst vorhatte einen Roman zu schreiben, 8 eine besondere Dringlichkeit, die in den Aufzeichnungen der Vorlesungen jederzeit zu spüren ist. Das zentrale poetologische Problem, das sich Barthes in diesem Zusammenhang stellt, lautet: “Kann man aus der G EGENWART eine E RZÄHLUNG (einen R OMAN ) machen? ” (Barthes 2008: 53) Um sich dieser Frage zu nähern, nimmt sich Barthes vor, zwei scheinbar extreme Pole literarischer Anverwandlung von Gegenwart exemplarisch zu untersuchen. Zum einen das Proust’sche Modell der mémoire involontaire, das aus scheinbar winzigen Wahrnehmungsdetails Welten aus Sprache schöpft; zum anderen jene Form, die für den Japan-Kenner Barthes der Inbegriff der knappen “Aufzeichnung”, die Essenz der kurzen “Notiz” zu sein scheint: das Haiku (ebd.: 56). Der Kontrast von Haiku und Recherche scheint maximal, aber Barthes’ Korrelation dieser so verschieden scheinenden Ansätze besteht darin, aufzuzeigen, dass diese beiden Prinzipien verwandt sind, indem sie sich im Gang der Argumentation als zwei Seiten derselben Medaille erweisen: Das ‘Prinzip Proust’ führt Sprache durch Detaildichte an den Rand der Wahrnehmung; das Haiku erreicht Ähnliches, indem es umgekehrt durch Unbestimmtheit ‘die Sache selbst evoziert’. Der Frage, auf welche Weise das Haiku dieses Kunststück vollbringt, widmet Barthes die erste Hälfte seiner Vorlesung zur Vorbereitung des Romans vom 02.12.1978 bis zum 10.03.1979. Das direkte publizistische Resultat der in dieser Zeit angestellten Überlegungen zur Vergegenwärtigungsmacht der Sprache ist die Fotografietheorie der Hellen Kammer. Schon in den ersten Ausführungen der Vorbereitung des Romans zeigt sich das Thema der Bildlichkeit als zentral für das Formproblem des Haiku. Für Barthes ist das Haiku in Anlehnung an eine Passage bei Paul Valéry zunächst “die Verbindung einer (nicht begrifflichen, momenthaften) Wahrheit und einer Form” (Barthes 2008: 64; Hervorh. im Original). Diese im Fall des Haiku sehr strenge Form aus drei kurzen Zeilen beschreibt Barthes als “Rahmung” (ebd.) und verweist so bereits an dieser frühen Stelle auf Prinzipien des Bildlichen; auch der Hinweis auf den spezifisch fotografischen Zeitmodus des Momenthaften ist hier schon gegeben. 9 Zudem spielt die ‘Schriftbildlichkeit’ des Haiku bei dessen Rezeption eine wesentliche Rolle, da es sich beim Lesen dieser knappen Form um die Erfahrung der “kleinen Form Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 355 10 Zum Begriff der Evokation und dem magischen Denkstil, der die Funktionalität des Begriffs im Zusammenhang mit Bildlichkeit gewährleistet, cf. Rautzenberg 2013. 11 Zitiert nach Barthes 2008: 78. par excellence” handle, d.h. um eine “Erfahrungstatsache bei der Lektüre” (ebd.: 66). Die kleine Form ermöglicht somit die Erfassung des Haiku als eines Hier und Jetzt, das somit ähnlich wie ein Bild funktioniert, sozusagen ‘mit einem Mal’ aufgenommen werden kann. Aus diesem Grund spielen Layout und Satz bei der Präsentation auch eine so große Rolle: “Die Seite muß luftig gesetzt sein, um das Haiku zu ernten” (ebd.) - eine Formulierung, die an das “Züchten der Bilder” bei Tarkowskij erinnert. Und: “Die Luftigkeit der graphischen Erscheinung gehört zum Wesen des Haiku” (ebd.: S. 67; Hervorh. im Original). Gerade aufgrund seiner Unbestimmtheit scheint das Haiku Raum zu brauchen. Wozu dieser Raum? Offenbar damit Konnotationen und Appräsentationen Platz haben, um sich ausdehnen und zusammenziehen sowie Umwege und eigene Wege gehen zu können und so Systolen und Diastolen ästhetischen Erlebens zu ermöglichen. Die im eigentlichen Sinne magische Operation des Haiku besteht nach Barthes in der Evokation eines “indirekten Objekts”, eines Objekts, das in den Zeilen des Haiku gerade nicht dargestellt wird, sondern aus den Zwischenräumen, der “Luftigkeit” der Form “emporsteigt” (ebd.: 79). Das Haiku ist somit eine direkte magische Operation, ein Hervorrufen (lat. evocare 10 ) des im ‘Kerngehalt der Wahrnehmung Verbildlichten’. Im Bett liegend Sehe ich die Wolken ziehen Sommerzimmer (Yaha) 11 Barthes’ semiologische Analyse dieses Haiku verdeutlicht die magische Operation der Evokation, die, jenseits jedes kruden Okkultismus, die Medialität dieses “Zaubers des Haiku” (ebd.: 71) in den Mittelpunkt stellt. Für Barthes bildet bereits die affektiv-assoziative Stärke der Denotation von Sommer den Ausgangspunkt dieses Dreizeilers: “Wenn man Sommer sagt, sieht man ihn bereits, ist man bereits im Sommer” (ebd.: 78; Hervorh. im Original). Für den Semiologen ist die “Prägnanz” (ebd.) des Wortes Sommer, seine Eindrücklichkeit, bereits in der Lage, eine bestimmte Wahrnehmungsdisposition zu schaffen, die den Hintergrund für alles weitere bildet. Das ‘Eingesperrt-Sein’ des Sommers im Zimmer führt dann zur einer Intensivierung der atmosphärischen Wahrnehmungsanmutung: Der in dem Zimmer gefangene Sommer ist intensiver: er ist darin gefangen als abwesender insofern er draußen ist. Am stärksten ist der Sommer im Inneren, dort, von wo er verdrängt wurde: Er triumphiert draußen und übt von dort Druck aus seine Intensität: I NTENSITÄT des I NDIREKTEN ; was besagt, daß der Umweg der eigentliche Weg der Mitteilung, der Erscheinung des Wesens ist. (Ebd.) ‘Druck ausüben’: einmal mehr begegnet hier eine quasi psychophysische Metaphorik, um die Dynamik innerhalb eines bildlichen Rahmens zu exemplifizieren. Die Nähe zu Tarkowskijs Begriff des Zeitdrucks ist deutlich, ohne den Vergleich überstrapazieren zu müssen. Dass die “Erscheinung des Wesens”, der “eigentliche Weg der Mitteilung” auf Umwegen geschieht, ist Teil einer ersten wichtigen Bestimmung der hier analysierten Verfahrensweise: Sie ist nicht über Beschreibungen zu erreichen, das Haiku ist konstitutiv un-deskriptiv, d.h. nicht nur einfach nicht-deskriptiv, sondern in seiner Form gegenüber der Deskription als literarischem Prinzip inkompatibel: Markus Rautzenberg 356 In alledem liegt keine Beschreibung des Sommers: es ist ein pures surrectum: das, was evoziert wird, aufsteigt, emporsteigt (surgere), ja sogar aktiv: was sich erhebt, surrector Die Zartheit des Haiku sollte uns nicht täuschen: In der Form strenger Geschlossenheit bildet es den Ausgangspunkt eines unendlichen Sprechens, in dem sich der Sommer entfalten kann auf dem Wege eines Umwegs, der - anders als der Satz - strukturell nicht irgendwo enden muss […]. (Ebd.: 79; Hervorh. im Original) Das “Unendliche” Tarkowskijs findet sich auch hier wieder: Kein transzendentes Jenseits, sondern ein Nicht-Enden-Müssen, eine genuine Offenheit ohne Beliebigkeit, denn die strenge Geschlossenheit der Form ist Bedingung der Möglichkeit der auch hier bereits implizierten, transmedialen, d.h. nicht auf bestimmte Medien beschränkten, Bildlichkeit. Der Vergleich zu Proust akzentuiert den fotografischen Aspekt des Haiku umso genauer, je mehr dieser in seiner momenthaften Zeitlichkeit bestimmt wird, die Barthes auch in räumliche Metaphern zu transformieren vermag: […] der Unterschied [zur mémoire involontaire, M.R.] besteht jedoch darin, daß das Haiku einem kleinen satori nahekommt; das satori erschafft eine Anspannung (daher die äußerste Knappheit der Form) Proust; das satori (die M ADELEINE ) bewirkt eine Ausdehnung - die ganze Suche nach der verlorenen Zeit ist der Madeleine entsprossen, so wie die japanische Blüte im Wasser aufgeht: Entwicklung, Einschübe, unendliche Entfaltung. Nur ist im Haiku die Blüte eben noch nicht aufgeblüht; das Haiku ist die japanische Blüte ohne Wasser, sie bleibt Knospe. (Ebd.: 85f.; Hervorh. im Original) Der Zustand des satori im Sinne einer blitzartigen Erleuchtung ist für Barthes seit dessen Japan-Buch (Barthes 1981) eine Leitmetapher zur Beschreibung ästhetischen Erlebens. Wichtig ist hier, dass sowohl die mémoire involontaire als auch das Haiku gleichermaßen als satori beschrieben werden. Beides sind verschiedene Modi desselben Phänomens. Anspannung als Moment des Plötzlichen, Schockhaften in der Zeit ist der räumlichen Ausdehnung der narrativen Entfaltung zwar gegenübergestellt, jedoch sind beide Modi nur verschiedene Zustände derselben ‘Pflanze’: Knospe und Blüte. Im Zustand der Anspannung ist im Haiku der Möglichkeitsraum als Möglichkeitsraum innerhalb einer bestimmten Zeitlichkeitserfahrung ‘verbildlicht’, in der Recherche hingegen narrativ ‘entfaltet’ (Raummetapher). Diese Konzeption, die etwa mit der Gegenüberstellung Lessings vom Bild als Raum- und der Poesie als Zeitkunst nicht mehr leicht in Einklang zu bringen ist, verkompliziert das Verhältnis von Sprache und Bildlichkeit nachhaltig. Das Verfahren des Haiku unterscheidet sich von der Erinnerungsarbeit der Suche nach der verlorenen Zeit also vor allem dadurch, dass hier die Zeit “sofort, auf der Stelle, zu finden (und nicht wiederzufinden)” ist (ebd.: 98; Hervorh. im Original): Die Z EIT wird sofort eingeholt = Gleichzeitigkeit der (schriftlichen) Aufzeichnung und ihres sinnlichen Anreizes: unmittelbarer Genuß des Sinnlichen und des Schreibens, eines das andere genießend vermöge der Form des Haiku (wir können übersetzen: vermöge des Satzes) Also ein Schreiben (eine Philosophie) des Augenblicks. (Ebd.; Hervorh. im Original) Schreiben zeigt sich als eine Form des Fotografierens und umgekehrt (graphein). Die Plötzlichkeit des Haiku führt Barthes im Verlauf der Vorlesung immer näher zur Fotografie als implizitem Movens der Analyse. Immer insistierender werden die fotografischen Metaphern, etwa wenn vom Verfahren des Haiku als von einem logischen “flash” die Rede ist (ebd.: 97; Hervorh. im Original) oder die Verfertigung von Haikus als eine Art “‘volkstümliches’ Ereignis, als ein ‘Nationalsport’” auch soziologisch in die Nähe der Fotografie gerückt wird (ebd. 73). Zentral bleibt jedoch stets der Zeitmodus, der in der Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 357 12 Vgl. im Gegensatz dazu die Beschreibung von literarischen Wahrnehmungsanmutungen bei George Steiner: “Es gibt Passagen bei Winckelmann, in Kenneth Clarks Untersuchungen über Aktdarstellung, in denen Worte zum sorgfältigen Dienst an der Berührung gepresst werden, in denen die Sprache zu einer nur um einen Schritt entfernten Entsprechung zu den taktilen Ebenen, Kurven, der gerundeten Wärme oder intendierten Kälte des Marmornen und des Metallischen gemacht wird. Die besten Leser von Texten, von Architekturkompositionen (sie sind selten) können die Genesis ihres eigenen Sehvermögens vermitteln; sie können nahe bringen, wie sich in Ihnen selbst die relevante Strukturierung und Verknüpfung zu begrifflicher Form gestaltet und dementsprechend auch in der Rezeption des Beobachters. Die das Werk animierenden und die am Wahrnehmungsakt beteiligten Nervensysteme verschränken sich miteinander.” (Steiner 1990: 246) Natürlich stehen die ‘Luftigkeit’ und Leichtigkeit des Haiku solchen Vorstellungen von ‘Erpressung zum Dienst an der Berührung’ entgegen und könnten damit auf ein fundamentales Missverständnis in der Argumentation Steiners hindeuten. fortschreitenden Beschreibung Barthes’ immer mehr jene begriffliche Gestalt annimmt, die in Die helle Kammer dann als punctum ausmodelliert wird: “Das Haiku ist das was tilt macht, eine Art kurzes, einmaliges und kristallklares Läuten, das sagt: Gerade hat mich etwas berührt” (ebd.: 98; Hervorh. im Original). Dieses “tilt” nennt Barthes den “Das-ist-es! -Effekt” (ebd.: 99), somit das “Noema” der Fotografie in Die helle Kammer vorwegnehmend. In dem Moment, in dem aus dem “tilt”, dem “klaren Läuten” ein “klick” wird, ist die Nähe zur Fotografie dann kaum noch als Analogie zu bezeichnen. Hier wird das Haiku vollends zur Sprachfotografie: “Ein gutes Haiku macht klick (tilt), bringt eine Erleuchtung löst etwas aus, zu dem es nur einen Kommentar gibt: ‘Das ist es! ’” (Ebd.: 138) ‘Klick’, das ist das Auslösegeräusch der Kamera, welches den Moment des fotografischen Akts, die Belichtung selbst, anzeigt, den Augenblick noch vor jeder Sinnzuschreibung, das factum brutum der fotografischen ‘Aufzeichnung’. Das ist der Moment, in dem sich Haiku und Fotografie jenseits aller medienontologischen Zuordnungen treffen: ‘Da, das’ Das ist alles, was ich zu sagen vermochte Vor den Blumen des Berges Yoshino (Teishitsu, Coyaud) Sagen, daß man nicht sagen kann: Danach strebt das ganze Haiku - zum ‘das da’. Letztlich gibt es nichts auszusagen als die schwindelerregende Grenze der Sprache, das deiktische Neutrum (‘das’) Sprache als Repression, Dogmatismus des Sinns: Wir wollen um jeden Preis einen Sinn […]. (Ebd.: 140) Gegen diesen ‘Willen zum Sinn’ steht das ‘Klick’ des Augenblicks, das für Barthes “offenkundig antihermeneutisch” (ebd.: 138) ist, das “momentane Gepacktwerden des Subjekts (Schreibers oder Lesers) von der Sache selbst”, aus dem sich “kein Sinn, keine Symbolik erschließen läßt” (ebd.: 139; Hervorh. im Original). Barthes bringt in seinen Vorlesungen zur Vorbereitung des Romans die Fotografie dann auch an einer Stelle direkt ins Spiel, welche retrospektiv als Kurzfassung oder Skizze der Kernideen der Hellen Kammer zu erkennen ist (ebd.: 126ff.). Sowohl philologisch als auch theoretisch sind hier vor allem die Differenzen zum Haiku interessant. Barthes erklärt, dass diejenige Kunstform, die es ihm erlaube, das Haiku zu verstehen, die Fotografie sei (vgl. ebd.: 127), jedoch seien beide Formen natürlich nicht identisch: “Meine Arbeitshypothese lautet, daß das Haiku den Eindruck vermittelt (nicht die Gewißheit: Urdoxa, Noema der Photographie), daß das, was es sagt, stattgefunden hat, unbedingt” (ebd.: 130; Hervorh. im Original). Das Haiku führt durch seine sprachliche wie schriftbildliche Prägnanz - seine Eindrücklichkeit - die Sprache an den Rand eines Wahrnehmungseindrucks, 12 ohne allerdings jene Markus Rautzenberg 358 Evidenzqualität zu erreichen, die von Barthes als ein Definitionskriterium der Fotografie postuliert wird. Jedoch “bleibt die Nähe zwischen Fotografie und Haiku sehr groß” (ebd.: 131), weil es sich hier wie dort um Zeichen “ohne Sinn” handle (ebd.). ‘Ohne Sinn’ bedeutet hier wie im oben angeführten Tarkowskij-Zitat, “daß sie nichts außer sich selbst und dann doch wieder so viel bedeuten, daß man ihren letzten Sinn unmöglich erfassen kann” (Tarkowskij 2012: 154). Den Unterschied zur Fotografie sieht Barthes in dem Umstand, dass letztere “genötigt [ist], alles zu sagen”, während das Haiku zugleich “abstrakt” und “lebhaft” wirke (Barthes 2008: 131). Beide seien jedoch reine Autoritäten, die sich vor nichts autorisieren müssen als dem Es ist so gewesen Vielleicht rührt diese Macht von der kleinen Form; Hypothese: Die Photographie ist als kleine Form zu betrachten ( Film: rhetorisch ausladende Form, reizt zu Ellipsen, Litotes). (Ebd.: 132; Hervorh. im Original) Die Analogie ist wichtig: Haiku ist auf die Fotografie wie die mémoire involontaire auf den Film bezogen. Film und Fotografie basieren auf dem fotografischen Medium als Bedingung ihrer Möglichkeit; der Unterschied besteht im jeweiligen Umgang mit Zeit. Der Film entfaltet, was im Foto bereits angelegt ist, dort aber latent bleiben muss: “Das B ILD ist sozusagen intensiv stumm” (ebd.: 111). Das bedeutet nicht, dass der Film die ‘Realisierung’ oder ‘Einlösung’ des Versprechens des Fotografie ist. Die ‘intensive Stummheit’ wird durch den Film nicht ‘zum Reden’ gebracht, sie bleibt als konstitutives Moment des Bildlichen stets erhalten und zeigt sich in dem jeweils spezifischen Zeitdruck der Bilder auch innerhalb der filmischen Einstellung. 3 Ausblick: Transmediale Bildlichkeit Die ‘kleine Form’ des Haiku dient sowohl Andrej Tarkowskij als auch Roland Barthes als Schlüssel zum Verständnis von Bildlichkeit, weil das Haiku die vermeintlich festen Grenzen zwischen Bild und Sprache zur Disposition stellt. In der Absicht, die Anverwandlung von Gegenwart in Sprache und Bild zu erkunden, stößt der Semiologie ebenso wie der Filmemacher auf die transmediale Verfasstheit des Bildlichen, das nicht auf Einzelmedien beschränkt ist, sondern ‘in vielen Medien seine Zelte aufschlagen kann’. Bilder selber sind von Hause aus intermedial. Sie wandern zwischen den historischen Bildmedien weiter, die für sie erfunden werden. Die Bilder sind Nomaden der Medien. Sie schlagen in jedem neuen Medium, das in der Geschichte der Bilder eingerichtet wurde, ihre Zelte auf, bevor sie in das nächste Medium weiterziehen. Es wäre ein Irrtum, die Bilder mit diesen Medien zu verwechseln. (Belting 2001: 214) Die theoretischen Überlegungen, die Barthes und Tarkowskij anlässlich des Haikus anstellen, weisen über den Befund Hans Beltings hinaus nicht nur auf eine Intersondern auf eine Transmedialität des Bildlichen. Aby Warburgs Theorem der Bildwanderung, auf das sich Beltings Nomaden-Metaphorik hier bezieht, müsste erweitert und um die Möglichkeit einer ‘Wanderung’ über Mediengrenzen hinaus ergänzt werden. Bildlichkeit ist, so scheinen die Analysen des Haiku nahezulegen, nicht an klassische Bildmedien gebunden. Das Haiku ist ein Sprachgebilde, das wie eine Fotografie aufgebaut ist und umgekehrt. Was sind dann aber Kriterien von Bildlichkeit, wenn sie nicht mehr exklusiv im Register des Sichtbaren verortet werden können? Die Empfindung eines Objekts als Beobachtung ausgeben 359 13 Der Begriff soll an dieser Stelle nur tentativ und nicht streng terminologisch gebraucht werden, denn eine Korrelation des hier Dargelegten mit der Geschichte der ‘Psychophysik’ von Fechner bis Freud würde eine genaue Untersuchung erfordern, die hier nicht mehr geleistet werden kann. a) Bildlichkeit hat, anders als Lessing es postulierte, konstitutiv mit Zeit zu tun. Der Faktor Zeit ist es, der die Phänomenologie des Fotografischen sowohl bei Tarkowskij als auch bei Barthes beherrscht. Beide Autoren beschreiben die Intensität des Bildlichen in Termini einer Art ikonischen ‘Psychophysik’ 13 , die mit Druck arbeitet. Anspannung und Entlastung, Druck und Dichte, Stau und Abfuhr zeigen sich hier als Konstituenten des ‘Lebens’ der Bilder. Auch das Moment der ‘Plötzlichkeit’ (satori, flash, klick) wäre hier zu verorten und über die geistesgeschichtliche Tradition hinaus, die Karl-Heinz Bohrer anhand der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aufgezeigt hat, mit den zur gleichen Zeit stattfindenden Medienumbrüchen, vor allem natürlich mit der Erfindung der Fotografie, in Verbindung zu bringen. b) Das Entscheidende des Bildlichen ist non-visuell. Beide Autoren kommen auf jeweils verschiedenen Wegen zu der Einsicht, dass die mediale Dynamik des Bildlichen maßgeblich durch das geprägt wird, was nicht zur Darstellung kommt, nicht zu Darstellung kommen kann. Sowohl Konnotation als auch Appräsentation verweisen auf die konstitutive Macht des Möglichkeitsraumes, der das aktuell Dargestellte als Rahmung umgibt und somit überhaupt erst zum Bild macht. Rahmungen sind jedoch flexibel: es kann die Kadrierung in Film und Fotografie sein, aber auch der Zwischenraum auf der Buchseite, die ‘Luftigkeit’, die das Haiku braucht, um seine ‘Bilder zu züchten’, ebenso wie die Strenge einer literarischen Form. Nicht-Dargestellt-Sein heißt aber nicht abwesend zu sein, im Sinne einer Leerstelle, die beliebig zur Disposition stünde. Die Semiose von Haiku und Fotografie beruht auf der skizzierten ‘Psychophysik’ des Bildlichen, die Konnotationen und Appräsentationen anzieht und abstößt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass am Beispiel von Barthes und Tarkowskij in besonderer Weise deutlich wird, wie fruchtbar es ist, Bild und Sprache nicht dichotomisch gegenüberzustellen, sondern an ihren medialen Rändern im Moment der ‘Ausfransung’ zu beobachten. Ein transmedialer Bildbegriff, wie er in den Ansätzen Tarkowskijs und Barthes’ zur Sprache kommt, wäre dabei nur ein - wenn auch sicher wichtiger - Aspekt einer möglichen diesbezüglichen Umorientierung in Semiotik, Ästhetik und Medientheorie. Bibliographie Barthes, Roland 1981: Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland 1985: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main: Suhrkamp Barthes, Roland 1961: “Die Fotografie als Botschaft”, in: Barthes 1990: 11-27 Barthes, Roland 1964: “Rhetorik des Bildes”, in: Barthes 1990: 28-46 Barthes, Roland 1970: “Der dritte Sinn”, in: Barthes 1990: 47-66 Barthes, Roland 1976: “Zuhören”, in: Barthes 1990: 249-264 Barthes, Roland 2008: Vorbereitung des Romans, Frankfurt am Main: Suhrkamp Belting, Hans 2001: Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink Markus Rautzenberg 360 Boehm, Gottfried 3 2001 (ed.): Was ist ein Bild? München: Fink Bohrer, Karl-Heinz 1981: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main: Suhrkamp Eisenstein, Sergej M. 1988: Das dynamische Quadrat. Schriften zum Film, Leipzig: Reclam Eisenstein, Sergej M. 2006: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Heßler, Martina und Dieter Mersch (eds.) 2009: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: Transcript Husserl, Edmund 2009: Logische Untersuchungen, Hamburg: Meiner (= Husserliana XVIII, hg. von Elmar Holenstein, Den Haag 1975 und Husserliana XIX/ 2, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984) Lethen, Helmut 2014: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin: Rowohlt Rautzenberg, Markus 2013: “Evokation. Zur non-visuellen Macht der Bilder - Eine Forschungsskizze”, in: Julian Hanich und Hans Jürgen Wulff (eds.) 2013: Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, Paderborn: Fink: 49-69 Rautzenberg, Markus 2014: “Transformatio Energetica”, in: Fabian Goppelsröder und Martin Beck (eds.) 2014: Sichtbarkeiten 2: Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Berlin/ Zürich: Diaphanes: 109-129 Steiner, George 1990: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? , München/ Wien: Carl Hanser Verlag Tarkowskij, Andrej 2012: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Berlin/ Köln: Alexander Verlag Linkische Fotografie Roland Barthes über die Produktivität des Bildes in Kontexten der Reproduktion Ulrich Richtmeyer (Potsdam) This essay discusses and compares Roland Barthes’s concepts of drawing and photography as explained in his Twombly-articles and his short and prominent book about photography, La chambre claire. It starts with the observation that well-known ideas and terms are brought forward in a rather similar manner between the mentioned texts. However, the result is quite different: Barthes explains graphics as a productive picture, whereas he defines photography as a completely reproductive medium. In recourse to Barthes’s two articles on Twombly, the essay investigates the process of perceiving and re-producing a picture and seeks to find an answer to the question as to whether there might be a stronger analogy between graphics and photography. In a first step, Barthes’s considerations about the productivity of drawing processes will be discussed and compared with important positions in recent theory of drawing. In a second step, Barthes’s notion of productivity within the domain of drawing will be compared with similar considerations about the productivity of photography, such as it is outlined in La chambre claire. Finally, the essay argues that pictorial re-production is always productive, which is why graphic and photography have heuristic qualities in common. 1 Einleitung Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Motiv der bildlichen Produktivität beim späten Barthes und zeichnet nach, wie es zwischen den beiden Twombly-Artikeln (“Cy Twombly oder Non multa sed multum”, “Weisheit der Kunst”) und der Hellen Kammer variiert wurde. Mit bildlicher Produktivität ist dabei nicht die instrumentale Bildproduktion gemeint - also Handlungen, die, bestimmten Darstellungsabsichten folgend, Materialien und Instrumente in Gebrauch nehmen, um mit ihnen Bilder zu erzeugen, obwohl auch in diesem Kontext die Produktivität des Bildes wirksam werden kann. Gemeint sind vielmehr Momente, Qualitäten, Vorkommnisse und Eigenschaften, die sich in solche bildgebenden Handlungen ungefragt und ungeplant einbringen und sie damit zu einem gelingenden Abschluss führen können. Aufgegriffen wird hierbei ein Gedanke, den Barthes zunächst in seiner Auseinandersetzung mit Cy Twombly geäußert hatte, wonach es dessen Zeichnungen gelingt, ihre eigene Reproduktion zu veranlassen - allerdings eine Reproduktion, die nicht etwa das grafische Ensemble, einen figurativen Gegenstand, eine bestimmte Narration oder die Materialität des Bildes betrifft, sondern vielmehr jene bildliche Produktivität, die in der Tätigkeit der Bildproduktion selbst wirksam werden kann. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrich Richtmeyer 362 Da die Twombly-Artikel zwischen Ende 1978 und Anfang 1979 und damit kurz vor der Abfassung der Hellen Kammer entstanden sind, ist es nicht verwunderlich, dass sich ihr begriffliches Repertoire bzw. ihre Motive (z.B.: Absicht, Prozess, Geste, Körper, Amateur und Tod sowie auch Produktion und Reproduktion) in Barthes’ letzter Monografie wiederholen. Es stellt sich aber die Frage, ob - und wenn ja: wie - dieser Themenkomplex einer produktiven Reproduktion von grafischen Bildern auch für die Fotografie gilt. Während in Barthes’ Twombly-Arbeiten also Einsichten in die bildliche Produktivität formuliert wurden, macht ihre Wiederholung in der Hellen Kammer zusätzlich noch auf den Unterschied zwischen Zeichnung und Fotografie aufmerksam. Weil sich Barthes den schöpferischen Gebrauch beider Bildmedien grundverschieden denkt, sind nun jedoch auch bildliche Produktivität und Reproduktion verschieden konzipiert. Diese Differenz zwischen grafischen und fotografischen Verfahren leuchtet ein; was ihr am Beispiel von Barthes nun aber auf irritierende Weise entgegensteht, ist die Tatsache, dass sich die Motive, die für die Produktivität des Zeichnens verantwortlich gemacht werden, ausgerechnet in der Analyse der Fotografie wiederholen. 2 Die produktive Struktur des Bildes Obwohl Bilder nicht notwendig produktiv sein müssen, hebt Barthes an ihnen grundsätzlich eine besondere Produktivität hervor. Es lohnt sich daher, zunächst zu schauen, unter welchen Umständen und wodurch Bilder laut Barthes produktiv werden. Produktivität des Bildes heißt hier, dass nicht die Gebrauchsweise oder die Darstellungsabsicht, das indexikalisch Dargestellte oder eine sprachförmige Bedeutung des Bildes relevant werden, sondern eine Sinnschicht oder Eigenschaft des Bildes, die all dies nicht ist und trotzdem auf wirkungsvolle und bildspezifische Weise Konsequenzen hat. Diese Präferenz für eine im Bild selbst fundierte Produktivität findet sich z.B. in den zahlreichen fototheoretischen Texten wie “Die Fotografie als Botschaft”, “Rhetorik des Bildes”, “Der dritte Sinn” oder Die Helle Kammer (cf. Barthes 1990 a, 1990 b, 1990 c sowie 1989); sie wird dort aber auf je verschiedene Weise entwickelt, so dass immer andere Facetten des Bildes - bzw. auch verschiedener Bildtypen - präferiert werden. Durchgehend hebt Barthes dabei jedoch einen besonderen, exklusiven und man kann sagen aisthetischen Modus der Bildrezeption hervor, um ihn von anderen - nennen wir sie zusammenfassend: kulturbasierten - Lektüren des Bildes zu trennen. Obwohl sich hierfür Texte aus mehreren Jahrzehnten anführen lassen, kehrt dabei regelmäßig eine bestimmte Darstellungsbzw. Argumentationsform wieder. Immer zählt Barthes ein differenzierendes Spektrum von bildlichen Rezeptionsformen auf, das mal zwei (Die Helle Kammer), mal drei (“Der dritte Sinn”), dann wieder drei (“Die Fotografie als Botschaft”) und mal fünf (“Rhetorik des Bildes”) Optionen aufweist und zumeist an letzter Stelle der Aufzählung eine exklusiv aisthetische Bildrezeption bevorzugt (analog zu meiner Aufzählung sind dies das punctum, der stumpfe Sinn, das fotografische Analogon und das fotografische Denotat). Die von Barthes hiervon unterschiedenen Umgangsweisen mit Bildern reproduzieren demnach bekannte Interessen, Funktionen oder Darstellungskonventionen. Sie werden meist als Spielarten einer ‘kulturellen’ Lektüre des Bildes ausgewiesen und gelten als intendiert, d.h.: sie folgen Darstellungsabsichten, die die Bildproduktion anleiten, während den exklusiv aisthetischen ‘Lesarten’ eine Abweichung zugestanden wird, die sich willkürlich oder zufällig einstellt, umso mehr deshalb, weil sie Akteuren wie Wilden, Kranken, Kindern, Dilettanten oder Amateuren zugeschrieben wird. Linkische Fotografie 363 1 “Diese Ungeschicklichkeit der Schrift (die allerdings unnachahmlich ist: versuchen sie, sie nachzumachen) […]” (Barthes 1990f.: 198). “Die unnachahmliche Kunst Twomblys liegt darin, daß er den Mittelmeereffekt anhand eines Materials (Kratzer, Schmierereien, Schlieren, kaum Farbe, keine akademische Form) durchgesetzt hat […]” (ebd.: 196). 2 Barthes spricht explizit vom “Zusätzlichen der Tat” (Barthes 1990 e: 168). In einem anderen Kontext interpretiere ich dieses Motiv in Richtmeyer 2014. 3 Die produktive Struktur der Zeichnung Es war auch dieses Themenfeld, in dem Roland Barthes vom “Linkischen der Hand” gesprochen hatte, das ihm als ein Qualitätsmerkmal von Twomblys Zeichnungen ins Auge fiel und zugleich deren Unnachahmbarkeit 1 auszudrücken schien: Man hat gesagt: TW [Cy Twombly; U.R.], das ist wie mit der linken Hand gezeichnet, gezogen. […] Der ‘Linkische’ (oder der ‘Linkshänder’) ist eine Art Blinder: Er sieht die Richtung, die Tragweite seiner Gesten nicht gut; einzig und allein seine Hand führt ihn, das Begehren seiner Hand, nicht deren instrumentale Eignung […]. (Barthes 1990 e: 170f.) Mit dem Ausdruck des Linkischen wird nicht etwa eine mehr oder weniger fiktive Linksvon einer Rechtshändigkeit zu trennen versucht, sondern vielmehr ein allgemeiner Kontrollverlust betont, der gewöhnlich dem Linkischen der Linkshänder nachgesagt wird, und zwar ganz unabhängig von der Frage, welche Präzision die motorische Beherrschung ihrer Handbewegungen tatsächlich aufweist. Der Ausdruck kann demnach als körperseitenneutral gelten. Er betont, dass jenseits der instrumentalen Verfügung über das entstehende Bild immer auch etwas Unerwartetes, Unvertrautes, Anderes, Nicht-Beabsichtigtes sichtbar werden kann. Die Produktivität des Bildes ist insofern etwas “Zusätzliches” 2 , eine Abweichung von üblichen Darstellungsabsichten oder Lektürekonventionen, eine Bildwirkung, die sich meist plötzlich und unvermutet einstellt. Zudem tritt der Ausdruck des Linkischen bei Barthes als ein Motiv im Verhältnis der Vorzur Nachzeichnung auf: Er benennt eine besondere Qualität der Vorzeichnung, die das Verhältnis von zeichnerischer Produktion und Reproduktion bestimmt, indem sie ein Nachzeichnen sowohl anregt als auch scheitern lässt. Zur Anregung heißt es etwa: “Die Einfachheit Twomblys […] ruft, lockt den Betrachter: Er will das Bild erreichen, nicht, um es ästhetisch zu konsumieren, sondern um es seinerseits zu produzieren (zu ‘re-produzieren’) […].” (Barthes 1990f.: 200) Als wesentliche Qualität einer produktiven Bildwirkung beschreibt Barthes im Twombly-Kontext also die Figur der Reproduktion bildlicher Produktivität. Es sind demnach also besonders die unkontrollierten, linkisch entstandenen Bilder, die eine Reproduktion ihrer Hervorbringung provozieren. So veranlasst die Produktivität des Bildes nicht einfach nur eine sprachliche oder schriftliche Wiederholung des Gesehenen, sondern eine Bildproduktion, die mit Farben auf dem Papier agiert. Aber auch als Bildproduktion wiederholt sie nicht einfach nur das bildlich Dargestellte, sondern vielmehr den Akt der Hervorbringung des Bildes, der Barthes als eine ähnlich objektlose Re-Produktion gilt: Das fünfte Subjekt ist das der Produktion: das Lust hat, das Bild zu re-produzieren. Etwa heute morgen, 31. Dezember 1978, es ist noch Nacht, es regnet, alles ist still, als ich mich an meinen Schreibtisch setze. Ich betrachte Hérodiade (1960) und habe wirklich nichts dazu zu sagen, außer der gleichen Platitüde: daß es mir gefällt. Aber plötzlich taucht etwas neues auf, ein Wunsch: der Wunsch, das gleiche zu machen: zu einem anderen Tisch zu gehen (nicht mehr dem Schreibtisch), Farben zu nehmen und zu malen, Striche zu ziehen. Im Grunde lautet die Frage der Malerei: “Haben Sie Lust, einen Twombly zu machen? ” (Barthes 1990f.: 201; Hervorh. im Original) Ulrich Richtmeyer 364 3 Konsequent hat Derrida dorthin den Sehsinn des Zeichnens verlegt. Cf. Derrida 1997: 11. 4 “Die gezeichnete Linie existiert in gewisser Weise immer in der Gegenwart, in der Zeit ihrer eigenen Entfaltung” (Bryson 2009: 28). Was zeichnet diese malerische Produktion aus? Auf welche Eigenschaften des Bildes reagiert diese Lust? Im Kommentar zu seinen eigenen Versuchen, Cy Twombly nachzuzeichnen, steigert Barthes die Metaphorik des Kontrollverlustes, indem er nicht nur vor- und nachzeichnende Hände in Beziehung setzt, sondern diese vielmehr schon mit der Grobmotorik von Füßen assoziiert: “Ich ahme nicht direkt TW nach (wozu auch? ), ich ahme das tracing nach, das ich, wenn nicht unbewußt, so zumindest phantasierend, aus meiner Lektüre folgere; ich kopiere nicht das Produkt, sondern die Produktion. Ich trete sozusagen in die Fußstapfen der Hand.” (Barthes 1990 e: 178; Hervorh. im Original) Das Nachzeichnen kopiert nicht, es versucht nicht das Motiv eines Vorbildes wiederzugeben, sondern vielmehr die linkische Aktivität seiner bildlichen Hervorbringung. Es imitiert die Unbeherrschbarkeit des Vorgangs und betont die Unmöglichkeit einer ‘authentischen’ Nachzeichnung. Man könnte Barthes hier also folgendermaßen zusammenfassen: Ist die linkische Qualität eines Bildes der Anlass seiner Reproduktion, so handelt es sich um einen Versuch, bildliche Produktivität selbst zu initiieren, sich auf sie einzulassen, sie freizusetzen. 4 Freiheitsgrade des Zeichnens Barthes’ Reproduktion des Bildes funktioniert demnach im Kern ähnlich wie die grafische Produktion Twomblys. Denn auch der Künstler will “einen Effekt erzeugen, und will es gleichzeitig nicht; die Effekte, die er erzeugt, hat er nicht unbedingt gewollt; es sind zurückgewandte, umgestülpte, entwichene Effekte, die auf ihn zurückfallen” (Barthes 1990 e: 168). Damit werden künstlerische Bildwirkungen angesprochen, die im bildproduktiven Prozess unvorhergesehen auftreten, auch wenn ihre Entstehungsbedingungen bekannt sind: An der Spitze seines Fingers, seines Auges, etwas entstehen sehen, das zugleich erwartet ist (von dem Stift, den ich halte, weiß ich, daß er blau ist) und unerwartet (da ich auch nicht weiß, welches Blau herauskommen wird, und wüßte ich es, so wäre ich immer noch überrascht, da die Farbe, wie das Ereignis, jedesmal schlagartig neu ist: Eben diese Schlagartigkeit macht die Farbe aus, wie sie auch den Genuß ausmacht). (Ebd.: 173f.; Hervorh. im Original) So beherrscht der Bildkünstler eigentlich nicht die entstehenden Werke; seine Virtuosität besteht vielmehr darin, dass er den Prozess der Hervorbringung anerkennt, indem er dessen Freiheiten akzeptiert und sich auf sie einlässt. Was sind dies nun für Freiheiten? Gehören sie zur klassischen Kulturtechnik des Zeichnens? Offenbar beruhen sie darauf, dass das Zeichnen räumlich und zeitlich isoliert ist, handelt es sich doch um ein Geschehen, das an der “Spitze des Fingers” 3 stattfindet, sich damit räumlich der Totalität des Bildträgers entzieht und zudem eine bestimmte ‘Gegenwärtigkeit’ 4 aufweist. So zumindest die Beobachtungen, die sich in Norman Brysons Aufsatz “A Walk for a Walk’s Sake” finden lassen und die die Medienspezifik der Zeichnung sehr treffend begründen: Sie beruht zunächst auf einer “Unbeschriebenheit des Papiers und einer Hand, die sich anschickt, ihre erste Spur auf der Oberfläche zu ziehen” (Bryson 2009: 28). Weil aber das weiße Blatt oder der unbezeichnete Untergrund immer “perzeptiv vorhanden, Linkische Fotografie 365 5 Cf. zur Benennung der “Urszene des Zeichnens im Zeitalter des Papiers” als die “weiße Szene” (Pichler/ Ubl 2007: 237). doch konzeptuell abwesend” (ebd.: 29) 5 ist, ergeben sich aus dieser ‘Reserve’ verschiedene bildlogische Konsequenzen. Während die Malerei ihren Malgrund vollständig bedeckt, kann sich die Zeichnung mit der Doppeldeutigkeit der ‘Reserve’ auch der Totalität des Formats entziehen, d.h. die einzelne zeichnerische Operation muss sich nicht in den Gesamtplan eines Formats fügen und ihre Linien oder Figuren an den vier Rändern eines Bildträgers ausrichten: Stattdessen kann die Linie in dem Moment, in dem sie gezogen wird, ihre Art und Gestalt allein in Bezug auf den lokalen Bereich bestimmen, dem sie unmittelbar angehört: einer ‘Vignette’, die als einzelne Zelle der Zeichnung existiert, von ihrer Umgebung abgesondert, abgeriegelt durch die neutralisierende Wirkung des schützenden Kokons der Reserve. (Ebd.: 29f.) Daher erfolgt das Zeichnen immer lokal, es entzieht sich der Totalität einer Bildkomposition. So führt in der Zeichnung die Doppeldeutigkeit des Zeichenträgers (‘perzeptiv vorhanden, doch konzeptuell abwesend’) zu einer Befreiung der zeichnenden Hand: In der Zeichnung befreit die Reserve den Stift von dieser komplizierten Berechnung der Totalität und reduziert seinen Entscheidungsspielraum auf einen Bereich, der auf einmal erfasst werden kann, einen lokal begrenzten Bereich, der dort liegt, wo sich die Hand jetzt befindet, in praesentia. (Ebd.: 30; Hervorh. im Original) Damit wäre der von Barthes beschriebene Freiheitsgrad des Zeichnens, wonach an der ‘Spitze des Fingers’ etwas entsteht, das unerwartet ist, medienspezifisch rekonstruiert. Das ‘Begehren der Hand’ führt die Gesten des linkischen Zeichners, nicht ihre instrumentale Eignung. Die Freiheit besteht zudem darin, dass wir es beim Zeichnen mit zurückweichenden Effekten zu tun haben, d.h. mit einem Souveränitätsverlust des Zeichnenden sowie Impulsen, die von der Tätigkeit selbst ausgehen. Auch diesen Aspekt betont Norman Bryson unter exemplarischem Hinweis auf Alexander Cozens Werk A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape. Es belegt, dass das Zeichnen von äußeren Anstößen und nicht von inneren Vorgängen veranlasst wird. Der die Zeichnung Ausführende gesteht ein, dass der Prozess die Richtung weist und der Geist folgt: zuerst der materielle Signifikant, Spuren am Papier; dann, danach, das Signifikat, die dargestellte Szene, der nominelle Referent. (Bryson 2009: 33) In den kommentierenden Worten Brysons findet das Zeichnen als eine “Verflechtung von außen und innen, eine ständige Kreuzung von innen (das Denken, die Sinneseindrücke, die Sensibilität des Künstlers) und außen (Papier, Pigment, Stift)” (ebd.: 35) statt. Damit wird jedoch das Vehikel des Zeichnens, die Linie, selbst zur treibenden Kraft. In aller Schärfe heißt es: “Die gezogene Linie bedingt oder formt die im Beobachtungsfeld ausgewählten Punkte; sie lenkt die Beobachtung in eine bestimmte Richtung oder auf einen bestimmten Weg” (ebd.). Das Zeichnen wird damit zu einer heuristischen Praxis, aber nicht weil es entsprechenden Wünschen unterliegt, sondern weil seine Ausführung Potenziale nutzt, die dem Zeichnen selbst entstammen: Die äußere Markierung am Papier wirkt steuernd auf den weiteren Verlauf des Schaffensprozesses zurück, in dem sie zunächst selbst hervorgebracht wurde. Insofern sie die Entscheidung des Künstlers über die nächste zu ziehende Linie leitet, bildet die Markierung eine Rückkopplungsschleife vom Papier nach innen. (Ebd.) Ulrich Richtmeyer 366 6 In Bezug auf Wittgensteins zeichnerische Beispiele zum Begriff des Regelfolgens habe ich dies untersucht in Richtmeyer 2012. 7 Yve-Alain Bois’ Studie zur Axonometrie (Ders. 1981) beschreibt exemplarisch eine zeichnerische Konvention, die um 1920 manifestartig vertreten wurde und die in der Lage ist, den klassischen Antagonismus zwischen Zentralperspektive und Parallelprojektion aufzuheben: Sie erschafft anschauliche Einzelzeichnungen, in denen Körper maßstäblich und unverzerrt dargestellt sind. Die Entwicklung der Axonometrie geht, wie Bois zeigt, auf diverse zufällige, singuläre, oft unbemerkt bleibende Variationen zwischen beiden Paradigmen zurück, so dass die neue Regel also nach Jahrhunderten ihrer zeichnerischen Erprobung irgendwann einmal formuliert werden konnte: “Die Geschichte der Axonometrie […] verlief in der Tat nicht linear; sie vollzog sich in mehreren unterschiedlichen Linien, auf denen es zu sporadischen Auftritten kam, die aber allesamt wieder in Vergessenheit gerieten” (Bois 1981: 46). Solche Auftritte waren unthematisierte Variationen der beiden leitenden Paradigmen ab ca. 1500. Im 18. Jh. kamen über Kriegskunst und technisches Zeichnen zwei weitere Impulse hinzu, die aus der Axonometrie Ende des 19. Jh. eine eigene Konvention werden ließen, der in der De Stijl- Bewegung 1923 dann ein avantgardistischer Status eingeräumt wurde. Immer ging das Zeichnen der Regel voraus und hat innerhalb eines games ein play stattfinden lassen. Bryson rekonstruiert damit einen notorischen Konflikt, der zwischen der Zeichnung als einem artistisch verantwortetem Werk und der offenen Prozessualität des Zeichnens besteht. Unabhängig von den vorgegebenen Motiven, Figuren, Darstellungsabsichten und -regeln etc. ist das Zeichnen ein bildproduktiver Prozess, der sich auf dynamische Weise immer auch selbst koordiniert, d.h. noch in der Reproduktion unvermeidlich produktiv wird. 5 Play und Game Für die Unterscheidung von Produkt und Produktion, auf der laut Barthes “das gesamte Werk von TW beruht” (Barthes 1990 e: 179), wird entsprechend auf eine terminologische Unterscheidung des Psychoanalytikers Donald W. Winnicott verwiesen. Er habe gezeigt, so Barthes, “daß es falsch war, das Spiel des Kindes auf eine bloße spielerische Betätigung zu reduzieren; zu diesem Zweck hat er an den Gegensatz zwischen game (dem streng geregelten Spiel) und play (dem sich frei entfaltenden Spiel) erinnert. TW steht natürlich auf der Seite des play, nicht auf der des game” (ebd.; Hervorh. im Original). Bezieht man diese Differenz auf die Praxis des Zeichnens, tritt folgender Aspekt in den Blick: Zeichnen ist - im Gegensatz zum Kritzeln oder Skizzieren - in seinen drei kulturgeschichtlich etablierten Domänen Wissenschaft, Technik und Kunst jeweils als ein regelhaftes Geschehen ausgewiesen, dessen Spiel insofern immer schon game ist. Aber - und das wäre für das Verständnis des Zeichnens ebenfalls zu betonten - durch seine Ausführung kommt es nachweislich zu einer Regelvariation, wie deutlich an der Entstehung und Tradierung klassischer zeichnerischer Regelsysteme zu beobachten ist. 6 Insofern ist Zeichnen in performativer Hinsicht ein play. Zeichengeschichtlich lässt sich dies etwa durch Hinweise auf Yve-Alain Bois 7 , Hubert Damisch oder Robin Evans (2011) belegen, die jeweils an historisch prominenten Konventionen des Zeichnens die produktive Regelvariation betont haben. Die Produktivität, die Barthes von den Bildwerken Twomblys ausgehen sieht, knüpft hieran an, indem sie selbst ein sich frei entfaltendes Spiel betreibt und in diesem Sinne die Rolle des Künstlers einnimmt: “Das Reale ist für das Kind - und für den Künstler - der Prozeß der Handhabung, nicht das produzierte Objekt” (Barthes 1990 e: 179). Entsprechend müsste hier als adäquate Illustration nicht der von Barthes nachgezeichnete Twombly gezeigt werden, sondern die Produktionssituation, wie sie Barthes selbst in seiner Autobiografie Linkische Fotografie 367 8 “Die Frage über den Ursprung der Malerei ist ungeklärt und gehört nicht in den Plan meines Werkes. Die Ägypter behaupten, sie sei bei ihnen 6000 Jahre, ehe sie nach Griechenland kam, erfunden worden - offensichtlich eine eitle Feststellung; die Griechen aber lassen sie teils zu Sikyon, teils bei den Korinthern ihren Anfang nehmen, alle jedoch sagen, man habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen; deshalb sei die erste Malerei so beschaffen gewesen, die nächste habe nur je eine Farbe verwendet […].” (Plinius 1997: VI, 17) 9 Hubert Damisch hat darauf hingewiesen, dass das Nachziehen der Kontur des Schattens nicht schon als ein souveränes Erzeugen von Linien verstanden werden kann, sondern vielmehr als eine tastende, immer wieder neu ansetzende Handlung: “In seinem intrikat geflochtenen Traité du trait weist Damisch darauf hin, dass der Ursprung der westlichen Zeichnung zwar als das zögernde Nachziehen eines Schattenrisses vorgestellt wurde (Butades-Mythos); der in der betreffenden Ursprungserzählung vorkommende Strich (trait), eine tastende, wiederholt ansetzende Geste, werde in der westlichen Tradition jedoch regelmäßig durch souverän gezogene Linien verdrängt (ligne), in denen die Vielzahl der Striche eine Vereinheitlichung erfährt.” (Bach/ Pichler 2009: 20) 10 Siehe hierzu auch: “Es liesse sich leicht darlegen, dass das Zeichnen immer ein Abweichen bedeutet. Es gibt Plausibilitäten, aber keine definitive Identität zwischen der zeichnerischen Darstellung und ihrem Gehalt.” (Boehm 2009: 51; Hervorh. im Original) präsentiert hat (cf. Ette 1998). Der spielerische Prozess bestimmt die Produktion: “Das Wirkliche, an das uns die Strichführung von TW ständig erinnert, ist die Produktion: Zug um Zug sprengt TW das Museum” (Barthes 1990 e: 179). Die Re-Produktion der Grafiken kann zwar die Qualität des Vorbildes nicht erreichen, sie ist aber ähnlich produktiv - und sei es nur im gegebenen Impuls, etwas nachzuzeichnen (wie überhaupt das Nachzeichnen dem Zeichnen als treibender Impuls voranzugehen scheint). Dies ist eigentlich nicht Barthes’ Erfindung, sondern lässt sich durch die Geschichte des Zeichnens zurückverfolgen, bis hin zu Plinius d.Ä., dessen Butades-Mythos (cf. Plinius 1997: XLIII, 151) als eine klassische Urszene des Zeichnens gilt. In ihm beginnt das Zeichnen als eine Fixierung und Erinnerung, mit der die Tochter des Töpfers Butades den Schattenriss des scheidenden Geliebten an der Wand festhält. Solch ein Nachzeichnen eines menschlichen Schattenrisses durch eine einfache Strichgrafik - ein Vorgehen, das laut Plinius von Ägyptern und Griechen gleichermaßen als der Ursprung der Malerei reklamiert wird 8 - folgt repräsentationalen Darstellungsabsichten und zeichnet sich durch indexikalische Qualitäten und Erwartungen aus. Gleichwohl entwickelt und variiert sich das Zeichnen mit jeder Zeichnung weiter, 9 schon um die latente Verunsicherung zu kompensieren, die der Zwang zum authentischen Abbild oder die Verpflichtung auf eine bestimmte Darstellungskonvention mit sich bringen. Mit anderen Worten: Barthes hat mit seiner Hervorhebung der Produktivität zeichnerischer Reproduktionen keine besonders ausgefallene These aufgestellt, sondern einen Vorgang beschrieben und exemplifiziert, den man in die allgemeine Mediengeschichte des Zeichnens einordnen muss. 10 Die personalisierende Anmerkung, dass Twombly mit seinen grafischen Arbeiten die Produktivität der zeichnerischen Reproduktion bereits reflexiv vorweggenommen hat, so dass ihre Sichtbarwerdung in der Grafik wiederum einen Aufforderungscharakter erhält, selbst nachzuzeichnen, lässt sich dann für grafische Bilder verallgemeinern. Aber gelten diese Betrachtungen zur Produktion, Reproduktion und der sie verbindenden Produktivität des Bildes auch für Fotografien? Kurz nach den Twombly-Artikeln beginnt Barthes die Arbeit an der Hellen Kammer, wobei zahlreiche ihrer Motive nun im Kontext der Fotografie wiederkehren. Ulrich Richtmeyer 368 11 Dazu schrieb bereits Sontag: “Die Spur des Magischen jedoch bleibt: sie wird zum Beispiel sichtbar in unserem Zögern, das Foto eines geliebten Menschen - besonders eines solchen, der tot oder weit weg ist - wegzuwerfen.” (Sontag 2004: 153) 6 Die reproduktive Struktur der Fotografie Roland Barthes hatte den Mythos einer notwendig welthaltigen Fotografie in der Hellen Kammer noch einmal bestätigt und gegen alle aufgeklärten Relativierungen fotografischer Authentizität behauptet. Sein Ansatz war, dass selbst diejenigen unter uns, die genauestens zu wissen glauben, dass ein fotografisches Bild die Wirklichkeit nicht unverfälscht wiedergeben kann, im Umgang mit dem Bild eines nahen Verwandten eben doch und unvermeidlich von einer beglaubigenden Beziehung des Bildes zur Welt ausgehen werden. Etwas sträubt sich in uns, das Foto einer vertrauten Person einfach als technisch vermitteltes und damit notgedrungen artifizielles Konstrukt einer Physiognomie anzuschauen, die so, wie sie uns begegnet, keiner historischen Wirklichkeit entspricht. Alle Hinweise auf Relativierungen über Perspektive, Beleuchtung, Bewegungssequenz, Brechung des Objekts durch das geschliffene Glas usw. können uns nicht von dem Gedanken abbringen, das Bild habe das Wesen der vertrauten Person in irgendeiner Weise aufgesogen, sie gleichsam konserviert und bürge damit für seine historische Existenz. 11 Nun hatte Barthes seine frühe These vom fotografischen Analogon in der Hellen Kammer als eine wissentliche Medienvergessenheit inszeniert und damit ihren kontroversen Status durchaus eingeräumt. Der Grundannahme seiner Argumentation können wahrscheinlich jedoch alle Lager zustimmen: Im Unterschied etwa zur Malerei lässt sich “in der P HOTOGRA - PHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist” (Barthes 1989: 86; Hervorh. im Original). Eines ist nämlich laut Barthes gewiss: Es muss vor dem Objektiv ein Objekt gegeben haben, dessen reflektiertes Licht im Foto zu sehen ist und wodurch das historische Ereignis in der Welt konserviert wird: “‘Photographischen Referenten’ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe” (ebd.: 86; Hervorh. im Original). Diese Verbindung von Realität und Vergangenheit mache das “Wesen, den Sinngehalt (noema) der P HOTOGRAPHIE ” (ebd.; Hervorh. im Original) aus. Die Fotografie ist demnach ein reproduktives Medium insbesondere auch dort, wo wir es mit jenem exklusiv aisthetischen Rezeptionsmodus zu tun haben, der sich punctum nennt, denn erst hier wird ja gegenüber dem konventionell deutenden Alltagsgebrauch das noema der Fotografie erfahrbar. Drei Jahre nach Veröffentlichung der Hellen Kammer hatte Vilém Flusser in Für eine Philosophie der Fotografie (1999 [1983]) auf die Provokation ihrer Thesen reagiert und dazu Gedanken zum technischen Bild und besonders dem der Fotografie weiterentwickelt, die sich bereits im medienhistorischen Stufenmodell der “kodifizierten Welt” (cf. Flusser 2008 [1978]) fanden. Als direkte Antwort auf Barthes’ Minimalthese, es müsse immer ein lichtreflektierendes Objekt draußen in der Welt als Ursache jedes einzelnen Fotos angenommen werden, kontert Flusser mit Ironie, indem er den dokumentarischen Vergangenheitsbezug der Fotografie nicht auf der Seite weltgeschichtlicher Ereignisse annimmt, sondern als bloßes Apparatgedächtnis ausbuchstabiert: Wer im Album eines Knipsers blättert, erkennt darin nicht etwa festgehaltene Erlebnisse, Erkenntnisse oder Werte eines Menschen, sondern automatisch verwirklichte Apparatmöglich- Linkische Fotografie 369 12 In einem Interview sagt Flusser 1988: “Roland Barthes, which to me is very important, and I started from his thought although I consider it totally wrong.” (Flusser 2010: 38) keiten. Eine derart dokumentierte Italienreise speichert die Orte und Zeiten, an denen der Knipser zum Druck auf den Auslöser verleitet wurde, und zeigt, wo der Apparat überall war und was er dort getan hat. (Flusser 1999: 53) Es ist diese Apparatfixierung, die Flussers Standpunkt auszeichnet und die die Vorstellung einer fotografischen Abbildlichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Vielmehr haben wir es bei technischen Bildern mit Abstraktionen dritten Grades zu tun, die keine Gegenstände in der Welt mehr abbilden und sich auch nicht auf sie beziehen, sondern die Bilder von Begriffen sind, die bereits die Programme der Apparate strukturieren. Kurzum: Der Apparat reproduziert sich selbst und er zwingt auch die Nutzer in Feedback-Schleifen. Auch Flusser nimmt also eine wesentlich reproduktive Struktur der Fotografie an, legt sie inhaltlich aber anders aus, nämlich nicht mehr als Emanation einer vergangenen Wirklichkeit, sondern als ein Feedback automatisierter Programmfunktionen. In einer weiteren Hinsicht ist Flussers - offensichtlich durch die Lektüre der Hellen Kammer inspiriertes - Nachdenken 12 über die Fotografie für unser Thema interessant. Zwar findet sich bereits in “Die kodifizierte Welt” (1978) die These einer medienkulturgeschichtlichen Evolution, die traditionelle grafische von gegenwärtig technischen Bildern trennt - allerdings noch ohne letztere ausschließlich fotografisch zu bestimmen. Das ändert sich erst in Flussers Für eine Philosophie der Fotografie von 1983, wo technische Bilder paradigmatisch als Fotos bestimmt werden. So wird die bei Barthes offene und ungeklärte Beziehung zwischen Grafik und Fotografie bei Flusser in eine strikte Differenz überführt. Er entgeht damit dem Dilemma, in das uns Barthes versetzt, wenn er bildliche Produktivität für beide ähnlich beschreibt, aber doch konträr bewertet. Zusammenfassend kann man sagen: Reproduktivität gibt es in der Fotografie gleich doppelt - erstens als eine kulturell-apparative Redundanz, die von Barthes und Flusser gleichermaßen vertreten wird, und zweitens als ein indexikalischer Wirklichkeitsbezug des Bildes. Wo und wie sind in der Fotografie aber Momente der Produktivität möglich? 7 Die Produktivität der Fotografie Im Gegensatz zum grafischen steht der fotografische Bildproduzent grundsätzlich in Frage. Viele Eigenschaften, die nach Barthes die Freiheit und Produktivität der Zeichnung ausmachen, kehren in der Fotografie zwar wieder, nun allerdings unter anderem Vorzeichen: Die Überlegung, dass Bilder dazu führen können, den Moment ihrer Produktion zu reproduzieren (und nicht unbedingt ihre Bildmotive), verwandelt sich in der Hellen Kammer in die These einer bedenklich redundanten Kooperation zwischen Fotografen und Rezipienten. Ihre Beteiligung an der Entstehung des Bildes sieht Barthes mit größter Skepsis, weil dabei immer nur die bekannten Interessen dominieren, die sich im Begriff des studium vereinen lassen: es bringt die “einförmige Photographie” (Barthes 1989: 50; Hervorh. im Original) hervor. Dieses Motiv wird Flusser in sein erstes Fotobuch aufnehmen und mit dem Begriff des Knipsers markieren, der ebenfalls redundante Fotografien erzeugt, auch wenn das studium sich nun nicht mehr im Spektrum des ikonografisch Bekannten, sondern innerhalb der omnipräsenten Apparatprogramme wiederfindet, die einen Begriff der schöpferischen Subjektivität Ulrich Richtmeyer 370 13 Für Flusser besteht der anspruchsvolle, nicht der alltägliche Umgang mit der Fotografie, der sich in Barthes’ studium findet, umgekehrt darin, genauestens die beiden konkurrierenden Absichten der Fotografie zu differenzieren: die des Fotografen und die des Programms. Experimentelle Fotokünstler, denen dies gelingt, beherrschen hier partiell den Apparat und auch das bildproduktive Geschehen. ausschließen (cf. Flusser 1999). Das Ergebnis bleibt jedoch bei Flusser und Barthes gleich: Solche Fotos unterbrechen keine Lektüre (cf. Barthes 1989: 51), erzwingen keinen Wechsel des Tisches, wie dies bei den Grafiken Twomblys geschah - oder in den Worten Flussers, der hier keinen Begriff ästhetischer Wirkungen hat: sie sind nicht informativ. Sie führen auch nicht zur Reproduktion ihrer Produktivität, sondern allenfalls zur Reproduktion ihrer Motive, Absichten und Darstellungsinteressen (bei Flusser: ihrer Apparatprogramme). Neben dem studium gibt es in der Fotografie aber auch das punctum, das wirkungsvolle Detail, das “nicht mit Absicht ins Spiel kommt” (Barthes 1989: 57), 13 also eine ähnliche Produktivität des Bildes meint, wie sie in den Twombly-Grafiken beschrieben wurde. Grundsätzlich ist die Fotografie daher auch bei Barthes produktiv, weil sich exklusive ästhetische Effekte nun theoretisch und heuristisch auswirken. Denn wenn die Auswahl und Darstellung von Fotos mit dem Zweck der Unterteilung ihrer Rezeptionsweisen in studium und punctum unternommen wird, stützt sich Barthes hilfreich auf Bilder, “die mir nahegingen (und die ich in methodischen Schritten zur P HOTOGRAPHIE an sich gemacht hatte)” (ebd.: 127). Sein Versuch einer Universalisierung des Wesens der Fotografie entzieht sich also der redundanten Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion der Bilder, die Gegenstand ihres studiums ist, und konzentriert sich vielmehr auf ihre exklusiv erfahrbaren und nicht intendierten Effekte: “Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht” (ebd.: 60). (In gleicher Weise entzog sich Flusser den üblichen Feedback-Schleifen, wenn er mit dem Hinweis auf experimentelle Fotokünstler den Typus eines exklusiven Produzenten konzipierte.) Die Auswahl der zu besprechenden Fotos ist also idiosynkratisch motiviert und folgt wesentlich echten Gefallenszuständen, keinem “durchschnittlichen Affekt” (ebd.: 35) - zumindest in dieser Hinsicht sind Fotos produktiv. Fotografien können die Reproduktion ihrer eigenen Hervorbringung veranlassen. Das geschieht laut Barthes und im Einklang mit Flusser ständig und lässt sich unter dem Motiv der Redundanz fassen, die zwischen Flussers Knipsern und der einförmigen Fotografie besteht. Zudem kann bei Barthes auch die Produktivität des Fotos Folgen haben, die dann aber im Modus des punctum nicht selbst zu einer Bildproduktion führen, wie sie Barthes an den Twombly-Grafiken noch beschrieben hatte. Ist es aber, analog zu den vorhergehenden Twombly-Artikeln, auch möglich, dass solch ein wirkungsvolles fotografisches Bild die Reproduktion seiner eigenen Hervorbringung veranlassen kann? Was hindert Barthes daran, das Linkische auf die Fotografie zu übertragen? 8 Der fotografische Prozess Anders als die Zeichnung führt das wirkungsvolle Foto nicht zu dem Wunsch, es zu reproduzieren (also in seiner Produktivität) zu wiederholen, weil Barthes für die Fotografie einen konträren Produktionsprozess annimmt. Genaugenommen gibt es keinen Prozess. Die fotografische “Emanation des Referenten” (Barthes 1989: 90) ist allenfalls eine chemische Reaktion, d.h. ein Vorgang, der wesentlich ohne menschliches Zutun verläuft und eben deshalb auch nicht als Bildproduktion reproduziert werden kann: Linkische Fotografie 371 14 Auch diese Minimalbedingung fotografischer Indexikalität findet sich ähnlich bereits bei Kracauer: “Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt worden ist aber statt der Großmutter jener Aspekt.” (Kracauer 1977: 32) Es heißt oft, die Maler hätten die P HOTOGRAPHIE erfunden (indem sie den Ausschnitt, die Zentralperspektive Albertis und die Optik der camera obscura auf sie übertrugen). Ich hingegen sage: nein, es waren die Chemiker. Denn der Sinngehalt des “Es-ist-so-gewesen” ist erst von dem Tage an möglich geworden, da eine wissenschaftliche Gegebenheit, die Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen, es erlaubte, die von einem abgestuft beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen einzufangen und festzuhalten. Die P HOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin […]. (Ebd.; Hervorh. im Original) Mit der Abgrenzung der Fotografie von der Malerei und ihrer zeichnerischen Perspektivkonstruktion setzt Barthes eine Differenz, die auch ihre produktiven und reproduktiven Verfahrensweisen trennt. Fotografieren ist demnach ein chemischer Prozess (in gleicher Weise hatte Flusser drei Jahre später argumentiert, allerdings mit der Betonung der Chemie als einer Wissenschaft, womit sich Fotografie auf Begriffe gründet. Darauf basiert dann auch bei ihm die scharfe Trennung zwischen dem gezeichneten und dem fotografischen Bild). Die für die Analogfotografie so wichtige Arbeit an einem Abzug in Dunkelkammer und Labor interessiert Barthes so wenig wie Flusser. Stattdessen verbindet Barthes mit der Auffassung einer vollständig indexikalisch bestimmten Fotografie auch eine Simplifizierung seiner Herstellung, wonach sich das vom fotografierten Gegenstand reflektierte Licht auf direktem Wege mit dem späteren Abzug verbindet, sodass “der einstige Gegenstand durch seine unmittelbare Ausstrahlung (seine Leuchtdichte) die Oberfläche tatsächlich berührt hat, auf die nun wiederum mein Blick fällt” (ebd.: 91) - eine Konstruktion, die auch für die Analogfotografie genaugenommen nicht mehr gilt. Denn: “die Gewißheit, daß der photographierte Körper mich mit seinen eigenen Strahlen erreicht” (ebd.: 92), ist schon mit dem zwischengeschalteten Negativ aufgehoben. Gleichwohl vertritt Barthes damit eine letzte Position der Authentizität der Fotografie, wohl wissend, dass er auf verlorenem Posten kämpft. Für ihn ist die indexikalische Vermittlung von Licht - unabhängig von der Tatsache, dass es reflektiert, fixiert, negiert, als Maske durchleuchtet, projiziert und wieder fixiert wird - Beweis einer Historizität (während in Flussers radikaler Gegenlektüre der Hellen Kammer mit der Fotografie das Zeitalter geschichtlichen Denkens endet und die Nachgeschichte beginnt). Zwar lässt sich Barthes’ entschieden vertretenem Realismus, der ja mit der schon sehr früh aufgestellten These vom fotografischen “Analogon” (Barthes 1990 a: 13) bzw. dem “adamischen Urzustand des Bildes” (Barthes 1990 b: 37) übereinstimmt, auch eine überzeugende Differenzierung abgewinnen, wenn es heißt, der fotografische Referent sei “eine notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe” (Barthes 1989: 86; Hervor. im Original). 14 Es wundert nur die Ausschließlichkeit, mit der Barthes den Prozess des Fotografierens dann zum bloßen Automatismus erklärt. Es gibt in der Fotografie demnach keine Kunst, sondern nur Magie, weil sie eine bloße “Emanation des vergangenen Wirklichen” (ebd.: 99; Hervorh. im Original) ist. (Für Flusser ist die Fotografie ebenfalls die ‘Emanation des vergangenen Wirklichen’, allerdings wertet er sie als vergangene und nunmehr ins technische Bild transformierte Schrift- und Begriffsgeschichte.) Barthes stellt sich die fotografische Produktion, also die Hervorbringung bzw. Anfertigung eines Fotos, nicht als einen Prozess vor, obgleich es aber genau dieses Prozesshafte ist, zu Ulrich Richtmeyer 372 15 Cf. zu diesem Aspekt ausführlich den Beitrag von Markus Rautzenberg in diesem Themenheft. 16 Lässt man diesen Übergang bei Benjamins Kunstwerkaufsatz beginnen, dann trennt Grafik und Fotografie eher der Wechsel von der Hand zum Auge: “Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen.” (Benjamin 1966 a: 10f.) Der Aspekt der technischen Reproduktion ist dabei weniger wichtig, denn im Holzschnitt wird die Grafik beispielsweise ebenfalls technisch reproduziert, aber weiterhin durch die Hand verantwortet (cf. ebd.). Die Hand des Fotografen ist auf den Fingerdruck am Auslöser reduziert (natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die handwerkliche Arbeit in der Dunkelkammer ignoriert wird), der wiederum als Reflexhandlung des Auges (Benjamin) oder gleich als Funktion des Apparats (Flusser) gilt. dessen Reproduktion Twomblys Grafiken einladen. Idealerweise geht es nur um einen Aufnahmemoment, während alle vorsätzlichen, geplanten Aufnahmeprozesse ihm als vollständig beherrschbar erscheinen. Deutlich wird dies selbst dort, wo über lange Zeiträume hinweg eine bestimmte fotografische Überraschung gesucht wird, wie zum Beispiel im Falle Edgertons, über den es ironisch heißt: “Seit einem halben Jahrhundert photographiert Harold D. Edgerton das Fallen eines Milchtropfens, zuletzt in einer Millionstel Sekunde” (ebd.: 42). Die gute, sprich: punktuierte Fotografie ist hingegen wie ein Haiku, bei dem auch alles bereits da ist: “Darin ähnelt die P HOTOGRAPHIE dem H AIKU , denn auch die Niederschrift eines Haiku läßt sich nicht entwickeln: alles ist bereits da […]” (ebd.: 59). 15 Wie entsteht also das wirkungsvolle Foto, wie kommt das punctum ins Bild? Es bezeugt den Aufnahmevorgang bzw. die Situation: “Das ‘Zweite Gesicht’ des P HOTOGRAPHEN beruht nicht darauf, daß er ‘sieht’, sondern daß er sich an einem bestimmten Ort befindet” (ebd.: 57). Auch solch eine Blindheit korreliert grundsätzlich noch mit Twomblys Arbeitsweise: Der ‘Linkische’ ist eine Art Blinder: Er sieht die Richtung, die Tragweite seiner Gesten nicht, hieß es über ihn. Barthes glaubt, dass dies für den Fotografen nicht gilt, weil er ganz klaren Absichten zu folgen scheint: “Ich stelle mir vor (das ist alles, was ich tun kann, da ich kein Photograph bin), daß die wesentliche Handlung des operator darin besteht, etwas oder jemanden zu überraschen (durch das kleine Loch im Gehäuse), und daß diese Handlung dann vollkommen ist, wenn sie ohne Wissen des photographierten Subjekts ausgeführt wird” (ebd.: 41; Hervorh. im Original). Diese Vorstellung verschafft nicht nur dem fotografierten Subjekt eine höhere Wahrhaftigkeit (im Sinne unverstellter Indexikalität), sondern simplifiziert im Gegenzug auch die fotografische Bildproduktion. 9 Die stillgestellte Geste Barthes’ Feststellung, dass das Bild beim Zeichnen an der Spitze des Fingers entsteht und damit über Freiheiten verfügt, die aus der räumlichen und zeitlichen Isolation hervorgehen, wiederholt sich für die Fotografie allenfalls in Flussers Polemik, wonach das Tasten der Fingerspitzen am Apparat die redundanten bildlichen Resultate auslöst (vgl. Flusser 1999 b: 28ff.). Das Punktuelle dieser bilderzeugenden Geste gilt nun - auch etymologisch plausibilisiert - als Ausweis der Digitalität und integriert den auslösenden Fingerdruck als Grundfunktion apparativer Programme. 16 Zwar konstatiert Barthes auch für die Fotografie eine Unnachahmlichkeit, wie sie für Twomblys Grafiken gilt; sie wird aber anders an den menschlichen Körper gebunden. Bei Twomblys Grafiken greift der Künstler selbst in die Bildproduktion ein: “Der Strich von TW ist unnachahmlich (versuchen sie ihn nachzumachen […]). Nun ist das Unnachahmliche Linkische Fotografie 373 17 In seinem Essay “Die Geste der Fotografie” weicht Flusser vom späteren Konzept einer rein programmatischen Verursachung der Fotografie ab und erklärt den Produktionsprozess performativ, weil die Bewegung des Fotografen und die Widerstände und Sprünge auf der Suche nach einem geeigneten Standort für das Bild konstitutiv werden (cf. Flusser 1994: 100ff.). 18 Dieser Gedanke wird bei Flusser aus dem existenziell biografischen Kontext heraus gelöst und in eine anthropologische und mediengeschichtliche These verwandelt. Der Fotoapparat wurde demnach entwickelt, um der Menschheit zu helfen, Informationen - nach Flusser: Unwahrscheinliches - hervorzubringen. Weil er aber als Apparat wiederum programmatisch funktioniert, muss er letztlich Wahrscheinliches produzieren, sich also in die unmenschliche Tendenz der Entropie einreihen, die im “Wärmetod” (Flusser 1999 a: 70) resultiert. letztlich der Körper” (Barthes 1990 e: 177). Eine ähnliche Produktivität des Körpers wird jedoch für die Fotografie ausgeschlossen, die den Körper nur als fotografiertes Objekt kennt: “das Unnachahmliche der Photographie” besteht darin, heißt es, “daß jemand den Referenten leibhaftig oder gar in persona gesehen hat” (Barthes 1989: 89; Hervorh. im Original). Dieser Jemand ist der Fotograf, der schon bei Benjamin und erst Recht bei Flusser als bloßer ‘Knipser’ gilt (cf. Benjamin 1966 b: 60). Die bildgebende Leistung steht dabei nicht ihm, sondern dem apparativen Automatismus zu. In einem kurzen Text mit dem Titel “Diderot, Brecht, Eisenstein” hat Barthes das Abbild als ein Bild beschrieben, das sich durch einen Ausschnitt kennzeichnen lässt: “Die Abbildung wird nicht unmittelbar durch die Nachahmung definiert […]. Das Organon der Abbildung […] wird auf einem doppelten Fundament ruhen, auf der Souveränität des Ausschnitts und auf der Einheit des Subjekts, das den Ausschnitt vornimmt” (Barthes 1990 d: 94). Selbst wenn man die fotografische Bildfläche also vollständig einem Realismus unterwirft, stünde zumindest diese Entscheidung - so könnte man meinen - dem Fotografen zu. Und sie kann linkisch getroffen werden - mit der ganzen Offenheit von Gesten, wie sie auch Flusser für die Geste des Fotografierens beschrieben hatte. 17 Dass diese fotografischen Gesten dann nicht mehr an die Virtuosität einer Hand gebunden sind, sondern an die unvorhersehbaren Bewegungsabläufe eines blickenden und apparativ sekundierten Körpers, stellt dabei keinen Einwand dar. Die ‘Geste’ des Bildermachens, die in der Zeichnung das ‘Zusätzliche der Tat’ hervorbringt, gibt es bei Barthes aber nicht mehr für die Fotografie: denn nicht nur Körper, auch Gesten treten nur noch als fotografierte Objekte auf, ohne aber in die Handlungen des fotografischen Bildermachens selbst einzugreifen. Während es zu Twombly heißt, er bezeuge, “daß das Wesen der Schrift weder in einer Form noch in einer Verwendung liegt, sondern bloß in einer Geste, die sie hervorbringt” (Barthes 1990 e: 166), tritt die Geste in der Hellen Kammer nur noch als ein zum idealen Zeitpunkt fotografiertes, d.h. stillgestelltes Objekt auf, welches damit aber nicht der Produktion des Bildes selbst angehört. Es gibt für die Fotografie demnach keine hervorbringende Geste. Auch die wesentliche Steigerung der These vom fotografischen Analogon, die in der Hellen Kammer die Fotografie dann als eine Verbindung von Leben und Tod konzipiert, findet sich ähnlich bereits als eine Qualität von Twomblys Grafiken - etwa wenn es heißt, sie seien “weder Eros noch Thanatos, sondern Leben-Tod in einem einzigen Gedanken, in einer einzigen Geste” (ebd.: 173), eben weil die Zeichnung “in einer unnachahmlichen Spur die Inschrift und die Auslöschung verbindet” (ebd.). Auch diese Doppelfigur findet sich im fotografischen Bild wieder, das nach Barthes “den T OD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will” (Barthes 1989: 103). 18 Zu dieser dialektischen Figur schrieb schon Kracauer: “Daß sie [die Kamera; U.R.] die Welt frißt, ist ein Zeichen der Todesfurcht. Die Erinnerung Ulrich Richtmeyer 374 Abb. 2: Entnommen aus: Archiv des Verfassers Abb. 1: Entnommen aus: Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (1980), übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 27 Linkische Fotografie 375 an den Tod, der in jedem Gedächtnisbild mitgedacht ist, möchten die Photographien durch ihre Häufung verbannen” (Kracauer 1977: 35; Hervorh. im Original). Für das, worauf es im exklusiven Foto ankommt, nämlich das punctum, gibt es keine produzierende Geste und damit offenbar auch keine Reproduktion: es lässt sich “nur in Form von Beharrlichkeit […] wiederholen” (Barthes 1989: 59; Hervorh. von mir, U.R.). So hält es Barthes auch für “nicht weiter erstaunlich, daß sich das punctum zuweilen, trotz all seiner Deutlichkeit, erst im Nachhinein offenbart, wenn ich das Photo nicht mehr vor Augen habe” (ebd.: 62). Dieses Wiederholen gilt also nicht als bildliche Reproduktion, sondern als das Nachwirken einer “gewissen Latenz” (ebd.), als ein Erinnern mit geschlossenen Augen (cf. ebd.: 62ff.). Aber selbst wenn Fotos, die ein punctum aufweisen, mitunter lange nachwirken, so spricht das eigentlich nicht grundsätzlich gegen die bildliche Wiederholung ihrer Produktivität. Als Beispiel möchte ich hierfür die folgenden beiden Abbildungen anführen. Abbildung 1 zeigt Alfred Stieglitz’ “The Terminal” (1892), nebenbei auch die erste Abbildung in der Hellen Kammer, wobei Barthes hier kein punctum als Detail identifiziert. Abbildung 2 zeigt eine Analogfotografie, die ich vor Jahren auf einem Ausflug machte und für die ich kein anderes Motiv hatte, als den Film zu füllen. Ich hielt das gedankenlos angefertigte Bild immer für misslungen, allerdings noch nicht einmal in dem anspruchsvollen Sinne, der darin besteht, vorsätzlich ein schlechtes Foto zu machen. Eines Tages stellte ich die mögliche Assoziation zu Stieglitz’ Bild fest und legte den Abzug auf die entsprechende Seite eines Fotobuches, das ich von ihm besitze. Es gilt mir seither als produktiver Beleg einer bildlichen Nachwirkung, wobei die Beziehung der Bilder weiterhin diskutabel ist. Der Pferdewagen trägt die Nummer “1 E”, die von mir aufgenommene Straßenbahn die Nummer “11 E”; Stieglitz’ Wagen fährt nach “Harlem”, meine Bahn nach “Wahren”; im Hintergrund gibt es jeweils eine Fassade und rechts vom Fahrzeug bestimmte Serviceutensilien, denn in beiden Fällen handelt es sich um die Endstation eines Schienenfahrzeugs. Bei Stieglitz beeindruckt mich vor allem aber die geometrisch klare und in besonderer Weise elliptische Kontur der beiden Schienenstränge im Vordergrund. Ich habe es nie nachkonstruiert, aber ich glaube, mein Bild zeigt exakt die gleiche Krümmung der Schienen. Hat Barthes nicht fotografiert, weil er glaubte, in der Fotografie gäbe es nichts Linkisches? Gäbe es jedoch eine linkische Fotografie, so müsste sie sich auch mit jener Figur der Reproduktion bildlicher Produktivität verbinden lassen, die Barthes an den Twombly-Grafiken beschrieb. 10 Linkische Amateure? Immerhin favorisiert Barthes auch das Dilettantische in der fotografischen Produktion, weil ihm hier die Figur des Amateurs wichtig ist: “Gewöhnlich wird der Amateur als unausgereifter Künstler definiert: als jemand, der zur Meisterschaft in seiner Profession nicht aufsteigen kann - oder will. Auf dem Felde der photographischen Praxis dagegen überflügelt der Amateur den Professionellen: er kommt dem Noema der P HOTOGRAPHIE am nächsten.” (Barthes 1989: 109) Barthes’ exklusives Verständnis des Amateurs ist auch gegen dessen professionelle Entwertung gerichtet. So knüpft er in der Hellen Kammer an Bourdieus frühe Studien zur Soziologie der Fotografie an (die in ihrem theoretischen Teil wesentlich in dessen Hauptwerk Die feinen Unterschiede eingehen werden). Der Hinweis auf Bourdieu findet sich in der Literaturliste der Hellen Kammer, allerdings handelt es sich um den einzigen der hier Ulrich Richtmeyer 376 19 “Fotoamateurklubs sind Orte der Berauschung an apparatischen Strukturkomplexitäten, Orte von Trips, nachindustrielle Opiumhöhlen” (Flusser 1999: 53). Flusser erwartet also weder vom Amateur noch vom Knipser die informativen Fotos, sondern von ambitionierten Künstler-Philosophen. 20 Auch das Thema der Vergrößerung wurde schon von Kracauer vorweggenommen: “So sieht die Filmdiva aus. Sie ist 24 Jahre alt, sie steht auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wir schreiben September. Wer durch die Lupe blickte, erkennte [sic] den Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen. Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint, sondern die lebendige Diva am Lido.” (Kracauer 1977: 21; Hervorh. im Original) angeführten Texte, dem am Seitenrand dann keine eigene Nennung gewährt wird. Eine passende Textstelle findet sich hier: […] doch eine lästige Stimme (die Stimme der Wissenschaft) sagte mir dann in strengem Ton: “Kehr zur P HOTOGRAPHIE zurück. Was du hier siehst und was dich leiden macht, fällt unter die Kategorie ‘Amateurphotographie’, die ein Soziologenteam behandelt hat: es belegt nichts anderes als das soziale Protokoll einer Integration, das den Zweck hat, die Institution der Familie zu stabilisieren, und so weiter.” (Ebd.: 15) Von solch einer soziologischen Bestimmung des Amateurs nimmt Barthes also Abstand und wertet dessen Status umgekehrt sogar auf, indem er ihn in die Reihe gesellschaftlicher Randgänger versetzt (der Wilde, der Verrückte, das Kind) - also dorthin, wo er auch Twombly und sich selbst als einen ‘unausgereiften Künstler’ verortet: “ich bin ein Wilder, ein Kind - oder ein Verrückter; ich lasse alles Wissen, alle Kultur hinter mir, ich verzichte darauf, einen anderen Blick zu beerben” (ebd.: 60). Das für die Helle Kammer zentrale Foto der Mutter aus dem Wintergarten wird so einem Amateurfotograf zugeschrieben: Da schließlich weder Nadar noch Avedon meine Mutter photographiert haben, verdankt dieses Bild sein Überleben allein dem glücklichen Zufall einer Aufnahme, die ein Provinzphotograph, ein gleichgültiger - im übrigen längst verstorbener - Vermittler gemacht hat, der nicht wußte, daß das, was er da festhielt, die Wahrheit war - für mich die Wahrheit” (ebd.: 121). Nichts von dem wissen, was in der fotografischen Aufnahme bedeutend sein wird, ist aber wiederum eine Bedingung, die mit dem Linkischen in Twomblys Grafiken korreliert. Der Kern der Produktivität des grafischen Bildes bestand ja in einem bildgebenden Handeln, das nicht mehr voll beherrscht oder kontrolliert werden kann. Ein Bild, das diesen Vorgang zeigt, lädt demnach ein, ihn selbst zu praktizieren. Aber ist das nicht auch mit dem fotografischen Bild möglich? Nun, für Roland Barthes deshalb nicht, weil er für die Fotografie kein (künstlerisch) handelndes Subjekt zulässt, nur einen idiosynkratischen Rezipienten. Barthes’ Begriff des Amateurs konzipiert eine sehr exklusive Rolle, weil er - anders als die fotografischen Amateure, denen Bourdieu eine Form der kulturellen Spezialisierung nachzuweisen versuchte oder die sich bei Flusser an “apparatischen Strukturkomplexitäten” (Flusser 1999: 93) berauschen 19 - nicht mehr in der Dimension des studiums agiert. Er bewirkt zwar die Entstehung des punctum, sein Tun gilt aber nicht als ein bildproduktives Handeln, weshalb es scheinbar auch nicht zur eigenen Reproduktion anregt. Genaugenommen führte aber auch die Fotografie aus dem Wintergarten zu einer bildlichen Re-Produktion, weil Barthes nach eigener Auskunft ein Labor mit einer Ausschnittvergrößerung beauftragt hatte. 20 Auch hier stellt er sich vor, dass die Arbeit am Bild einen rein konservatorischen Charakter hat: sie ‘reinigt’ die analoge Oberfläche. Doch das enttäuschende Ergebnis, dass das gesuchte Gesicht der Mutter nicht deutlicher wiedergegeben werden kann Linkische Fotografie 377 21 Linkische Fotografie findet sich z.B. zahlreich in den Sammlungen, die Peter Pillar aus Tageszeitungen und verschiedenen Archiven zusammengestellt hat. Besonders sehenswert sind etwa die Bildfolgen Regionales Leuchten, Fotografenauto oder ungeklärte Fälle (allesamt abrufbar in der Rubrik “Zeitung” auf http: / / www.peterpiller.de/ ). - “was ich vergrößere, ist nur das Korn des Papiers: ich löse das Bild auf, und zurück bleibt allein sein Stoff” (Barthes 1989: 111) -, läuft nach Barthes’ Position darauf hinaus, dass die Wahrheit der Fotografie geradezu verspielt wurde. Allerdings kehrt an der beschriebenen fotografischen Reproduktion das wieder, was als die Produktivität Twomblys beschrieben wurde: “weil das Papier zum Objekt des Begehrens geworden ist, kann die Zeichnung, von jeder technischen, expressiven oder ästhetischen Funktion losgesprochen, wieder auftauchen”, und zwar “befreit von Gründen, die seit Jahrhunderten die graphische Reproduktion eines erkennbaren Objekts zu berechtigen schienen” (Barthes 1990 e: 176f.; Hervorh. im Original). Um dieses großzügige Angebot auch der Fotografie zugestehen zu können, hätte Barthes mindestens drei Motive der Twombly-Texte korrektiv auf die Fotografie beziehen müssen: erstens wäre ihre stark indexikalische Interpretation zu revidieren; zweitens wäre der Prozess der Bildproduktion als ein offener und nicht gänzlich beherrschter zu verstehen; drittens wäre schließlich der Status des Gestischen einzubeziehen, der sich auf die Bewegungen der Körper und Gegenstände, Instrumente und Apparate und nicht nur auf instrumentalisierte Hände oder funktionalisierte Fingerspitzen bezieht. Erst dann erhielte die Fotografie die gleichen produktiven Freiheiten, die Barthes in der Analyse der künstlerischen Grafik konstatiert hatte und die sich unter einem rezeptionslogischen Fokus schon im Begriff des punctum konzentrieren. Das Ergebnis wäre eine linkische Fotografie, ‘befreit von den Gründen, die seit etwa zwei Jahrhunderten die fotografische Reproduktion eines erkennbaren Objekts zu berechtigen scheinen’. Fotografische Beispiele hierfür gibt es zuhauf, dokumentiert etwa in den Sammlungen Peter Pillars, theoretisch reflektiert in einer Vielzahl von Studien (cf. exemplarisch Geimer 2010) oder selbst in der Figur jenes unbekannten Amateurs, den Barthes in der Hellen Kammer erwähnt und damit letztlich als Exponenten einer linkischen Fotografie würdigt, die selbst auszuführen er sich allerdings nicht durchringen kann. Linkische Fotografie kann sich jedoch in der redundanten Welt der Knipser allerorts und ständig ereignen - nicht unbedingt künstlerisch verantwortet (das war sie im Falle Twomblys auch nicht), sondern vielmehr bewirkt durch die Produktivität des Bildes. Sie kann neben den Darstellungsintentionen, nach denen ein Bild hergestellt wird, als ein souverän agierendes Prinzip sichtbar werden und in Form fotografischer Attraktion (punctum) zu seiner eigenen Wiederholung einladen. Statt des Nachzeichnens ein Nachknipsen also, das nicht den abgebildeten Figuren gilt oder den stereotypisierten Posen, sondern der Produktivität ihres bildlichen Erscheinens. 21 Bibliographie Bach, Friedrich Teja & Wolfram Pichler 2009: “Ouvertüre”, in: Dies. (eds.) 2009: Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München: Fink: 9-23 Barthes, Roland 1990 a: “Die Fotografie als Botschaft” (1961), in: Ders. 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. 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Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst, Bielefeld: Transcript: 85-106 Sontag, Susan 1981: “Die Bilderwelt”, in: Dies.: Über Fotografie, Frankfurt a.M.: Fischer: 146-172 Review Article Was passiert “dazwischen”? Das Leben der Zeichen bei Roland Barthes (2013) und LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung (2011) André Reichert (Freiburg) In seinen jüngst erschienenen Monographien zum Werk von Roland Barthes schlägt Ottmar Ette vor, die Barthes’schen Schriften als LebensZeichen zu verstehen, da ein Lebenswissen, Erlebenswissen, Überlebenswissen und ein ZusammenLebensWissen in ihnen eingebettet sei. Dabei fällt sogleich auf, dass Ottmar Ette hier einen neuen Begriff des Lebens vorschlägt, den ich im Folgenden ausführen und diskutieren will. Diesem nähere ich mich zuerst indirekt an, indem ich ihn über ein Verständnis der Funktionsweise von Ideologie erläutere, wie es Roland Barthes in den Mythen des Alltags entfaltet. 1 Ideologie und Leben Die Ideologie erscheint bei Barthes als Gegenbegriff zum Leben. Ihre Funktionsweise wird am Begriff des Mythos erläutert, genauer: in der Kritik des bürgerlichen Mythos, der stets darum bemüht sei, Geschichte und Kultur in Natur umzuwandeln und diese damit als hergestellte unkenntlich zu machen (cf. Barthes 2013: 11). Damit geht einher, dass der Mythos einem Ding einen Sinn gibt, wenn der Mythos zu uns sagt: ‘Es kann nur so und nicht anders sein, dies ist seine Natur! ’ Die Aufgabe des Mythenforschers wird dann immer darin bestehen, die Funktionsweise des Mythos aufzuzeigen, ihn bloßzustellen, um das Leben der Dinge zu befreien. Dies lässt sich am besten erläutern, indem wir uns im Folgenden einigen Beispielen zuwenden. Roland Barthes beginnt die sehr materialreiche Mythenforschung mit einer Analyse des Amateurcatchens: “Die Welt des Catchens” (cf. ebd.: 15-28). Dabei interessiert den strukturalistischen Zeichentheoretiker, welche Geschichte in den Kämpfen erzählt wird. Und er bemerkt verwundert, dass es im Grunde immer die gleiche ist: Es gibt einen Schuft und einen fairen Kämpfer, die den “mythologischen Kampf zwischen Gut und Böse” (ebd.: 25) austragen. Der faire Kämpfer gewinnt die Oberhand, bis er vom Schuft überlistet wird, natürlich mit unlauteren Mitteln. Schließlich gelingt es dem fairen Kämpfer, den Schuft doch noch zu K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Landschaften der Theorie André Reichert 380 besiegen. Die Gerechtigkeit ist wieder hergestellt, das Publikum tobt vor Freude darüber, aber auch vor Schadenfreude, dass der Schuft in seine Schranken gewiesen wurde. Das Schauspiel des Catchens wird so einer Gesetzmäßigkeit unterstellt, die auf das Gesellschaftliche verweist, obwohl es die Möglichkeit hätte, ganz eigene Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln, ganz eigene Geschichten zu erzählen. Dennoch ist es immer diese Geschichte, die dargeboten wird, das Catchen hat nur diesen einen Sinn. Das Ideologische daran ist nun nicht das Entfremdete, es besteht vielmehr in der Eindeutigkeit des Sinns. Die Ideologie sagt: ‘Es kann nur so und nicht anders sein, das ist die Natur des Catchens! ’ Das Catchen wird so zu einer Schulung der Wahrnehmung, die sich an Parametern der Gerechtigkeit orientiert. In einem anderen analysierten Mythos, den auch Ottmar Ette ausführlich bespricht, geht es um die Überschwemmung von Paris. In “Wie Paris nicht unterging” (cf. Barthes 2013: 77-81) attackiert Barthes die mediale Berichterstattung über die Überschwemmung von Paris im Januar 1955 und findet immer wieder den einen Diskurs: Paris wurde von einer Katastrophe heimgesucht. Doch der Mythenkritiker gibt sich nicht damit zufrieden anzuerkennen, dass es hier um eine Naturkatastrophe geht - einerseits, weil hier ein hoch komplexer, kulturell eingebetteter Vorfall als natürlich klassifiziert wird, andererseits aber auch, weil die Katastrophe das Neue, was bei diesem Vorfall entsteht, als Ausnahme kategorisiert, um danach wieder zum Normalzustand zurückkehren zu können. Barthes hingegen interessiert der Verfremdungseffekt, die “Entautomatisierung der Wahrnehmung” (Ette 2013: 14), wie es Ette ausdrückt, die mit der Überschwemmung einhergeht. “Man sah Autos, von denen nichts blieb als ihr Dach, verkürzte Straßenlaternen, deren Kopf allein wie eine Seerose aus dem Wasser ragte, Häuser wie Spielzeugklötzchen zerlegt, eine Katze, die tagelang auf einem Baum festsaß” (Barthes 2013: 77). Die alltägliche Optik hatte sich verkehrt, die Überschwemmung offenbarte ein Fest der Dinge. “Sie besitzen keine Wurzeln mehr und entwickeln, erst einmal deterritorialisiert, ihre Autonomie, ihr fundamentales Eigen-Leben” (Ette 2013: 17). Die Dinge haben ihren angestammten Platz verlassen, auf den sie festgelegt schienen, und entfalten auf einer anderen Oberfläche (hier des Wassers) neue Verbindungen. Dies ist das Fest der Dinge, das Barthes gegen die Katastrophe der Überschwemmung stellt. Während die Ideologie die Überschwemmung vereindeutigt, indem sie den Vorfall naturalisiert, geht es Barthes darum, die Vieldeutigkeit vorzuführen, die durch die Verfremdung gewonnen wurde. Damit wird die Ideologie nicht mehr als Entfremdung gefasst, sondern als Vereindeutigung, die durch Naturalisierung operiert. Dagegen setzt Barthes die Verfremdung, die die Vieldeutigkeit des Lebens zuallererst herstellt. Das Leben ist dann für Barthes nicht das Authentische, hinter der Ideologie liegende und selbst Unhintergehbare, sondern muss zuerst hergestellt werden - durch eine Verfremdung. Wie dieser Begriff des Lebens entlang der Schriften von Roland Barthes entwickelt werden kann, führt Ottmar Ette in LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung vor. 2 Ein neuer Vitalismus Mit der Postulierung eines Vitalismus verbinden sich viele Probleme. Er kann dafür stehen, etwas Authentisches gegen das nur Gemachte zu stellen. Dies ist in einigen Biologisierungen der Fall, so als gäbe es das unmittelbar verfügbare, reine Leben. Er kann auch dazu dienen, einem gegebenen Feld eine Transzendenz einzupflanzen, die das Feld einer Gesetzmäßigkeit unterstellt, indem es auf dieses einwirkt. All dies wird hier nicht beschworen, ganz im Gegenteil. Mit dem von Ette postulierten Vitalismus bei Barthes geht es gerade darum, diese Was passiert “dazwischen”? Das Leben der Zeichen bei Roland Barthes 381 Denkformen hinter sich zu lassen. Die zentrale These Ettes lautet dann: “‘Leben’ und ‘Text’ [bilden] keinen Gegensatz: Es ist vielmehr Leben im Text” (Ette 2011: 89). Das Leben der Texte ist nicht ‘hinter den Dingen’ oder irgendwo außerhalb zu suchen; es wird vielmehr textuell hergestellt und kann sich auf keine andere Instanz berufen: “Es handelt sich […] im vollen Sinne um LebensTexte, insofern sie Aspekte eines Lebens und Erlebens thematisieren und entfalten, ohne doch an ein klar bestimmbares (wissenschaftliches oder literarisches) Subjekt rückgebunden werden zu können” (Ette 2011: 82). Damit ist gesagt, dass es nicht ein Subjekt hinter dem Text gibt, das diesem Leben einhaucht, vielmehr sind es die Texte selbst, die Leben hervorbringen. Man müsste sogar noch weiter gehen: Wenn das Leben der Texte in der Vieldeutigkeit besteht, in den unterschiedlich kodierbaren Relationen, die sie aufspannen, dann würde ein postuliertes Autorsubjekt gerade dazu führen, diese Vieldeutigkeiten und unterschiedlichen Logiken zu vereindeutigen, einem Muster zu unterstellen. Die Immanenz der Zeichen würde durch eine Transzendenz überformt, die Beweglichkeit der Texte stillgestellt. So insistiert Ette darauf, dass “die Zeichen, die uns in diesem durch die Erfahrung der Semiologie gegangenen Text gezeigt werden, nicht mehr von einem identifizierbaren Subjekt her kodiert und dekodierbar” (ebd.: 83) sind. Mit Blick auf Das Reich der Zeichen (Barthes 1995) formuliert Ette: “Alles wirkt, als wäre es gelebt, alles erscheint, als wäre es gefunden, und doch ist es oft erfunden. Alles wird von zeichenreichen Sinnstrukturen gequert, ohne je auf einen einzigen Sinn reduzierbar zu sein. Im Reich der Zeichen führen die Zeichen ihr Eigen-Leben” (Ette 2011: 94). Mit der Verabschiedung des Autors geht die Suspendierung einer vereinheitlichenden Sinninstanz einher, die dem Text einen Sinn gibt. Barthes sagt es so: Der Text gehe nicht in der Botschaft eines “Autor-Gottes” auf, sondern sei “ein Gewebe von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen” (Barthes 1992: 61). Und auch wenn der “Tod des Autors” (ebd.) für Barthes die Geburt des Lesers (cf. ebd.: 63; Ette 2011: 86f.) bedeutet, so meint das nicht, dass hier ein anderes Besonderes auftritt, das die Allgemeinheit wieder ins Spiel bringt. Der Leser steht für Barthes immer im Plural, wenn er dem Text Sinn gibt, der vom nächsten Leser, der auch er selbst sein kann, wieder verschoben wird. Damit wird die Relation Besonderes-Allgemeines durch die Relation Singuläres-Individuation ersetzt. Erst die Verknüpfung der singulären Zeichen schafft einen individuellen Sinn. Nicht diese Katze und jenes Auto, die durch die Überschwemmung einen neuen Platz erhalten: eine Katze, ein Autodach, eine Straßenlaterne … sind Singularitäten, sind Zeichen, die das Denken affizieren können. Dieser Begriff des Zeichens durchzieht das Werk Barthes’, bis hin zum punctum der Photographie (cf. Barthes 1985: 53ff.), dem Aufblitzen einer Singularität, die den Betrachter affiziert und zwingt, ihr einen neuen Sinn zuzuweisen. Der neue Begriff des Sinns ersetzt die Eindeutigkeit der Ideologie, indem er auf die Affizierung durch das singuläre Zeichen verweist. Damit ist auch gesagt, dass uns ein Zeichen auch nicht affizieren, unbedeutend bleiben kann. Aber wenn es anstößig wird, nicht gefasst werden kann, dann muss ihm ein Sinn zugewiesen werden. Um jedoch offen für diese Zeichen zu sein, bedarf es nach Barthes des Vergessens. Wenn die Ideologie die Macht bezeichnet, allen Dingen einen Sinn zuzuweisen, dann bedarf es des Vergessens, um nicht immer gleich ein Schema parat zu haben, das einem Ding seinen Platz zuweist. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France am 7. Januar 1977 beschreibt es Barthes wie folgt: “Wenn ich also leben will, muss ich vergessen” (Barthes 1980: 69; cf. Ette 2011: 155). Erst das Vergessen ermöglicht es, neu affiziert zu werden, ermöglicht das Leben. Damit ist auch gesagt, dass den LebensZeichen auch immer eine Zukunftsdimension innewohnt, was Ette besonders hervorhebt: “Denn Vergessen und Verlernen sind prospektive André Reichert 382 Dimensionen einer Lebenskraft, die als la force de toute vie vivante Zukunftsdimensionen des Wissens aufschließt” (Ette 2011: 26). Denn ein neuer Sinn, eine neue Relationierung von Zeichen, kann sich nicht auf etwas bereits Erfahrenes und dessen Erinnerung stützen. Es geht gerade darum, im Vergessen eine neue Offenheit wiederzuerlangen: “Es gilt, durch die Rückgewinnung von Offenheit in unserer Sichtweise der Vergangenheit jene Freiheit wiederzugewinnen, die uns […] die Konstruktion einer Offenheit der Zukunft, ja einer Eröffnung von Zukünften erlaubt […]. Barthes’ Denken ist prospektiv” (Ette 2011: 15). Damit kommt auch der Semiologie ein neuer Status zu, wenn sie immer auf die Ereignung des Neuen gerichtet bleibt. In jenem Text, dem Ette die für seine Interpretation wichtige Formulierung der “texte de la vie” (Barthes 1987: 11) entleiht, formuliert Barthes den Status seines Unternehmens: Die Semiologie bilde “keine Wissenschaft, Disziplin, Schule oder Bewegung, mit der ich meine eigene Person identifiziere”, sondern ein “Abenteuer” (ebd.: 8). Die Verfahren des Semiologen bilden die Verstellung, die Verschiebung und die Friktion. Immer geht es darum, zu verfremden, um den Dingen ein Eigenleben zu gewähren. Dieser Verlebendigung korrespondiert das Prinzip der Lust (cf. Barthes 2010). In der Lust besteht die Lebenskraft der Literatur, “die Lust am Text, die Lust des Textes, die Lust vom Text oder die Lust im Text” (Ette 2011: 116). Ist der eine Sinn verstellt - sind die singulären Zeichen verschoben und bewirken so eine Brechung der alltäglichen Wahrnehmung -, so ist es die Lust, die die Zeichen neu zusammenfügt. Die Lust bezeichnet das Prinzip des Materiellen, sich mit Anderem zu verbinden, um etwas Neues entstehen zu lassen. Erst durch die neue Konstellation ereignet sich Leben. Damit ist der Vitalismus immer eine Form der Legierung, der Verschmelzung von disparaten Dingen. Wenn Barthes in der Wasserlandschaft ein Autodach, eine Straßenlaterne und eine Katze zusammenfügt, um das Leben hervortreten zu lassen, so bemerkt Ette, dann unterläuft er “die in der europäischen Moderne etablierte scharfe Trennung zwischen dem Lebendigen […] einerseits und dem Nicht-Lebendigen, dem Anorganischen, der toten Dingwelt andererseits” (ebd.: 19). Damit besteht das Leben in diesen unerwarteten Gefügen - und gerade nicht in deren Bestandteilen. Damit bezieht der Vitalismus Barthes’ nun aber nicht nur das Anorganische mit ein, er selbst ist anorganisch, wenn er das Anorganische zu seinem Prinzip macht. Das Leben der Texte meint keinerlei Biologismus, Biographismus oder Transzendenz, es beschreibt die Produktion des Lebens durch Verfremdung, Verstellung, Verschiebung und Friktion. Das Leben bleibt auch nicht auf das Organische beschränkt, sondern entsteht durch die Konstellation von Singularitäten. Die neu entstandenen Gefüge nähren keinen vorgängigen Organismus, bringen auch keinen neuen Organismus hervor, sondern drücken anorganische Verbindungen aus, die einen neuen Sinn hervorgehen lassen. 3 Lebendige Landschaften Das Problem, das sich für Ette nun aus der Analyse der LebensZeichen Barthes’ ergibt, besteht darin, welche Form dann die Theorie einnehmen kann. Wie kommt man vom punctum wieder zum studium? Wie kann man dem semiologischen Abenteuer treu bleiben und dennoch Sinn produzieren? Dies ist die Ausgangsfrage von Roland Barthes. Landschaften der Theorie. Der neu eingeführte Begriff der Landschaft hebt dabei nicht den der LebensZeichen auf: “Das Barthessche Œuvre, das man in seiner Gesamtheit als eine Abfolge von LebensZeichen lesen kann, konfrontiert uns auf diese Weise mit lebendigen Landschaften, die sich uns dann erschließen, wenn wir bereit sind, scheinbar ‘natürliche’ Setzun- Was passiert “dazwischen”? Das Leben der Zeichen bei Roland Barthes 383 gen und Scheidungen nicht länger als gegeben hinzunehmen” (Ette 2013: 23). Die lebendigen Landschaften bezeichnen die Gefüge der lebendigen Dinge. Diese wurden zuallererst durch die Verfremdung hergestellt. Der damit verbundene Bruch mit dem Alltäglichen, den das Fest darstellte, wenn die Dinge aus ihrer Verankerung in der Dingwelt, ihrer Verwurzelung in der Erde gerissen werden (cf. Ette 2013: 23), wird von Barthes als dépaysement bezeichnet. Von hier geht Ette zu den paysages, den Landschaften, über. Nach Ette “geht es bei dem angesprochenen dépaysemant zweifellos auch um das Sichtbarmachen einer anderen Landschaft, eines paysage im Sinne einer Abkehr von und Verrückung der ‘uralten Organisation von Horizonten’” (ebd.: 25). Gegen diese universalen Verstehenshorizonte setzt Ette einen Landschaftsbegriff als “Bewegungsbegriff” (ebd.: 26). Die Landschaften sind für Ette Archipele mit “immer neuen Konfigurationen” (ebd.: 31). Er gewinnt den Begriff in Auseinandersetzung mit W.J.T. Mitchells Kräftefeld (cf. Mitchell 2002), das sich durch den Bezug von place und space ergibt (auch in Anschluss an Certeau 1990 und Lefebvre 1974), sowie in Rekurs auf Arjun Appadurais scapes (cf. Appadurai 1996), was darauf zielt, den räumlichen Begriff der Landschaft auf die sie konstituierenden Bewegungen zu gründen. Zentral für das Zusammendenken von Landschaft und Theorie ist dann aber die Referenz auf Joachim Ritter (cf. Ritter 1974), dessen Begriff der Landschaft wiederum auf die Definition von Carl Troll (cf. Troll 1950) zurückgeht: Troll hatte aus gewiss geographischer, für andere Herangehensweisen aber durchaus anschlussfähiger Perspektive die Landschaft als einen Teil der Erdoberfläche definiert, “der nach seinem äußeren Bilde und dem Zusammenwirken seiner Erscheinungen sowie den inneren und äußeren Lagebeziehungen eine Raumeinheit von bestimmtem Charakter bildet und der an geographischen natürlichen Grenzen in Landschaften von anderem Charakter übergeht.” (Ette 2013: 50f.). Für Ette bleibt nun problematisch, dass dieser Landschaftsbegriff an eine Subjektivität zurückgebunden bleibt, da dieser eine Zentralperspektive erfordere. Dagegen legt Ette den Begriff der Landschaft so an, dass sie aus einer Multiplizierung der Perspektiven hervorgeht: “eine ganze Welt sich wechselseitig durchdringender Blickpunkte jenseits jeder Zentralperspektive” (ebd.: 31). Denn die Zentralperspektive besetze immer eine machtvolle Funktion, die darin bestünde, den Raum zu organisieren, vorzustrukturieren (cf. ebd.: 33). Die archipelischen Strukturen bilden dagegen einen “Experimentierraum” (ebd.: 46). Theorie kann dann nur darin bestehen, die Landschaften zu entfalten, um dabei aufzuzeigen, welche Episteme sie entwerfen, um mit diesen zu experimentieren: “Schreiben der Theorie im Modus der Literatur, Entwurf der Episteme bei der Verfertigung der Kunst, De- Iterarisierung der Reise im Medium und Modell einer Landschaft der Theorie” (ebd.: 112f.). Aber setzt dieses Experimentieren nicht auch den Experimentierenden voraus? Beschränkt man durch die Multiplizierung der Perspektiven die Macht des Subjekts, das Leben der Dinge stillzustellen? Führt nicht der Begriff der Landschaft mittels eines relativen Horizontes nicht wieder ein Subjekt ein, das die Landschaft beherrscht? Kann man wirklich die Macht des Subjekts beschränken, indem man es vervielfältigt? Ist es nicht die große Lehre Barthes’, dass das Natürliche, das Objektive immer konstruiert ist? Warum also gegen die althergebrachten Horizonte die relativen, subjektiven Horizonte setzen? Vielleicht wäre hier der Begriff der Ebene oder gar der Immanenzebene passender, so wie ihn Deleuze und Guattari vorschlagen (cf. Deleuze/ Guattari 2000), da die Ebene ihre eigene Konstruiertheit betont, ohne auf ein Subjekt zu verweisen, dem sie erscheint. Diese Ebene wäre gebildet aus einem absoluten Horizont, auf dem die Dinge neue Aufteilungen André Reichert 384 erhalten. Dann müsste man Ettes Formulierung umkehren, die Barthes’ Text über den Eiffelturm (cf. Barthes 1970) wie folgt kommentiert: “Das Subjekt blickt nicht nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Turm, es weiß sich selbst im Blick des Eiffelturms” (Ette 2013: 64). Man würde dann feststellen: Erst durch den Blick des Eiffelturms, der den absoluten Horizont bildet, entstehen die unterschiedlichen Blickwinkel des Subjekts. Das Subjekt ist dann niemals einer Landschaft vorgängig, sondern besetzt den Raum, der durch den absoluten Horizont eröffnet wird. So wird die Lebendigkeit der Dinge entfaltet und die Bewegungen vervielfältigt. Bleiben sie an einen relativen Horizont, an Blickwinkel von Subjekten gebunden, werden ihre Bewegungen kontrolliert, bleibt das Ereignis des wirklich Neuen verstellt. Theorie wäre dann kein Experiment, sondern der Entwurf dieser Ebene, die das Leben der Dinge in Gang setzt. Der Landschaftsbegriff ist insofern produktiv und erhellend, als er die archipelische Struktur des Sinns betont, was seine Eingebettetheit im Sinnlichen mit einschließt, die Bewegung in das Räumliche einführt und die Relationen des Sinns an die Stelle der Tiefe der Bedeutung setzt. Aber es bleibt der Einwand, den Barthes bei der Beschreibung des Citroën DS in Klammern formulierte: “(denn der Tastsinn ist unter allen Sinnen der am stärksten entzaubernde, während der Gesichtssinn von allen der magischste ist)” (Barthes 2013: 198). Läuft der Begriff der Landschaft nicht Gefahr, der Magie des Gesichtssinns zu erliegen? Bräuchte man für die Beschreibung des sich ereignenden Sinns der LebensZeichen nicht ein Vokabular, das mehr auf die tastenden Bewegungen setzt als auf die erscheinende Landschaft? 4 LebensZeichen als Sinn der Sinnlichkeit Es ist das Verdienst Ottmar Ettes, die Kontinuität des Denkens des Lebens sowie der Lebendigkeit der Dinge in Barthes’ Gesamtwerk aufgezeigt zu haben, ohne den Strukturalisten gegen den Poststrukturalisten Roland Barthes, den Zeichentheoretiker gegen den Realisten auszuspielen, aber auch ohne dabei die Differenzen der Fälle und Konzeptionen in den unterschiedlichen Barthes’schen Schriften zuzudecken. Für die Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Sinnlichkeit eröffnet die Fokussierung auf das von Ette auseinandergelegte Konzept des Lebens bei Barthes einige neue Perspektiven. Während die Ideologie bei Barthes nicht für ein entfremdetes Leben, sondern vor allem für die Eindeutigkeit des Sinns steht, so setzt die Fokussierung auf das Leben der Dinge weder auf eine Authentizität noch auf eine Unverfügbarkeit des Lebens. Vielmehr muss das Leben selbst erst hergestellt werden, was Ette an den Texten Barthes’ vorführt. Erst durch die Verfremdung gelingt es diesen Texten, den Dingen eine Lebendigkeit und damit eine Vieldeutigkeit zu geben, die sich in neuen Relationierungen der Dinge verfestigt. Die sich neu zusammenfindenden Gefüge habe ich als anorganischen Vitalismus zu fassen versucht, um darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Lebendigkeit gerade nicht auf das organische Leben beschränkt, sondern, einem Prinzip des Anorganischen folgend, sich gerade in der Verkettung disparater Elemente ereignet, wobei ein neues Element das ganze Gefüge verändern kann. Das Prinzip der Verkettung ist die Lust und beschreibt das Bestreben der Dinge, Verbindungen einzugehen. Dieses Prinzip gründet im Körperlichen und nicht auf der Konzeption eines ideologischen Sinns, was zur Variation der Relationen führt. Diese neu entstandenen Relationen geben den Dingen einen neuen Sinn, der dem einen Sinn der Ideologie entgegensteht. Diese Landschaften oder Archipele des Sinns herauszuarbeiten ist die Aufgabe der Theorie, ohne dabei jedoch die Offenheit des Sinns zu beschränken. Damit ist der Sinn immer eingebettet in die Relationen der Dinge und bleibt damit auch an Was passiert “dazwischen”? Das Leben der Zeichen bei Roland Barthes 385 diese gebunden, was seine Veränderlichkeit einschließt. Der so verstandene lebendige Sinn ist immer in Auseinandersetzung mit der Ideologie zu denken, da er nur aus der Variation derselben seine Produktivität erhält. 5 LebensZeichen und Schriftbildlichkeit Ottmar Ettes Konzeption der LebensZeichen kann außerordentlich fruchtbar für die Textwissenschaften sein, was im Sinne eines Ausblicks nun am Beispiel schriftbildlicher Forschungen angedeutet werden soll. Schriftbildliche Forschungen interessieren sich für die bildlichen Dimensionen der Schrift, was die Fokussierung auf den Sinn einen Moment lang zurückstellt, um die Materialität der Texte nicht aus dem Blick zu verlieren. Einen wichtigen Forschungszweig bildet dann die Auseinandersetzung mit der Handschrift. Der Rückgang auf die Handschrift, so könnte man nun mit Barthes formulieren, besteht aber nicht darin, auf das authentische Manuskript zu schauen, um herauszufinden, was der Autor wirklich meinte. Vielmehr ist dies eine Verfremdung des Textes, der den Sinn, den man diesem Text in der Auslegungstradition gab, zurückstellt, um so die Zeichen wieder lebendig werden zu lassen. Ottmar Ette drückt es mit Blick auf Roland Barthes’ Kryptographie wie folgt aus: Die “Wörter entwickeln so ein Eigenleben” (Ette 2011: 44). Vielleicht entstehen so neue Nachbarschaften, neue Relationen, die auch einen neuen Sinn offenlegen, der dann wieder in die Auslegungstradition eingebracht werden kann. Damit wird der Sinn als niemals ablösbar vom Text betrachtet, sondern immer in seiner materiellen Eingebettetheit zu analysieren sein. Einen Spezialfall stellen nun diagrammatische Zeichnungen dar. Sie bestehen aus Wörtern, Linien, eventuell Legenden, Pfeilen, manchmal Zahlen usw. und rufen so das ganze Arsenal des Symbolischen auf, um, so könnte man es mit Ette formulieren, eine Landschaft zu entwerfen. Diese können als der Ort verstanden werden, an dem die Zeichen neue Relationen entfalten, die vielleicht erst beim Aufzeichnen des Diagramms entstehen oder abgelenkt werden. So könnte man die gezeichneten Diagramme, die in die Bücher Gilles Deleuzes eingegangen sind, als Landschaften der Theorie untersuchen. Denn sie unternehmen eine neue Aufteilung der Zeichen, die den Text selbst zu verändern scheinen. Sie bilden eine Verfremdung, indem sie eine neue Ebene aufspannen, andere Mittel nutzen, um jedoch eine Ähnlichkeit zum Sinn des Textes zu produzieren, um diesen zu verändern. Aber auch hier würde ich den Begriff der Ebene bevorzugen, da diese Diagramme weniger auf eine oder mehrere Perspektiven verweisen und auch keinen relativen Horizont besitzen. Sie zeichnen einen absoluten Horizont, der konstruiert ist, um auf der Ebene eine Aufteilung von Zeichen zu entwerfen, die gedacht werden muss. Das gezeichnete Denkdiagramm interveniert dann in den Text, wenn es seinen Sinn in den des Textes einfließen lässt (cf. Reichert 2013). Damit werden die graphischen Linien, gleich ob sie sich zu Buchstaben, Zahlen oder Pfeilen verformen (oder eben nicht), zu gleichwertigen Zeichen, die einen Sinn generieren können. Für Barthes sind es die traits, die Züge (von Linien), “ein Wort mit graphischer und sprachlicher Bedeutung”, wie Ette hervorhebt (Ette 2013: 102), womit angedeutet wird, so Ette weiter, “dass die Grenze zwischen Bild und Schrift eine arbiträre abendländische Setzung ist” (ebd.: 91). Beide medialen Register dienen dazu, singuläre, lebendige Zeichen hervorzubringen, um sie so einen neuen Sinn generieren zu lassen. Folgt man dieser Idee, so könnten Ottmar Ettes Interpretationen der Schriften Barthes’ als LebensZeichen eine vielversprechende Inspirationsquelle für weitere schriftbildliche Forschungen werden. André Reichert 386 Bibliographie Ottmar Ette: Roland Barthes. Landschaften der Theorie, Konstanz: Konstanz University Press 2013, 153 S., 16,90 Ottmar Ette: LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung, Hamburg: Junius 2011, 189 S., 13,90 Appadurai, Arjun 1996: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis/ London: University of Minnesota Press Barthes, Roland 1970: Der Eiffelturm, übersetzt von Helmut Scheffel, München: Rogner & Bernhard Barthes, Roland 1980: Leçon/ Lektion. Antrittsvorlesung am Collège de France. Gehalten am 7. Januar 1977, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1985: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1987: Das semiologische Abenteuer, übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1992: Das Rauschen der Sprache, übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1995: Das Reich der Zeichen, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barthes, Roland 2010: Die Lust am Text, übersetzt von Ottmar Ette, Berlin: Suhrkamp Barthes, Roland 2013: Mythen des Alltags, übersetzt von Horst Brühmann, Berlin: Suhrkamp Certeau, Michel de 1990: “Pratique d’espace”, in: ders.: L’invention du quotidien, Bd. 1: Arts de faire, Paris: Gallimard: 139-191 Deleuze, Gilles & Félix Guattari 2000: Was ist Philosophie? , übersetzt von Bernd Schwibs & Joseph Vogl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Lefebvre, Henri 1974: La production de l’espace, Paris: Anthropos Mitchell, W.J.T. 2002: “Preface to the second edition of Landscape and Power”, in: ders. (ed.): Landscape and Power, Second Edition, Chicago/ London: The University of Chicago Press: vii-xii Reichert, André 2013: Diagrammatik des Denkens. Descartes und Deleuze, Bielefeld: Transcript Ritter, Joachim 1974: “Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft”, in: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 141-163 Troll, Carl 1950: “Die geographische Landschaft und ihre Erforschung”, in: Studium Generale 3: 163-181 Die Autoren / The Authors Dr. Elisabeth Birk hat 2009 im Fach Germanistische Linguistik zu Goodman und Wittgenstein promoviert. Von 1999 bis 2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der RWTH Aachen, zuletzt im Forschungsprojekt “Anthropologische Universalien - kulturelle Differenzen”. Von 2010 bis 2012 war sie als Postdoktorandin am DFG Graduiertenkolleg “Schriftbildlichkeit” (FU Berlin) tätig. Seit 2013 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Chemnitz. Aktueller Forschungsschwerpunkt ist die Schriftlinguistik und Schrifttypologie. Jun.-Prof. Dr. Martin Endres ist Juniorprofessor für ‘Medialität und Performativität der deutschen Sprache und Literatur’ am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. Er promovierte mit einer Arbeit über ‘Poëtische Individualität’. Hölderlins Empedokles-Ode (De Gruyter 2014). Er ist Gründungsmitglied des Forschungskreises “Textologie der Literatur und Wissenschaften” und Mitherausgeber der Textkritischen Edition der Ästhetischen Theorie von Theodor W. Adorno. Derzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel Poetiken des Denkens. Hegel, Wittgenstein, Derrida. Thorsten Gabler war DFG-Stipendiat des Graduiertenkollegs “Schriftbildlichkeit: Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen” am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und arbeitet an einem Promotionsprojekt zur Materialästhetik brieflicher Kommunikation im 19. Jahrhundert. Er war von 2007 bis 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und deren Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dr. Mark A. Halawa promovierte in Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz mit der Arbeit Die Bilderfrage als Machtfrage. Perspektiven einer Kritik des Bildes (Kadmos 2012). Von 2010 bis 2012 war er Postdoc-Stipendiat im Graduiertenkolleg “Schriftbildlichkeit” an der FU Berlin sowie im Anschluss ebendort wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Philosophie. Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Internationalen Graduiertenkolleg “InterArt” an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Pragmatismus, philosophische Ästhetik, Medienphilosophie (insbes. vergleichende Bildtheorie), Philosophie der Wahrnehmung (insbes. Phänomenologie, Aisthetik sowie Theorien der Visualität), Zeichen- und Symboltheorie. Wichtigste Publikationen: Wie sind Bilder möglich? Argumente für eine semiotische Fundierung des Bildbegriffs (2008); Die Bilderfrage als Machtfrage. Perspektiven einer Kritik des Bildes (2012); Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis (ed. mit Marcel Finke, 2012). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Autoren / The Authors 388 Prof. Dr. Doris Kolesch ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Gastdozenturen an der Universität Bern, der Stockholm University und der Universität St. Gallen. Forschungsaufenthalte in Paris und am Getty Center for the Arts and Humanities in Los Angeles. Ausgewählte Monographien: Das Schreiben des Subjekts. Zur Inszenierung ästhetischer Subjektivität bei C. Baudelaire, R. Barthes und T.W. Adorno (1996); “Aufbauende Zerstörung”. Zur Paradoxie des Geschichts-Sinns bei Franz Kafka und Thomas Pynchon (1996); Roland Barthes (1997); Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV. (2006). PD Dr. Bettina Lindorfer ist Privatdozentin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin. Zur Zeit vertritt sie die Professur für französische und italienische Sprachwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin und koordiniert die Wilhelm von Humboldt-Edition an der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Sprachtheorien, sprachliche Variation, Mehrsprachigkeit. Publikationen: Roland Barthes. Zeichen und Psychoanalyse (1998); Bestraftes Sprechen. Zur historischen Pragmatik des Mittelalters (2009); Alter(n) in der Stadt. Vieillir en ville. Sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge aus Romanistik und Germanistik (2012, ed. mit S. Malatrait); “Un troisième tour d’écrou: Die Leitfunktion des Realen für die écriture des späten Barthes”, in: Angela Oster & Karin Peters (eds.): Jenseits der Zeichen (2012); “Mythen des Zeichens. Zur ‘ersten Semiologie’ bei Roland Barthes”, in: Mona Körte & Anne-Kathrin Reulecke (eds.): Mythen des Alltags - Mythologies. Roland Barthes’ Klassiker der Kulturwissenschaften (2014); “Codeswitching, Stilmischung oder das Ende der Sprache? Jugendsprache in französischen Filmen”, in: Andreas Blum & Eva Erdmann (eds.): Mehrsprachigkeit im Kino. Formen der Sprachenvielfalt in aktuellen Filmen und Berichte aus der Filmproduktion (2014). David Magnus studierte Philosophie an der Universität von Buenos Aires (2002), anschließend in Kombination mit Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (M.A. 2008), von 2005 bis 2008 als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Von 2009 bis 2013 war er assoziiertes Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs “Schriftbildlichkeit: Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen” sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalen Forschungsschwerpunkt “Bildkritik: Die Macht und Bedeutung der Bilder” in Basel. 2014 promovierte er im Fach Philosophie an der Freien Universität Berlin bei Prof. Dr. Sybille Krämer mit einer Arbeit zum Thema Aurale Latenz: Die bildliche Notationsästhetik von Earle Brown in Folio (1952-53). Catherine Marten studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Abschluss 2008). Von 2009 bis 2011 war sie Mitglied des PhD-Net “Das Wissen der Literatur” an der HU Berlin, von 2011 bis 2014 Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg “Schriftbildlichkeit. Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen” an der FU Berlin. Derzeit arbeitet sie an einem Dissertationsprojekt zum Thema Schrift und sequenzielle Poetik in Thomas Bernhards Prosa. Die Autoren / The Authors 389 Dr. Karin Peters promovierte 2010 im Promotionsstudiengang “Literaturwissenschaft” der LMU, gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, mit der Arbeit Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert (Fink 2013). Seit 2008 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Literaturwissenschaft am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Französisch/ Spanisch). 2010 war sie Ko-Organisatorin der internationalen Konferenz “Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen”, gefördert u.a. von der Deutsch-Französischen-Hochschule, Akten publiziert beim Wilhelm Fink Verlag. Forschungsstipendien in Valencia, Spanien (2013) und an der MSH, Paris (2014-15). Weitere Forschungsschwerpunkte: Pathos und Pastorale in der Frühen Neuzeit, Historisches Theater und nationaler Affekt bei Lope de Vega, Politische Männlichkeit, Argentinischer Gegenwartsroman. Dr. Markus Rautzenberg ist Philosoph und Medientheoretiker und promovierte 2007 nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften als Stipendiat des Graduiertenkollegs “Körper- Inszenierungen” im Fach Philosophie mit einer medientheoretischen Arbeit zum Thema Zeichen - Störung - Materialität. Dem schloss sich ein Postdoc-Stipendium am Graduiertenkolleg “InterArt” an, worauf eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin folgte. Von 2011 bis 2014 leitet er dort das DFG- Projekt “Evokation. Zur non-visuellen Macht der Bilder”. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Bildtheorie, philosophische Ästhetik, Games Studies. Publikationen in Auswahl: Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität (2010, ed. zus. mit Andreas Wolfsteiner); Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies - Neue Perspektiven in den Kunstwissenschaften (2010, ed. zus. mit Kristiane Hasselmann & Erika Fischer-Lichte); Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischer Präsenztheorie (2009). Dr. André Reichert ist Philosoph und arbeitet derzeit als Post-Doc am Graduiertenkolleg “Freunde, Gönner, Getreue” in Freiburg an einem Projekt zur Philosophie der Begriffspersonen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des 17. und 20. Jahrhunderts, Naturphilosophie, Diagrammatik, Philosophie der Begriffspersonen sowie philosophische Metallurgie. Letzte Veröffentlichung: Diagrammatik des Denkens. Descartes und Deleuze (2013). Carol Jana Ribi lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Germanistik, Englische Literatur und Ethnologie an der Universität Zürich und war von 2011 bis 2013 assoziiertes Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs “Schriftbildlichkeit” der Freien Universität Berlin. Ihre Dissertation über Notationsformen in der visuellen Kunst wird unterstützt von SNF-Schweizerischen Nationalfonds. In 100 Jahre Schweizer Grafik erschien ein Beitrag zu “Spielräume des ‘Graphischen’: Warja Lavaters Symbolnotationen und Buchkunst”. Dr. Ulrich Richtmeyer hat Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar sowie Philosophie an der Humboldt- Universität zu Berlin studiert. 2006 wurde er dort mit einer Dissertation zu Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie im Fach Philosophie promoviert. Zwischen 2007 und 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam, Die Autoren / The Authors 390 Forschungsmitarbeiter des NFS “Eikones” in Basel und Research-Fellow am IKKM Weimar im Rahmen des Programms “Werkzeuge des Entwerfens” mit dem Forschungsprojekt Wittgensteins ‘Philosophie der Werkzeichnung’. Seit 2013 vertritt er die Professur für Visuelles Denken und Wahrnehmen an der Universität Potsdam, Europäische Medienwissenschaft. Katia Schwerzmann promoviert derzeit in Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Universität Lausanne. In ihrer aktuellen Forschung entwickelt sie eine Theorie des “graphischen Feldes”, die es erlaubt, die komplexen Verhältnisse zwischen den graphischen Phänomenen - Schrift, Zeichnung, Kritzelei - zu untersuchen und ihre Wirkung auf den philosophischen Diskurs - insbesondere Poststrukturalismus, Phänomenologie und Medienphilosophie - zu reflektieren. Sie hat u.a. publiziert: “L’haptique et la question du fond. Réflexion autour du sens du fond dans les pratiques graphiques indiciaires à partir de Riegl et Maldiney”, in: François Félix (ed.): Xi Dong/ Ouest-Est. Voies esthétiques (im Druck); “Dimensionen des Graphismus. Die drei Pole der Linie”, in: Driesen, Köppel, Meyer-Kramer et al. (eds.): Über Kritzeln (2012); Thomas Huber: Mesdames et Messieurs: conférences (1982-2010), Stefan Kunz (ed.), übersetzt von Katia Schwerzmann et al. (2012). Prof. Dr. Richard Shiff ist Professor für Kunstgeschichte an der University of Texas at Austin und Leiter des dortigen “Center for the Study of Modernism”. Zuvor war er u.a. als Gastprofessor an der Emory University und dem School of the Art Institute in Chicago tätig. Forschungsschwerpunkte: Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Kunsttheorie und Kunstkritik. Ausgewählte Publikationen: Ellsworth Kelly: New York Drawing 1954-1962 (2014), Between Sense and De Kooning (2011), Doubt (2008), Critical Terms for Art History (1996/ 2 2003, ed. mit Robert S. Nelson). Dr. Björn Weyand ist Literatur- und Kulturwissenschaftler und lebt in Frankfurt am Main. Derzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zu Reiseliteratur und Wissensordnungen seit 1700. Von 2006 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main, von 2011 bis 2014 am Institut für Germanistik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Weitere Forschungsschwerpunkte: Ästhetik der Konsumkultur, Literatur und Kultur der Weimarer Republik, Popliteratur, Literatur- und Kulturtheorie, Theorie der Fotografie. Wichtigste Publikationen: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900-2000 (2013); Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst (2011, ed. mit Heinz Drügh & Christian Metz); Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs (2009, ed. mit Andy Hahnemann). Die Anschriften der Autoren / Addresses of Authors Dr. Elisabeth Birk Technische Universität Chemnitz Institut für Germanistik und Kommunikation Germanistische Sprachwissenschaft Thüringer Weg 11 09107 Chemnitz birk.elisabeth@googlemail.com Jun.-Prof. Dr. Martin Endres Institut für Germanistik Universität Leipzig Beethovenstr. 15 04107 Leipzig martin.endres@uni-leipzig.de Thorsten Gabler Freie Universität Berlin Institut für Philosophie Habelschwerdter Allee 30 14195 Berlin gabler@schriftbildlichkeit.de Dr. Mark Halawa Freie Universität Berlin Internationales Graduiertenkolleg “InterArt” Grunewaldstr. 34 12165 Berlin halawa@zedat.fu-berlin.de Prof. Dr. Doris Kolesch Freie Universität Berlin Institut für Theaterwissenschaft Grunewaldstr. 35 12165 Berlin mail@doris-kolesch.de PD Dr. Bettina Lindorfer Institut für Romanische Philologie Habelschwerdter Allee 45 14195 Berlin blind@zedat.fu-berlin.de David Magnus Universität Basel Philosophisches Seminar Steinengraben 5 4051 Basel dulicito@googlemail.com Catherine Marten catherine.marten@hu-berlin.de Dr. Karin Peters Johannes Gutenberg-Universität Mainz Romanisches Seminar Welderweg 18 55099 Mainz peterska@uni-mainz.de Dr. Markus Rautzenberg Freie Universität Berlin Institut für Philosophie Habelschwerdter Allee 30 14195 Berlin m.rautzenberg@fu-berlin.de Dr. André Reichert Kehler Straße 8 79108 Freiburg anreichert@gmx.de K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Anschriften der Autoren / Addresses of Authors 392 Carol Jana Ribi Schliemannstraße 38 10437 Berlin carolribi@bluewin.ch Dr. Ulrich Richtmeyer Institut für Künste und Medien Universität Potsdam Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam uli.richtmeyer@uni-potsdam.de Katia Schwerzmann Cranachstr. 56 12157 Berlin katia.schwerzmann@gmail.com Prof. Dr. Richard Shiff Department of Art and Art History The University of Texas at Austin 2301 San Jacinto Boulevard Stop D1300 Austin, TX 78712-1421 rshiff@austin.utexas.edu Dr. Björn Weyand Oeder Weg 65 60318 Frankfurt/ M. mail@bjoernweyand.de Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“…”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[…] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern […], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“… ‘…’ …”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 394 Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: […] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z.B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u.a.” nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 395 Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u.a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o.J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn't make sense; one is taken out of context; one isn't even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the 'normal' texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets […], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “…‘…’ …”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09].
