Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2015
381-2
An International Journal of Semiotics Vol. 38 · January / June 2015 · No. 1-2 Editors: Achim Eschbach · Ernest W. B. Hess-Lüttich · Jürgen Trabant Review Editor: Daniel H. Rellstab KODIKAS/ CODE publishes articles, reviews, discussions, information, etc. on and about semiotics. Particular emphasis will be given to papers promoting research and discussion of semiotic subjects within the framework of sociohistorical processes. The journal promotes the interdisciplinary research characteristic of semiotics. Languages of publication are English, French, and German. Please send manuscripts electronically and on paper to either of these addresses: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich (Prof. em. University of Berne, Hon. Prof. Tech. Univ. Berlin, Hon. Prof. Univ. of Stellenbosch) / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin / ernest.hess-luettich@germ.unibe.ch, hess-luettich@t-online.de Prof. Dr. Achim Eschbach / Universität Duisburg-Essen / Kommunikationswissenschaft / Universitätsstraße 12 / 45117 Essen / Deutschland / achim.eschbach@uni-due.de Prof. (em.) Dr. Jürgen Trabant / Krampasplatz 4b / 14199 Berlin / Deutschland / trabant@zedat.fu-berlin.de Please send books for review to: Dr. Daniel H. Rellstab / University of Vaasa / Faculty of Philosophy / Intercultural Studies in Communication / P.O. Box 700 / 65101 Vaasa / Finland / daniel.rellstab@uva.fi Manuscripts should be written according to the Instructions to Authors (see last pages of this issue). Books will be reviewed as circumstances permit. No publication can be returned. An International Journal of Semiotics Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 / 72070 Tübingen / Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 / Fax +49 (07071) 97 97-11 / info@narr.de / www.narr.de / periodicals.narr.de Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Articles Henrik Dindas (Essen) Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sarah K. Baumann Was unterscheidet Mensch und Tier? Eine Analyse verschiedener Sprachursprungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Arne Klawitter (Tokyo) In der Ferne so nah und in der Nähe so fern. Die hybriden Zeichen des chinesischen Künstlers Xu Bing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 N AWATA Yûji (Tokyo) Visual Representativeness in Uncomprehended Script and Martial Script. Examples from Contemporary German Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Dagmar Schmauks (Berlin) Dichter und ihre grünen Daumen. Transdisziplinäres (Miss-)Verstehen am Beispiel dichterischer Pflanzendarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 George Rossolatos (Kassel) Is the semiosphere post-modernist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Review Articles Achim Eschbach (Essen) Petitio principii oder die Erschleichung des Beweisgrundes. Über Adornos Erben der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 An International Journal of Semiotics Achim Eschbach (Essen) Shortology: Über Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Robin Kurilla (Essen) Interkulturelle Paarbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern) Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Anschriften der Autoren / Addresses of the Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . . 178 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 128, - (special price for private persons € 102, - ) plus postage. Single copy (double issue) € 82, - plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O. Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISSN 0171 - 0834 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie Henrik Dindas (Essen) The following article focuses on the works and the achievements of the Würzburger Schule (Würzburg School), better known as the Külpe School, named after its dominant advocate Oswald Külpe. It explores ideas of the imageless thought, concentrating on the belief that there is always an objective significance which can be found within experiments of thoughts. As one of the main representatives of the Würzburg School, Oswald Külpe introduced ideas of a systematic experimental introspection as a new research method in the field of the psychology of thought processes. Külpes approach revolutionized the experimental psychology for the simple reason that he implemented and combined ideas of structural psychology and psychological experimentation. The Würzburg scholars managed to shift one ’ s attention to the idea that the human conduct is always determined by their own personal objectives. Hence they developed and thereby improved the process of what became known as systematic experimental introspection. With this the Würzburg School developed an innovational and holistic view, where the main focus was on studying both act and content. In order to point out significant new ideas on how to inspect the human thought process the article focuses upon the essential ideas of the main members of the Külpe School. In connection with the exploration of seldom-discussed scholars of this School, the article explores the innovative methods that modified ideas and beliefs of the Behaviorism, placing special emphasis on the works of Karl Bühler and Otto Selz.The article shows that the many contributions by the Würzburg School, including the systematic experiemental introspecton, imageless thoughts, mental sets and abstraction, are inevitably essential to the field of psychology and yet still relevant to this day. Oswald Külpe Karl Bühler Otto Selz Narziss Ach Karl Marbe August Messer 1 Einführung Versucht man etwas über die Würzburger Schule der Denkpsychologie zu erfahren, so muss eine umfangreiche Literaturrecherche durchgeführt werden, um halbwegs hinreichende Informationen und Quellen zu finden. Wenig ist bisher über die Würzburger Wissenschaftler in Bezug auf ihr dortiges Wirken zusammengetragen worden. Burkhard Vollmers bestätigt diese Ansicht in seiner Arbeit Kreatives Experimentieren (Vollmers 1992), indem er kritisiert, dass eine Geschichte der Würzburger Schule seines Wissens “ bisher noch nicht geschrieben wurde ” (Vollmers 1992: 48). In Joachim Funkes Handbuch der Allgemeinen Psychologie (Funke 2006) wird die Würzburger Schule nur mit einem Satze erwähnt. Laut Funke (2006: 497) war die Grundidee der Würzburger Schule, “ dass Handlungen durch Zielvorstellungen determiniert werden. ” Diese Zielvorstellung sei allerdings nicht beobachtbar und fiele daher in der Blütezeit des Behaviorismus in Ungnade. Auch benennt Funke die Würzburger Wissenschaftler in seinem Werk Problemlösendes Denken (Funke 2003) und beschreibt ihre Erkenntnisse in einem kleinen Abschnitt. Funke bezeichnet dabei Oswald Külpes Erfindung der systematisch experimentellen Introspektion, ganz ähnlich wie zuvor E. G. Boring, als “ einen wesentlichen Impuls für die Denkpsychologie ” , auch wenn Boring die zentrale Annahme von Külpe, Gedanken seien unanschaulich, für widerlegbar hält (cf. Funke 2006: 26). Auch Walter Hussy beschäftigt sich mit der Würzburger Schule in seinem Lehrbuch Denkpsychologie (Hussy 1984). Allerdings wird auch hier, wie in vielen anderen Lehrbüchern, die Würzburger Schule nur in einem kleinen Kapitel mit dem Umfang von eineinhalb Seiten erwähnt. Hans Spada, Herausgeber des Lehrbuchs Allgemeine Psychologie (Spada 2006), widmet der Würzburger Schule der Denkpsychologie zwei Seiten seines Werkes. Spada verordnet den Beginn der Psychophysik in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wurde die Psychologie als selbstständige Wissenschaft durch die experimentelle Untersuchung von subjektiven Empfindungen auf einfache Reize reduziert und der Begriff Vorstellung ” diente zur Beschreibung für höhere geistige Funktionen wie das Denken (cf. Spada 2006: 202). Die Mehrzahl der psychologischen Anthologien, wie z. B. Jochen Müsselers Lehrbuch Allgemeine Psychologie (Müsseler 2008), benennen die Würzburger Schule nicht. Daher ist das Ziel dieses Aufsatzes, die wichtigsten Wissenschaftler der Würzburger Schule zu benennen und deren Grundideen aufzuführen, um so eine Einführung in die Methodik der Würzburger Wissenschaftler zu geben. So soll dem Leser ein Überblick verschafft werden, mit welchen Überlegungen und Untersuchungsmethoden die Würzburger Wissenschaftler versuchten, Denkvorgänge zu beschreiben und aufzuschlüsseln. Bei den zugrunde liegenden Nachforschungen im Feld der Psychologie fällt auf, dass besonders das Wirken des deutschen Philosophen und Psychologen Otto Selz in Bezug auf seine entwickelten Methoden zur Analyse der Denkvorgänge in der Psychologie sehr gering rezipiert worden ist. Findet man Informationen zu Otto Selz, so wird er meist mit den Würzburger Wissenschaftlern Oswald Külpe und Karl Bühler in Verbindung gebracht. Insbesondere durch seine Forschungen auf dem Gebiet der Denkpsychologie wird Selz der Würzburger Schule zugeordnet. Einige Bibliographien teilen diese klare Würzburger Zuteilung, andere kritisieren diese Zuordnung, da Selz eine Vielzahl der Auffassungen der Würzburger Wissenschaftler zwar aufnimmt, sie dann jedoch falsifiziert und mit seinen Gedankengängen in Einklang bringend komplett modifiziert. Da die grundlegenden Ideen von Selz auf der Basis der Würzburger Erkenntnisse zu finden sind, müssen die Würzburger Ansätze zuvor näher betrachtet werden. Um folglich eine Zuordnung vornehmen zu können, muss eine geschichtliche Aufarbeitung der Würzburger Schule vollzogen werden, da nur so ein Verständnis für die theoretischen Arbeiten von Selz einhergehen kann. Neben der geringen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Otto Selz ist auch über Karl Bühler, hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zur Würzburger Schule, sehr wenig ge- 4 Henrik Dindas (Essen) schrieben worden. Zwar behandeln einige Aufsätze Bühlers Sprachtheorie und viele Schriften stellen Bühlers Erkenntnisse zur geistigen und körperlichen Entwicklung des Kindes dar, jedoch wurden Bühlers Untersuchungen von Denkprozessen sehr wenig wahrgenommen und rezipiert. Zwar ist Karl Bühlers Schaffen abseits der Würzburger Schule keine unbekannte Variable im Feld der Sozialwissenschaften und der Name Bühler taucht in jedem Studium der Erziehungswissenschaften und der Kommunikationswissenschaften auf. Dennoch ist bisher sehr wenig über Bühlers Wirken in der Würzburger Schule der Denkpsychologie geschrieben worden. Im Folgenden wird versucht, einen kurzen Überblick über die bedeutendsten Studien zu geben, die den Arbeiten von Karl Bühler und Otto Selz vorausgehen. Diese geschichtliche Aufarbeitung ist notwendig, um die Originalität des Ansatzes von Bühler zu verstehen, da er die Methoden und Theorien der vorausgehenden Würzburger Wissenschaftler teilweise aufnimmt, sie dennoch in Frage stellt. So ist die geschichtliche Herangehensweise gleichsam von großer Bedeutung, um die Untersuchungen von Selz besser verstehen zu können, da sie auf Bühlers Erkenntnissen aufbauen und ein Einfluss der Würzburger Wissenschaftler nicht von der Hand zu weisen ist. Zwar sind der Geschichte der Würzburger Schule noch einige andere Wissenschaftler zuzuordnen, diese zu benennen würde jedoch den Umfang dieser Abhandlung übersteigen. Folglich versucht dieser Aufsatz nur, die zu einem Grundverständnis der Würzburger Denkpsychologie wichtigsten Wissenschaftler und Arbeiten zu benennen. Anschließend an den geschichtlichen Überblick soll in dem vorliegenden Aufsatz versucht werden, die Genialität des Ansatzes der Würzburger Schule anhand einer Übersicht von Karl Bühlers Wirken darzustellen. Hier soll ein besonderes Augenmerk auf die verschiedenen Untersuchungen von Karl Bühler gelegt werden. Folglich sollen Bühlers Untersuchungen zusammengetragen werden und die überaus bedeutenden Erkenntnisse für die Psychologie herausgearbeitet werden. Dem folgt eine Betrachtung der Überlegungen von Otto Selz und es soll vermittelt werden, wie die Würzburger Grundannahmen von Selz übernommen und teilweise falsifiziert und dennoch gleichbedeutend modifiziert wurden. Dies ermöglicht die Bedeutsamkeit der Würzburger Schule erneut unterstreichen zu können und es soll veranschaulichen, dass eine neue Hinwendung zu Selz und zu den Würzburger Methoden für die Psychologie von großer Bedeutung wäre. Abschließend sollen mögliche Gründe genannt werden, die versuchen, eine Erklärung zu geben, warum dem Würzburger Ansatz so wenig Beachtung gewidmet wurde. Dabei soll ebenfalls geklärt werden, warum die Würzburger Arbeiten in den 1910er Jahren so jäh unterbrochen wurden und in keinem für sie passenden Rahmen wieder aufgenommen wurden. 2 Geschichte der Würzburger Schule Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Eigenschaften und Ablaufcharakteristika des Denkens an der Universität Würzburg unter der Leitung von Karl Marbe und Oswald Külpe erforscht. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt in der Psychologie die Überzeugung, dass sich das Denken durch Assoziationen von Vorstellungen vollziehen würde. Es wurde angenommen, assoziative Vorgänge spielten sich im Bewusstsein ab und das Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 5 Denken wurde als rein innerpsychischer Prozess interpretiert. Aus der Sicht einer Person wurden diese Vorgänge allerdings als nicht bewusst steuerbar, passiv und als richtungslos erlebt. Diese assoziationspsychologische Deutung menschlicher Denkprozesse wurde von der Würzburger Schule stark abgelehnt. So war ihr erster Einwand, dass das Denken empirisch und möglichst experimentell untersucht, also eine neue Forschungsmethodik entwickelt werden müsse. Diese Methode sollte die Introspektion bieten, also die Selbstbeobachtung (cf. Spada 2006: 202). Oswald Külpe (1912: 303) schlussfolgerte dementsprechend: “ Was uns in der Psychologie zu einer anderen Theorie schließlich geführt hat ist die systematische Anwendung der Selbstbeobachtung gewesen. ” Zwar lehrten Psychologen wie Franz Brentano (1866 - 1873) und Carl Stumpf (1873 - 1879) bereits in Würzburg noch vor der Gründung eines Instituts, jedoch werden die Arbeiten und Erkenntnisse nicht direkt den Arbeiten der Würzburger Schule zugeordnet. Brentanos Psychologie, die im Kern schon in Würzburg entstand, hat jedoch eine überdauernde Wirkung bis in die Gegenwart und stellt eine Basis für die Handlungspsychologie dar. Auch Brentano-Schüler Stumpf hat bereits in Würzburg wesentliche Beiträge geleistet, welche einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer Psychologie als kognitive Wissenschaft und zu den im Verlauf der letzten Jahre aktuellen Erörterungen zur “ Theory of mind ” ebneten (cf. Janke & Schneider 1999: 28). 2.1 Oswald Külpe Der Fokus auf die in der Würzburger Schule entwickelte experimentelle Selbstbeobachtung beinhaltete eine Entkopplung von Reizgabe und Selbstbeobachtung. So wurde die rückschauende Beobachtung nach Abschluss des eigentlichen Experiments explizit gefordert und zugelassen (cf. Vollmers 1992: 47). Oswald Külpe teilte die Skepsis seines Lehrers Wundt gegenüber der Erforschung höherer geistiger Prozesse nicht. So untersuchte er unter Beibehaltung der Introspektionsmethode und unter Hinzunahme der Retrospektionstechnik zusammen mit anderen Kollegen in Würzburg das Lösen einfacher Probleme. Külpe stellte fest, dass das Denken nicht immer logischen Regeln folge. Folglich widersprach ihre Erkenntnis ernsthaft den Überzeugungen der vorliegenden strukturalistischen und behavioristischen Auffassungen und Theorien (cf. Hussy 1984: 30). 2.2 August Mayer und Johannes Orth In der Nachfolge von Külpe und Marbe sind als erste elementare Arbeiten August Mayers und Johannes Orths Überlegungen, veröffentlicht im Jahre 1901, zu nennen. Die Methodik von Spada und Orth war hier noch eine ganz traditionelle, in der qualitative Eigenschaften von Assoziationen untersucht wurden. So verlief ein Versuch der Würzburger Wissenschaftler wie folgt: Sie nannten den Versuchspersonen (VPs) ein Reizwort, worauf diese Probanden das erste Wort nennen sollten, das ihnen in den Sinn kam. Darauf aufbauend berichteten die Probanden über die Vorgänge, die sich zwischen der Nennung des Reizwortes und der Antwort in ihrem Geist abspielten. Hier differenzierten Mayer und Orth unter anderem zwischen Assoziationen mit und ohne eingeschobenen Bewusstseinsvorgängen. 6 Henrik Dindas (Essen) 2.3 Karl Marbe Diese Methodik wurde von Karl Marbe (1901) übernommen und modifiziert, indem er seinen Probanden je ein Gewicht in die linke und rechte Hand gab und diese dann bat, eine Angabe zu machen, welches der beiden Gewichte das schwerere sei. Darauf untersuchte Marbe durch Befragungen, was sich bis zur Abgabe des Urteils in ihrem Geiste abspielte. Marbes Methodik förderte Wahrnehmungen und Vorstellungen zutage, die im Bewusstsein der Probanden vorhanden gewesen waren. Über die Entstehung des eigentlichen Urteils fanden sich in ihren Berichten allerdings keine bemerkenswerten Auffälligkeiten wieder. So gaben die Probanden an, dass die Urteile einfach da waren und bei fast jedem Versuch trafen diese Urteile auch zu. Jedoch konnten sie (die Versuchspersonen) nicht beschreiben, wie es zu diesem Ergebnis kam bzw. wie sie eben zu diesem Ergebnis gekommen waren. Marbes Erkenntnisse widersprachen den bis dato dominierenden Theorien, die Denken als bewusste Verknüpfung von Vorstellungen konzipierten. Folglich modifizierte Marbe die bisherigen Ansätze, indem er den Urteilsprozess als einen nicht rational geleiteten Fluss von Bewusstseinsinhalten ohne eigentliches Schlussfolgern beschrieb und diesen Vorgang mit dem Begriff “ Bewusstseinseinlage ” (Marbe 1901: 15) bezeichnete. Dieser Begriff umfasste alles, was den Probanden beim Lösen einer Aufgabe bewusst durch den Kopf ging. Marbes Theorie führte zu der Schlussfolgerung, dass bei höheren geistigen Prozessen, wie auch bei der Entstehung von Gefühlen, eben keine anschaulichen Bewusstseinsinhalte an die Stelle von anschaulichen, sinnlichen Vorstellungen treten (cf. Spada 2006: 202). In Marbes erster Arbeit, Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil (Marbe 1901), versuchte er herauszuarbeiten, “ welche Erlebnisse zu einem oder mehreren Bewußtseinsvorgängen hinzukommen müssen, um dieselben zu Urteilen zu erheben ” (ibid.: 15). Als Vorüberlegung definierte Marbe (ibid.: 9) das an der formalen Logik orientierte Urteil wie folgt: “ Urteile nenne ich Bewußtseinsvorgänge, auf welche die Prädikate richtig oder falsch eine sinngemäße Anwendung finden. ” Marbe betonte jedoch vehement den vorläufigen Charakter dieser Definition, da eine im Voraus aufgestellte Definition ungeeignet sei, um über das Wesen des zu unterscheidenden Gegenstandes eine tiefere Einsicht zu vermitteln. So wurde die Frage nach einer für diese Überlegungen geeigneten Methodik mit dem Hinweis auf die besonderen Möglichkeiten des Experiments beantwortet (cf. Vollmers 1992: 49). Die Würzburger Schule der Denkpsychologie entfernte sich demnach immer weiter von traditionellen Konzepten der Philosophie. Diese klassischen Ansichten und Überzeugungen der Philosophie über menschliches Denken gehen auf Annahmen von Aristoteles zurück. Aristoteles folgerte, Wahrnehmungen hätten ihr Äquivalent in der Seele in Form von Vorstellungen. So beschreibt er beispielsweise in De anima, III, 7, dass für die Denkseele die Vorstellungen an die Stelle der Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung treten würden und Vorstellungen so bewusst sein sollten und in großer Anzahl vorkommen würden. So war die Schlussfolgerung, dass Vorstellungen nicht isoliert existieren, sondern untereinander verbunden seien. 2.4 Henry Jackson Watt Als einen weiteren Denkschritt der Würzburger Schule ist das Wirken von Henry Jackson Watt (1905) aufzuführen. Watt teilte den Ablauf des Prozesses von der Aufgabenstellung bis Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 7 zur Antwort, die die Probanden zu Protokoll gaben, in ein Vier-Phasen-Modell ein. So beschreibt er die erste Phase als eine Vorbereitungsphase, nach welcher die Phase des zu bedenkenden Satzes oder Sachverhaltes folgte. Phase drei, die Suche nach der Antwort, leitete zur letzten Phase über, in welcher als Reaktion die Antwort definiert wird. Hier fokussierte Watt jeweils eine einzelne Phase des Vorgangs und bat seine Probanden, ihr Augenmerk bei der Introspektion nur auf jeweils eine der Phasen zu richten, um dadurch möglichst unverfälscht und vollständig diese Phase wiedergeben zu können. Watt erhoffte sich, den eigentlichen Denkvorgang in Phase drei, der Suche nach der Antwort, zu finden. Nun konnten aber gerade in dieser Phase die Probanden am allerwenigsten berichten, wohingegen die Vorbereitungsphase - Phase eins - von größerer Bedeutung schien. Die weiteren Prozesse erfolgten weitgehend automatisch und ohne Beteiligung des Bewusstseins, sobald Watts Probanden den Umfang der an sie gerichteten Aufgabe verstanden hatten. Der Vorgang der Befragung und des Verstehens der Frage verlief jedoch unter voller Beteiligung des Bewusstseins, wodurch die Aufgabe und die durch sie hervorgerufene Einstellung eine wichtige Funktion für den weiteren Ablauf der Bearbeitung erhielt (cf. Spada 2006: 202). Watt verzichtete bei seiner Anordnung auf motorische Reaktionen und mit einem Übergang zu sinnvollem Versuchsmaterial verloren quantitative Größen, wie Dauer der Reaktionszeit oder Anzahl der richtigen Lösungen gemäß der Instruktion des Versuchsleiters, an Bedeutung (cf. Vollmers 1992: 52). 2.5 Narziß Kaspar Ach Fast simultan begann Narziß Kaspar Ach mit seinen Untersuchungen über das Denken und Handeln. Hier fanden sich in der im Jahre 1905 veröffentlichten Arbeit deutliche Parallelen zu Watts Phasenmodell. So erschien Ach ebenfalls die Vorbereitungsphase als die entscheidende Richtungsgebung für den weiteren Ablauf von Denkprozessen und der folgenden Handlungsvorbereitung. Hierfür führte er den Begriff der “ determinierenden Tendenz ” (Ach 1905: 191) ein. Diese unbewusste Motivation war dem Probanden nicht bewusst, obwohl vor allem diese und weniger der experimentelle Reiz die Reaktion beeinflusste - es kam bei allen Versuchen in bestimmter Form vor (cf. Vollmers 1992: 52). Dieses war als ein Generalangriff auf die Annahme richtungsloser, assoziationspsychologischer Verbindungen zwischen Vorstellungen zu deuten und Ach stellte somit erstmals einen differenzierten Ansatz über das Phänomen der Aufmerksamkeit vor (cf. Spada 2006: 202). Bei der Studie von Ach wurde den Probanden Karten mit sinnlosen Silben oder Karten in verschiedenen Farben vorgegeben. Untersucht wurde die Reaktion der Probanden, die entweder auf auszuwählende Tasten drücken mussten oder bestimmte zuvor gelernte Silbenreihen umstellen bzw. frei assoziierte Silben aussprechen mussten. Hier erhoffte sich Ach eine Analyse der Bewusstseinsvorgänge der Probanden zwischen der Kartenvorgabe und der Reaktion, die Ach als Willenstätigkeit bezeichnete, in den Mittelpunkt zu stellen. So wurden die Probanden nach jedem Versuch ausführlich zu den erlebten unterschiedlichen Bewusstseinsprozessen befragt (cf. Vollmers 1992: 50). Hier forderte Ach (1905: 18): “ Es ist die Pflicht des Versuchsleiters (VL), sich mit völlig unbefangener, voraussetzungsloser, aber doch kritischer Hingabe in das Erlebnis der Versuchsperson zu vertiefen. ” Ach erhoffte sich durch diese Forderung, die Probleme des Nachvollzuges der Bewusstseinserlebnisse der Probanden durch den Versuchsleiter zu bewältigen. Ein Hineinversetzen 8 Henrik Dindas (Essen) in die Versuchsperson sollte dadurch gefördert werden, dass Ach als Versuchsleiter selbst als Versuchsperson an den Experimenten teilnahm (cf. Vollmers 1992: 52). 2.6 August Messer August Messer bestimmte als das Ziel seiner Würzburger Arbeit “ die Erforschung der Bewußtseinsvorgänge bei einfachen Denkprozessen ” (Messer 1906: 1). So wurde erstmals explizit der Denkvorgang als Ganzes Gegenstand der Untersuchung. Messer glaubte, dass bei der Erforschung des Denkens von den “ elementaren Gebilden ” des Denkens ausgegangen werden müsse, ganz so, wie sie in der Logik definiert seien. Messer ging davon aus, dass die drei Elemente “ Begriff ” , “ Urteil ” und “ Schluss ” die Basis für die noch zu erforschenden komplexen Denkfiguren seien (cf. Messer 1906: 2). Im Mittelpunkt seiner Darstellung stand die qualitative Beschreibung von Denkvorgängen, welche jeweils durch Beispiele aus den Versuchsprotokollen belegt wurden und Messer nahm bei der Auswertung keine Differenzierung bezüglich der verschiedenen Versuchsreihen vor, sondern betrachtete alle Versuchsprotokolle auf einmal. So belegte seine Studie eine Zusammenhanglosigkeit zwischen Reaktionszeit und Denkprozess und führte dazu, dass bei den folgenden Studien der Würzburger Schule auf die zuvor benutzten mechanischen Apparaturen verzichtet wurde (cf. Vollmers 1992: 54). 2.7 Karl Bühler Die Introspektionsmethode wurde von Karl Bühler ergänzt, indem er ganz vorurteilsfrei in den Bericht der Probanden einen Eingriff vornahm und um die Beantwortung von Fragen bat. Dies hatte zur Folge, dass seine Arbeiten in der Erkenntnis mündeten, dass Denkprozesse vornehmlich unanschaulichen Charakter besitzen und nicht als Abfolge sinnlicher Vorstellungen zu beschreiben sind. Sie folgen in der Regel dem Gedanken, wenn es zu sinnlichen Vorstellungen im Denkprozess kommt und nicht umgekehrt. Bühler kam zu dem Fazit, dass das Denken nicht mit einem besonderen Grad an Bewusstsein ausgestattet ist, ganz entgegen der bis dahin geltenden Annahme. Dieses Erlebnis bezeichnete Bühler Aha-Erlebnis, das schlagartige Erkennen von Gestalten und Zusammenhängen, welches ein tiefes Verständnis für die Lösung eines Problems signalisiert und plötzlich und unvermutet am Ende eines Denkprozesses auftritt. So folgt der Bewusstseinsakt zeitlich gesehen dem Denkprozess und kann daher mit dem Denken selbst nicht gleichgesetzt werden. Später löste die von den Würzburger Wissenschaftlern verwendete Introspektionsmethode viel Kritik aus, da eine massive Möglichkeit für Verfälschung durch die Probanden und eine stark erhöhte Anfälligkeit für Fehler gegeben war. So konnten z. B. Gedächtnisfehlleistungen diese Fehler entstehen lassen. Kritisiert wurde diese Methodik unter anderem von Wilhelm Wundt, der seinem Schüler und späteren Würzburger Kollegen Oswald Külpe von der Erforschung des Denkens ohnehin ausdrücklich abriet. Wundt nannte Bühlers Methoden mit beißender Ironie “ Ausfrageexperimente ” . Dieser Form von Datenerhebung des Erlebens wurde vorgeworfen, dass die Ergebnisse nur stark subjektiv gefärbt und verfälschbar seien, da z. B. Vorannahmen über das psychische Geschehen in die Selbstberichte, in die Nachfragen und in die Interpretation einfließen würden (cf. Spada 2006: 13). Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 9 2.8 Otto Selz Im Jahre 1909 kam Otto Selz zur Würzburger Schule. Als wissenschaftlicher Außenseiter begann Selz sein Wirken an der Universität Würzburg, nachdem Külpe sie bereits verlassen hatte. Selz modifizierte die Ansätze der Würzburger Schule, indem er eine besondere Form des Denkens zu untersuchen begann. So fokussierte er in seinen Forschungen das Problemlösen und betonte dabei die in der Forschung unumgängliche Zielgerichtetheit und Organisiertheit menschlichen Handelns. Diese Ansätze wurden später von der Berliner Schule der Gestaltpsychologie aufgegriffen und mit eigenen Grundannahmen zu fruchtbarer denkpsychologischer Forschung weitergeführt (cf. ibid.: 202). Die wesentliche Methode aller Würzburger Wissenschaftler war die experimentelle Erfassung kognitiver Prozesse mit Hilfe der Retrospektion. Sie erschufen neue Methodiken zur Untersuchung von Denkvorgängen, die vor dieser Zeit noch sehr bedingt untersucht wurden. Die Würzburger Schule ist daher als Geburtsort der Denkpsychologie zu benennen. Besonders Karl Bühlers Untersuchungen führten zu einer stetigen Modifikation und schließlich zur Ablöse von den vorherigen philosophischen assoziativen Denkvorstellungen. 3 Karl Bühlers Wirken in der Würzburger Schule. Eine Phänomenologie des Denkens Burkhard Vollmers stellt in seinem Text Kreatives Experimentieren (Vollmers 1992) eine sehr gute und ausführliche Zusammenfassung der Bühlerschen Untersuchungsmethode zusammen. Im Folgenden wird, basierend auf Vollmers Text, die Entwicklung der Bühlerschen Methodik zur Würzburger Schule skizziert und kommentiert. Dies soll die Genialität des Bühlerschen Ansatzes verdeutlichen und dem Leser ein tieferes Verständnis über den Ansatz der Würzburger Schule vermitteln. Bestehend aus drei Teilen, befasst sich der erste Teil der Bühlerschen Untersuchung mit der Analyse der Gedanken an sich. Bühler versucht in diesen Untersuchungen zu bestimmen, was eigentlich den Kern der Gedanken ausmacht. Im nächsten Schritt widmet sich Bühler der Rolle des Wissens und er versucht, diese Rolle als vermittelndes Glied zwischen den Gedanken zu analysieren. Schließlich untersucht Bühler im dritten Teil, “ Über Gedankenerinnerungen ” (Bühler 1908 b), in welcher Weise ein für eine Person neuer Gedanke aufgefasst wird. Dieser letzte Schritt geschieht stets unter Bezugnahme auf bereits in der Person vorhandene Gedanken und in ihm muss mithin an Vorhandenes erinnert werden (cf. Vollmers 1992: 54). Eine so zielgerichtete und gestaffelte Hinwendung zur Analyse der Gedanken, des Wissens und der Erinnerungen hat vor ihm noch kein Würzburger Wissenschaftler vollzogen. Zwar sind Bühlers Versuchsanordnungen als eine Fortführung der Würzburger Methoden zu verstehen, jedoch wird im Folgenden verdeutlicht, dass Bühler eine ganz eigene Auffassung von der Ermittlung der Denkvorgänge hatte und durch diese Methoden die Würzburger Schule stark modifiziert, aber auch geprägt hat. Insgesamt führte Bühler 1234 Versuche durch, wobei 882 Experimente auf der Basis von vier verschiedenen Versuchsreihen für die Untersuchung der Neuauffassung von Gedanken durchgeführt wurden. Die Ergebnisse bildeten die Basis für die ersten beiden Teile der Untersuchung, die mit den Titeln “ Über Gedanken ” (Bühler 1907) und “ Über Gedankenzusammenhänge ” (Bühler 1908 a) benannt wurden. 10 Henrik Dindas (Essen) Im nächsten Abschnitt werden die ersten beiden Teile der Habilitationsschrift vorgestellt. Hierzu werden die Versuchsanordnung und das Versuchsmaterial näher beschrieben. 3.1 Bühlers erste Versuchsreihen Bühler sah seine Arbeit durchaus als Fortführung der bisherigen Studien seiner Kollegen Ernst Dürr und Oswald Külpe. Mit deren beider Hilfe wurden auch die meisten der 352 Einzelversuche von Bühler durchgeführt, obgleich er die von seinen Vorgängern verwendete Methodik und die damit erzielten Ergebnisse radikal in Frage stellte. So kritisierte Bühler, dass die vorherigen Methoden nur ganz einfache Denkprozesse untersucht hätten und somit den Denkprozess in einzelne wohldefinierte Bestandteile zerlegt haben. Diese lehnten sich an die Begrifflichkeiten der formalen Logik an, in der Hoffnung, durch das Studium elementarer Denkoperationen allmählich zu einem Verständnis komplexerer Denkprozesse zu gelangen (cf. Bühler 1907: 300 f.). Bühler modifizierte die Methodik, da er es für notwendig hielt, das Denken als Ganzes zu untersuchen und verzichtete deshalb auf jede im vorab erfolgende abstraktive Zerlegung des Denkprozesses. Folglich stellte er eine allgemeine Ausgangsfragestellung bei seinen Experimenten: “ Was erleben wir, wenn wir denken? ” (ibid.: 303) Bühlers Grundgedanke und die Idee zur Konstruktion der experimentellen Anordnung, die aus dieser offenen Fragestellung heraus entstand, sollte das Denken für den Forscher in seinen extremen, außergewöhnlichen Formen zugänglich machen. So sollte sich der Forschungsgegenstand - das Denken - dem Wissenschaftler nicht in seinen gewöhnlichen Formen offenbaren. Dieser Versuchsanordnung zufolge wählte Bühler für seine Probanden schwere Denkaufgaben, wobei die Bestimmung dessen, was als schwer anzusehen ist, von den Probanden abhängig gemacht wurde: Was stofflich dazu fähig ist, wird natürlich ganz von der Vp. abhängen, denn was etwa einen Primaner in Verlegenheit zu bringen vermag, wird vielleicht auf einen geübten Denker weniger Eindruck machen. Meine Vp. waren Professoren und Doktoren der Philosophie (ibid.: 304). So entschied Bühler, seinen Versuchspersonen philosophische Aphorismen vorzulegen. Diese Aphorismen waren z. B. Nietzsches, “ Und wenn das Gewürm Euch Ekel macht, daß Ihr seinetwegen einen Schritt schneller emporsteigt, so soll es zu Recht bestehen ” und “ Die Vergangenheit befruchten und die Zukunft zeugen, daß sei mir Gegenwart ” (cf. ibid.: 311). Zusätzlich wurden spezielle Fragen eingeführt, deren Funktion es war, anschauliche Vorstellungen zu erzeugen. Demnach fragte Bühler z. B. “ Wissen Sie, mit wieviel Grundfarben die Sixtinische Madonna gemalt ist? ” oder “ Wissen Sie, wieviele Personen das Böcklinsche Bild im Spiele der Wellen enthält? ” (cf. ibid.: 352). Hinzu kamen noch Fragen, die besonders umfangreiche Gedanken produzieren sollten. Diese dienten zur Prüfung der im Laufe der Untersuchung aufgetretenen Frage, inwieweit Gedanken Gegenstände unmittelbar oder nur mittelbar meinen. Demnach fragte Bühler sehr abstrakte und komplexe Fragen wie, “ Was ist Kultur? ” oder “ Was ist Renaissance? ” (cf. ibid.: 339 ff.). Wichtig bei der Versuchsdurchführung war die Tatsache, dass den Probanden jede Aufgabe maximal einmal vorgelegt wurde, wobei der Versuchsleiter der Versuchsperson unmittelbar gegenüber saß. Zuerst las der VL den experimentellen Satz vor und die VP musste die speziell formulierte Frage mit Ja oder Nein beantworten. Folglich benutzte der VL Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 11 Formulierungen wie “ Verstehen Sie ” oder “ Begreifen Sie, wie man dazu kommen kann, zu sagen [. . .]? ” . Bühlers Grundidee hierbei war, dass der Denkprozess eben nicht von dem Bemühen der VP um Formulierung eines vollständigen Satzes beeinträchtigt werden sollte (cf. Vollmers 1992: 57). Die Probanden mussten anschließend in der Rückschau ihren bis zum Aussprechen des Ja bzw. des Nein erlebten Denkprozess rekapitulieren und dies wurde vom VL wörtlich mitprotokolliert. Zwar war sich Bühler bewusst, dass das Protokoll eines einzelnen Denkvorganges Lücken aufweisen würde, er war jedoch davon überzeugt, dass die mangelnde Vollständigkeit des Einzelprotokolls sich über alle Protokolle hinweg ausgleichen würde. Folglich sollte bei der Betrachtung aller Denkprotokolle der Denkprozess dennoch vollständig erfasst werden können (cf. ibid.). 3.2 Die Auswertung der Selbstbeobachtungsprotokolle Zur Auswertung der Protokolle stellte Bühler erneut die Fragen, die er bereits an die Versuchspersonen stellte und suchte die dazu passenden Antworten in den Protokollen. Hier wurden stets alle Protokolle auf einmal betrachtet, demnach trat Bühler also in einen Dialog mit den ihm vorliegenden Texten. 1 Interessant ist hierbei, dass die von Bühler gefundenen Antworten nicht unmittelbar in den Protokollen enthalten waren. So stellten sie mehr Zusammenfassungen verschiedener Phänomene dar. Die Aussagen der Probanden sind folglich als Äußerungsformen eines nicht unmittelbar beobachtbaren Geschehenstypus aufzufassen. Problematisch bei der Auswertung von Selbstbeobachtungsprotokollen fremder Personen ist die Tatsache, dass der Auswertende die Aussagen der VP in dem von ihr intendierten Sinne versteht und deutet. Demnach stellte Bühler die Forderung auf, der VL müsse sich unmittelbar in die Gedankenwelt der VP einfühlen: Für den Versuchsleiter bringt das freilich neue Lasten; er muß sich einfühlen in die Lage seiner Vp., muß miterleben, wenn er sie ordentlich verstehen will; er muß auf ihre Eigentümlichkeiten eingehen und mit ihr in ihrer Sprache reden können. Das gibt diesem Zusammenarbeiten ein eigentümliches, vertrautes Gepräge (Bühler 1907: 309). Aufgrund seines innigen Kontakts zu seinen Kollegen, auch außerhalb der experimentellen Situation stellte sich für Bühler das Problem des Nichtverstehens als nicht existent heraus. 2 1 Bei diesen Ausführungen von Bühler stellt sich die Frage, ob der Denkprozess denn immer ein und demselben Muster folgt. Stecken hinter den verschiedenen Denkprozessen nicht auch verschiedene Denkmuster? Ein Denkprozess hängt vielmehr von vielen Variablen ab, die von Fragestellung zu Fragestellung variieren können. So vollzieht sich ein Denkprozess in einer ganz anderen Weise, wenn die Versuchsperson bei der Fragestellung z. B. in einer anderen emotionalen Verfassung ist. Es ist ebenfalls zu bemerken, dass “ der Geist ” nie frei von anderen Gedanken sein kann und dass somit beim Beantworten der Denkaufgaben immer andere untergründige Gedanken dazukommen, die den Denkvorgang auf ihre Weise beeinflussen. 2 Es ist in keiner Weise sichergestellt, dass das, was die andere Person ausdrückt, von der ersten Person auch wirklich verstanden wird. Gerade das innige Verhältnis zu der VP verfälscht das Ergebnis. Dies ist mit dem Phänomen gleichzusetzen, das bei Neugeborenen und ihren Eltern auftritt. So werden Gestik und Mimik des Neugeborenen gerade wegen des innigen Verhältnisses überinterpretiert und eine objektive Beurteilung des Verhaltens ist nicht mehr möglich. So besteht auch die Gefahr bei Bühlers Anordnung mit VPs, die ihm sehr gut vertraut sind. Dies führt zu dem Problem, dass eine Objektivität nicht in dem Maße möglich ist, wie es bei einer unbekannten Person gegeben ist, da hier auch bestimmte Aussagen auf der Basis der Vorkenntnisse über die Person anders interpretiert werden können. 12 Henrik Dindas (Essen) Hier variierten die Konstruktion und Durchführung der Versuchsreihen, da Bühler sie an die besonderen Vorlieben seiner Untersuchungspersonen anpasste. So stimmten die Versuchsreihen von Külpe und Dürr nicht vollständig überein. Bühler kam es nicht auf eine Standardisierung der Versuchssituation an. So wollte Bühler sicherstellen, eine motivierte VP vorzufinden. Eine hohe Motivation der VP wurde ebenfalls durch den Umstand der Alltagsnähe der Experimente unterstützt. Diese Übereinstimmung zwischen der experimentellen Situation und der alltäglichen außerexperimentellen Situation der VP, die “ ökologische Validität eines Experiments ” (Vollmers 1992: 59), sollte zur Aufklärung ihres eigenen Verhaltens im Alltag beitragen. Obgleich die Experimente in einem psychologischen Labor durchgeführt wurden, so verstand sie Bühler als unmittelbar repräsentativ für Alltagserlebnisse. Bühlers Grundgedanke bei seinem dialogischen Vorgehen bei der Analyse der Denkprotokolle besteht darin, dass sich der Gegenstand durch den Forschungsprozess selbst sukzessive ergibt. So erschließt sich dem Forschenden die vollständige Struktur des Gegenstandes durch die verschiedenen Fragen. Folglich entsteht die Definition des Gegenstandes durch den Forschungsprozess und ist erst an dessen Ende vollständig. Bühler vermied es daher explizit, vorab Definitionen aufzustellen und zugleich war es für ihn von großer Bedeutung, die Aussagefreiheit der VP in keiner Weise durch vorgegebene Kategorien einzuschränken (cf. Bühler 1907: 303 & 309). Dies unterschied Bühlers Vorgehensweise erheblich von der seiner Würzburger Kollegen, die es noch zu Beginn der Würzburger Untersuchungen für unumgänglich erachteten, gerade durch Definitionen im Voraus die Exaktheit eines Experiments zu gewährleisten. Bühlers erste Untersuchungen - die das ganzheitliche Denken betreffen - können durch folgendes Bild geistig veranschaulicht werden: Der fragende Forscher sieht sich dem menschlichen Denken als Gegenstand gegenüber, der zuerst ein unorganisiertes Ganzes darstellt, das durch die vorliegenden Protokolle als Manifestation dieses unorganisierten Ganzen aufgefasst werden kann. Nun hat eine bestimmte Frage eine Wirkung auf diese Masse zur Folge, was bedeutet, dass sich in ihr eine tätige Verrichtung an einem Gegenstand verbirgt. Dieser Gegenstand wird durch jede einzelne Frage bearbeitet, demnach wird je nach Fragemodus etwas voneinander getrennt, zusammengefügt, herausgenommen, hinzugetan, ausgegrenzt usw. (cf. Vollmers 1992: 60). Dies veranschaulicht, dass Bühlers Vorgehensweise stark von der Phänomenologie Husserls beeinflusst worden ist. So war der Begriff der “ Intention ” bereits mit dem expliziten Bezug auf Husserl von Bühler eingeführt worden. Bei einem Gedankenakt tritt das Denken einem Gegenstand gegenüber, wobei die Beziehung zu diesem Gegenstand, sog. “ Wasbestimmtheit ” (Bühler 1907: 348), mehr dem Inhalt des Gegenstandes gegenüber tritt. Diese Wasbestimmtheiten der Gedanken können schon durch Vorstellungen gegeben sein, jedoch ist dies nicht notwendigerweise der Fall. Für Bühler fallen demzufolge die Begriffe “ Gegenstand ” und “ Gedanke ” in seinen Untersuchungen zusammen und die Unterscheidung zwischen einem transzendentalen Gegenstand und einem phänomenologischen Denken dieses Gegenstandes bezeichnet Bühler als nicht sinnvoll, da “ alle Gegenstandsbestimmtheiten, um die ich weiß, weiß ich in oder durch Modifikationen meines Bewußtseins ” (ibid.: 355). Folglich stellt sich für Bühler die Frage, ob die Wasbestimmtheiten einen Gegenstand an sich oder nur das Denken dieses Gegenstandes durch einen Menschen konstituieren, nicht. Das Verhältnis von Wasbestimmtheiten und Intention lässt sich beim Auseinanderfallen der beiden beim direkten “ Meinen ” bestimmen, Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 13 beim indirekten “ Meinen ” dagegen verschmelzen beide. In Übereinstimmung mit Husserl bezeichnet Bühler die Bezugnahme auf einen Gegenstand als “ Meinen ” . Bühler unterscheidet vier Arten von Denkerlebnissen. So gibt es die anschaulichen Vorstellungen, Gefühle, Bewusstseinseinlagen wie Zweifeln und Abwarten, und als vierte Art, die anschauungslosen Gedanken, wobei Vorstellungen und Gedanken wesentliche Bestandteile unserer Denkerlebnisse sind. Ganz entgegen der in den damaligen Psychologie vorherrschenden Denktheorien legte Bühler fest, dass die Gedanken die “ letzten Erlebniseinheiten unserer Denkerlebnisse ” darstellen, sie demnach nicht mehr weiter untergliederbar sind (cf. ibid.: 325 - 329). 3.3 Bühlers Untersuchungen zu den Gedankenverbindungen Bühlers zweiter Teil der Untersuchungen ergab, dass für das Verstehen von Sätzen bzw. von Gedanken ein Beziehungserlebnis konstitutiv ist. Dieses “ Bewusstwerden einer logischen Beziehung zwischen einem gebotenen und einem schon gehabten, schon zu unserem geistigen Besitz gehörenden Gedanken ” (Bühler 1908 a: 19) ist demzufolge eine der grundlegenden Erkenntnisse der Bühlerschen Untersuchungen. Gedankenverbindungen können in verschiedenen Verhältnissen auftreten. Die Bewusstseinsinhalte sind als zwischengedankliche Beziehungen zu verstehen, bei denen die sog. Zwischenerlebnisbeziehungen dem Denkenden Auskunft geben, was mit ihm geschieht. Des Weiteren, gibt es den Typus der Zwischengegenstandsbeziehungen, welche dem Denkenden bewusst machen, in welcher Weise ein Gedanke, als eigentlich logische Beziehung, mit dem anderen inhaltlich zusammenhängt. So ist das Denken im Wesentlichen als das Bewusstwerden bestimmter Beziehungen zu verstehen (cf. Vollmers 1992: 64). Wenn eine Person im Zuge eines Versuches nun einen Satz oder ein Wort versteht, bringt diese Person dem zu Verstehenden etwas entgegen. Die Person geht mit diesem eine Verbindung bzw. eine bewusst logische Beziehung ein. Diese Beziehung bringt dann das Verhältnis des zu verstehenden Gedankens zum Bewusstsein (cf. Bühler 1908 a: 13). Als ein “ Aha- Erlebnis ” betitelt Bühler nun die Vollendung des Verstehens des Denkenden. 3.4 Bühlers Erinnerungsversuche Bei Bühlers Untersuchungen zu den Erinnerungsversuchen war der Grundgedanke, dass sich der Gegenstand dem Wissenschaftler am ehesten in seinen Extremformen offenbart, derselbe wie in den vorherigen Untersuchungen. In dieser letzten Versuchsreihe wurde der VP eine Liste mit jeweils zwei zusammengehörenden Gedanken vorgelegt. So offerierte Bühler dem Probanden folgende Gedankenpaare: “ Die adelnde Macht des Gedankens - das Bildnis Kants ” , oder “ Die Weltherrschaft der Römer - Die Völkerwanderung ” (Bühler 1908 b: 27 ff.). Zwischen diesen Gedanken bestand ein bestimmtes Verhältnis und die VP sollte sich diese vorgelegten Gedankenpaare einprägen. In der anschließenden Reproduktionsphase legte der VL nur noch einen Teil des Paares vor und die VP sollte den dazu passenden Teil finden bzw. sich an ihn erinnern. Wie in allen anderen Versuchsreihen wurde auch bei diesem Versuch der zum Auffinden des zweiten Teils führende Denkprozess zurückschauend protokolliert. Bühler ermittelte, dass der Einprägungsvorgang der VP in erster Linie aus der Herstellung einer gedanklichen Verbindung zwischen den beiden vorgegebenen Teilen bestand (cf. ibid.: 29). Mit diesem Ergebnis rüttelte Bühler stark an der bis dato vorherr- 14 Henrik Dindas (Essen) schenden Assoziationstheorie, die besagte, dass allein die unmittelbare Aufeinanderfolge zwischen zwei Elementen für deren gedankenmäßigen Zusammenhang entscheidend sei (cf. Vollmers 1992: 68). Folglich hätte ein Assoziationstheoretiker bei Bühlers Versuchsreihe eingewendet, dass allein die zeitliche Kontinuität und nicht die inhaltliche Verbindung zwischen den Teilen eines Paares entscheidend sei. Diesen Einwand widerlegte Bühler mit einer Ergänzungsversuchsreihe, bei der er als nächsten Schritt der VP eine Reihe von Teilgedanken vorlas, die die VP sich einprägen sollte. Die erste Reihe enthielt Teilgedanken wie “ Besser auf des Berges Gipfeln mit den wilden Tieren weilen - “ oder “ Ein junger Mensch, der auf eigenen Wegen irre geht - “ (Bühler 1908 b: 31 f.), und es folgte auf diese erste Reihe eine mit anderen Tätigkeiten gefüllte Pause. Darauf las der VL eine zweite Reihe von Teilgedanken vor und forderte die VP auf, das zu einem Glied jeweils passende Gegenglied zu reproduzieren. Auch hier wurde anschließend der Denkprozess protokolliert. Die Ergänzungsversuche bestanden aus zwei Satzteilen, die nur zusammen einen vollständigen Satz ergaben. Diese Anordnung ermöglichte es Bühler, die VP den ersten Teil durch logisches Konstruieren anhand bestimmter Schlüsselworte erarbeiten zu lassen, ohne das reale Verhältnis zwischen beiden Satzteilen tatsächlich erfasst zu haben (cf. Vollmers 1992: 68). Bühler führte noch eine weitere, dritte Versuchsreihe durch bei der er zwei zueinander gehörende Gedanken vorgab, die jeweils einen separaten Satz konstituierten. Bei diesem standen die beiden Sätze in einem Analogieverhältnis. Als allgemeines Ergebnis dieser Versuchsreihe ermittelte Bühler, dass der VP nach der Darbietung des zweiten Gedankens die erste Reihe als eine Konkretisierung des allgemeinen Gedankens bewusst wurde. Dies bedeutete, dass in der Vorstellung die erste Reihe nicht sukzessiv abgesucht wird, “ wie man etwa nach den heute in den Kognitionswissenschaften üblichen Computermodellen annehmen würde ” (ibid.: 69). Vorbild für die vierte und letzte Versuchsreihe war die in Enzyklopädien anzutreffende Funktion von Begriffen. In dieser Stichwortsuche wurde der VP eine Reihe von Sätzen vorgegeben, die sie anschließend zu einer Reihe einzelner Stichworte den jeweils ursprünglichen Gedanken, aus dem dieses Stichwort stammte, wiedergeben sollte. Bühlers Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die Probanden beim Erinnern einen allgemeinen Gedanken ins Gedächtnis riefen. Dies kann durch das Folgende verdeutlicht werden: Die VP beschäftigt sich beim Erinnern mit dem vorgelegten Gedanken und versucht ihn zu verstehen. Bei diesem Suchen fällt der VP etwas von einem früheren Gedanken ein, so, wie sie einen Moment den Gedanken näher ins Auge fasst oder sich dem tiefer liegenden Sinn des Satzes in einem allgemeineren Gedanken ins Gedächtnis ruft (cf. Bühler 1908 b: 46). Bühler unterscheidet hierbei drei Momente während des Erinnerungsprozesses, nämlich ein Ausgangsglied, ein im Gedächtnis liegendes Zielglied und die zwischen beiden bestehende Beziehung. Diese Beziehung stellt den eigentlichen Erinnerungsvorgang dar. Wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass diese drei Elemente nicht in einer wohl geordneten zeitlichen Abfolge auftreten und dass es sich bei den Momenten nicht um selbstständige Teile handelt. Eine solche Herangehensweise war bis dato noch nicht durchgeführt worden. Viele Wissenschaftler, so auch Wilhelm Wundt, orientierten die Vielzahl ihrer Experimente am Vorgehen der Naturwissenschaft. Insbesondere eine Orientierung an der Chemie findet sich bei Wundts auf die Elemente des Bewusstseins ausgerichteten Vorgehen wieder. So gab es mannigfache Unterschiede im Vorgehen von Bühler und in dem von Wundt: “ The work of Wundt and the Structural School involved a direct analysis of the contents of consciousness, Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 15 but the Würzburg School with its study of imageless thought [. . .] and the functionalist movement all showed the inadequacy of this approach ” (Erickson 1967: 4). Die Vorgehensweise der Würzburger Schule war für sich schon ein Gegenstück zu Wundts oftmals sehr statischem Herangehensweise. 4 Die Bühler-Wundt-Kontroverse Als Leiter des ersten Experimentallabors der Psychologie in Leipzig unterschied Wundt zwischen einer Form der Introspektion, wie sie für den Alltag charakteristisch ist, bei Selbstbeobachtung und Selbstreflektion und zwischen einer wissenschaftlichen Form der Selbstbeobachtung in experimentell kontrollierten Situationen durch trainierte Personen. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise wollte Wundt allerdings auf Inhalte wie Wahrnehmung und Gedächtnis beschränken, da nur in ihnen aus seiner Sicht ein naturwissenschaftlich experimentelles Vorgehen möglich war (cf. Spada 2006: 12). Bereits nach dem Erscheinen des ersten Teils von Bühlers Untersuchungen veröffentlichte Wundt in seiner Zeitschrift Psychologische Studien (Wundt 1907) eine harsche Kritik an der Methodik. Wundts mechanistische Auffassung vom Experiment widerstrebten den Bühlerschen Versuchsanordnungen. So verlangte Wundt, dass ein Experiment wiederholbar und an Messungen gebunden sein müsse und kritisierte, dass die VP den Denkprozess nicht exakt beobachten könne, da sie auf die Lösung der Denkaufgaben fixiert sei und die unerfüllbare Forderung gestellt werde, die “ Persönlichkeit zu verdoppeln ” (Wundt 1907: 332). Zudem träten Zufalls- und Störeinflüsse auf, da es keine planmäßige Variation der Versuchsbedingungen gebe, was zur Folge hat, dass sobald der VL weitere Nachfragen zum Bericht der VP stelle, man mit Suggestionswirkungen rechnen müsse (cf. ibid.: 339). Mit einem Zitat von Külpe (1912: 94) konterte Bühler die Polemik von Wundt: “ Was ich da erlebe, kommt mir vor wie etwas, was mir auch sonst bei meiner täglichen Arbeit aufstoßen kann, es ist etwas ganz Natürliches, nichts Gekünsteltes. ” Bühler schlussfolgerte, dass man bei allen Einwänden gegen die experimentelle Selbstbeobachtung nicht auf diese verzichten könne, da der VL sonst die Versuchsergebnisse im Sinn der eigenen, subjektiven Erwartungen interpretiere, so wie es in den Arbeiten von Wundt “ mehr als einmal ” geschehen sei (cf. Vollmers 1992: 78). Bei den beiden anderen Teilen der Bühlerschen Untersuchungen fügte er einen Aufsatz bei, der eine Aussage Külpes aufnahm und betonte, dass es bei seinen Experimenten keine Störeinflüsse gegeben habe, da die Versuchspersonen dies selbst gesagt hätten (cf. ibid.). Es eröffnete sich ein hitziger Dialog zwischen den beiden Wissenschaftlern, bei dem sich Wundt auf Bühlers Ausführungen hin veranlasst sah, eine Replik zu geben. In seinem Aufsatz “ Kritische Nachlese zur Ausfragemethode ” (Wundt 1908) betonte er, Bühlers Untersuchungen seien “ Scheinexperimente ” (Wundt 1908: 454) und Wundt sprach ihnen jeden wissenschaftlichen Status ab. Erneut unterstrich er die Maßgabe einer objektiven Messung und den Einfluss von Störvariablen wie das Zusammenarbeiten im gleichen Raum, das Geräusch der Straße, die wechselnden Bedingungen der Erwartung zwischen VL und VP und die Spannung der Aufmerksamkeit, die allesamt auf den Versuch ausgeübt würden (cf. ibid.: 447). Infolgedessen könne Wundt die Aussage Bühlers, die VPs hätten sich nicht gestört gefühlt, nicht akzeptieren, “ so lange nicht durch wirklich exakte sphymographische und pneumographische Versuche der Gegenbeweis geführt ist ” (ibid.: 450). Besonders deutlich tritt hier Wundts geradezu mystifizierende Auffassung von Messung und Zahl hervor und 16 Henrik Dindas (Essen) lässt erkennen, dass für ihn nur etwas dann gemessen oder gezählt worden ist, welches in den Stand wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben werden kann. Bühler war ihm also einen Schritt voraus, da aus Sicht der heutigen statistischen Auffassung die Streuungen innerhalb von Gruppen zu denen von anderen Gruppen ins Verhältnis gesetzt wird, um zu stochastischen Aussagen zu gelangen und nicht wie Wundt auslegte, Streuung über Versuchspersonen der Ausdruck von Störungen sei (cf. Vollmers 1992: 79). Bühler verteidigte ganz deutlich seine Position, indem er in seinem Aufsatz “ Zur Kritik der Denkexperimente ” (Bühler 1909) erneut darauf hinwies, dass die alleinige Streuung nichts aussage, da auch bei einem identischen quantitativen Ergebnis ganz unterschiedliche Qualitäten von Bewusstseinsvorgängen vorliegen können und eine Messung lasse keinen Rückschluss über die Qualität der zugehörigen Bewusstseinsinhalte zu (cf. Vollmers 1992: 80). Erst mit dem Wirken von Otto Selz gewann die Zeitmessung als “ objektive Kontrolle der qualitativen Aussagen ” (Selz 1913: 11) der VPs gegenüber den Experimenten von Bühler wieder an Bedeutung. Bühlers Ideen und Grundannahmen wurden jedoch nach seiner Zeit als Würzburger Wissenschaftler nicht ganz aus den Augen verloren, da Karl und Charlotte Bühler in die klassische Wiener Entwicklungspsychologie übersiedelten und dort kinder- und jugendpsychologische Arbeiten anfertigten, die auf einigen Erkenntnissen der Würzburger Untersuchungen weitergeführt wurden. 5 Otto Selz und die Würzburger Schule Zu Beginn einer Betrachtung von Otto Selz steht oft zur Debatte, ob Selz überhaupt den Wissenschaftlern der Würzburger Schule zuzuordnen ist, obgleich er ganz deutlich einige der grundlegenden Ideen dieser Schulrichtung weiterentwickelt hat. So übernahm Selz z. B. viele Ideen und Techniken der damaligen Forschungsrichtung. Berücksichtigt man jedoch lediglich historische Tatbestände, so erscheint es kaum möglich, Otto Selz als Wissenschaftlerpersönlichkeit historisch über seine Zugehörigkeit zur Würzburger Schule zu charakterisieren. Zu diesem Ergebnis der fraglichen Zugehörigkeit gelangt man ebenfalls, wenn man sich Selzens wissenschaftliche Grundüberzeugungen und deren weiterführende Entwicklung anschaut. Vergleicht man diese mit dem Ideenbestand der Würzburger Schule, erkennt man große Diskrepanzen (cf. Herrmann 1996: 6). Selz war ein Außenseiter, dessen wissenschaftliches Werk schon zu Lebzeiten in Deutschland und anderswo nicht die Anerkennung gefunden hat, die vielen anderen Psychologen zuteil geworden ist. Auch ist er seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den letzten fünfzig Jahren in Deutschland so gut wie nie rezipiert worden. Mögliche Gründe sind hier definitiv in Otto Selz bedauernswertem Leben zu finden. Nach seiner Entlassung aus dem Professorenamt zu Beginn der Naziherrschaft wurde er nach einem kurzen Lebensabschnitt als Soldat im Heer auf dem Weg nach Auschwitz im August 1943 ermordet (cf. ibid.: 1). Trotz schlimmster persönlicher Verhältnisse hielt Selz im jüdischen Ghetto in Amsterdam Kurse für jüdische Lehrkräfte ab, nachdem er seit 1933 fast ohne wissenschaftlichen Kontakt und persönlich vereinsamt in Mannheim gelebt hatte. Im Herbst 1938 kam er in das KZ Dachau und erkrankte schwer. Trotz einer erfolgreichen Emigration nach Holland holten ihn dort deutsche Besatzungsgruppen ein und brachten ihn für die letzten Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 17 wenigen Jahre seines Lebens ins jüdische Ghetto, wo er kurz darauf ermordet wurde (cf. ibid.: 7). Otto Selz begann seine fünfjährige Schaffensphase an der Würzburger Schule, als er im Jahre 1909 - Selz war 28 Jahre alt - bei Oswald Külpe eine Tätigkeit aufnahm. Külpe war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Würzburg, sondern seit kurzem in Bonn tätig. Besonders zu Karl Bühler, damals Privatdozent in Bonn, hielt Selz eine innige kollegiale Verbindung. Ein wichtiger Einfluss für Selzens Gedankenwelt war sein ehemaliger Doktorvater Theodor Lipps, bei dem er neben einem Jura-Studium auch Philosophie studierte. Lipps versuchte damals eine psychologisch-introspektive Grundlegung von Logik, Ethik und Ästhetik herzustellen, indem er die unmittelbare psychische Erfahrung als Ausgangspunkt der Philosophie setzte und folglich in der philosophischen Ästhetik als einflussreicher Vertreter der Einfühlungslehre gilt (cf. ibid.: 2). Theo Herrmann, emeritierter Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Mannheim, stellt in seinem Forschungsbericht “ Otto Selz und die Würzburger Schule ” (Herrmann 1996) eine sehr gute Zusammenfassung von Selzens Wirken und Auffassungen zusammen. Folgend wird dieser Forschungsbericht als Basis verwendet, um den Gedankengang von Otto Selz und die Parallelen zur Würzburger Schule zu ermitteln. Hierbei soll die Genialität von Selzens Untersuchungen in der Nachfolge der Würzburger Ansätze, die bereits auf Bühler einen großen Einfluss hatten, dargestellt werden. 5.1 Der Grundgedanke bei Otto Selz Selz vertritt die Auffassung, dass in der Anerkennung der Existenz bewusstseinsunabhängiger Dinge in einer realen Außenwelt eine “ Hypothese ” enthalten ist, die es ermöglicht, “ zahllose verwickelte Erfahrungstatbestände zu erklären und in einer unbegrenzten Menge von Fällen die Erscheinungen vorherzubestimmen ” (Selz 1910 a: 108 ff.). Keine andere Hypothese vermag dasselbe zu leisten. Seine Grundidee, aus der er vieles andere ableiten konnte, basierte auf einer Zusammenstellung diverser Auffassungen aus verschiedenen Bereichen der Psychologie: Die Assoziationstheorie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, für die zum Beispiel Hermann Ebbinghaus und Georg Elias Müller stehen, die Wundt-Schule, aber auch die Würzburger Schule vertreten im Grunde eine und dieselbe Auffassung: Gegenstand der psychologischen Analyse sind Erlebnisinhalte bzw. Bewußtseinstatsachen (Wundt), mag es sich dabei um Vorstellungen oder um Gedanken, Bewußtheit oder Bewußtheitseinlagen à la Würzburg handeln. Gemeinsames Thema der Psychologie sind für alle diese Schulrichtungen also mentale Gegebenheiten, Erscheinungen von der Art der Bewußtseinsinhalte oder Erlebnisse. Die Würzburger reklamierten dabei, daß zu diesen mentalen Gegebenheiten auch unanschauliche Gedanken, also nicht nur anschauliche Vorstellungen gehören (Herrmann 1996: 7). Kontrovers zwischen diesen unterschiedlichen Positionen ist die Frage, wie die mentalen Gegebenheiten sowie die Bewusstseinsinhalte zusammenhängen und zugleich zusammenwirken. Georg Elias Müller genügte hier als Erklärung das Assoziationsprinzip. So wirken für Müller stärkere oder schwächere aktivierende und hemmende Einflüsse zwischen mentalen Inhalten - primär durch Kontiguität gesteuert - zusammen. Diese Herangehensweise 18 Henrik Dindas (Essen) kritisierte Narziß Ach und damit die Würzburger Schule der Denkpsychologie, die dem Assoziationsprinzip das Prinzip willentlicher Manipulation der psychischen Inhalte sowie determinierende Tendenzen und generell das Wollen an sich zur Seite stellen (cf. ibid.: 7). Hier vertraten unter anderem Henry Jackson Watt und Ach eine Überlagerungstheorie, in der die Assoziationsdynamik der psychischen Inhalte von determinierendem, voluntativem Geschehen überlagert wird. Selz falsifizierte diese Würzburger Auffassung und vollzog bei der Betrachtung des Seelenlebens einen veritablen Paradigmenwechsel. So ist das Seelenleben kein Muster von psychischen Erlebnisbeständen, sondern vielmehr eine “ sich selbst ergänzende zielstrebige Tätigkeitsstruktur ” 3 Gegenstand der Psychologie von Selz sind folglich nicht die Bewusstseinsinhalte, ob anschaulich oder auch unanschaulich. Es ist vielmehr dasjenige, was er gegen Ende seines Lebens “ geistige Verhaltensweisen ” (Selz 1991: 75 ff.) nannte. Entscheidend für Selz war nun, wie diese geistigen Verhaltensweisen beschaffen sind, und so verglich er sie mit “ zweckmäßigen Körperbewegungen ” , deren Verknüpfung der geistigen Verhaltensweisen “ reflexodial ” (ibid.: 75) sind. Anders als die Auffassungen von Karl Stumpf und Bühler oder entgegen der Tradition von Brentano und Lotze handelte es sich bei ihnen nicht um die psychischen Funktionen oder Akte, die den psychischen Erscheinungen oder Inhalten gegenüberstehen (cf. Herrmann 1996: 8). So erwirbt der Mensch bei Selz “ ein geordnetes System von zweckmäßigen geistigen Verhaltensweisen ” , welche sich zu mentalen Gesamtleistungen zusammenschließen und eben kein “ System von richtungslosen Vorstellungen ” (Selz 1991: 75 ff.) darstellt. Selz (1927: 273) fasste seine Grundidee beim VIII. Internationalen Kongress für Psychologie wie folgt zusammen: Das intellektuelle Geschehen ist kein System diffuser Reproduktionen, wie die Assoziationspsychologie es sich dachte, sondern es ist ebenso wie das System der Körperbewegungen, insbesondere der Reflexe, ein System spezifischer Reaktionen, in dem eine für den Regelfall eindeutige Zuordnung allgemeiner und speziellerer intellektueller Operationen zu ganz bestimmten Auslösungsbedingungen herrscht. Vom Geburtszeitpunkt an sind einige geistige Verhaltensweisen in bereits ausgereifter Form und von Beginn an in einem geordneten Zusammenhang vorhanden. Diese basieren auf einer bestimmten Erbausstattung. 4 Im Laufe der Entwicklung werden neue operative Komponenten in diesen geordneten geistigen Verhaltenszusammenhang eingefügt und ältere geistige Verhaltensweisen durch bessere ersetzt. Diese Entwicklung des immer größer werdenden, doch sehr strikt geordneten Musters von geistigen Verhaltensweisen dient der Bewältigung von Lebensaufgaben und ist daher zweckmäßig. So kann die mentale Entwicklung des Menschen als ein plastisches, bildsames Wachstum verstanden werden, welches dem Zwecke dient, die Lebensaufgaben der Umwelt und der Kultur zu bewältigen (cf. Herrmann 1996: 9). Basierend auf dem Erbgut als Grundkapital unseres Geisteslebens wird der Kulturbesitz unserer Gesellschaft an uns Individuen übertragen. Dies geschieht, indem wir Fertigkeiten von anderen Menschen übernehmen und zudem dann diejenigen geistigen 3 Selz 1983: Notiz zu einem Brief. Aus: Herrmann 1996: 8. 4 Es stellt sich die Frage, ob das intellektuelle Geschehen unterdrückt werden kann. Es ist zwar möglich, Körperbewegungen zu kontrollieren und man kann sogar trainieren, Reflexe zu unterdrücken. Ist es aber nun nicht geradezu unmöglich das intellektuelle Geschehen zu unterdrücken? Ein Gedanke kann zwar durch eine moralische Wertung im Kopf hin- und hergeschoben werden bzw. es kann versucht werden, ihn “ beiseite zu schieben ” . Jedoch kann dieser aber dennoch nicht vollkommen unterdrückt werden. Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 19 Verhaltensweisen hinzukommen, die von uns selbst neu dazuerworben werden. Diese stellen, so Selz, unser “ persönliches Gut ” (Selz 1991: 85 ff.) dar, wobei Selz in diesem Zusammenhang das instinktbedingte, automatische und einsichtige Lernen unterscheidet. Ganz in der Tradition von Karl Bühlers Überlegungen ist für alles Lernen die Antizipation des Erfolges entscheidend. Folglich heißt Lernen im ersten Schritt, Aufgaben in ihrer Struktur zu erkennen und im zweiten Schritt, Mittel für die Lösung der Aufgaben zu finden. Der Schwerpunkt liegt demnach bei der analogisierenden Übertragung der Lösungsmethoden von bekannten “ Mustersituationen ” auf noch unbekannte Situationen und nicht bei der Findung abstrakter Regeln. Dies unterscheidet den Selzen Ansatz von dem der Würzburger Wissenschaftler. So ist eine voll verstandene Aufgabe nichts anderes als die Antizipation des Ziels, wobei die Zielantizipation, ganz wie ein innerer Reiz, spezifische Lösungsmethoden auslöst. Diese “ Auslösungsbedingungen ” bestimmen, welche Teillösungsmethoden “ kumulativ ” bis zu der Erreichung des Ziels hintereinandergeschaltet werden und welche von diesen Teillösungsmethoden im Falle eines Misserfolges als “ Ersatzoperationen ” ausgewählt werden. So betont Selz, man müsse diese Handlungen im Sinne einer “ Reflextheorie ” imaginieren (ibid.: 140 ff.). 5.2 Selzens Ablehnung der Würzburger Schule Es ist bemerkenswert, dass Selz in seiner Doktorarbeit frühere Arbeiten von Oswald Külpe zum Problem der Außenwelt nicht zitiert hat, obwohl diese bereits auf den Hypothesencharakter des philosophischen Realismus hinweisen. Die Frage, ob es außerhalb unseres Bewusstseins eine objektive Welt der Dinge gibt und ob bzw. wie wir diese bewusstseinstranszendente Welt erkennen können, behandelte Selz im Jahre 1909 in seiner Doktorarbeit unter der Berücksichtigung des Englischen Empirismus. In diesem Jahr behandelte auch Külpe diese Transzendenzproblematik, welche Erkenntnisse heute insbesondere von der Popper-Schule, dem Kritischen Rationalismus, in Anspruch genommen werden. So vertrat Külpe die Auffassung, der Standpunkt, dass es eine objektive Außenwelt gibt, sei kein sicheres Wissen, sondern eine metaphysische Hypothese. Nun ermöglicht eine Akzeptanz dieser Hypothese aber, Sachverhalte zu erklären, die von den Realwissenschaften entdeckt wurden (cf. Herrmann 1996: 3). Zwar apostrophierte Selz in seiner bei Oswald Külpe angefertigten Habilitationsschrift diesen als “ verehrten Lehrer ” (Selz 1913), bezog sich aber dennoch an keiner Textstelle auf ihn, sowie er auch in späteren Schriften nie als relevante Referenz auftauchte. Auch ist bemerkenswert, dass Selz das Werk Über den Willensakt und das Temperament (Ach 1910) des Hauptvertreters der Würzburger Schule, Narziß Ach, geradezu vernichtend rezensierte. So kritisierte Selz, dass Ach in seinem Buch den Wert von Selbstbeobachtungen im Experiment unterschätzen und widerlegbare Unmöglichkeitsbehauptungen aufstellen würde (cf. Herrmann 1996: 5). Demnach habe er in seinen Experimenten den angeblich untersuchten Willensakt gar nicht erzeugt und sei mit seiner Abteilung von Temperamenten aus seiner Willenslehre einseitig, da er den Willensakt mit bloßer Aufmerksamkeitskonzentration verwechsle (cf. Selz 1910 b). 20 Henrik Dindas (Essen) 5.3 Selzens Verbindung zur Würzburger Schule Verbindungen zu den Würzburger Wissenschaftlern lassen sich jedoch nicht abstreiten, da Versuchspersonen in der Habilitationsschrift von Selz unter anderem Oswald Külpe und Karl Bühler waren. Zur Beschreibung seiner Methodik berief Selz sich auf Untersuchungen von Watt und Messer. Den Hauptunterschied zwischen seinem eigenen Vorgehen und dem der Würzburger Wissenschaftler sah Selz dennoch darin, dass die Instruktion bei seinen Versuchen für die VPs jeweils neu gegeben wurde und damit die Art der jeweiligen Versuche von Aufgabe zu Aufgabe variierten (cf. Vollmers 1992: 81). Noch in seinen Vorträgen im Amsterdamer Ghetto grenzte Selz seine eigene “ Theorie der spezifischen Reaktionen ” bzw. der “ geistigen Verhaltensweisen ” von den Würzburger Konzeptionen ab (cf. Herrmann 1996: 10). Zwar hatten die Würzburger den Assoziationismus mit ihren Untersuchungsmethoden widerlegt, sie konnten aber in den Augen vieler Wissenschaftler keine hinreichende Theorie aufstellen. Selz setzte genau an diesem Punkt seine Forschungen fort und erarbeitete eine nicht-assoziationistische Denktheorie, die Schemata des Problemlösens und des Denkens in den Mittelpunkt stellten. Ganz in der Nachfolge von Karl Bühlers Untersuchungen, die bereits auf den Würzburger Erkenntnissen basierten, erschuf Otto Selz neue Ansätze, die wichtige Vorentscheidungen zur heutigen Kognitionswissenschaft darstellten. Die Frage, ob Otto Selz nun zu den Würzburger Wissenschaftlern gehörte ist daher nicht von großer Bedeutung, wenn es darum geht, die Genialität seines Ansatzes darzustellen und entsprechend zu würdigen. Selz wurde ganz klar von den Ansätzen der Würzburger Schule beeinflusst und pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu Karl Bühler, dem er ebenfalls nach Bonn folgte. Selz gehörte im lokalen Sinne des Wortes nicht zu den Würzburgern, doch als Bonner Habilitand von Külpe beschäftigte er sich während seines gesamten wissenschaftlichen Lebens nach seinem Jurastudium mit den zentralen Fragen der Denkpsychologie und publizierte als erster “ Über die Gesetze (Hervorhebung durch Steffi Hammer) des geordneten Denkverlaufs ” (Selz 1913) (cf. Hammer 1994: 67). 6 Schlussbetrachtung Als ein möglicher Grund für die geringe Betrachtung der Ausführungen der Würzburger Schule in der Wissenschaft, ist mit Sicherheit das Eintreten des Ersten Weltkrieges zu nennen. Nach dessen Ende wurde die Methodik der experimentellen Selbstbeobachtung und die damit verbundene qualitative Beschreibung der Bewusstseinsvorgänge in dieser Form nicht mehr angewendet. Gerhard Kleining, Begründer der qualitativ-heuristischen Sozialforschung, erwägt auch die Nazi-Herrschaft als einen Faktor, der die Entwicklung der entdeckenden Methoden jäh unterbrach. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges konnte in dem dann vorherrschenden behavioristischen und positivistischen Wissenschaftsklima die Methoden des qualitativen Experimentierens nicht mehr aufgenommen werden (cf. Kleining). So wurde auch dem Wirken von Karl Bühler in der klassischen Wiener Entwicklungspsychologie ein frühes Ende gesetzt, da mit der Inhaftierung, Verfolgung oder Flucht der meisten seiner Mitglieder vor den Nazis eine Wiederaufnahme der dortigen Arbeiten verwehrt wurde. Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 21 Auch muss das Erscheinen des programmatischen Artikels von James B. Watson zum Behaviorismus, “ Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht ” (Watson 1913), als ein Teilelement genannt werden, das zur Ablöse der Würzburger Methodik führte. Ein wesentlicher Kritikpunkt an der Methode der Selbstbeobachtung war unter anderem die Tatsache, dass die Aussagen der VPs nicht mehrdeutig waren und es wurde in Frage gestellt, ob die sprachlichen Ausdrücke der VPs die tatsächlichen Bewusstseinsprozesse korrekt wiedergäben. So ist es ebenfalls fraglich, ob der VL die Aussagen der VPs in deren Sinne richtig auffassen kann. Bei der Vorgehensweise der Würzburger Methode würde nicht ein aktueller Bewusstseinsprozess beschrieben, sondern nur ein Bericht erschaffen, der das Vergangene ausdrückt. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung soll der betreffende Bewusstseinsprozess bereits abgeschlossen sein und Gedächtniseffekte führen nur zu Lücken und Fehlern in der Darstellung der Erlebnisse (cf. Vollmers 1992: 82). Verfechter des Behaviorismus waren davon überzeugt, dass die Psychologie nur mit einer methodologischen Orientierung an der Physik Ergebnisse auffinden würde, die unmittelbar gesellschaftlich verwertbar waren: “ Die Berechnung der Natur hat es dem Menschen ermöglicht, sie zu beherrschen und sich damit - so weit es geht - von ihren Wechselfällen zu emanzipieren ” (ibid.: 83). So wurde die Wissenschaft für den Menschen ein nützliches Instrument zur Naturbeherrschung, da er Naturvorgänge berechnen konnte, und folglich wendete man sich von der Methode der experimentellen Selbstbeobachtung ab. Die von den Behavioristen verfochtene experimentelle Methodik sollte einzig und allein dem Zwecke dienen, menschliches Verhalten berechenbar zu machen und dadurch zu kontrollieren (cf. ibid.). Ähnlich wie Ralph W. Erickson vertrete ich die Meinung, die Hinwendung zum Behaviorismus und den damit verbundenen Wegfall der Würzburger Erkenntnisse sollte mit Vorsicht behandelt werden: “ The attempt of the Behaviorists to reduce the mental to physiology or physics and chemistry has left out practically everything of value to man - art, literature, religion, philosophy ” (Erickson 1967: 5). Die reine Betrachtung der Denkvorgänge auf der Basis der Naturwissenschaften berücksichtigt nicht die Besonderheiten des menschlichen Verstandes und das, was ihn so einzigartig macht und demnach von den Tieren unterscheidet. Ein weiterer Grund für die geringe Rezeption der Würzburger Methodik war das Scheitern von Edward B. Titcheners Forschungsmethode, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Elemente des Bewusstseins aufzufinden, analog den Atomen in der Physik. Da Titchener die Methode der Selbstbeobachtung anwendete, wurde sein Versagen eben auf die Methode zurückgeführt und folglich wurde diese Methodik generell verneint (cf. Vollmers 1992: 82). Somit sind es viele außerwissenschaftliche Entwicklungen, die das Ende der Selbstbeobachtung als experimentelle Forschungsmethode zur Folge hatten. So sind es weniger methodologische Probleme, wie z. B. Wundt sie bei Bühler bemängelte, die letztendlich zu einer Ablöse der Methodik der Würzburger Schule führte. Die Würzburger Wissenschaftler haben damals schon wichtige Erkenntnisse gewonnen, die unsere heutige Psychologie stark beeinflussen. Vor allem Karl Bühler sowie der Nachfolger der Würzburger Schule, Otto Selz, erarbeiteten Methodiken, von denen einige Theorien, die heute als unabdingbar gelten, abgeleitet werden können. Die Methode des qualitativen Experimentierens der Würzburger Schule kam sehr vielen verschiedenen Gebieten der angewandten Psychologie zugute. Besonders die psychologischen Richtungen der Denk-, Wahrnehmungs- und Tierpsychologie und bestimmte theoretische Richtungen 22 Henrik Dindas (Essen) wie die Gestalt- oder Entwicklungspsychologie übernahmen viele Grundideen der Würzburger Untersuchungen. Die bis dato nicht verwendete Kombination von Introspektion, Befragung und experimenteller Anordnung sind nur einige der Besonderheiten, die die Würzburger Wissenschaftler bei ihren Untersuchungen in den Vordergrund stellten. Besonders die Aufwertung der Versuchsteilnehmer als Informanten über eigene Erlebnisse und die Überführung eines bloß apparativen Versuchs in einem mehr den Alltagsverfahren verwandten Gebrauch verschiedener Erkenntnismöglichkeiten - dem Erleben und dem Verbalisieren - verdeutlichen die Kongenialität der Ansätze der Würzburger Schule. Abschließend ist mit großem Nachdruck zu bemerken, dass sich die Psychologie wieder mehr mit den Erkenntnissen der Würzburger Schule befassen sollte, um so bedeutende Methodiken, die heute bei der Erforschung des Geistes angewendet werden, zu überdenken. Die Erkenntnisse der Würzburger Schule sollten gegebenenfalls modifiziert werden, indem sie mit einer zeitgemäßen Methodologie versehen würden. Dem qualitativen Experimentieren sollte wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit zugewendet werden und wie es bereits Gerhard Kleining kritisierte, sollte neben der qualitativen Beobachtung das Experimentieren als eines der Basisverfahren der qualitativen, entdeckenden Psychologie und Sozialwissenschaften angesehen werden (cf. Kleining). Bibliographie Ach, Narziß 1905: Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippische Chronoskop, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Ach, Narziß 1910: Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung, Leipzig: Quelle & Meyer Bühler, Karl 1907: “ Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. I. Über Gedanken ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 9 (1907): 297 - 365 Bühler, Karl 1908 a: “ Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. II. Über Gedankenzusammenhänge ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 12 (1908): 1 - 23 Bühler, Karl 1908 b: “ Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. III. Über Gedankenerinnerungen ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 12 (1908): 24 - 92 Bühler, Karl 1909: “ Zur Kritik der Denkexperimente ” , in: Zeitschrift für Psychologie 51 (1909): 108 - 118 Erickson, Ralph W. 1967: “ Some historical connections between Existentialism, Daseinsanalysis, Phenomenology, and The Würzburg School ” , in: The Journal of General Psychology 76 (1967): 3 - 24 Funke, Joachim 2003: Problemlösendes Denken, Stuttgart: Kohlhammer Funke, Joachim et al. (eds.) 2006: Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Kognition (= Handbuch der Psychologie 5), Göttingen: Hogrefe Hammer, Steffi 1994: Denkpsychologie - Kritischer Realismus. Eine wissenschaftstheoretische Studie zum Werk Oswald Külpes, Frankfurt am Main: Peter Lang Herrmann, Theo 1996: “ Otto Selz und die Würzburger Schule ” , in: Forschungsberichte aus dem Otto-Selz-Institut für Psychologie und Erziehungswissenschaft der Universität Mannheim 46 (1996) Hussy, Walter 1984: Denkpsychologie: Ein Lehrbuch, Stuttgart: Kohlhammer Janke, Wilhelm & Wolfgang Schneider (ed.) 1999: Hundert Jahre Institut für Psychologie und Würzburger Schule der Denkpsychologie, Göttingen: Hogrefe Kleining, Gerhard (o. J.): Die Entstehung der Methode des qualitativen Experiments und ihre Anwendung in der frühen Entwicklungspsychologie, im Internet unter http: / / www.heureka-hamburg.de/ html/ entstehungexperiment.HTM. [09. 07. 2011] Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie 23 Külpe, Oswald 1912: “ Über die moderne Psychologie des Denkens ” , Kongreßvortrag auf dem V. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Experimentelle Psychologie in Berlin, in: Karl Bühler (ed.) 1922: Vorlesungen über Psychologie, Leipzig: Hirzel Marbe, Karl 1901: Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil, Leipzig: Engelmann Messer, August 1906: “ Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 8 (1906): 1 - 224 Müsseler, Jochen (ed.) 2008: Allgemeine Psychologie, Heidelberg: Springer Selz, Otto 1910 a: “ Die psychologische Erkenntnistheorie und das Transzendenzproblem ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 16 (1910): 1 - 110 Selz, Otto 1910 b: “ Die experimentelle Untersuchung des Willensaktes ” , in: Zeitschrift für Psychologie 57 (1910): 241 - 270 Selz, Otto 1913: Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersuchung, Stuttgart: Speemann Selz, Otto 1927: “ Die Umgestaltung der Grundanschauung von intellektuellem Geschehen ” , in: Kantstudien 32 (1927): 273 - 280 Selz, Otto 1991: Wahrnehmungsaufbau und Denkprozeß. Ausgewählte Schriften, Bern: Huber Spada, Hans (ed.) 2006: Lehrbuch - Allgemeine Psychologie, Bern: Huber Vollmers, Burkhard 1992: Kreatives Experimentieren - Die Methodik von Jean Piaget, den Gestaltpsychologen und der Würzburger Schule, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag Watson, John Broadus 1913: “ Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht ” , in: id. (ed.) 1968: Behaviorismus, Köln/ Berlin: Kiepenheuer und Witsch, 11 - 28. Erstdruck als: “ Psychology as the Behaviorist views it ” , in: Psychological Review 20 (1913): 158 - 177 Wundt, Wilhelm 1907: “ Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens ” , in: Psychologische Studien 3 (1907): 301 - 360 Wundt, Wilhelm 1908: “ Kritische Nachlese zur Ausfragemethode ” , in: Archiv für die gesamte Psychologie 11 (1908): 445 - 459 24 Henrik Dindas (Essen) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Was unterscheidet Mensch und Tier? Eine Analyse verschiedener Sprachursprungstheorien Sarah K. Baumann The following article focuses on the origin of the human language, contrasting philosophical and scientific-orientated views. It illuminates modern language theories and puts an emphasis on main differences of the very own forms of interaction among humans and animals. Since language is closely linked to the cognitive abilities of the human species, the article depicts three theories and ideas of renowned-scientists Michael Tomasello, Robin Dunbar and Karl Bühler. The article shows that the many different theories and contributions to the field of the origin of language differ in various contents and interpretations, hence shows that it is inevitably important to differentiate and clarify innovative ideas and views. It explores ideas of the three concepts, concentrating on the ideas that Karl Bühler elaborates in his “ Sprachtheorie ” , concluding that even though Bühlers ideas are historically prior to the two others, it still persists as a reasonable deliberations up to this very recent day. 1 Einführung Die Frage nach dem Ursprung der Sprache wird seit vielen Jahrhunderten in verschiedenen Wissenschaften diskutiert. Vor allem im Zeitalter der Aufklärung stand der naturwissenschaftlichen Position eine philosophische gegenüber. Eine der philosophischen Sichtweisen vertrat unter anderem Johann Gottfried Herder, welcher sich in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) dazu äußerte. Im Jahr 1851 war es Jacob Grimm, der in einem Vortrag seiner Meinung Ausdruck verlieh, dass es die Aufgabe der Sprachwissenschaften sei, den Ursprung der Sprache zu klären (cf. Jäger 2009). Die Evolutionsbiologie geht von einer stufenweisen Entwicklung des frühen Menschen aus, zu welcher sich zeitgleich auch die Sprache entwickelte. Der Anthropologe Andre Leroi- Gourhan formulierte es als “ eine Kette der Befreiungen ” (cf. Leroi-Gourhan 2009), welche mit der Aufrichtung des Ganges begann. Da die Hände nun nicht mehr zur Fortbewegung nötig waren, eröffnete sich die Möglichkeit der handgestützten Kommunikation sowie die Entwicklung des technischen Handelns. Das Gesicht wurde von der Aufgabe des Ergreifens der Nahrung entlastet. Durch den aufrechten Gang veränderte sich außerdem die Aufhängung des Schädels, aus dem sich eine gravierende Zunahme des Gehirns ergab. Das neu entstandene Gebiet - der Kortikalfächer - beherbergt heute die Bereiche, die für die Steuerung von Hand und Gesicht als auch für die Sprachareale verantwortlich sind. Aufgrund der verschiedenen Ausgangspositionen der einzelnen Wissenschaften bleibt nicht aus, dass es verschiedene Theorien zum Ursprung der Sprache gibt. Wie es tatsächlich zur Sprache kam und aus welchen Gründen sie entstanden ist, kann nicht mit absoluter Gewissheit gesagt werden und soll auch nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein. In diesem Aufsatz werden aktuelle Theorien zum Ursprung der Sprache mit Blick auf die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier analysiert. Da die Sprache eng mit den kognitiven Fähigkeiten verbunden ist, sollen auch diese mit Rücksicht auf die Unterscheidung betrachtet werden. Die Ausrichtung dieses Aufsatzes soll schon in der gezielten und punktierten Darstellung der Theorien erkennbar werden. Die Darstellungen der Theorien erheben aus diesem Grund auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da dies den Umfang dieses Aufsatzes überschritten hätte. Zunächst soll ein Überblick über drei verschiedene Sprachursprungstheorien gegeben werden. Die erste Theorie des Verhaltensforschers Michael Tomasello ist die zurzeit aktuellste und zeichnet sich durch seine besonderen Forschungen aus. Tomasello beschäftigt sich sowohl mit der Erforschung von Menschenaffen als auch mit der Ontogenese des Menschen. Dadurch ist es ihm gelungen, einen entscheidenden Teil zur Abgrenzung zwischen Mensch und Tier zu erörtern. Die zweite Position ist von Robin Dunbar, der durch die Beobachtungen von Menschenaffen und ihrem erkennbaren sozialen Verhalten auf eine mögliche evolutionäre Geschichte des frühen Menschen schließt. Ausschlaggebender Punkt für seine Theorie ist der Zusammenhang zwischen der relativen Größe des Neokortex und der Gruppengröße, in der die verschiedenen Arten der Säugetiere zusammenleben. Die dritte und grundlegendste Theorie ist von Karl Bühler, welche er zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte. Auch Bühler nutzt vor allem die Ontogenese des Menschen als wichtige Quelle zur Unterstützung seiner Theorie. Ebenfalls beschäftigte er sich mit der Forschung über die Verhaltensweisen von Menschenaffen. Im Anschluss an die Darstellungen werden die Sprachursprungstheorien in einer kontrastiven Gegenüberstellung hinsichtlich ihrer entscheidenden Merkmale miteinander verglichen. Die Analyse soll als Basis für eine Bewertung der Sprachursprungstheorien fungieren. Abschließend soll die Ausgangsfragestellung (was unterscheidet Mensch und Tier? ) aufgegriffen und im Sinne der Theorien beantwortet werden. 2 Die Darstellung der Sprachursprungstheorien 2.1 Die Sprachursprungstheorie von Michael Tomasello Die Grundlage für die erste Position dieses Aufsatzes ist die Publikation Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009), welche von Michael Tomasello, einem amerikanischen Anthropologen und Verhaltensforscher, verfasst wurde. Tomasello forscht seit dem Jahr 1997 am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und lehrt zudem als Professor an der Universität Leipzig. Anhand seiner Forschungserkenntnisse der letzten Jahre, die auf empirischen Studien zur Kommunikation von Menschenaffen sowie dem Spracherwerb von Kleinkindern beruhen, entwickelte er sein Konzept der geteilten Intentionalität. Mit diesen Forschungen versucht Tomasello unter anderem, die Unterschiede zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache zu verdeutlichen und zu benennen. 26 Sarah K. Baumann 2.1.1 Intentionale Kommunikation der Primaten Gleich zu Beginn führt Tomasello die Unterscheidung zwischen intentionaler und kooperativer Kommunikation ein, welche für seine weiteren Untersuchungen von hoher Bedeutung ist. Unter intentionaler Kommunikation versteht er eine, die das Verhalten oder die psychologischen Zustände des Empfängers absichtlich zu beeinflussen versucht. Möchte der Kommunizierende mit dem Empfänger der Kommunikation etwas teilen oder ihm helfen, spricht Tomasello von kooperativer Kommunikation (cf. Tomasello 2011: 25 f.). 1 Er untersucht zunächst die intentionale Kommunikation der Primaten und führt eine weitere Unterscheidung ein - die zwischen Kommunikationsdisplays und Kommunikationssignalen. Bei den Kommunikationsdisplays handelt es sich um starre körperliche und verhaltensbezogene Äußerungen, die an emotionale Zustände gebunden sind, über welche das Individuum keine Kontrolle hat (cf. ibid.: 25). Displays sind etwas Stimmliches, also Vokalisierungen, die vor allem in Gefahrensituationen an die gesamte Gruppe ausgesandt werden. Sie sind außerdem genetisch festgelegt. Dafür spricht die Tatsache, dass selbst in Isolation aufgewachsene Primaten über ein Repertoire an Warnrufen verfügen, welches mit dem der Artgenossen identisch ist (cf. ibid.: 27). Sie sind durch evolutionäre Prozesse und vor allem durch die Notwendigkeit, in Gefahrensituationen schnell zu reagieren entstanden, so vermutet Tomasello. Dies würde auch erklären, wieso bisher alle Versuche, Menschenaffen neue Vokalisierungen beizubringen, gescheitert sind (cf. ibid.: 28). Die Kommunikationssignale lassen sich nur bei Primaten, genauer bei den Menschenaffen, aber bei keinem anderen Tier nachweisen. Sie sind im Gegensatz zu den Displays flexibel einsetzbar und werden an die Umstände angepasst. Hierzu zählt Tomasello auch die auf Gesten basierende Kommunikation. 2 Es gibt auch Gesten, die Primaten zum Austausch verwenden, welche genetisch festgelegt sind. Diese zählt Tomasello aber zu den Displays. Er nennt diese Form von Gesten auch Intentionsbewegungen. Hierbei wird nur der erste Schritt einer normalen Verhaltenssequenz vollzogen, um eine Reaktion beim Empfänger auszulösen (cf. ibid.: 33). Der andere Teil der Gesten wird erlernt und flexibel genutzt. Diese betreffen soziale Interaktionen, welche evolutionär weniger erforderlich waren wie z. B. spielen (cf. ibid.: 31). Interessant ist, dass Primaten diese Gesten nur verwenden, wenn der Empfänger ihnen gegenüber aufmerksam ist, und darüber hinaus warten sie auch die Antworten ab. Man könnte diese Gesten daher als Intentionsbewegungssignale bezeichnen, da sie das Verhalten des Empfängers zu beeinflussen versuchen. Tomasello geht davon aus, dass diese ontogenetisch ritualisiert werden, um sie dann flexibel einsetzen zu können (cf. ibid.: 36 f.). Menschenaffen erkennen, wenn der potenzielle Empfänger ihrer Kommunikation sie nicht wahrnimmt, und dann sorgen sie dafür, dass sie die benötigte Aufmerksamkeit erhalten. Dies geschieht durch die sogenannten Aufmerksamkeitsfänger (z. B. anstupsen oder etwas werfen), mit denen sie den Fokus des Empfängers auf eine Geste lenken wollen (cf. 1 Die Terminologie wird hier als auch an anderen Stellen von Tomasello übernommen. 2 Tomasello geht davon aus, dass Kommunikationssignale der Primaten mehr mit der menschlichen Kommunikation gleich haben als etwa Kommunikationsdiplays. Darauf aufbauend entwickelt er die These, dass die sprachliche Kommunikation der Menschen aus der gestischen der frühen Menschen hervorgeht (cf. Tomasello 2011: 32). Bühler würde Tomasello daher als einen “ Stoffdenker ” bezeichnen, da er von Materiellem - der Geste - auf Immaterielles - die Sprache - schließt. Es handelt sich also um eine klassische “ Stoffentgleisung ” (cf. Bühler 1978: 165 f.). Aufgrund der Fragwürdigkeit dieser These, soll diese in der weiteren Darstellung keine Rolle spielen. Was unterscheidet Mensch und Tier? 27 ibid.: 38 f.). Es gibt auch Aufmerksamkeitsfänger, die ohne Gesten funktionieren. Diese gehen nach Tomasello in die Richtung der gegenstandsbezogenen Kommunikation, und daher bezeichnet er diese als “ referentielle ” 3 Intention. Die Aufmerksamkeitsfänger sollen den Fokus des Empfängers auf einen Gegenstand lenken, in der Erwartung, dass dieser etwas Bestimmtes damit macht. Die referentielle Intention unterscheidet Tomasello von der sozialen Intention, welche sich dadurch kennzeichnet, dass der Kommunizierende den Empfänger zu einer Handlung motivieren möchte (cf. ibid.: 41). Menschenaffen reihen Aufmerksamkeitsfänger und Intentionsbewegungen zu Sequenzen aneinander, diese verfügen allerdings nicht über grammatikalische Strukturen. Viel mehr werden verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, und zwar solange bis die gewünschte Reaktion des Empfängers eintritt. In der Kommunikation mit Menschen erlernen Menschenaffen zwar keine neuen Vokalisierungen, aber dafür gestische Fertigkeiten, welche sie gegenüber von Menschen einsetzen. Die häufigste Geste ist das Zeigen, welche auch als imperative Geste verstanden wird (cf. ibid.: 47). Im Käfig eingesperrte Menschenaffen zeigen z. B. auf Futterquellen, damit der Mensch ihnen etwas davon gibt. Dieses Verhalten lässt sich nach Tomasello als Aufforderung verstehen. Andere Möglichkeiten der Aufforderung sind auch den Menschen an der Hand zu etwas hinzuziehen oder auf eine verschlossene Tür zu zeigen (cf. ibid.: 48). Alle diese Zeigegesten haben keine andere Funktion, als die des Aufforderns. Menschenaffen informieren nicht, noch wollen sie durch das Zeigen etwas mit anderen Individuen teilen (cf. ibid.: 50). In verschiedenen Untersuchungen konnte Tomasello nachweisen, dass Menschenaffen informatives Zeigen nicht einmal richtig deuten können. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie selbst nur auffordern können, und über kein Verständnis für andere als altruistisch handelnde Akteure verfügen (cf. ibid.: 53). Weiter noch verwenden Menschenaffen die Zeigegesten nur gegenüber von Menschen. Tomasello begründet dies mit der möglichen Erkenntnis ihrerseits, dass Artgenossen nicht so motiviert sind, ihren Aufforderungen nachzukommen, wie Menschen es sind (cf. ibid.: 49). Die Flexibilität, mit welcher die Menschenaffen verschiedene Gesten einsetzen, zeigt, dass auch bei ihnen so etwas wie Lernen eine Rolle spielt. Dabei könnte es sich um einfaches Lernen handeln: In bestimmten Situationen sind bestimmte Gesten wirksam und in anderen Situationen andere Gesten. Es könnte sich aber auch um komplexe kognitive Prozesse handeln, welche ein Verständnis der Intentionalität des Empfängers beinhalten. Diese These vertritt Tomasello in seiner Theorie (cf. ibid.: 57). Ein Großteil der Kommunikation der Primaten ist zwar genetisch fixiert, um aber in bestimmten Situationen eine angemessene Geste zu verwenden, bedarf es eines kognitiven Modells. Dieses gibt an, wie der Empfänger etwas wahrnimmt und wie er darauf reagieren könnte. Tomasello und andere konnten durch Forschungen zeigen, dass Menschenaffen ein Verständnis dafür haben, wie andere als intentionale und wahrnehmende Akteure funktionieren. Ein Beleg dafür ist, dass Menschenaffen in verschiedenen Tests erkennen konnten, ob jemand etwas absichtlich misslingen ließ oder ob er es tatsächlich nicht konnte (cf. Kapitel 2.2.3). Wenn ein Mensch nach etwas griff, was außerhalb seiner Reichweite lag, 3 Anführungszeichen wurden von Tomasello übernommen. Er setzt diese, da sich die Bezugnahme auf Gegenstände der Affen, der des Menschen zwar ähnelt, aber sich auch davon unterscheidet (cf. Tomasello 2011: 41). 28 Sarah K. Baumann “ half ” 4 der Affe ihm es zu bekommen. Menschenaffen erkennen demnach, dass Individuen Dinge in der Welt wahrnehmen und darauf reagieren. Sie verstehen andere damit als intentionale Akteure (cf. ibid.: 58 f.). Für Tomasello ist die Annahme plausibel, nach welcher Menschenaffen über etwas wie eine individuelle Intentionalität verfügen. Sie wissen was andere wollen, sehen oder machen. Tomasello macht auch darauf aufmerksam, dass diese Annahme allerdings nicht überinterpretiert werden sollte, und den tierischen Verhaltensweisen keine menschliche Interpretation zugeschrieben werden darf (cf. ibid.: 62). Es gibt einen bedeutenden Unterschied zur menschlichen Kommunikation: Der menschliche Empfänger fragt nach dem “ Warum ” , woraus sich eine andere Art des Schlussfolgerns ergibt (cf. Kapitel 2.2.3). Menschliche Kommunikation wird stark durch kooperative Motive beeinflusst, daher spricht Tomasello im Zusammenhang mit Menschen auch von einer geteilten Intentionalität, im Gegensatz zu der individuellen Intentionalität der Menschenaffen (cf. ibid.: 65). 2.1.2 Kooperative Kommunikation der Menschen Seine Untersuchung der menschlichen Kommunikation beginnt Tomasello nicht bei der Sprache, da der sprachliche Code auf einer Infrastruktur begründet sein muss, welche selbst nicht sprachlich sein kann. Dies würde nach Tomasello nämlich voraussetzen, was es zu begründen gilt. Er geht davon aus, dass sprachliche Codes auf einer Struktur des intentionalen Verstehens sowie einem gemeinsamen begrifflichen Hintergrund basieren. Deshalb wählt Tomasello als Ausgangspunkt seiner Untersuchung die “ unkodierte Kommunikation ” und als Kandidaten dafür sieht er die “ natürlichen Gesten ” (ibid.: 69 f.). 5 Er konzentriert sich auf Gesten, die weder als Ergänzung zur Sprache noch als Ersatz für diese verwendet werden. Tomasello geht davon aus, dass dies die beste Möglichkeit sei, um die verschiedenen Bestandteile der kooperativen Kommunikation zu erkennen. Er legt den Schwerpunkt der Untersuchung daher auf Kleinkinder, welche sich noch vor dem Spracherwerb befinden (cf. ibid.: 71). Es gibt zwei Grundformen der gestischen Kommunikation des Menschen. Lenkt der Kommunizierende die Aufmerksamkeit des Empfängers auf etwas räumlich Anwesendes, wird dies als deiktische Geste bezeichnet. Lenkt der Kommunizierende die Einbildungskraft des Empfängers auf etwas, das räumlich oder zeitlich abwesend oder nicht ersichtlich ist, handelt es sich um eine ikonische Geste (cf. ibid.: 72). Die deiktische oder auch Zeigegeste gilt als Prototyp der menschlichen Gesten, so Tomasello. Damit der Empfänger die Geste, aber vor allem die dahinterstehende soziale Intention des Kommunizierenden versteht, bedarf es seinerseits zusätzlicher kognitiver 4 Merkwürdig, dass Tomasello an dieser Stelle den Begriff des Helfens verwendet, da es doch im Widerspruch dazu steht, dass Affen anderen aufgrund ihrer mangelnden altruistischen Fertigkeiten nicht helfen können. 5 Stark zu kritisieren ist hier der Begriff der “ unkodierten Kommunikation ” . Kommunikation ist immer kodiert, da die gegenseitige Steuerung, die dadurch intendiert wird, als solche aufgefasst und interpretiert werden muss, um eben sinnvoll zu werden. Interessant ist, dass Tomasello dies im Folgenden als die “ kognitive Arbeit des Empfängers der Kommunikation ” beschreibt. Seine Argumentation und seine Terminologie weisen an dieser Stelle eine unübersichtliche Inkonsistenz auf. Des Weiteren beschreibt er die “ natürlichen Gesten ” als besten Kandidaten für die “ unkodierte Kommunikation ” . Auch Gesten können weder unkodiert noch natürlich sein, weil sie als Zeichen für etwas stehen, dass es zu erfassen gilt. Was unterscheidet Mensch und Tier? 29 Arbeit. Ob und wie der Empfänger die Zeigegeste dann interpretiert oder ob sie für ihn sinnvoll wird, hängt von dem geteilten Hintergrundwissen ab (cf. ibid.: 74 f.). Die ikonische Geste 6 kommt dann zum Einsatz, wenn der Bezugsgegenstand nicht gegenwärtig ist. Der Kommunizierende vollzieht mit vollem Körpereinsatz eine Handlung, um einen Gegenstand oder eine Handlung darzustellen. Der Empfänger muss hier die doppelte kognitive Arbeit leisten. Er muss den Bezugsgegenstand oder die Handlung erschließen und erkennen, warum der Kommunizierende ihn darauf aufmerksam machen möchte, also die referentielle Intention als auch die soziale Intention (cf. ibid.: 77). Das funktioniert nur auf der Grundlage eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrundes. Vor allem muss der Empfänger aber verstehen, dass hinter der ikonischen Geste auch eine kommunikative Absicht steckt. Beide Gestenformen lassen sich bei Kleinkindern vor dem Spracherwerb nachweisen, und da stellt sich die Frage, wie Gesten, ohne dass sie aus einem sprachlichen Code hervorgehen, auf eine solche Weise kommunizieren können (cf. ibid.: 81 f.). Tomasellos Antwort darauf ist das Kooperationsmodell der menschlichen Kommunikation. 2.1.2.1 Das Kooperationsmodell der menschlichen Kommunikation Durch einfache Gesten können Menschen auf komplexe Weise handeln: Sie verstehen diese durch soziales Interagieren und Kooperieren. Die Kooperation beinhaltet zudem Prozesse geteilter Intentionalität (cf. ibid.: 83). Tomasello bezieht sich auf Searle, der dies wie folgt beschrieb: “ Collective intentionality presupposes a background sense of the other as a candidate for cooperative agency; that is, it presupposes a sense of others more than mere conscious gents, indeed as actual or potential members of a cooperative activity ” (Searle 1990: 414). Tomasello gliedert dieses Verständnis von den anderen als kooperative Akteure für die weitere Theorienbildung wie folgt auf: Es bedarf kognitiver Fähigkeiten zur Erzeugung gemeinsamer Intentionen, Aufmerksamkeit und anderer Formen eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrundes. Und es bedarf der sozialen Motivation, anderen zu helfen und zu teilen sowie der Bildung der gegenseitigen Erwartungen an diese kooperativen Motive (cf. Tomasello 2011: 84). Tomasello stellt zu Beginn die Frage, woher die kognitive Komplexität von Zeigegesten stammen könne. Eine mögliche und einfache Antwort wäre: aus dem Kontext. Tomasello bemängelt allerdings, dass diese Antwort mehr als unzureichend sei, denn ein Kommunikationskontext beinhalte viel mehr als nur die unmittelbare Umgebung. Dazu gehören auch der geteilte Kontext, ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsrahmen sowie der intersubjektive Kontext. Letzteres meint, das was beide wissen, was sie gemeinsam wissen. Der intersubjektive Kontext ist für den Empfänger wichtig, denn nur so weiß er, worauf der Kommunizierende die Aufmerksamkeit legt und wieso er dies macht. Der Empfänger erschließt so die referentielle, als auch die soziale Intention des Kommunizierenden. Wichtig ist, dass der gemeinsame Hintergrund in direkter Konkurrenz immer die individuelle Bedeutsamkeit übertrifft (cf. ibid.: 86 f.). 6 Diese Gesten hängen stark mit Symbolisierungen zusammen und werden aufgrund dessen, so Tomasello, von Menschenaffen nicht verübt (cf. Tomasello 2011: 77). 30 Sarah K. Baumann Tomasello schlägt eine Art Typologie des gemeinsamen Hintergrunds vor, welche auf folgenden drei Unterscheidungen beruhen soll. Ist der gemeinsame Hintergrund auf gemeinsame Erfahrungen oder die unmittelbare Wahrnehmung gegründet, nennt Tomasello dies die “ gemeinsame Aufmerksamkeit ” (ibid. 89). Der gemeinsame Hintergrund kann aber auch durch Top-down-Prozesse, als auch durch Bottom-up-Prozesse erzeugt werden. Dies bedeutet, man arbeitet auf ein gemeinsames Ziel hin oder, beide nehmen etwas wahr, von dem sie wechselseitig wissen, dass sie es wahrnehmen. Eine weitere Möglichkeit des gemeinsamen Hintergrundes sind verallgemeinerbare Dinge, etwas wie das gemeinsame kulturelle Wissen. Für Tomasello ist es in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass die Beziehung zwischen der Kommunikation und dem Hintergrundwissen eine komplementäre ist, d. h. je größer der gemeinsame Hintergrund, desto weniger muss offen kommuniziert werden (cf. ibid.: 90). Daraus schließt er, die leistungsstarken Eigenschaften, die der Sprache zugeschrieben werden, können in grundlegender Weise auch der kooperativen Kommunikation durch einfache Gesten zugeschrieben werden (cf. ibid.: 93). Die soziale Motivation hinter der Kommunikation teilt Tomasello in drei elementare Kommunikationsmotive auf: Das erste Motiv ist das Auffordern, welches die Menschen mit den Menschenaffen teilen. Allerdings unterscheidet sich die menschliche Weise des Aufforderns dadurch, dass über Wünsche informiert werden kann oder jemand um etwas bittet. Diese Art des Aufforderns nennt Tomasello kooperative Imperative, im Gegensatz zu den imperativen Aufforderungen der Tiere (cf. ibid.: 95 f.). Das zweite Motiv ist das Informieren, man bietet dabei Hilfe aus altruistischen Gründen an. Dieses Motiv taucht in der Ontogenese der Menschen schon früh auf, ist aber bei den Tieren oder gar den Menschenaffen nicht zu erkennen (cf. ibid.: 96 f.). Teilen, welches das dritte Motiv darstellt, meint den Austausch von Gefühlen und Einstellungen. Das Teilen von Gefühlen ist zudem eine Möglichkeit zur Erweiterung des gemeinsamen Hintergrundes (cf. ibid.: 98). Über die sozialen Motivationen hinaus entstehen wechselseitige Annahmen der Hilfsbereitschaft. Durch diese Art der Kooperation, nach welcher beide annehmen, dass die Kommunikation zu ihrem oder von gemeinsamem Nutzen ist, entsteht nach Tomasello eine zusätzliche Schicht der Intentionalität (cf. ibid.: 100). Zudem werden diese wechselseitigen Erwartungen an andere zu kontrollierbaren sozialen Normen sowie Verpflichtungen. Tomasello bezeichnet diese als kooperative Schlussfolgerungen, da Menschen die Normen verstehen als auch darauf reagieren (cf. ibid.: 105 f.). Die motivationale Struktur der menschlichen Kommunikation ist demnach eine rekursive und gerade diese Rekursivität ist für die Anerkennung der Normen der Kooperation unentbehrlich. Diese entscheidende Fähigkeit des Menschen liegt im rekursiven Erkennen von Intentionen (cf. ibid.: 107 f.). 2.1.2.2 Die Grundzüge des Kooperationsmodells anhand der Ontogenese Die ontogenetische Entwicklung des Menschen ist für Tomasello die wichtigste Belegquelle für sein Kooperationsmodell der Kommunikation. Es gibt viele Studien, welche die Kommunikationsakte von Kleinkindern vor dem Spracherwerb festhalten und für wichtige Bestandteile seiner Theorie relevant sind. Darüber hinaus lassen sich anhand der Ontogenese wichtige Fragen klären, z. B. “ ob die Entstehung kooperativer Kommunikation [. . .] mit dem Entstehen umfassender Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität verbunden ist ” (ibid.: 122). Was unterscheidet Mensch und Tier? 31 Mit etwa zwölf Monaten beginnen Kleinkinder, deiktische Gesten zu verwenden, noch bevor sie ihre ersten Worte sprechen. Ob sie diese durch ein Verhalten ritualisieren oder sie die Gesten durch Imitation erlernen, ist nicht geklärt. Tomasello hat die Vermutung, dass sie auf natürliche Weise zum Zeigen kommen, was dahingestellt sei (cf. ibid.: 124). Es stellt sich daher aber die Frage, warum Kleinkinder nicht schon früher mit dem Zeigen beginnen. Tomasello glaubt, dass es mit den noch fehlenden Fertigkeiten der Intentionalität zusammenhängt, welche sich erst um den ersten Geburtstag herum entwickeln (cf. ibid.: 152). Mit dem Auftreten der Intentionalität entwickeln sich zunehmend die sozialen Intentionen der kooperativen Kommunikation. Kleinkinder verwenden Zeigegesten aus verschiedenen sozialen Intentionen. Sie fordern nicht nur im klassischen Sinne der imperativen Geste auf, sondern wollen andere in Bezug auf Gegenstände dazu bringen, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Neben dem Auffordern nutzen Kinder die Zeigegesten auch, um andere auf etwas aufmerksam zu machen, also als deklarative Geste. Kleinkinder können nach Tomasello durch das Zeigen ebenfalls auf räumlich oder zeitlich Abwesendes aufmerksam machen. Dies ist ein Beleg dafür, dass Kleinkinder schon vor dem Spracherwerb über die Wahrnehmungsebene hinweg kommunizieren und über geistige Repräsentationen von Dingen verfügen (cf. ibid.: 128 f.). Aus den imperativen und deklarativen Zeigegesten von Kleinkindern lassen sich weitere Motive ableiten, so Tomasello. Er unterteilt die deklarativen Gesten in zwei Untertypen, die den Motiven des Teilens und Helfens entsprechen (cf. ibid.: 130). Kleinkinder verfügen demnach schon vor dem Spracherwerb über die drei Klassen der sozialen Intention (cf. ibid.: 136). Der gemeinsame Hintergrund spielt bei der Verwendung von Zeigegesten von Kleinkindern eine wichtige Rolle. Anhand seiner Forschungen konnte Tomasello zeigen, dass Kinder die Zeigegesten eines anderen nicht aus ihrem eigenen Interesse heraus deuten, sondern dass die zuvor geteilte Aufmerksamkeit, also der gemeinsame Hintergrund, für die Deutung entscheidend ist (cf. ibid.: 140 f.). In den folgenden Jahren entwickelt sich die intentionale Struktur der Kinder weiter. Kinder können erst ab dem Alter von drei bis vier Jahren so etwas wie eine verborgene Urheberschaft oder Verheimlichungen verstehen, und auch erst dann sind sie selbst in der Lage zu lügen (cf. ibid.: 146). 2.2 Die Sprachursprungstheorie von Robin Dunbar Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar, welcher bis zum Jahr 2007 als Professor an der Universität von Liverpool tätig war, veröffentlichte erstmals im Jahr 1996 das Buch Grooming, Gossip and the Evolution of Language. Dieses dient als Grundlage für die zweite Position dieses Aufsatzes. Dunbar sorgte mit seiner These, die Sprache sei lediglich entstanden, um sich über andere austauschen zu können, für Aufsehen in der Wissenschaft. Er begründet die Entstehung der Sprache als eine notwendige Weiterentwicklung des zeitaufwendigen Kraulens unter Primaten, welches die Gruppe zusammenhält. Aufgrund des evolutionären Drucks mussten sich die Gruppen der frühen Menschen vergrößern, und es blieb nicht mehr genügend Zeit zum Kraulen. Sie mussten eine andere Möglichkeit finden, um ihre Gruppen zusammenzuhalten. - Im folgenden Kapitel soll diese Argumentation zur Entstehung der Sprache, in Bezug auf die Unterschiede zwischen Mensch und Tier, anhand ihrer wichtigen Punkte beschrieben werden. 32 Sarah K. Baumann 2.2.1 Von der Gehirnzur Gruppengröße Für Dunbar ist die Größe des Gehirns in Relation zum Körpergewicht zu Beginn seiner Untersuchung von Interesse. Denn es ist ein Fakt, dass ein großes Gehirn nicht zufällig vorhanden sein kann, da es ein zu anspruchsvolles Gewebe ist (cf. Dunbar 2000: 76 f.). Das menschliche Gehirn macht nur rund zwei Prozent des Körpergewichtes aus, verbraucht aber zwanzig Prozent der zugeführten Energie. Auffällig ist für Dunbar, dass Primaten in einer Tabelle, welche die Relation des Gehirns zur Körpergröße verschiedener Tiere wiedergibt, sehr viel höher stehen als andere Säugetiere. Nach gleicher Methode der Berechnung ist das Gehirn des Menschen etwa neunmal größer als das anderer Säugetiere, und der Mensch steht damit an der Spitze der Tabelle (cf. ibid.: 77). Eine Hypothese aus den Siebzigerjahren besagt, dass ein großes Gehirn notwendig sei, um das Überleben der Spezies zu sichern. Die verschiedenen Spezies waren demnach unterschiedlichen Schwierigkeiten im Alltag ausgesetzt und je schwieriger das alltägliche Leben, desto größer musste das Gehirn sein. Diese Hypothese, auch als ökologische Hypothese bekannt, wird durch viele Indizien gestützt, steht aber in Konkurrenz zur machiavellistischen Intelligenzhypothese aus den Achtzigerjahren. Nach dieser ist das Gehirn einer Spezies größer, wenn sie in komplizierteren und komplexeren sozialen Gebilden lebt. Diese Hypothese, wie oft beklagt, sei zu ungenau, und es gibt zu wenig Beweise, welche sie stützen könnten (cf. ibid.: 80 f.). Dunbar vertritt allerdings die Meinung, dass einige wichtige Indizien, welche die ökologische Hypothese stützen, verwechselt wurden. Die Kausalbeziehungen zwischen den Variablen Gehirngröße, Körpergröße, Reviergröße und dem Früchteessen sind nur schwer zu entwirren (cf. ibid.: 82). Dunbar erkennt eine mögliche Ursache des Problems, dass bei den Untersuchungen, wie auch bei seinen bisherigen, die Gesamtgröße des Gehirns von Bedeutung war. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen und eines davon, die Großhirnrinde, lässt sich nur bei Säugetieren finden. Ein Bereich der Großhirnrinde - der Neokortex - welcher auch als “ denkender ” Teil des Gehirns bezeichnet wird, ist bei den Primaten überdurchschnittlich vergrößert (cf. Kapitel 2.3.1). Demnach ist nicht die Gesamtgröße des Gehirns entscheidend für die Untersuchungen, sondern die Größe des Neokortex in Relation zur gesamten Gehirngröße (cf. ibid.: 83). Anhand von weiteren Untersuchungen konnte Dunbar einen engen Zusammenhang zwischen der relativen Größe des Neokortex und der Gruppengröße der Primaten nachweisen. Die Gruppengröße nutzt Dunbar aus zwei Gründen als ein Maß für soziale Komplexität. Zum einen ist es ein Faktor, den Freilandforscher immer festhalten, und zum anderen, weil die soziale Komplexität mit der Gruppengröße automatisch zunimmt (cf. ibid.: 86). Warum aber leben Primaten überhaupt in Gruppen zusammen? Hauptsächlich dient das Leben in der Gruppe der gemeinsamen Verteidigung gegen Raubtiere. Damit ist die Geselligkeit ein Hauptbestandteil der Selbsterhaltung und Evolutionsstrategie. Die Tiere müssen in der Gruppe allerdings ständig die Balance zwischen zwei Kräften halten. Da ist die Neigung zum Zusammensein, zum Schutz vor Gefahren und das Streben nach Einsamkeit mit den dazugehörigen Annehmlichkeiten. Das Produkt dieses Balanceaktes ist für Dunbar die daraus resultierende Gruppengröße (cf. ibid.: 31). Zwar ist die Gruppengröße nur ein grober Maßstab, sie aber bietet Hinweise darauf, wie viele Informationen ein Tier verarbeiten muss, und ist damit ein Argument zugunsten der machiavellistischen Intelligenzhypothese (cf. ibid.: 85 f.). Was unterscheidet Mensch und Tier? 33 Allerdings gibt es andere Möglichkeiten, den Zusammenhang zwischen Gruppengröße und Neokortex zu deuten. Neben der Anzahl der Beziehungen könnte es auch um die Qualität dieser gehen, so Dunbar. Er stellt daher die Fragen, ob und wie Primaten das Wissen über andere Nutzen. Dunbar geht davon aus, dass ein Koalitionsverhalten nur möglich ist, weil Primaten eben verstehen, wie ihre Artgenossen reagieren und wie gut sie sich in Gefahrensituationen als Verbündete eignen. 7 Für solche Schlussfolgerungen bedarf es auf der kognitiven Ebene komplexer sozialer Erkenntnisse 8 (cf. ibid.: 36). Eine weitere Möglichkeit zur Bildung und Festigung von Koalitionen zwischen Primaten ist nach Dunbar vor allem das gegenseitige Kraulen. Neben den Hygieneaspekten, wie dem Entfernen von Schuppen, dient es dem Ausdruck der Freundschaft und dem sozialen Austausch (cf. ibid.: 34). Das Kraulen hat wissenschaftlich nachgewiesene Auswirkungen auf die Hormonausschüttungen. Es beruhigt die Einzelnen und wirkt sich so positiv auf die gesamte Gruppe aus. Es kann verschiedene Bedeutungen vermitteln; welche Interpretation die Primaten entnehmen, ist die Grundlage ihres sozialen Seins und hängt damit zusammen, dass sie ein Verständnis für die Handlungen des anderen besitzen (cf. ibid.: 9). Bevor Menschen in modernen Gesellschaften zusammenlebten, verweilten sie in kleinen Horden als Jäger und Sammler. Anhand der Größe des Neokortex in Relation zur Gehirngröße konnte Dunbar auch die ungefähre Gruppengröße errechnen, in der die frühen Menschen miteinander lebten. Er bestimmte dabei einen Wert von 150 Menschen. Um diese Zahl nachzuweisen, sucht Dunbar nach Völkern, die noch heute so leben, wie damals die Jäger und Sammler. Tatsächlich leben diese in Gruppen von circa 150 Menschen zusammen (cf. ibid.: 92 f.). Die Gruppengröße der so genannten Clans, wie die der australischen Ureinwohner, der Aborigines, liegt im Durchschnitt bei der errechneten Zahl. Aber auch Kirchengemeinden, so Dunbar, haben die ideale Gruppengröße bei unter zweihundert Personen erreicht (cf. ibid.: 94, 98). Den Vorwurf, es handele sich dabei lediglich um Zahlenspielereien, erkennt Dunbar und wendet ihn ab, indem er auf die hohe Trefferrate verweist. Er macht weitere Einschränkungen zugunsten der errechneten Summe, wenn er zwischen dieser und der Summe der Menschen einer Sympathiegruppe unterscheidet, welche circa fünfzehn beträgt. Auch ist ihm bewusst, dass die Gruppe derer, dessen Namen man kennt, deutlich größer ist. Dennoch sei die Zahl von 150 Menschen die Obergrenze, zu denen man eine Art von zwischenmenschlicher Beziehung pflegen kann (cf. ibid.: 100 f.). Dunbar errechnete für Primatengruppen, wie z. B. Schimpansen, eine Zahl von circa fünfzig Tieren. Diese Zahl ist die Obergrenze von Tieren, die in einer Gruppe zusammenleben können, da das Mittel des Zusammenhalts, das Kraulen, eben durchaus 7 Zweifelhaft, ob es ein “ Verständnis ” ist, das sie zusammenführt. Es ist vermutlich eher etwas wie der Überlebensinstinkt. 8 Nach Dunbar nutzen Primaten diese komplexen sozialen Erkenntnisse auch, um anderen zu schaden, was er anhand verschiedener Beispiele zu erläutern versucht (cf. Dunbar 2000: 36, 41). In einem Beispiel stößt ein Pavian “ bewusst ” einen Schrei aus, um zu seinen Gunsten die Situation zu verändern. Die Deutungen dieser Situationen ist fragwürdig. Dunbar interpretiert den Schrei als absichtlich ausgestoßen. Dies steht im Widerspruch dazu, dass Vokalisationen von Primaten fixiert und nicht flexibel einsetzbar sind und es sich eher um einen Ausdruck der Emotionen handelt. Zudem bedeutet “ eine Täuschungsabsicht ” haben, dass der Pavian über Intentionalität eines bestimmten Grades verfügen muss, was nicht bewiesen ist. In einem weiteren Beispiel unterstellt Dunbar zwei Makaken-Männchen, sie würden in “ gemeinsamem Interesse ” handeln, er unterstellt weiter, die Affen würden sich helfen. Es ist allerdings plausibler davon auszugehen, dass sie instinktmäßig handeln. Man könnte es auch so formulieren: Beide handeln in ihrem eigenen Interesse, um ihr jeweiliges Wohl zu vertreten. 34 Sarah K. Baumann zeitaufwendig ist. Dem Kraulen stehen zeitlich die ökologischen Aufgaben gegenüber, wie etwa Futtersuchen, welche der Lebenserhaltung dienen (cf. ibid.: 120). Damit standen die frühen Menschen vor einem Problem. Es gibt einen Zeitrahmen, der die Obergrenze der Gruppe festlegt, aber auch den ökologischen Zwang zur Vergrößerung der Gruppen (cf. ibid.: 103). Warum dies so war, ist nicht genau zu sagen, dennoch stellt Dunbar einige Vermutungen an. Es gab zwei Faktoren, die die Größe der Gruppe begünstigen. Die Gefahr, selbst zur Beute zu werden, und die Notwendigkeit, die eigenen Nahrungsquellen zu verteidigen (cf. ibid.: 153). 2.2.2 Von der Gruppengröße zur Sprache Die frühen Menschen lösten das Zeitproblem durch die “ Erfindung der Sprache ” . Da sie gleichzeitig mit mehreren Menschen sprechen und sie sich außerdem über ein großes Geflecht austauschen konnten, sparten sie Zeit. Das ist ein Vorteil der Sprache: Sie bietet die Möglichkeit, Erfahrungen über andere Menschen auszutauschen, so wurde nicht nur das Berichten, sondern vor allem das Warnen vor Betrügern möglich, und es entstand das Tratschen (cf. ibid.: 104 f.). Einige Theoretiker gehen allerdings davon aus, dass sich Sprache entwickelte, um gemeinschaftliche Tätigkeiten, wie z. B. das Jagen, besser zu koordinieren, folglich aus ökologischen Zwecken. Die Sprache ist nicht plötzlich entstanden, sondern hat sich über längere Zeit hinweg entwickelt. Nach Dunbar verlief die Evolution der Sprache 9 in drei Stadien. Ihren Ursprung hat sie in Kontaktrufen, so die Vermutung, welche auch für Menschenaffen typisch sind. Es handelt sich dabei um eine Art “ Kraulen auf Distanz ” 10 . Als dies nicht mehr ausreichte, hielten sie den Kontakt durch einen ständigen Strom von Geschnatter aufrecht, dessen Inhalt praktisch gleich null war. Dunbar geht davon aus, dass der vokale Austausch als Bindungsmechanismus nach und nach das körperliche Kraulen ablöste. Das dritte und letzte Stadium sei die Entwicklung hin zu Lautäußerungen mit Bedeutungen und dem wesentlichen Inhalt des Zwischenmenschlichen (cf. ibid.: 148 f.). Erst wesentlich später kommt es zur Symbolsprache, die dazu geeignet ist, auch abstrakte Vorstellungen zu benennen. Dieses späte Auftreten der Symbolsprache begründet Dunbar mit der plötzlich auftretenden Veränderung der Werkzeuge (cf. ibid.: 150). Menschen verwenden die Sprache als Bindungsmittel. Ein Beweis dafür ist die Zeit, die Dscheladas mit dem Kraulen verbringen. Sie ist ähnlich hoch wie die Zeit, die Menschen mit zwischenmenschlichen Kontakten verbringen. Neben der Tätigkeit des Kraulens sind Affen sehr stimmbegabt und können durch Laute ihre Gruppenbewegungen koordinieren. In den Achtzigerjahren vermuteten Primatenforscher erstmals, dass das Grunzen der Meerkatzen mehr zu bedeuten hat, als man zunächst annahm. Heraus fand man, dass die verschiedenen Rufe auch unterschiedliche Bedeutungen hatten. So können Tiere durch ihre Laute auf unterschiedliche Feinde aufmerksam machen, was anhand des Verhaltens der Gruppe nachgewiesen wurde (cf. ibid.: 64 f.). Dunbar nimmt des Weiteren an, dass die Lautäußerungen der Dscheladas, z. B. beim Essen, dazu dienen, den 9 Der Begriff der Sprache wird hier im Sinne von Lautäußerungen verwendet. Dunbar arbeitet terminologisch nicht eindeutig und klar. 10 Anführungszeichen nach Dunbar (cf. Dunbar 2000: 148). Was unterscheidet Mensch und Tier? 35 Kontakt zu ihren Kraulpartnern aufrechtzuerhalten und auch in der Lage sind, ihre Wünsche zu äußern. Es handelt sich hierbei nicht bloß um geistloses Geschwätz, so Dunbar, sondern um reale Mitteilungen der augenblicklichen Erregung. Angesichts dieser Befunde 11 zieht er den Schluss in Zweifel, nachdem nur Menschen über Sprache verfügen (cf. ibid.: 68 f.). Dunbar ist sich bewusst, dass es vieles gibt, was gegen diese Sichtweise spricht, und er geht daher auch auf die Gegenpositionen ein. Linguisten und auch Psychologen betonen, dass nur Menschen über eine echte Sprachfähigkeit 12 verfügen. Bei Tieren hingegen handelt es sich um reine Kommunikation, da sie durch ihre Lautäußerungen nicht in der Lage sind, abstrakte Begriffe darzustellen. Zudem beschränkt sich die tierische Kommunikation auf den Ausdruck von Gefühlen (cf. ibid.: 69). Dunbar war nicht der Erste und Einzige mit der Vermutung, nach welcher Primaten über eine einfache Form der Sprache verfügen. Diese Annahme führte bereits zu den Versuchen, ihnen die menschliche Sprache beizubringen. Die bekanntesten Versuche an Schimpansen sind aus den Fünfzigerjahren. 13 Es wurde schnell deutlich, dass es unmöglich ist, ihnen eine Lautsprache beizubringen. Die biologische Erklärung dafür sei der fehlende Stimmapparat. Aufgrund dessen wurde versucht, den Schimpansen eine Zeichensprache beizubringen. Einige Schimpansen lernten um die einhundert Zeichen, was für einige Psychologen lediglich der Beweis dafür war, dass sie über die Fähigkeit des Nachahmens verfügen. Diese Schimpansen waren in der Lage, zwei bis maximal drei Zeichen aneinanderzureihen. Mehr als das war allerdings nicht möglich, und damit befinden sich Primaten auf der Stufe von etwa zweijährigen Menschenkindern (cf. ibid.: 72). 14 2.2.3 Die Theorie des Geistes Dunbar vertritt die Überzeugung, der menschliche Geist nimmt an, dass andere mit ihm kommunizieren wollen. Nach Dunbar sind deshalb Signale, wie die Körpersprache oder auch das eigentliche Reden, wie folgt zu deuten: Es geht weniger um die tatsächliche Bedeutung, sondern darum, was der Geist annimmt, was es bedeutet. Der Geist fragt ständig nach dem “ Was ” und dem “ Warum ” der Kommunikation (cf. Kapitel 2.1.1). Dunbar geht davon aus, dass Menschen über die Veranlagung verfügen, in allem einen Sinn zu suchen, und aufgrund dessen unterstellen sie Tieren und teilweise auch Gegenständen eine Art von Bewusstsein. 15 11 Dies als “ Befunde ” zu bezeichnen, ist fragwürdig. Es scheint, als handele es sich hierbei erneut um eine Fehlinterpretation. Zunächst ist zu kritisieren, dass die Lautäußerungen an Einzelne, an den Kraulpartner, gehen sollen. Die Lautäußerungen sind für alle Gruppenmitglieder gleichermaßen wahrnehmbar, und sie spiegeln lediglich die emotionale Erregung der Tiere beim Essen wider. Dass Tiere dadurch ihre Wünsche äußern, ist ein Anthropomorphismus. 12 Gemeint ist eine auf Symbolen basierende Sprache, welche tatsächlich nur den Menschen zukommt (cf. Kapitel 2.3.3 Bühlers drittes Axiom). 13 Es handelte sich dabei um die englische Sprache. Zwei Familien zogen ihr eigenes Neugeborenes und einen neugeborenen Schimpansen auf. Es bestand die Ansicht, die Schimpansen würden so gleichermaßen sprechen lernen, wie das menschliche Neugeborene. 14 Ein Unterschied liegt schon hier in den Sprachmotiven, welche sich bei den Schimpansen auf das Auffordern beschränken (cf. Kapitel 2.1). 15 Aufgrund dieser Veranlagung machte wohl auch Dunbar die Äußerung, dass ein Dschelada einen Wunsch von sich geben würde. 36 Sarah K. Baumann Wir nehmen an, daß alle anderen mit ihrem Verhalten einen bewussten Zweck verfolgen, und verwenden einen großen Teil unserer Zeit auf den Versuch, uns in sie hineinzuversetzen und ihre Absichten zu erraten. Diese Wahrnehmung ist so tief in uns verwurzelt, daß wir sie leicht auf Tiere und manchmal sogar auf die unbelebte Welt übertragen (ibid.: 107). 16 Es gibt philosophische Theorien, wie z. B. die von Descartes, die ins genaue Gegenteil umschlagen. Nach Descartes besitzen Menschen einen Geist, aber Tiere sind Maschinen, die nicht über einen Geist verfügen. Diese Beurteilung hat die Sicht auf Tiere geprägt und darüber hinaus auch die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, verändert. Eine weitere Theorie, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftauchte, hat der Vorstellung, nach welcher Tiere über eine Art Geist verfügen könnten, ein erneutes Ende bereitet. Dunbar spricht hier vom Behaviorismus, nach dem man sich nur mit beobachtbaren Dingen beschäftigen sollte, da dies als wissenschaftlicher gilt (cf. ibid.: 108 f.). In Bezug auf die Bewusstseinszustände gab es in den letzten Jahren aber ein radikales Umdenken. Es entstand eine neue Denkrichtung, welche auch als Theorie des Geistes bezeichnet wird. Über eine Theorie des Geistes zu verfügen bedeutet, dass für ein Individuum nachzuvollziehen ist, was andere denken. Es schreibt anderen Hoffnungen, Überzeugungen, Wünsche und Ängste zu und geht davon aus, andere durchleben diese Geisteszustände tatsächlich. Jemand hat eine geistige Position über die geistige Position eines anderen und der hat wiederum eine über dessen geistige Position. Dementsprechend gibt es verschiedene Stufen der Intentionalität. Nach Dunbar gibt es Gründe zur Annahme, dass die meisten Menschen über eine Intentionalität der sechsten Ordnung verfügen (cf. ibid.: 110 f.). Kinder verfügen bei ihrer Geburt noch nicht über eine Theorie des Geistes, sondern müssen sich diese erst im Laufe ihrer Entwicklung aneignen. Sie sind zu Beginn ihrer Entwicklung selbst zentriert, sie gehen davon aus, andere nehmen die Umwelt genauso wahr, wie sie selbst. Im Alter von vier bis fünf Jahren finden Kinder heraus, dass andere Menschen nicht unbedingt mit ihnen die gleichen Ansichten teilen. Interessant ist für Dunbar, dass sie zuvor auch nicht in der Lage sind, zu lügen oder jemanden zu täuschen (cf. Kapitel 2.1.2.2). Nachzuweisen ist diese Erkenntnis an verschiedenen Spielen, die mit Kindern vor und nach diesem Alter vollzogen wurden. Psychologen entwickelten dafür den Test der falschen Überzeugung. Man gab Kindern eine Dose Smarties, die wider Erwarten nicht mit diesen, sondern mit Buntstiften gefüllt war. Fragte man ein Kind vor dem entsprechenden Alter von vier bis fünf Jahren, was wohl das nachfolgende Kind annehmen wird, was sich in der Dose befände, antwortete es: Buntstifte. Ein Kind im Alter von sechs Jahren hingegen antwortete: Smarties. Es verstand bereits die Täuschung und auch, dass andere dieser erliegen würden (cf. ibid.: 112 f.). Dunbar stellt die entscheidende Frage, wie Tiere im Vergleich zu Menschen auf der Skala der Intentionalität stehen. Er geht davon aus, wenn es Tiere mit einer Fähigkeit zur Theorie des Geistes gibt, dann sind es die nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Das Problem hierbei ist, einen geeigneten Test zu finden, um die gegebenen Annahmen fehlerfrei zu überprüfen (cf. ibid.: 119 f.). In einem Test konnte aber nachgewiesen werden, dass Schimpansen ein Verständnis für die Absichten anderer haben. In diesem sollte ein Schimpanse einen Menschen wählen, der ihm Saft gibt. Ein Mensch verschüttete den 16 Dieses Zitat steht im Widerspruch zu dem Schluss, welchen Dunbar im vorherigen Kapitel zog, dass Tiere womöglich über eine echte Sprachfähigkeit verfügen. Es wird hier nicht deutlich, welche Meinung Dunbar nun vertritt, da er sich nicht weiter in klarer Weise dazu äußert. Was unterscheidet Mensch und Tier? 37 Saft mit Absicht, der andere aus Versehen. Der Schimpanse wählte letzteren, da er offensichtlich den Unterschied zwischen der Absicht und dem Versehen, also der dahintersteckenden Intention verstand (cf. ibid.: 128). Anhand der Beobachtungen von Schimpansen zeigte sich auch offensichtlich die Fähigkeit zu taktischen Täuschungen, so Dunbar. Ein Schimpanse befindet sich an einer Futterstelle, die zunächst verschlossen ist und sich dann öffnet. Als ein anderer hinzukommt, tut der Schimpanse so, als sei die Futterkiste noch verschlossen, damit der andere das Interesse daran verliert. Dieser Schimpanse verlässt den Ort, bleibt aber in Sichtweite, um zu überprüfen, ob er nicht reingelegt wurde (cf. ibid.: 125 f). 17 Dunbar geht folglich davon aus, dass Menschenaffen in irgendeiner Weise über eine Theorie des Geistes verfügen, welche aber bei Weitem nicht so hoch entwickelt ist, wie die der Menschen. 2.3 Die Sprachursprungstheorie von Karl Bühler Die dritte Theorie dieses Aufsatzes stammt von Karl Bühler, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bemerkenswertes über die Ursprünge der Sprache und die Unterschiede zwischen Mensch und Tier festhielt. Bühler beschäftigte sich unter anderem mit der Denk- und Entwicklungspsychologie, als auch der Sprachpsychologie und Philosophie. Im Folgenden werden einige wichtige Erkenntnisse Bühlers skizziert, da sie einen Einfluss auf diesen Aufsatz und die anstehende Analyse nehmen sollen. In den ersten beiden Teilen des Kapitels ist auf die Ideen und Unterscheidungen aus dem Werk Die geistige Entwicklung des Kindes (1918) einzugehen. Von Bedeutung ist vor allem der Aufbau der Stufen - Instinkt, Dressur und Intellekt - da Bühler anhand dieser die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in Bezug auf deren Betätigungsweisen verdeutlicht. Im Anschluss daran soll der Aufbau der Stufen durch die Betrachtung der Entwicklung des Kindes verdeutlicht werden. Im dritten Teil des Kapitels folgt eine Erläuterung der Axiomatik der Sprachtheorie Bühlers, welche er in dem Werk Die Krise der Psychologie (1927) formuliert und in der Sprachtheorie (1934) ausarbeitet. Die Axiomatik ist ein wesentlicher Punkt bei der Unterscheidung von Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache. 2.3.1 Instinkt, Dressur und Intellekt Anhand der Betrachtung der Betätigungsweisen von Mensch und Tier lässt sich ein Aufbau aus drei Stufen erkennen - Instinkt, Dressur und Intellekt. Der Instinkt ist die unterste Stufe, aus der sich die beiden anderen entwickeln. Anhand von Beispielen erläutert Bühler, was unter Instinkt zu verstehen ist. Einige Tiere stehen nach ihrer Geburt auf und beginnen direkt mit der Nahrungssuche, wie z. B. das Küken. Bühler nennt dies die Instinkttätigkeiten. Diese werden den Tieren weder vorgemacht noch haben sie diese aus schlechten oder guten Erfahrungen erlernt (cf. Bühler 1929: 2). Instinkttätigkeiten sind von Geburt an abrufbar und werden eben ohne vorherige Übung ausgeführt. Sie sind bei allen Individuen einer Art 17 Dunbar neigt auch hier zur Überinterpretation und er unterstellt dem zweiten Schimpansen eine Intentionalität vierter Ordnung, welche dafür erforderlich wäre. Wie schon an anderen Stellen wäre eine, in ihren Hypothesen, sparsamere Erklärung zu wählen, ganz nach dem Prinzip des Ockhamschen Rasiermessers. Es könnte sich z. B. um eine Dressur der Schimpansen handeln (cf. Kapitel 2.3.1). 38 Sarah K. Baumann gleichermaßen zu erkennen, sie sind also “ ein gebrauchsfertiges Erbgut von Verhaltungsweisen, die nur einer bestimmten, im Naturplan vorgesehenen Auslösung bedürfen ” (ibid.: 3). Das bedeutet auch, dass Instinkte nur funktionieren, wenn alles nach vorgesehener Ordnung verläuft. Sie sind demnach etwas Starres und sie versagen, wenn die Individuen in neue Lebensverhältnisse geraten (cf. ibid.: 5). Die Grenze des Instinktes sowie seine Starrheit galt es zu überwinden. Die Individuen erhielten durch die Natur die Fähigkeit, sich an ihre Lebensumstände anzupassen, sie wurden lernfähig. Bühler geht hier den Schritt in die Richtung “ assoziatives Gedächtnis ” , was er auch als Dressur bezeichnet (cf. ibid.: 5). Die Dressur baut auf dem Instinkt auf, indem sie einige Verhaltensweisen unterdrückt, andere fördert und neue Kombinationen ermöglicht. Nach Bühler ist es die Lust am Erfolg, die die Förderung bestimmter Verhaltensweisen mit sich bringt sowie die Unlust am Misserfolg, die anderes zu unterdrücken vermag. Die ursprünglichste Form der Dressur hingegen ist die “ Überproduktion an Bewegungen ” und ein “ zielloses Probieren ” , was durch Zufall den Erfolg bringt (ibid.: 6). Anhand verschiedener Insekten und Tiere erläutert Bühler die verschiedenen Grade der Dressierbarkeit. An oberster Stelle stehen dabei die Säugetiere und da die Primaten. Dieser Entwicklungsgang hängt mit der Ausbildung eines bestimmten Bereiches der Großhirnrinde zusammen (cf. ibid.: 7 f.). Für die hoch dressierbaren Säugetiere hat die Natur eine Art Ausbildungszeit vorgesehen, in der sie dem Schutz anderer unterstehen. Diese Zeit der Jugend verbringen die Individuen mit dem Spielen, was die Übung der noch unfertigen Anlagen fördert, wodurch sie auf das Leben vorbereitet werden. Bereits an dieser Stelle unterscheidet sich der Mensch von den übrigen Tieren, denn kein anderes Geschöpf muss so viel lernen wie der Mensch, so Bühler. Dementsprechend ist die Ausbildungszeit des Menschen länger als die der Tiere. Die Dressur des Menschenkindes beginnt bereits in den ersten Wochen und wird durch Erwachsene gefördert. Bühler führt an, dass Menschen außerdem in der Lage sind, sich für Zusatzdressuren zu entscheiden, wie z. B. Sport oder das Handwerk (cf. ibid.: 8 f.). Der benötigte Zeitaufwand und die dazugehörige Geduld sind die Nachteile der Dressur gegenüber dem Instinkt. Bühler geht daher von der Notwendigkeit einer weiteren Einrichtung aus: ” Wie wäre es aber mit einer dritten Einrichtung, welche die Vorteile von Instinkt und Dressur in sich vereinigt? Eine solche Einrichtung ist tatsächlich im Plane der Entwicklung vorgesehen und heißt Intellekt ” (ibid.: 9). Bühler bezeichnet diesen Satz selbst als den entscheidenden in seiner Lehre der geistigen Entwicklung, und er gelangt damit an die Stufe, die den Menschen endgültig von den Tieren unterscheidet. Der Intellekt ist das, was den Menschen dazu befähigt, durch Überlegung und Einsicht Erfindungen zu machen. Bühler betont, dass er “ Erfindungen im echten Sinne des Wortes ” meint (ibid.: 9). Lange Zeit hielt sich die Ansicht, die Erschaffung und Benutzung von Werkzeugen unterscheide die Menschen von den Tieren. Doch anhand von Untersuchungen an Schimpansen wurde deutlich, dass das nicht unbedingt stimmt. 18 Der Unterschied hier, so Bühler, liegt im Geschehen selbst. Affen suchen oftmals Stunden nach der Lösung eines Problems (wie z. B. zwei Stöcke ineinander zu schieben) und stoßen eher plötzlich als auch zufällig auf die Lösung (cf. ibid.: 10 f.). Bühler bezeichnet diese Art der Erfindung von 18 Bühler bezieht sich hier auf die Untersuchungen von Wolfgang Köhler, der als Leiter der Anthropoiden- Forschungsstation auf Teneriffa in den Jahren von 1913 - 1917 neun Schimpansen untersuchte. Seine Ergebnisse veröffentlichte er in dem Werk Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (1917). Was unterscheidet Mensch und Tier? 39 Werkzeugen daher als Einfall. Ein Einfall ist dadurch zu charakterisieren, dass er durch eine uneinsichtige Leistung, d. h. ohne Überlegungen zustande kommt und daher nicht wirklich als eine Leistung des Intellekts bezeichnet werden kann (cf. ibid.: 19). Die Unterscheidung von Einsicht und Einfall liegt im Vorgehen, eine einmal gelungene Lösung eines Problems in veränderten Umständen erneut anzuwenden (cf. ibid.: 26). Weitere Fakten warnen vor einer Überschätzung der Leistung der Schimpansen. Es gibt keine Erkenntnisse über die Weitergabe von Erfindungen von Generation zu Generation oder über darstellende Zeichnungen sowie eine darstellende Sprache. All das muss nach Bühler innere Gründe haben (cf. ibid.: 27 f.). Bühler erkennt eine mögliche anatomische Erklärung für die dritte Stufe, den Intellekt. Die Großhirnrinde, anhand deren relativer Größe sich auf die Grade der Dressierbarkeit der Tiere schließen lässt, gibt auch Aufschluss über den Intellekt der Individuen. Es gibt eine relative Steigerung des Gehirngewichts von den Primaten hin zum Menschen, welche eben der Großhirnrinde zugutekommt (cf. ibid.: 29 f.). Anhand der Ontogenese des Kindes verdeutlicht Bühler den zeitlichen Aufbau der drei Stufen. Das neugeborene Menschenkind ist arm an Instinkten und besonders hilfebedürftig, es schreit aus verschiedenen Gründen, z. B. aus Hungergefühlen oder Unbehagen, zudem saugt und schluckt es. Das Neugeborene besitzt einige Schutzreflexe, wie das Schließen der Augen bei starkem Lichteinfall. Nach Bühler sind diese und ähnliche Reflexe alles, was das Kind von Geburt an mit sich bringt (cf. ibid.: 78). Der Instinkt bringt das Kind aber dazu, sitzen oder gehen zu lernen. Bühler geht davon aus, dass in diesem langen Lehrgang, der erstmal wie ein Nachteil gegenüber Tieren wirkt, eine Notwendigkeit besteht. Der Mensch konnte seine große Plastizität nur durch die Aufgabe einiger Instinkte erlangen (cf. ibid.: 79 f.). Die Dressur des Kindes beginnt mit dem Erlernen von Fertigkeiten, wie z. B. dem Greifen nach Gegenständen oder dem Erwerb der Sprache (dazu im nächsten Abschnitt mehr). Es handelt sich hierbei auch um eine Art der Selbstdressur, da Kinder beim Spielen die Fertigkeiten nach und nach einüben. Zur Selbstdressur kommt hinzu, dass Erwachsene mit dem Kind etwas wie z. B. die Sprache einüben (cf. ibid.: 80 f.). Im Alter von zehn bis zwölf Monaten machen Kinder ihre ersten Erfindungen, die zwar durchaus primitiv sind und den Leistungen der Schimpansen ähneln, weshalb Bühler diesen Zeitraum auch als Schimpansenalter bezeichnet, dennoch lassen diese Beobachtungen auf Intellekt schließen (cf. ibid.: 82). Interessant ist, dass die Leistungen der Schimpansen unabhängig von der Sprache funktionieren, dass aber auch das Werkzeugdenken im Leben des Menschen nur zu kleinen Teilen an Sprache gebunden ist, jedoch vielmehr von anderen Formen des Denkens abhängt. Daraus schließt Bühler, zu Beginn der Menschwerdung stand nicht die Sprache, vielmehr war es das Werkzeugdenken und das Erfassen von Zusammenhängen (cf. ibid.: 85 f.). 2.3.2 Die Entwicklung der Sprache des Kindes Bühler beginnt seine Untersuchung zum Spracherwerb des Kindes mit dem Schreien eines Neugeborenen. Er bezweifelt aber, dass das Schreien etwas mit Bewusstseinszuständen zu tun haben kann, da es den natürlichen Zweck verfolgt, die Umgebung auf Unbehagen aufmerksam zu machen, aber nicht den Lautschatz an sich bereichert. Aufgrund dessen legt Bühler seine Konzentration auf das Lallen, welches schon im Alter von etwa drei 40 Sarah K. Baumann Monaten auf Zustände des Wohlbehagens schließen lässt. Das Kind beginnt damit verschiedene Laute aneinanderzureihen und es wirkt, als würde es die Artikulation im Spiele einüben, woraufhin auch die Anzahl der unterschiedlichen hervorgebrachten Laute schnell ansteigt (cf. ibid.: 214 f.). Während die Schreilaute von Anfang an fest in einem Instinktmechanismus, der den Naturzweck erfüllt, die Pfleger auf die Bedürfnisse des Kindes aufmerksam zu machen, eingebaut sind, bleiben die ersten Lallworte, die das Kind in reiner Spielfreude formt, lange Zeit bedeutungsfrei (ibid.: 218). Diese zunächst bedeutungsfreien Lalllaute, welche instinktiv gebildet werden, sind das Ausgangsmaterial aller menschlicher Sprachen. Zu klären bleibt, wie aus den bedeutungsfreien Lauten ein sinnvolles Sprechen wird. Nach Bühler geht dem Sprechen ein Verstehen voraus, demnach betrachtet er zunächst die Entstehung des Verstehens. Die ersten Wirkungen auf gehörte Worte sind Gefühlswirkungen sowie Reaktionswirkungen. Dabei kommt es nicht auf das Gesagte selbst an, sondern auf das Schallphänomen an sich (cf. ibid.: 218 f.). Dies erkannte Bühler anhand der Aufmerksamkeit des Kindes gegenüber den Sprachlauten und weiter noch am Aufsuchen mit den Augen nach der Lautquelle, dem Sprecher. Demgegenüber stehen die Gefühlseffekte sowie die Bewegungsaffekte, welche nur auf einen bestimmten Laut hin auftreten. Zum einen richtet sich die Aufmerksamkeit des Kindes auf den durch den Laut bezeichneten Gegenstand, was Bühler als Blickrichtungsreaktionen bezeichnet. Zum anderen vollzieht das Kind aufgrund eines Lautes, z. B. einer Aufforderung, auch bestimmte Bewegungen, welche Bühler als Dressureffekte benennt (cf. ibid.: 219 f.). Auf dieser Stufe der Entwicklung steht das Kind nicht lange. Es begreift das Sprechen eines anderen als Einwirkungen auf sich. Darüber hinaus erkennt das Kind, dass Gegenstände als auch Tatbestände in seiner Umgebung durch das Sprechen dargestellt werden. Hierzu sind zunächst Gebärden nützlich, da das Kind diese früher versteht als Worte. So zeigt die Mutter z. B. bei der Nennung eines Gegenstandes auch darauf und schafft somit für eine Verknüpfung zwischen Laut und Objekt (cf. ibid.: 221). Die ersten vom Kind selbst gesprochenen und sinnvollen Worte lassen sich im Alter von circa einem Jahr nachweisen. Sie entstehen, wenn sich ein Lallen oder ein durch Nachahmung erlangter Lautkomplex für das Kind mit einem Sinn verknüpft, oder aber auch umgekehrt, so Bühler. Die Benennung der Dinge tritt erstmal in den Hintergrund, und es geht den Kindern hauptsächlich um die Äußerung von Wünschen und Affektzuständen (cf. ibid.: 221 f.). Erst von dieser Stufe des Spracherwerbs aus beginnen Kinder Wörter in der Nennfunktion zu verwenden. Sie begreifen die Beziehung zwischen Wort und Objekt, dass ein Zeichen zum Stellvertreter für z. B. einen Gegenstand wird. Bühler nennt dies die Ausbildung des Zeichenbewusstseins, welche er anhand des Auftretens der Benennungsfragen und des schnellen Wachsens des Wortschatzes erkennt. Der Erwerb des Zeichenbewusstseins ist nicht nur ein wichtiger Schritt im Spracherwerb, sondern führt auch “ zu einer sichtbaren Revolution im Seelenleben des Kindes ” (ibid.: 224). 2.3.3 Zur Axiomatik der Sprachtheorie Im Folgenden soll die von Bühler ausgebildete Axiomatik skizziert werden. Der Schwerpunkt liegt in der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache. Bühler sieht Was unterscheidet Mensch und Tier? 41 eine Zweckmäßigkeit darin, erst die Phänomenologie der menschlichen Sprache zu betrachten und anschließend einen phylogenetischen Gedankengang vorzunehmen (cf. Bühler 1978: 37). Er begründet diese Abfolge so: “ Die Semantik im Tierreich erführe dann eine Beleuchtung von oben, von dem reicheren menschlichen System her, und erwiese sich (soweit wir sie heute kennen) um eine volle Dimension ärmer als die menschliche Sprache ” (ibid.: 37). Betreffend des Aufbaus seiner Axiomatik entscheidet sich Bühler aber für eine geschichtliche Ordnung, welche er anhand einer vorausgehenden kritischen Auseinandersetzung mit der Wundtschen Theorie 19 entwickelte. Demnach soll der Ursprung der Semantik nicht im Einzelnen, sondern in der Gemeinschaft gesucht werden. Hinweise darauf erlangt Bühler durch die logische Erkenntnis, dass Kundgabe und Kundnahme wechselseitig aufeinander bezogene Begriffe sind, zu einem Zeichengeber gehört auch immer ein Zeichennehmer. Bühler geht auch davon aus, dass die Semantik von Beginn an den Grund der Ordnung des Gemeinschaftslebens hatte. Er sieht die Semantik demnach nicht nur als etwas dem Gemeinschaftsleben Entsprungenes, sondern als eine Voraussetzung jeden Gemeinschaftslebens, ob des menschlichen oder des tierischen (cf. ibid.: 38 f.). Bühler betont des Weiteren ein Merkmal des Gemeinschaftslebens, welches die gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder meint. Es muss einen Kontakt und “ kraft seiner eine dynamische Konkordanz ” (ibid.: 39), eine zeitlich nachweisbare Regulierung des Benehmens aufweisen. Auf einer solchen Art der Regulierung sollte die Konzentration liegen, so Bühler, denn diese wäre ohne Semantik nicht möglich. Eine Steuerung liegt auch vor, wenn die Handlungen von Menschen oder Tieren wortlos und gestenlos ineinandergreifen. In gemeinsamen Wahrnehmungssituationen liegt die Steuerung in der Einstellung der Einzelnen im gegenseitigen Verstehen der Tätigkeit des anderen. Der Begriff des einfühlenden Verstehens hat hier seinen Ursprung und mit ihm eben der der Semantik (cf. ibid.: 39 f.). Zur gegenseitigen Steuerung bedarf es in gemeinsamen Wahrnehmungssituationen eines Richtpunktes dieser. Überschreitet der Richtpunkt der Steuerung den gemeinsamen Wahrnehmungsbereich in irgendeiner Weise, ist ein “ Kontakt höherer Ordnung ” (ibid.: 41) erforderlich. Eine mögliche Überschreitung des Richtpunktes ist die räumliche, welche Bienen z. B. durch eine Art Werbetanz mit einer Duftprobe der bestimmten Blüte überwinden, um die anderen zum Ausfliegen aufzufordern. Eine andere Möglichkeit der Überschreitung des Richtpunktes ist die zeitliche, welche durch die menschliche Sprache überbrückt wird. Im dritten Fall ist der Richtpunkt der Steuerung zwar wahrnehmbar, allerdings nicht im Bereich der Aufmerksamkeit des Empfängers, was durch eine Zeigegeste auf das Objekt geändert werden kann (cf. ibid.: 41). Aufgrund der bisherigen Ausführungen kommt Bühler zum ersten Axiom: Wo immer ein echtes Gemeinschaftsleben besteht, muß es eine gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsglieder geben. Wo die Richtpunkte der Steuerung nicht in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation gegeben sind, müssen sie durch einen Kontakt höherer Ordnung, durch spezifisch semantische Einrichtungen vermittelt werden (ibid.: 50). 19 Bühler bezieht sich auf Wilhelm Wundt, welcher in seinem Werk Völkerpsychologie (in 10 Bänden von 1900 - 1920 erschienen) unter anderem auch eine Untersuchung der Sprache vornahm. 42 Sarah K. Baumann Dieses Axiom beinhaltet den Quellpunkt der Semantik bei Tier und Mensch und betrifft die erste Sinndimension der Auslösung. Dieses Axiom überschneidet sich mit der Zeichenhaftigkeit der Sprache als Signal (cf. Bühler 1982: 28). Des Weiteren kommt hinzu, dass auch Inneres, wie die Stimmung oder Bedürfnisse eines Individuums, zur gegenseitigen Steuerung beitragen kann. Dies geschieht durch die Kundgabe und Kundnahme, womit Bühler bei dem zweiten Axiom ist: “ Soll der Eigenbedarf und die Eigenstimmung der an einem Gemeinschaftsakt beteiligten Individuen bei der gegenseitigen Steuerung zur Geltung gelangen, so müssen sie zur Kundgabe und Kundnahme gelangen ” (Bühler 1978: 50). Das zweite Axiom eröffnet dem Gebiet der Semantik den Aspekt der Erlebnispsychologie. Die Sinndimension der Kundgebung dient dem Ausdruck der Innerlichkeit und schneidet sich mit der Zeichenhaftigkeit der Sprache als Symptom (cf. Bühler 1982: 28). Die folgende Sinndimension der menschlichen Sprache überragt die zwei Grundfunktionen der Semantik der Tiere. Den Tieren fehlt es an der dritten, der Darstellungsfunktion. Das dritte Axiom lautet: “ Durch Zuordnung der Ausdruckszeichen zu den Gegenständen und Sachverhalten gewinnen sie eine neue Sinndimension. Damit eine unabsehbare Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit als Kommunikationsmittel. Das eine durch das andere ” (Bühler 1978: 50 f.). Die Sinndimension der Darstellung entspricht der Zeichenhaftigkeit der Sprache als Symbol. Durch abstrakte Zeichen löst sich der Ausdruck vom Objekt oder Sachverhalt und das Zeichen erhält einen Stellvertretercharakter (cf. Bühler 1982: 28 f.). Bislang konnte man im Tierreich keine Gebärden oder Laute nachweisen, die als eine Darstellung von Sachverhalten oder Gegenständen dienen (cf. Bühler 1978: 51). Er nennt zwei Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit die Tiersemantik auf der dritten Entwicklungsstufe stehen könnte. Die bereits erwähnten Bienen müssten imstande sein, aus ihrem Gedächtniseindruck und ohne Duftstoffe ihren Artgenossen zu vermitteln, wo sich eine bestimmte Blüte im Feld befindet. Damit ist die “ Entstofflichung der Zeichen ” gemeint (ibid.: 52). Das zweite Kriterium meint “ eine prinzipielle Ablösbarkeit von Dingen, als deren Zeichen es fungiert ” (ibid.: 54). 3 Eine Analyse der Sprachursprungstheorien Im Folgenden sollen die Sprachursprungstheorien einer Analyse unterzogen werden. Hinsichtlich der Ausgangsfragestellung wird der Schwerpunkt in der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprachfähigkeiten liegen. Die Theorien werden dabei in kontrastiven Gegenüberstellungen auf ihre Merkmale hin verglichen. Dabei sollen die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede der Theorien herausgearbeitet werden, so dass im Anschluss daran eine Bewertung ermöglicht wird. 3.1 Tomasello und Dunbar Die Ontogenese ist für Tomasello, neben der Verhaltensforschung von Primaten, eine wichtige Belegquelle für verschiedene Aspekte seiner Theorie. Er verdeutlicht anhand der Entwicklung des Kindes die Sprachmotive sowie das Auftreten der Fertigkeiten der individuellen und der geteilten Intentionalität. Zudem lässt sich die Reihenfolge des Auftretens und damit auch die Zusammenhänge zwischen den kognitiven Fertigkeiten Was unterscheidet Mensch und Tier? 43 und der Sprache bestimmen. Tomasello erkennt die Wichtigkeit der Ontogenese für die Untersuchung zum Ursprung der Sprache. Bei Dunbar spielt Ontogenese lediglich in Bezug auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten oder der Theorie des Geistes eine minimale Rolle. Genau wie Tomasello erkennt er, dass sich diese erst im Laufe der Jahre entwickelt. Das Kind ist zu Beginn der Entwicklung selbst zentriert, und es nimmt an, dass andere die Welt genauso wahrnehmen wie es selbst. Erst im Alter von circa fünf Jahren erkennen Kinder etwas wie verborgene Urheberschaften oder Täuschungen. Tomasello und auch Dunbar erkennen, Kinder sind erst ab diesem Alter zur Lüge fähig. Dunbar verzichtet ganz auf eine Untersuchung der Entwicklung der Sprachfertigkeiten des Kindes und damit auf interessante Erkenntnisse, welche seine Theorie hätten bereichern können. Er hätte dadurch auch einige Widersprüchlichkeiten in seiner Theorie erkannt. Dunbar glaubt z. B., Affen verfügen über die Fähigkeit, andere absichtlich zu täuschen, was nicht damit zu verwechseln ist, dass sie die Absichten anderer erkennen können (siehe auch Tomasello). Auf der anderen Seite vergleicht er das auf Gesten basierende Ausdrucksvermögen der Menschenaffen mit dem Ausdrucksvermögen eines zweijährigen Menschenkindes. 20 Wie bereits angemerkt, ist Dunbar bewusst, dass Kleinkinder erst ab dem Alter von circa fünf Jahren über die Fertigkeiten verfügen, Täuschungen zu erkennen, als auch sie zu begehen. Zudem unterscheiden sich Tomasello und Dunbar in Bezug auf die sozialen Motivationen der Kommunikation der Menschen. Tomasello unterteilt diese in Auffordern, Informieren und Teilen. Wobei sich die beiden Letzten ausschließlich auf die kooperative Kommunikation des Menschen beschränken. In der menschlichen Kommunikation bedeutet Auffordern nicht nur die imperative Form dessen, sondern erstreckt sich über das Bitten bis hin zum Wünschen. Das Auffordern im imperativen Sinne ist das einzige Kommunikationsmotiv, welches Tomasello auch der Kommunikation der Menschenaffen zuschreibt. Die soziale Motivation in Dunbars Theorie liegt im Austausch des Zwischen-Menschlichen, was er als Tratschen bezeichnet. Der Grund dafür sei die Zusammenhaltung der Gruppe und die Zeitersparnis gegenüber dem Kraulen. In Bezug auf die Menschenaffen geht Dunbar ebenfalls vom Kommunikationsmotiv des Aufforderns aus. Im Unterschied zu Tomasello neigt Dunbar aber zu Überinterpretationen und Vermenschlichungen der Tatsachen, weshalb er das Auffordern auch als Wünschen bezeichnet. Abgesehen von den inhaltlichen Unterscheidungen, welche lediglich angerissen wurden, unterscheiden sich Tomasello und Dunbar auch in der Art und Weise der Darstellung der Ergebnisse ihrer Forschungen. Dunbar arbeitet oftmals terminologisch sehr ungenau, er verwechselt an einigen Stellen den Begriff der Sprache mit der reinen Lautäußerung oder Kommunikation. Er macht sich oftmals nicht die Mühe, etwas genauer zu erörtern. So schreibt er z. B., dass Schimpansen in irgendeiner Form über eine Theorie des Geistes verfügen. 21 Zudem ist es schwierig in Dunbars Theorie, den roten Faden zu erkennen, was auf eine Unübersichtlichkeit im Aufbau seiner Argumentation hinweist. In Bezug auf einige Segmente seiner Theorie wird außerdem nicht klar, welche Meinung Dunbar vertritt, da er 20 Dunbar trennt hier nicht zwischen der Aneinanderreihung von den Gesten des Affen und von Worten auf der Seite des Kindes. Das Kind ist dem Affen hier schon deutlich überlegen, allein dadurch, dass es sich durch eine auf Symbolen basierende Sprache ausdrückt. 21 Im Gegensatz zu Tomasello, der die kognitiven Fähigkeiten der Menschenaffen als individuelle Intentionalität bezeichnet und dies ausführlich erläutert. 44 Sarah K. Baumann zwischen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten einzelner Aspekte schwankt und sich zu keiner Interpretationsmöglichkeit explizit bekennt. Im Gegensatz dazu erarbeitet Tomasello anhand seiner Forschungsergebnisse eine ausgereifte Terminologie, welche er ausführlich zu Beginn erläutert und im weiteren einsetzt. 22 Dadurch gelingt es ihm, einige der Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu benennen und zu verdeutlichen. Seine Prämissen stellt Tomasello in einer sinnvollen Reihenfolge und einer verständlichen Gliederung dar. 3.2 Bühler und Dunbar Die Theorien von Bühler und Dunbar ähneln sich in einem Punkt: Sie nutzen beide die relative Größe des Neokortex als biologische Begründung für ihre Argumentation. Der Unterschied liegt aber nicht nur in den Begründungen selbst, sondern vielmehr in der Notwendigkeit dieser für die Theorien. Dunbar erkennt Parallelen in der relativen Größe des Neokortex der verschiedenen Arten und der Gruppengröße, in welcher sie zusammenleben. Auf diese Erkenntnis des Zusammenhangs baut Dunbar seine gesamte folgende Theorie auf. Bühler stellt einen Bezug zwischen der relativen Größe des Neokortex und dem Grad der Dressierbarkeit der verschiedenen Arten sowie des Intellekts fest. Er nutzt dieses Wissen, um seine Annahmen zu unterstreichen, nicht aber, um darauf aufzubauen. Für Bühler liegt der Ursprung der Semantik nicht bloß in der Gemeinschaft, sondern hatte von Beginn an den Grund der Ordnung der Gemeinschaft. Dies steht im Zusammenhang mit dem Kommunikationsmotiv der Bühlerschen Theorie, welches die gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder meint. Dunbar geht davon aus, dass der Ursprung dessen, was er als Sprache bezeichnet, im Kraulen liegt. Durch das Kraulen wurden die Gruppen der Primaten zusammengehalten, aber durch die nötige Vergrößerung der Gruppen der frühen Menschen wurde es zu zeitaufwendig. In diesem Sinne ist das Motiv der Sprache der Zusammenhalt der vergrößerten Gruppe. Nach Dunbar vollzog sich die Entwicklung der “ Sprache ” in drei Stufen, von Kontaktrufen, über sinnloses Geschnatter, hin zu Äußerungen mit Bedeutung. Die beiden ersten Stufen lassen sich allerdings nicht als Sprache im Sinne menschlicher Symbolsprache verstehen. Vielmehr handelt es sich um Lautäußerungen, die eventuell einer Kommunikationsabsicht dienen. Auffällig wird hier wieder, dass Dunbar terminologisch nicht klar arbeitet. Die Theorien unterscheiden sich betreffend der Vorteile der Sprache ebenfalls. Bühler sieht die Vorteile in der Darstellung des räumlich oder auch zeitlich Abwesenden. Dies geschieht durch einen “ Kontakt höherer Ordnung ” , durch sprachliche Zeichen, die für etwas stehen, aber gleichzeitig davon entstofflicht sind. Die Zeichen werden dadurch zum Stellvertreter des Objektes und ermöglichen daher die Darstellung des räumlich oder zeitlich Abwesenden. Deutlich wird hier Bühlers Zeichenbegriff, nach dem die Leistung des Zeichens in der Entstofflichung, also in seiner Objektungebundenheit liegt. Dunbar sieht die Vorteile der Sprache in der Zeitersparnis gegenüber dem Kraulen. Die Sprache ermöglicht den Menschen, sich mit mehreren gleichzeitig, als auch über andere auszutauschen. Wie bereits angemerkt, vertritt Dunbar die These, die Sprache sei eine Weiterentwicklung des Kraulens. Er schließt von Materiellem, dem Kraulen und den damit 22 Ausgenommen davon sind die Begriffe der “ unkodierten Kommunikation ” als auch der “ natürlichen Gesten ” . Was unterscheidet Mensch und Tier? 45 verbundenen körperlichen Empfindungen, auf etwas Immaterielles - die Sprache. Laut Bühler handelt es sich hierbei um eine Stoffentgleisung. Der Ursprung der Sprache kann nicht in materiellen Dingen begründet werden. 3.3 Bühler und Tomasello Bühler und Tomasello verbindet, dass sie auf zwei Ebenen zwischen Mensch und Tier differenzieren. Sie unterscheiden die kognitiven Fähigkeiten, welche Voraussetzungen für das Kommunikationsvermögen sind. Bühler unterteilt die Betätigungsweisen, welche für kognitive Fähigkeiten stehen, in drei Stufen - Instinkt, Dressur und Intellekt. Die ersten beiden kommen den Menschen als auch den Tieren zu. Die dritte Stufe, der Intellekt, zeichnet sich dadurch aus, dass Individuen in der Lage sind, Erfindungen zu machen. Es gibt Beobachtungen an Menschenaffen, die für die dritte Stufe sprechen. Allerdings grenzt Bühler “ echte ” Erfindungen, die durch Überlegungen und Einsicht gemacht wurden, von denen ab, die sich aufgrund eines spontanen oder zufälligen Einfalls ergeben. Letzteres ist bei Menschenaffen der Fall. Demnach unterscheiden sich Menschen auf der Ebene der kognitiven Fähigkeiten von den Tieren dadurch, dass sie über Intellekt verfügen. Tomasello macht einen Unterschied zwischen der individuellen und der geteilten, auch rekursiven, Intentionalität. Menschenaffen sind laut Tomasello in der Lage, die Absichten anderer zu erkennen und zudem nehmen sie andere als Akteure wahr, welche ihre Ziele verfolgen. In diesem Sinne kommt ihnen eine individuelle Intentionalität zu. Im Vergleich dazu sind Menschen in der Lage, zu erkennen, dass ihnen jemand helfen möchte. Durch diese Art der Kooperation entstehen wechselseitige Erwartungen an die sozialen Motivationen der anderen. Darüber hinaus entsteht eine zusätzliche Schicht der Intentionalität. Nach Tomasello verfügen Menschen über eine geteilte Intentionalität. Bühler und Tomasello beobachten die Entstehung der kognitiven Fähigkeiten anhand der Entwicklung des Kindes. Tomasello konnte die Entwicklung der Intentionalität bei Kindern im Alter von neun bis zwölf Monaten erkennen, er spricht in diesem Zusammenhang auch von der “ Neunmonatsrevolution ” (cf. Tomasello 2011: 152). Auch Bühler konnte Kindern im Alter von circa zwölf Monaten ihre ersten Erfindungen nachweisen, demnach die Entwicklung des Intellekts. Zudem fand er heraus, dass sich in diesem Alter ein Zeichenbewusstsein entwickelt, was zu einer Revolution des Seelenlebens führt. Auf der Ebene der Kommunikationsfertigkeiten konnte Tomasello erkennen, dass Menschenaffen über ein hohes Maß an Flexibilität in der Gestenkommunikation verfügen. Ihre Kommunikationsmotive beschränken sich allerdings auf das Auffordern. Tomasello geht daher bei Menschenaffen von intentionaler Kommunikation aus, im Gegensatz zur kooperativen Kommunikation der Menschen. Diese zeichnet sich durch die sozialen Motivationen, wie dem Helfen und dem Teilen aus. Tomasello vertritt die These, dass die sozialen Motivationen sich schon bei Kindern in der auf Gesten basierenden Kommunikation nachweisen lassen, also noch vor dem Spracherwerb. Durch die Axiomatik der Sprachtheorie vollzieht Bühler die Unterscheidung von Mensch und Tier. Die Semantik im Tierreich ist um eine ganze Dimension ärmer als die menschliche Sprache, was das Fehlen der Darstellungsfunktion meint. Die Besonderheit der menschlichen Sprachen liegt in der Entstofflichung der Zeichen und in der Ablösbarkeit von den 46 Sarah K. Baumann Objekten, als deren Zeichen sie fungieren. Das Zeichen selbst ist demnach immateriell und kann für Abwesendes stehen. Die ontogenetischen Ursprünge der Sprache sieht Bühler im Lallen des Kindes, durch welches es verschiedene Laute einübt. Ab dem Alter von circa zwölf Monaten, wenn das Kind lernt zu verstehen, verknüpft es die Laute mit Gegenständen, Sachverhalten oder auch inneren Zuständen. Zu Beginn stehen die Worte zwar nicht für die Objekte selbst, sondern für Aufforderungen, und erst darauf aufbauend verwenden Kinder die Worte auch in der Nennfunktion. Für Tomasello liegen die Ursprünge der Sprache phylogenetisch als auch ontogenetisch in der auf Gesten basierenden Kommunikation. Er erkennt neben dem Auffordern noch vor dem tatsächlichen Benennen der Gegenstände die anderen sozialen Motivationen, wie Helfen oder Teilen. Dass die Sprache aber aus Gesten entsteht, ist nach Bühler eine Stoffentgleisung, denn auch Tomasello schließt von Materiellem, in diesem Fall der Geste, auf etwas Immaterielles - die Sprache. Die auf Gesten basierende Kommunikation ist für Tomasello etwas Vorsprachliches, er begreift diese als “ unkodierte Kommunikation ” und spricht auch von “ natürlichen Gesten ” . Wie schon erläutert, steht das im Widerspruch zu seiner eigenen Annahme, dass bei der Gestenkommunikation der Empfänger die kognitive Arbeit der Entschlüsselung der Geste leisten muss. 4 Schlussbetrachtung Abschließend sollen die Ergebnisse der Analyse der Sprachursprungstheorien zu einer Bewertung dieser verhelfen. Die Theorie von Tomasello ist interessant und aufschlussreich in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Er untersucht die Fähigkeiten von Menschen, vor allem von Kindern sowie Menschenaffen in Bezug auf ihre Verhaltensweisen und ihr Ausdrucksvermögen. Er hält die Ergebnisse seiner Forschungen in einer gut definierten Terminologie und einer strukturierten Argumentation fest. Ein Nachteil seiner Theorie ist, dass er Gesten als “ unkodierte Kommunikation ” versteht und erkennt, dass selbst diese entschlüsselt werden müssen. Dieser Fehlschluss führt zur Annahme, die Sprache sei aus den Gesten entstanden. Der Theorie von Dunbar ist nicht viel Positives abzugewinnen. Er arbeitet, wie bereits erwähnt, nicht sehr wissenschaftlich, und auch Dunbar ist nach Bühler ein Stoffdenker. Die Idee, die Sprache sei aus dem Kraulen entstanden und zum Tratschen da, ist mehr als fraglich. Denn wie Dunbar selbst anmerkt, ist die Sprache sehr viel leistungsstärker. Menschen können sich über wichtige Themen austauschen und ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben, aber sie verbringen die meiste Zeit doch damit, sich über andere auszutauschen. Bühler hat im Gegensatz zu Tomasello und Dunbar eine Theorie zur Sprache, die die Ursprünge und die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier formuliert, an der es nichts zu kritisieren gibt. Zudem entwickelt Bühler einen Zeichenbegriff, welcher die Leistungsstärke der menschlichen Sprache verdeutlicht. Die Ausgangsfrage lässt sich abschließend im Zusammenhang der Darstellung und der Analyse der Theorien wie folgt beantworten: Tomasello konzentriert sich auf die Unterscheidung der Menschen von ihren nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Ihnen spricht Tomasello eine individuelle Intentionalität zu, da sie in der Lage sind, zu erkennen, was andere sehen, tun oder wollen. Menschen sind demgegenüber zusätzlich in der Lage, Was unterscheidet Mensch und Tier? 47 wechselseitig von den Absichten der anderen zu wissen. Dadurch entsteht eine zusätzliche Schicht von Intentionalität, eine geteilte oder auch rekursive Intentionalität. In Bezug auf die Kommunikationsfähigkeiten spricht Tomasello den Menschenaffen die intentionale Kommunikationsfertigkeit zu. Sie sind in der Lage, das Verhalten ihres Gegenübers bewusst zu beeinflussen. Beim Menschen geht Tomasello von der kooperativen Kommunikation aus, was im engen Zusammenhang mit den Motiven der Kommunikation steht, dem Helfen und Teilen. Dunbar vertritt die Theorie des Geistes und glaubt, dass diese in einem gewissen Sinne auch den Tieren und vor allem den Menschenaffen zukommt. Allerdings nicht in der gleichen Weise wie dem Menschen. Nach Dunbar verfügen Menschenaffen mindestens über eine Intentionalität sechster Ordnung. Zu den Kommunikationsfähigkeiten von Mensch und Tier trifft Dunbar keine explizite Unterscheidung. Er gibt an, dass dem Menschen die Sprache zukommt, allerdings ist der Begriff der Sprache in seiner Theorie nicht klar definiert. Er neigt außerdem dazu, die Kommunikationsmotive der Menschenaffen zu vermenschlichen. Im Hinblick auf ihre Betätigungsweisen schreibt Bühler den Tieren Instinkt zu. Einigen Säugetieren kommt außerdem die Dressierbarkeit zu, aber kein einziges Tier verfügt über Intellekt, so wie Menschen darüber verfügen. Der Intellekt äußert sich in Erfindungen, welche durch Überlegungen und Einsicht zustande kommen. Bezüglich der Kommunikationsfähigkeiten der verschiedenen Arten unterscheidet Bühler ebenfalls drei Stufen, und auch hier ist es die letzte, die Darstellungsfunktion der menschlichen Sprache, die den Menschen und das Tier voneinander unterscheidet. Menschen können Abstraktes oder Abwesendes benennen und somit an die Vorstellungskraft ihres Gegenübers appellieren. Bühler spricht in diesem Zusammenhang von einem “ Kontakt höherer Ordnung ” und einer Ablösung des Zeichens von dem Objekt, welches es benennt. In Anbetracht der Bewertung der Theorien und ihrem Beitrag zur Klärung der Ausgangsfrage fällt auf, dass die älteste der drei Theorien, die von Karl Bühler, die sowohl aufschlussreichste als auch grundlegendste ist. Diese Tatsache steht offensichtlich im Widerspruch dazu, dass die Wissenschaft ein fortlaufender und sich stetig entwickelnder Prozess ist. Es sollte anzunehmen sein, dass Wissenschaftler vor der Beschäftigung mit einem gewissen Thema oder einer Fragestellung das bereits veröffentlichte Material berücksichtigen, ob im anerkennenden oder verneinenden Sinne. Tomasello bezieht sich in seinem Werk zwar unter anderem auch auf Bühler, allerdings in einem anderen Zusammenhang, als den in diesem Aufsatz diskutiertem. Der Bühlersche Zeichenbegriff hätte Tomasello davor bewahrt, die Ursprünge der Sprache in der Gestenkommunikation zu suchen oder zumindest davor, diese als unkodierte Kommunikation zu verstehen. Bei der Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache ist wichtig zu beachten, dass diese wahrscheinlich nie vollständig zu klären sein wird. Dennoch sollte diese Tatsache nicht dazu verleiten, Prämissen aufzustellen, welche nicht logisch begründbar sind. Weiter noch sollten gewisse Prinzipien der Wissenschaft beachtet werden. In Anspielung auf Dunbar ist hier die Exaktheit der Terminologie, als auch die Vermeidung von unbegründbaren Hypothesen zu nennen. Außerdem sollte in einer vermeintlich wissenschaftlichen Schrift der Aufbau einer Argumentation zu erkennen sein. Die Verbindung von einzelnen Wissenschaften und die Zusammenführung verschiedener Erkenntnisse und Ansätze ist oft aufschlussreicher als die Beschränkung auf eine Sichtweise. Dies ist ein möglicher Grund, weshalb Tomasello, aber vor allem Bühler, bessere Ergebnisse erlangten als Dunbar. 48 Sarah K. Baumann Bibliographie Bühler, Karl 5 1929: Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena: Gustav Fischer Bühler, Karl 1978: Die Krise der Psychologie (= Ullstein-Buch 3460), Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien: Ullstein Bühler, Karl 1982: Sprachtheorie, Stuttgart/ New York: Gustav Fischer Dunbar, Robin 2000: Klatsch und Tratsch. Warum die Frauen die Sprache erfanden, München: Goldmann Jäger, Ludwig 2009: Neuere Befunde zur Audiovisualität des menschlichen Sprachvermögens, im Internet unter http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=12740 [02. 04. 2009] Leroi-Gourhan, André 1 2009: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp Searle, John R. 1990: “ Collective intentions and actions ” , in: P. Cohan, J. Morgan & M. Pollack (eds.) 1990: Intentions in Communication, Cambridge: MIT Press, 401 - 416 Tomasello, Michael 2011: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp Was unterscheidet Mensch und Tier? 49 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen In der Ferne so nah und in der Nähe so fern Die hybriden Zeichen des chinesischen Künstlers Xu Bing Arne Klawitter (Tokyo) In 1988, Xu Bing ’ s Books from the Sky (chin. tianshu) aroused much discussion, and since then, the artist has been celebrated in China and abroad. After Xu Bing moved to the U. S. in 1990, he created a new hybrid script under the name of Square Word Calligraphy. The article analyzes the theoretical and semiotic implications of this very exceptional and unique script. “ Das Chinesische ist wie gemacht für die Kalligraphie. Eine Sprache, die zum inspirierten Schriftzug verleitet, die ihn provoziert. ” (Michaux 1994: 23) 1 “ Fernwestliche ” Schriftzeichen Ein westlicher Betrachter, der diese Schriftzeichen zum ersten Mal sieht, wird sicherlich auf den ersten Blick hin und ohne zu zögern glauben, dass er es mit einer chinesischen Kalligraphie zu tun habe, ohne zunächst zu erkennen, wie sehr er sich irrt. Er selbst könnte diese Zeichen sogar mit Leichtigkeit entziffern, wenn er nur zumindest vorübergehend seine eingeübten Sehgewohnheiten ablegen und jene quadratisch angeordneten Zeichenkonstrukte auf neue Weise in den Blick nehmen würde. Denn diese Zeichen werden in dem Moment lesbar, in dem man die Voraussetzungen ändert und nicht mehr davon ausgeht, dass dies wirklich genuine chinesische Schriftzeichen seien, sondern vielmehr dem Impuls folgt, dass es sich hier womöglich um eine unserer Sehweise unvertraute Kombination lateinischer Buchstaben handeln könnte. Mit etwas Phantasie wird man dann, links beginnend, ein F erkennen sowie ein A und ein R, und auf der rechten Seite dann die Buchstaben W E s t, woraus sich zwingend der Schluss ergibt, dass wir es hier mit zwei englischen Wörtern und einer programmatischen Bedeutung zu tun haben. “ Far west ” assoziiert, wie könnte es anders sein, eine Umkehrung der Perspektive, denn gewöhnlich wird von “ Far east ” , also “ Fernost ” , gesprochen, was im Übrigen, als wäre es selbstverständlich, eine westliche Blickrichtung voraussetzt. Doch wie erscheint der “ ferne Westen ” aus der Sicht des “ fernen Ostens ” ? Was würde die Um- Abb. 1: Xu Bing: Square Word Calligraphy, “ Far west ” kehrung der Perspektive für uns, die wir gewöhnlich nur von “ Fernost ” sprechen, bedeuten? Dieser Frage soll hier, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der ebenso künstlerisch wie raffiniert gestalteten Zeicheninstallationen von Xu Bing und ihrer semiotischen Implikationen, nachgegangen werden. Der Künstler, von dem diese im wahrsten Sinne des Wortes ‘ transkulturellen ’ Zeichenkonstrukte stammen und dessen unlesbare Schriftzeichen in seinen Büchern des Himmels ich bereits in Kodikas/ Code 35 (2012) Heft 1 - 2 vorgestellt habe, wurde 1955 in der Stadt Chongqing in der Provinz Sichuan geboren. In der Schule erlebte er während der Ägide von Mao Zedong jene umfassende Schriftreform, die mit ihrer Vereinfachung der Schriftzeichen einen radikalen Bruch mit der chinesischen traditionellen Schriftkultur bewirkte. Er wurde gezwungen, die neuen Schriftzeichen zu lernen und die alten, die er sich gerade ein Jahr zuvor mühevoll hatte einprägen müssen, zu vergessen. Doch die von Mao Zedong angeordnete Schriftvereinfachung verlief keineswegs so unproblematisch wie erwünscht, und so kam es, wie Xu Bing in einem Interview äußerte, immer wieder dazu, dass die neuen Zeichen nicht akzeptiert wurden und man dann doch zum Teil zu den alten oder den ihnen näheren Varianten zurückkehrte (vgl. Silbergeld 2006: 114). Seine Eltern (sein Vater war Professor für chinesische Geschichte an der Beijing Universität und seine Mutter arbeitete in einer Bibliothek) ließen ihn in dieser Zeit weiter die alten chinesischen Klassiker kopieren, so dass er gleichsam in zwei Schriftwelten gleichzeitig aufwuchs. Zwischen 1974 und 1977 wurde Xu Bing wie viele Intellektuelle und deren Kinder in China aufs Land verschickt. Als Sohn eines “ Reaktionärs ” war er mehr als andere bestrebt, der Parteilinie zu folgen, und er wurde schnell zu einer “ nützlichen Person ” , und zwar im Sinne eines “ Schreibinstruments der Kulturrevolution ” , indem er im Propagandabüro der Partei Poster und Plakate entwarf, mit denen die Partei ihre Losungen unters Volk brachte. Zurückblickend auf diese Zeit vergleicht sich Xu Bing mit buddhistischen Mönchen, die Wort für Wort die heiligen Sutren kopierten, obgleich sie nicht jedes Wort von dem verstanden, was sie nachschrieben, und ihr ganzes Leben damit zubrachten, um auf diesem Wege den Eingang in die nächste Welt zu finden (vgl. Erickson 2001: 16 - 17). Danach war Xu Bing mehrere Jahre als Lehrer in einem entlegenen Dorf nordwestlich von Beijing tätig, wo er u. a. Anzeigen für Feierlichkeiten anfertigte. Unter dem Einfluss der Volkskunst kombinierte er dabei die Zeichen einer Redewendung zu einem so kunstvollen Zeichenarrangement (Abb. 2). 1 Abb. 2: Chinesischer Neujahrsgruß 招財進寶 (zhao cai jin bao) als Zeichenarrangement. Das Grundelement ist dabei das dritte Zeichen 進 (jin), das links steht und soviel bedeutet wie ‘ (herbei-) kommen ’ , gefolgt vom zweiten Zeichen 財 (cai, dt. ‘ Geld ’ ) und dem ersten Zeichen 招 (zhao, dt. ‘ veranlassen ’ ). Das letzte Zeichen ist im Zentrum des Arrangements zu finden, jedoch gleichsam zerlegt, denn es teilt sich ein Element mit dem zweiten Zeichen, und kann als 寶 (bao, dt. ‘ Juwel ’ , ‘ Edelstein ’ , ‘ Schatz ’ ) gelesen werden. 1 Die chinesische Schriftkultur hat auch eine lange Geschichte solch kunstvoller Zeichenzusammensetzungen, die vor allem als Glücksbringer auf Amuletten oder als Kalligraphien Verwendung fanden. Vgl. dazu die Internetseite http: / / homepage2.nifty.com/ Gat_Tin/ kanji/ sinji.htm [Zugriff am 20. Februar 2014]. In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 51 Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt war es ihm - nunmehr als ein ‘ Sohn von Bauern ’ - möglich, in Beijing ein Studium an der Zentralen Akademie für Bildende Künste zu beginnen. Statt jedoch die Ölmalerei zu erlernen, wie er es sich gewünscht hatte, wurde er mit Drucktechniken vertraut gemacht, darunter auch mit der traditionellen Holzschneidetechnik, die als nicht-elitär galt und daher gefördert wurde, besonders wohl aber, weil sie für den Massendruck eingesetzt werden konnte. 1984 schloss er sein Studium an der Akademie ab und bekam 1987/ 88 seine erste eigene Ausstellung: “ Grafiken von Xu Bing ” . Erstmals wurden bei der Kunstschau China Avant-Garde auch Ausschnitte aus A Book from the Sky gezeigt, was Xu Bing nicht nur schlagartig bekannt, sondern ihn gleichzeitig zu einer Galionsfigur der zeitgenössischen chinesischen Kunst machte. Seitdem gilt er neben Gu Wenda, Wu Shanzhuan, Geng Jianyi, Huang Yongping, Wang Guangyi und anderen zu den Vertretern des “ 85 New Wave Movement ” , obwohl er selbst erst etwas später zu dieser Gruppe stieß. Abb. 3: Xu Bing: The Book from the Sky (1988 - 1991) Auf der Ausstellung präsentierte Xu Bing eine Reihe von Büchern, die wie klassische kanonische Bücher aussahen, aber in Wahrheit nicht entzifferbare Schriftzeichen enthielten. So sehr sich die Besucher auch bemühten, war doch niemand imstande, die Zeichen als Ganzes zu lesen, deren einzelne Bestandteile allen bekannt waren. Xu Bing hatte lesbare Schriftzeichen in die ihnen zugrunde liegenden Einzelelemente zerlegt und neu zusammen- 52 Arne Klawitter (Tokyo) gesetzt, aber auf eine - linguistisch betrachtet - ganz unkonventionelle Weise, sodass man die so zustande gebrachten Zeichensimulakren weder lesen noch ihnen einen Laut oder eine Bedeutung zuordnen konnte. Da aber die einzelnen Bestandteile der Zeichen sehr wohl erkennbar waren, bestand immerhin die Möglichkeit, ihnen zumindest eine imaginäre Bedeutung zu unterlegen. Die Zeicheninstallation, die ursprünglich den Titel The Mirror of the World - An Analyzed Reflection on the End of this Century (xishi jian) trug und dann aber als The Book from the Sky, chin. tianshu, bekannt wurde, löste in China heftige Diskussionen aus. Sowohl vom Publikum als auch von der Kunstkritik wurde sie als Provokation aufgefasst, denn man verstand die Aussage des Künstlers so, als habe die Schriftreform unter Mao Zedong die gesamte Kulturgeschichte Chinas unlesbar gemacht. Die Zeichen auf den Papierrollen und Buchseiten erschienen den Betrachtern wie ein vom Himmel gesandter, den Menschen unverständlicher Text. (Abb. 3) Doch blieb Xu Bing nicht bei den unlesbaren Zeichen stehen, sondern schuf in den Folgejahren eine ganz neuartige Hybridschrift, die ihrerseits wieder lesbar sein sollte. 2 Transkulturelle Klangresonanzen und Schrifträume Als nach dem Massaker an den demonstrierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz auch die Künstler-Avantgarde ins Blickfeld der Parteizensoren geriet und als konterrevolutionär diffamiert wurde, emigrierte Xu Bing im Juli 1990, unmittelbar nachdem man seiner Zeicheninstallation The Book from the Sky “ heimtückische Tendenzen ” vorgeworfen hatte, in die USA. Das Exil bedeutete für ihn nicht nur ideologisch und politisch, sondern vor allem auch sprachlich und kulturell einen tiefen Bruch mit der ihm vertrauten Welt. Zunächst musste er im Umfeld der fremden westlichen Kultur deren Sprache erlernen, um sie in seine künstlerische Arbeit integrieren zu können. Seit Mitte der 1990er Jahre versuchte Xu Bing in seinen Werken dann durch die Schaffung eines neuen Sprachraums Beziehungen zwischen dem Chinesischen und das lateinische Schriftsystem verwendenden Sprachen herzustellen, in dem es zur Überlagerung und zum Austausch von graphischen und klanglichen Elementen, von Wahrnehmungsweisen und Lesetechniken beider Kulturen kommt. Der erste Schritt in diese Richtung war das Projekt ABC aus dem Jahr 1991, dessen Durchführung aus insgesamt 38 Tonquadern besteht, auf deren einen Seite ein chinesisches Schriftzeichen, auf der anderen aber ein lateinischer Buchstabe zu sehen ist. Sobald die graphisch unterschiedlichen, aber dennoch materiell und damit handgreiflich zusammengehörigen Zeichen ausgesprochen werden, wird der Bezug zwischen ihnen aufgrund ihrer Klangähnlichkeit unmittelbar deutlich: Das ausgesprochene Sinogramm 哀 / ai/ korrespondiert in etwa der englischen Aussprache des Vokals A, im Laut des chinesischen Zeichens 彼 / bi/ klingt der englische Buchstabe B an und im Zeichen 西 (in der Umschrift xi, aber gesprochen / ɕ i: / ) der Buchstabe C. Die Bedeutung der Schriftzeichen ist dabei irrelevant; es kommt hier allein auf die Klangresonanz und ein akustisches Wiedererkennen an. Die ABC-Installation ermöglicht eine erste Annäherung zwischen den “ fernwestlichen ” und fernöstlichen Sprach- und Schriftkulturen, und zwar über den Weg des Klanges. Doch stößt die Schaffung von Klangbezügen schnell an ihre Grenzen, denn es entstehen dabei keine Sinnbezüge, keine intelligiblen Strukturen, weshalb sich Xu Bing schon bald wieder der graphischen Dimension der Schrift zuwendet. In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 53 Das Ergebnis der daraus resultierenden Überlegungen und künstlerischen Versuche nennt er Square Word Calligraphy. Xu Bing bezieht sich hierzu auf die äußerliche Erscheinung chinesischer Zeichen, um auch Buchstaben dieser Vorgabe folgend gleichsam kalligraphisch auszuführen, d. h. er arrangiert jene Buchstaben, die er optisch dem Aussehen chinesischer Schriftzeichen angleicht, nunmehr in quadratischer Form, sodass sie, derartig kombiniert, jeweils ein Wort ergeben, das in englischer (oder gegebenenfalls auch in deutscher) Sprache lesbar und verständlich ist. Einige Zeichen wie 山 und 口 gleichen ganz und gar chinesischen Zeichen, und erst das Wissen (oder die Hypothese), dass wir nach lateinischen Buchstaben zu suchen haben, lässt uns in ihnen ein W und ein O erkennen. Bestimmte Buchstaben wie z. B. das große A ähneln durchaus chinesischen Zeichen, wie in diesem Fall dem 人 (ren) mit der Bedeutung ‘ Mensch ’ , nur dass Xu Bing hier einen Querstrich hinzugefügt hat, sodass es überraschend als Buchstabe A in Erscheinung tritt. Außerdem kann man einzelne Radikale (sogen. Wurzelzeichen) finden, die im Chinesischen als einzelne Zeichen zwar nicht vorkommen. Da es sich bei den “ Square Words ” aber um Buchstabenzusammensetzungen handelt, treten sie stets in Kombination mit anderen Zeichenelementen auf, wie z. B. das Radikal 阝 als Buchstabe B, was zusammen mit 口 die Buchstabenfolge “ bo ” ergibt (siehe Abb. 4). Das Verfahren der Square Word Calligraphy gestattet es auf diese Weise, auch längere Texte zu kreieren, die entweder vertikal zu lesen oder bei denen sogar verschiedene Leserichtungen möglich sind. In der vertikalen Leserichtung von links nach rechts ergibt sich folgendes Satzfragment “ Little bo peep has lost her sheep and can. . . ” , also der Anfang eines bekannten englischen Kinderreims, was überraschen mag, aber nicht muss. Die Square Word Calligraphy eröffnet einen transkulturellen Zwischenraum, in dem sich kulturell verschieden geprägte Blicke gegenseitig kreuzen, Gewohnheiten und Wahrnehmungsschemata auf die Probe gestellt und verunsichert werden, und wo aufgrund einer doppelten Verfremdung die Reflexion auf die Bedingtheit der jeweils eigenen Wahrnehmungsweise gelenkt wird. Man könnte sagen, dass in diesem In-Between Wahrnehmung und Denken in Bezug auf sich selbst verfremdet bzw. verschoben werden. Die bisher gewohnte Sehweise wird außer Kraft gesetzt; man ist für einen Moment irritiert, weil man nichts versteht, doch dann wird man förmlich dazu gezwungen, nach anderen Möglichkeiten der Betrachtung und Entzifferung zu suchen. Dass die gewohnten Wahrnehmungsraster Abb. 4: Little Bo Peep ” als Square Word Calligraphy 54 Arne Klawitter (Tokyo) einschließlich der Entzifferungs- und Lesetechniken in diesem Zwischenbereich nicht mehr funktionieren, muss also kein Manko bedeuten, sondern lässt sich durchaus als ein Mehrwert verstehen. Man sieht sich dazu veranlasst, seinen Blick für das Andere zu öffnen, bislang nicht Berücksichtigtes in die Betrachtung aufzunehmen, einen neuen Standpunkt zu beziehen und neue Wahrnehmungsweisen zu erproben. In diesem In-Between, wo es zu Überkreuzungen, Aussetzern, Fehlschlägen, erneuten Versuchen, Modifizierungen und Verschiebungen kommt, wird ein komplexer Prozess in Gang gesetzt, der ein Hinterfragen derjenigen Schranken, welche die eigene Wahrnehmung begrenzen, sowie eine Revision desjenigen Standpunktes einschließt, den man aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schriftkultur automatisch einnimmt; ein Prozess, der schließlich zur Einsicht führt, dass die Ordnung, die einer bestimmten Weltsicht unterliegt und die man den Zeichen aufgrund der eigenen kulturellen Prägung unterstellt, nicht die einzig mögliche ist und auch keineswegs immer eine Lösung bereit hält. Alle gerade genannten Eigenschaften lassen diesen Zwischenbereich der Überkreuzung, Infragestellung und Verschiebung als einen genuin transkulturellen Raum erscheinen. Bemerkenswert ist dabei jedoch, wie beide Seiten gleichermaßen dazu angeregt werden, ihren ursprünglichen Standpunkt zu reflektieren und zu modifizieren: Für die Einen sind Xu Bings Schriftzeichen verfremdete Buchstaben, die auf eine besondere Weise zu Blöcken geordnet werden, aber - unter gewissen Schwierigkeiten allerdings und wider Erwarten - doch lesbar sind; für die Anderen bilden sie das verwirrende Simulakrum ihrer eigenen und damit bekannter Schriftzeichen, die nur über den Umweg eines anderen Zeichencodes (in diesem Falle nicht nur einer anderen Sprache, sondern zugleich eines anderen Schriftsystems) lesbar werden, nämlich als lateinische Buchstaben, die in ihrer quadratischen Anordnung, richtig kombiniert, einzelne bekannte Wörter bilden. Einem Betrachter aus dem westlichen Kulturkreis erscheinen diese Zeichen, obwohl sie ihm alle vertraut sein müssten, aufgrund ihrer Schreibweise und Anordnung zunächst fremd, da sie auf den ersten Blick wie chinesische Schriftzeichen aussehen (und einige gleichen den chinesischen Zeichen tatsächlich voll und ganz) und ungewöhnlich arrangiert sind: Sie werden vom Künstler in voller Absicht in ein Quadrat gezwängt, wodurch sie eine innere Balance erhalten und Ausgewogenheit suggerieren. Dadurch erwecken sie den Eindruck einer kunstvollen, aber fremden Zeichenkomposition, die sich nicht lesen und von der sich zunächst einmal auch keine Lesbarkeit erwarten lässt. Auf viele Chinesen hingegen wirken dergleichen Schriftzeichen, gerade weil sie für sie auf den ersten Blick vertraut und lesbar erscheinen, obwohl sie es nicht sind, wie archaische Zeichen, denen man fast automatisch eine Lesbarkeit unterstellt, auch wenn man sie nicht realisieren kann. Sie fühlen sich vor allem durch die ungewöhnliche Anordnung überrascht, die sie als Erstes vermuten lässt, dass es sich bei dem, was sie sehen, um sehr alte kalligraphische Schriftbilder handeln dürfte. Die Auflösung dieser Rätselschrift wird dann einen Chinesen ebenso erstaunen wie einen Betrachter aus einem anderen Kulturkreis. Beide Seiten aber werden durch dieses Spiel von Gestaltung, Arrangement, Blickrichtung, Leseverlauf und Codierung dazu gebracht, ihre überkommene, d. h. eingeübte Wahrnehmung von Schriftzeichen mitsamt den vorgegebenen Lesegewohnheiten zu reflektieren und zu hinterfragen. Wichtig in diesem Kontext ist vor allem der Umstand, dass jemand nur dann in der Lage ist, Zeichen zu entziffern, wenn er/ sie sich auf eine alternative Sichtweise einlässt, d. h. wenn man den Schriftbildern entweder die Gestalt von Zeichen einer jeweils fremden Schriftsprache zubilligt oder aber, von einer ganz neuen Perspektive aus betrachtet, In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 55 den Code einer anderen Sprache. Gerade dieser Zwang, wenn auch nur zeitweilig, die Position des Anderen einzunehmen, ist es, der die Präkodierung des Blicks als eine Beschränkung spürbar werden lässt. 3 Die ästhetische Resonanz der Square Word Calligraphy Xu Bing hat mit der Square Word Calligraphy nicht nur eine Möglichkeit gefunden, ein transkulturelles In-Between in der Überkreuzung bereits vorkodierter Blicke und Zeichenpraktiken sichtbar zu machen; es gelingt ihm darüber hinaus zu verdeutlichen, wie in diesem Zwischenbereich zugleich ein neuer Diskurs zu entstehen vermag. Vom westlichen Standpunkt aus gesehen, entspinnt sich unter dem Anschein unlesbarer Ideogramme, die zunächst als nicht-signifikative Zeichenfigurationen erscheinen und dem entsprechend als kunstvolle Ornamente einer unlesbaren Schrift wahrgenommen werden, ein lesbarer Diskurs. Auch wenn sich der Betrachter dann auf die Entzifferung der Zeichen konzentriert, geht deren ästhetischer Wert dabei nicht verloren. Es entsteht vielmehr eine Art Hybridschrift im doppelten Sinne: zum einen, weil sie aus den Komponenten zweier grundsätzlich verschiedener Schriftsysteme besteht; zum anderen, weil den Zeichen, wenn man sie denn entziffert hat, nicht nur ein Sinn abgerungen, sondern zudem ein ästhetischer Mehrwert zugestanden wird, der ihnen auch nach ihrer Entzifferung zueigen bleibt. Diese Ästhetik drückt sich in der Kunst der Kalligraphie aus, die in der chinesischen Kultur auf eine lange Tradition zurückblickt, die aber auch der europäischen Kultur durchaus vertraut war, denn es gab vom frühen Mittelalter an bis zum Spätbarock eine Schönschreibekunst, und auch danach wie z. B. im Jugendstil oder im Kontext der Pressendrucke immer wieder Neuansätze, dergleichen Traditionen aufzugreifen und neu zu beleben. Auch die Square Word Calligraphy ließe sich aus westlicher Sicht als ein solcher Versuch betrachten, wobei noch hinzukommt, dass Xu Bing in seinen Folgeprojekten (Square Word Calligraphy Classroom und An Introduction to New English Calligraphy, 1994 - 96) das Erlernen einer Hybridschrift nicht nur wie das Erlernen einer fremden Schrifttradition inszeniert, sondern auch wie das von inzwischen fast vergessenen Schreibtechniken der eigenen Vergangenheit. Zur Beschreibung der ästhetischen und affektiven Wirkung von Xu Bings Square Word Calligraphy bieten sich vor allem die von Stephen Greenblatt entwickelten Begriffe “ Resonanz ” und “ Staunen ” an. Bei Greenblatt richtet sich die Analyse der Resonanz ganz auf die Wirkung eines Objektes oder Textes, wobei er Resonanz im Sinne von Austauschprozessen kultureller Energie begreift, nämlich als “ Ergebnis ausgedehnter Entlehnungen, kollektiver Tauschprozesse und wechselseitiger Begeisterungen ” (Greenblatt 1993: 17). Unter “ Resonanz ” versteht er “ die Macht des ausgestellten Objekts, über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen es ursprünglich entstammt und als deren - sei es metaphorischer oder bloß metonymischer - Repräsentant es vom Betrachter angesehen werden kann. ” (Greenblatt 1995: 15) Seinem Begriff der Resonanz stellt Greenblatt den des Staunens (wonder) zur Seite. “ Staunen ” versteht er als Reaktion auf “ die Macht des ausgestellten Objekts, den Betrachter aus seiner Bahn zu werfen, ihm ein markantes Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln, eine Ergriffenheit in ihm zu provozieren ” . (Greenblatt 1995: 15) 56 Arne Klawitter (Tokyo) Wendet man den eben genannten Resonanzbegriff auf Xu Bings Zeicheninstallationen an, dann ließe sich folgendes feststellen: Im Book from the Sky wird eine kulturhistorische Resonanz durch die an sich exakt an historischen Vorbildern orientierende Anwendung traditioneller Druck- und Buchbindetechniken erzeugt. Gleichzeitig unterläuft Xu Bing aber diese Resonanz, wenn er seine Schriftzeichen im Raum des Bedeutungslosen stehen lässt, sie also ihrer kulturellen Bedeutung beraubt. Das wiederum erzeugt Staunen. Die Schriftzeichen vermitteln durch ihre Unlesbarkeit ein “ markantes Gefühl von Einzigartigkeit ” und provozieren im Betrachter jene “ Ergriffenheit ” , die Greenblatt unter dem Begriff des “ Staunens ” subsumiert hat. Bei der Square Word Calligraphy hingegen werden Staunen und Irritation durch die Resemantisierung der pseudo-chinesischen Schriftzeichen evoziert, die, wie Greenblatt es in seiner Definition der “ Resonanz ” formuliert, über ihre “ formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt ” (Greenblatt 1995: 15) wirken und es vermögen, diejenigen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen sie ursprünglich entstammen, nämlich die lange Tradition der Kalligraphie. Diese Kulturkräfte werden dann von Xu Bing vor allem in den erwähnten Folgeprojekten (Square Word Calligraphy Classroom und An Introduction to New English Calligraphy) in die Installation einbezogen und genutzt. Abb. 5: Xu Bing: An Introduction to Square Word Calligraphy, 1994 - 1996. Links wird die richtige Haltung des Pinsels erklärt. In der Ferne so nah und in der Nähe so fern 57 Unübersehbar ist in der Square Word Calligraphy der transkulturelle Aspekt, denn mit den verfremdeten Buchstaben werden ja (zumindest aus westlicher Sicht) chinesische Schriftzeichen und die Tradition der Kalligraphie assoziiert. Die damit verbundene Zeichenresonanz beschränkt sich also nicht auf die formalen Aspekte der Schrift, sondern wirkt in die Praktiken des Schreibens hinein. Daraus ergibt sich auch die große Resonanzwirkung, die sich gerade dadurch erzeugen lässt, dass diese transkulturelle Hybridschrift nicht nur kulturell bedingte Wahrnehmungs- und Lesetechniken, sondern auch die mit ihnen verbundenen Schreibpraktiken hinterfragt. Zu ihnen gehören zunächst jene Utensilien, die der modernen europäischen Kultur für den Vorgang des Schreibens fast ausnahmslos fremd sind: Pinsel, Tusche, Reibestein und saugfähiges, das Licht absorbierendes, leicht gelbgetöntes Papier. Mit diesen Materialien verbunden ist eine besondere Art der Pinselhaltung, die eine Kultur- und Schriftgeschichte voraussetzt, deren Zeichen der traditionellen Überlieferung nach Tierspuren nachgeahmt worden sind (siehe dazu Abb. 5). Die Pinselhaltung wiederum ist mit einer aus westlicher Sicht eher ungewöhnlichen Sitzweise und Körperhaltung verbunden. Kalligraphie, so Xu Bing, ist etwas anderes als Schreiben: “ Sie ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern eine Tätigkeit, die künstlerischen Ausdruck mit geistiger Kraft verbindet. Vom ersten Strich bis zur Vollendung des Wortes geht es um unseren ganzen Körper. [. . .] Durch diese Übung werden unser Geist, unser Körper und unsere Gedanken ein neues Reich betreten. ” (Xu Bing, zit. n. Erickson 2001: 69) Die Square Word Calligraphy ist folglich viel mehr als nur ein intellektuelles Spiel mit Zeichen verschiedener Schriftsysteme; sie ist eine Schreibpraxis, deren Resonanzraum, der sich im transkulturellen In-Between durch die Überkreuzung der verschieden geprägten Blickrichtungen, durch das Spiel der Distanzen und die Erprobung von Wahrnehmungs-, Schreib- und Entzifferungstechniken konstituiert, im Sinne von Homi Bhabha als ein “ dritter Raum ” verstanden werden kann, d. h. als ein Raum des Austausches, des Wandels, der gegenseitigen Stimulation und auch als ein Raum der Hybridisierung und kreativen Neuschöpfung. (Vgl. Bhabha 1994: 53 f.) Bibliographie Bhabha, Homi K. 1994: The Location of Culture, London/ New York: Routledge. Erickson, Britta 2001: Words Without Meaning, Meaning Without Words. The Art of Xu Bing, Washington, D. C./ Seattle: University of Washington Press in association with the Arthur M. Sackler Gallery, Smithsonian Institution. Greenblatt, Stephen 1993: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a. M.: Fischer. Greenblatt, Stephen 1995: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt a. M.: Fischer. Michaux, Henri 1994: Ideogramme in China, Graz/ Wien: Droschl. Silbergeld, Jerome und Dora C. Y. Ching (eds.) 2006: “ Question and Answer Session. ” In: Persistence/ Transformation. Text as Image in the Art of Xu Bing, Princeton: Princeton Univ. Press. Xu Bing 1996: Introduction to Square Word Calligraphy, Selbstverlag. 58 Arne Klawitter (Tokyo) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Visual Representativeness in Uncomprehended Script and Martial Script Examples from Contemporary German Literature 1 N AWATA Yûji (Tokyo) The article examines the visual representativeness of script as described in modern German literature. Some texts of Marcel Beyer (1965 - ) and Thomas Kling (1957 - 2005) depict incomprehensible letters while emphasizing their visual character. Both authors show that political conditions such as war can make script appear as image. “ perky as a word I can ’ t even pronounce ” (Y I Sang, The Wings 62) Let us begin first by considering classical standard Chinese, which was the lingua franca of East Asia from antiquity until the 20th century. Chinese script is logographic, i. e. a character stands primarily for a word and not for a unit of sound. The phonetic matrix, i. e. how a character is pronounced in which linguistic environment, exhibits numerous regional and historic variants. However, no matter how it was pronounced, people were able to communicate across vast Asian regions using standard Chinese for centuries or even millenia, for in this logography the sound level plays only a secondary role. In the phonography of the alphabet the characters stand primarily for units of sound. It is a complex system: the characters must first be perceived visually and then coupled with auditory sound patterns which play a primary role in recognizing meanings. In standard Chinese it is more simple: visually perceived characters function purely visually. This very well known fact, that Chinese script is not primarily auditory but functions visually, has a historical background. The Chinese script that was used under the Shang Dynasty (approx. 1600th - 11th century BC) to record divine oracles was used in the subsequent Western Zhou Dynasty (11th - 771st century BC) for the administration of its territory, which was much greater than the Shang Dynasty ’ s territory. Standard Chinese was 1 The paper was translated from German by the academic translation office Textworks Translations. The German version was originally presented in May 2013 at the conference “ Heterogene Bild- und Schriftverhältnisse ” in Warburg-Haus Hamburg and will be printed in Yûji Nawata: Kulturwissenschaftliche Komparatistik: Fallstudien, Berlin: Kadmos, forthcoming. The research was supported by JSPS KAKENHI Grant Number 25370372 and Chuo University Grant for Special Research. I wish to thank Stefan Buchenberger, H AYASHI Shizue, K AWASHIMA Kentarô, Walter Ruprechter und Y AMAMOTO Jun for helpful discussions about Thomas Kings Poems. able to function as a national administrative language mainly because its logographic functionality meant it could be understood irrespective of which dialects or languages were spoken in the regions (Atsuji 173 - 75). Leibniz once quoted the theory of Jacobus Golius, 2 whom he called the “ Sprachkenner ” ( “ language expert ” ), “ that their language [= the language of the Chinese people) was artificial, i. e. that it had been invented in one fell swoop by a clever man in order to produce linguistic communication among a large number of different nations [nations differentes] which inhabited that great country we call China ” (Leibniz 2: 4 f.). 3 Today, no one believes in such a single inventor anymore. Otherwise, however, Leibniz was quite well informed: the universality of Chinese script does actually derive from national politics. We can generalize here and say that the visual representativeness of a script is often linked to political circumstances. This is demonstrated by some German authors with their sensitive cultural-historical insights, as will now be explained using texts by Marcel Beyer and Thomas Kling. *** Marcel Beyer was born in 1965 in Tailfingen in Württemberg, and lived in Kiel, Neuss, Siegen and Cologne until he moved to Dresden in 1996. Eastern Europe is an important theme in Beyer ’ s literature, and he perceives this region keenly with all his sensory apparatus. He once travelled around the Estonian city of Narva on the border of Russia. The reason for this was probably that on a summer ’ s night in 1992 he was waiting for the train at the “ S-Bahnhof ” ( “ suburban metro station ” ) Warschauer Stra β e on the eastern side of Berlin: the whole time I could see advertising lettering overhanging a wall on the other side of the railway installations. In large letters it says: NARVA TAGHELL (NARVA AS BRIGHT AS DAY). NARVA, an acronym - where “ N ” stands for nitrogen, “ AR ” for argon, “ VA ” for vacuum: light bulbs by this brand will also have illuminated me as I sat there, turned towards sleep and, as I believed, turned away from language. [. . .] Perhaps I had to travel for hours through a monotonous, unhappy landscape in Estonia because I wanted to find a word again on the Russian border. (Putins Briefkasten 27) The author was overcome by tiredness towards four o ’ clock in the morning, disturbing his linguistic behaviour. It distanced him from the language, here in the sense of the logos that carries meanings. The script was perceived purely in its visual representativeness. Beyer comes back to this perception later in one of his poems that arose out of the Estonia trip. The title of the four-line stanza is “ Narva, taghell ” ( “ Narva, Bright as Day ” ): The languages are strange to me, I ’ m like someone wearing carpet slippers: but there I am. Polymers, fur trim and insoles: all things are near to me. (Mouth to Mouth 139) The poem is concerned with a scene in the city of Narva that is as bright as day, and no longer with the advertising lettering “ NARVA TAGHELL ” at the S-Bahn station. The poem takes up 2 On the identification of the person cited by Leibniz with the Orientalist Jacobus Golius (1596 - 1667) see Hamaguchi 2007, 11. 3 All quotations are translated by the translator of this article, unless stated otherwise. 60 Nawata Yûji (Tokyo) the same theme as the passage of text about the lighting company ’ s advertisement: the turning away from language and the perception of objects contingent on this. Here in this poem the lack of understanding of the languages used in the area allows objects such as insoles to be felt and observed more closely. In a similar way, the characters in the advertisement were perceived at that time as objects at the S-Bahnhof. To use Sybille Krämer ’ s term (Krämer, et al.), “ Schriftbildlichkeit ” ( “ the visual representativeness of script ” ) is an important theme in Marcel Beyer ’ s experience of and reflection on Eastern Europe. Beyer perceives script as images mostly when he cannot understand it. The incomprehension of languages sensitizes Beyer ’ s eyes and senses. An example is the poem “ Raps ” ( “ Rapeseed ” ): Rapeseed It ’ s noon, you ’ re sitting behind the wheel in an empty country road, a couple of Polish stations are cutting in and out, nothing speaks in you, you ’ re on the point of thinking you grew up mute, and then this: rape, hard edge, clean line, scattered, dense rape work, hatched and cross-hatched rape, the field fills, the screen fills with rape, rape up to your hairline, brimful of rape, rape eyes, rape head, rape rustle, rape scrape, nothing cattle cake, nothing margerine [sic], nothing but rape. (Mouth to Mouth 143) Because the travelling author does not understand the Polish radio programmes, the logos within him is switched off. The area in his head that is normally occupied by language now becomes, so to speak, free, and it is into this space that the images of the vast rape fields flow and overpower him. In the volume of poems Erdkunde (Geography), which includes poems from his Eastern Europe experiences and also the poems “ Narva, as Bright as Day ” and “ Rapeseed ” , we read the lines: “ So dunkel ist das nicht, ich mu β nur länger gucken, weil/ ich ein Westkind bin, weil ich von Pferden nichts/ verstehe und kein Russisch kann ” ) ( “ It is not so dark, I just have to look harder, because/ I am a child of the West, because I know nothing about/ horses and cannot speak Russian ” ) (48, 1 - 3). In other words, the fact that he did not have a good command of the language helped him to see the area he was visiting more precisely. This is also true of his reflection on the characters whose meanings he does not understand. The following quote is again about Polish that is not understood: Script - it is always also a promise. The boards, the advertising lettering, the shop signs as soon as you have left the border behind and are travelling on the country road inland: what I find striking are the grotesque scripts of former times. One of these types of script is called ‘ Futura ’ , and when it is used it always signals what is inherent in its name: here you are seeing signs that point to the future. I admired the strange, illuminated letters in the towns, the handwriting on the wall of a house, the name of a shop extending across the shop window. No, I don ’ t speak Polish, and when I read “ Teraz ” I automatically think of “ Terasse ” ( “ terrace ” ). Where I understand barely more than “ watch out ” , “ drinks ” and “ cigarettes ” , where I can only guess individual words such as “ Meble ” and “ Ksero ” , my eye gets stuck on the letters. Not the content, but the form. I have rarely felt this to be a disadvantage; meaning can also distract. (Putins Briefkasten 32 f.) Visual Representativeness in Uncomprehended Script and Martial Script 61 What he sees in the visual representativeness of the script, in this case in the features of Futura, is the communist rule in Poland during the Cold War, i. e. a complex of political, geographical and historical contexts. In this prose text Beyer calls these complexes the “ European history of the twentieth century ” (Putins Briefkasten 30). In another essay (where Beyer reads Paul Celan ’ s poems in the context of Europe as a multilingual region) he refers to the same phenomenon with one word: “ politics ” (Nonfiction 198 and 222). *** The poet Thomas Kling, who unfortunately passed away in 2005 at the age of 47, was a kind of cultural archaeologist, and he, too, was capable of digging out the history and politics behind the visual representativeness of script. Both Thomas Kling ’ s and Marcel Beyer ’ s texts are often set within cultural history. Among the German-speaking authors of the recent past and the present they belong to an elite group who are capable of plunging deep into cultural history with their rich knowledge of contemporary cultural studies (Kulturwissenschaft). It was probably due to this closeness to one another in their creative work that the two authors were good friends. An analysis of two texts by Thomas Kling will now follow. One text sings about antiquity; the other is set in the Cold War. In the first example we are again dealing with an ancient rule over a large territory and its predominant standard language. ruma. etruskisches alphabet malariasümpfe, dampfnd vor bildern. von anfällen, ausfälln hergenommen. BILDERSÜMPFE aus denen namen steign, geblubber, den figuren beigeschriebenes, wie: fleischkeil, nebelbank über den colli emiliani; hastunichtgesehn wird rom di zunge abgenommen; rom wird gestreckt, geteilt (liniert) und aufgekocht. dies abgekochte rom; dem geben wir, zart, seine zunge zurück. di wächst rom zwischn den zähnen heraus: ein römisches züngelchn; romgezüngel! I MODI DI DIRE ROMANESCHI UND DIE LECKT länder weg; berginnen; sabinerberginnen, etrurische geschmacksknospn; dazu das getreide, die pferde etruriens, alles gekauft. (Gesammelte Gedichte 521) [ruma. etruscan alphabet malaria swamps, steamng with images. saved from attacks, losses. IMAGE SWAMPS with names climbing out of them, blathering, added to the figures, like: wedge of flesh, fog bank over the colli emiliani: haven ’ t you seen rome ’ s 62 Nawata Yûji (Tokyo) tongue is being cut off; rome is being stretched, divided (drawn on with lines) and brought to the boil. this decocted rome, we are gently giving it its tongue back. di grows out between rome ’ s teeth: a little roman tongue: romelicking! I MODI DI DIRE ROMANESCHI AND IT LICKS countries away; within the hills; within the sabine hills, etrurian taste buds; also the grain, the horses of etruria, everything bought.] Kling precedes the cycle of poems romfrequenz (rome-frequency), which begins with this poem, with a quotation from Theodor Mommsen ’ s Römische Geschichte (Roman History): “ the oldest Etruscan script is not yet familiar with the line, winding itself like a snake coiling ” (Kling, Gesammelte Gedichte 519; Mommsen 213). While Kling already thematizes the visual representativeness of the Etruscan alphabet in this motto, in the poem he places it in a historico-political context. The Etruscans, who inhabited central Italy, had their heyday around the 7th to the 6th century BC and were integrated into the Roman Empire from the 4th century BC. They spoke Etruscan and wrote this using the Etruscan alphabet, a variant of the Greek alphabet. It is has been identified which Etruscan character corresponds to which present-day alphabetic letter. The language itself, however, has not been completely intepreted, although many inscriptions have come down to us through history. In the first of the poem ’ s two strophes Kling writes about these inscriptions which are “ den Figuren beigeschrieben ” ( “ added to the figures ” ) (4 - 5). The work as a whole, figures as well as characters, is viewed as “ Bilder ” ( “ images ” ) (3), for the characters can barely be understood. Only a few “ Namen ” ( “ names ” ) (3) are interpretable. The relics with inscriptions which make a static impression in the museums are brought into a dynamic process by the poet, as if they were only just being created now. They are steaming “ Bildersümpfe ” ( “ image swamps ” ) (3). How can the script look like an image? This is due to the script not being understood, as is expressed in the first half of the poem. How has it come about that people can barely understand this script anymore? It is down to historico-political circumstances, and these are the theme of the second half of the poem. The second strophe is Kling ’ s translation of a fictional inscription into both lyrical and colloquial German. What is described here is the ascent and decline of Etruscan, or the linguistic conflict between Etruscan and Latin. From the late 7th to the late 6th century BC Rome was ruled by the Etruscans whose language was Etruscan, not Latin ( “ wird/ rom di zunge abgenommen ” ( “ rome ’ s/ tongue is being cut off ” )) (7 - 8). They cultivated the Romans and also taught them the alphabet. The Romans then began to write their own language, Latin, with this writing system, developing the Latin alphabet ( “ dies abgekochte rom; dem geben wir, zart,/ seine zunge zurück ” ( “ this decocted rome; we are gently giving it/ its tongue back ” )) (10 - 11). The Romans also grew powerful because of this writing system, formed an empire and integrated many peoples, including the Etruscans, into the language area of Latin, which was previously only one dialect among others ( “ I MODI DI DIRE/ ROMANESCHI UND DIE LECKT/ länder weg ” ( “ I MODI DI DIRE/ ROMANESCHI AND IT LICKS/ Visual Representativeness in Uncomprehended Script and Martial Script 63 countries away) (13 - 15); in “ DIE LECKT ” ( “ IT LICKS ” ) (14) we hear also “ Dialekt ” ( “ dialect ” )). The result of this is that the language of Etruscan died out, Etruscan scripts became only partially interpretable, and consequently they looked like images. Both Chinese and Latin served imperial powers and became lingua franca. We have a language like this that we use today: computer language as the universal language of the present day, which also serves the powers who instigate hot and cold wars. The visual representativeness of computer language is the theme of my final example, Thomas Kling ’ s cycle of poems NACHTWACHE (NIGHT DUTY) (Gesammelte Gedichte 795 - 800). 4 In the last ten years of his life Kling lived on the former NATO missile base in Hombroich in Niedersachsen, which was turned into an artists ’ village at the end of the Cold War. The cycle imagines that a hot war has now developed out of the Cold War, describing how the Hombroich missile base comes under air raid attacks and defends itself against these. This is probably referring to the defence system NADGE (NATO Air Defence Ground Environment). According to the website on the “ legacy products ” of the NATO Programming Centre in Belgium, which developed different computer systems for NATO, NADGE was introduced in the late 1960 s. It is a semi-automated air defence system equipped with “ new radars, new ground-to-air communications and computer-based control sites ” (NATO Programming Centre). 5 NIKE is the explicit name of the surface-to-air missiles in the second poem (Kling, Gesammelte Gedichte 798) which are part of this defence system, are controlled by “ groundto-air communications ” and are intended to hit enemy pilots or missiles. Controlling surfaceto-air projectiles was the very starting point for Norbert Wiener ’ s cybernetics, one of the information theories that grew out of the Second World War and was used for the Cold War. Kling ’ s cycle of poems is a literary adaptation of Wiener ’ s cybernetics. The wars between air and ground that were prepared for during the Cold War, but luckily never took place, were computer wars, i. e. wars by computers against computers. The attacking missiles as well as the defending bases functioned through computer. To quote Friedrich Kittler ’ s clear articulation of the relation between an English radar station and a German V2 missile in the Second World War: “ The measurement object, to which the digital signal processing responds or reacts, is another digital signal processing ” (206). The wars between heaven and earth prepared for during the Cold War were also wars by means of images, for the defence systems functioned through monitors, i. e. through visual recognition of the enemies. They were, at the same time, wars by means of script, for the computer languages are binary languages. Even visual data are ultimately nothing but script. Thomas King particularly succeeds in describing these wars as image and script wars, thereby giving expression to the complexity of image-script relations in computing and in war. I will now quote the third poem: TIEFFLUG DER MINERVA kaum ein luftzug: dämmerungsaktives wort. das sich in hochauflösung, in rasanzen, in das bild begibt. in wärmebilder. Schlacken 4 The key points of the interpretation of the cycle are available in Japanese along with a translation of the work into Japanese and a brief explanation (Kling NACHTWACHE). 5 On the kind of computers and computer systems developed by the Soviet camp see Ernst, et al. 189 - 220. 64 Nawata Yûji (Tokyo) die vom himmel fallen, sich in die botanik senken, um als material zu enden. Luftzug nur. herausgewürgtes mediengewölle. schlagschattenartig in die scharten fallend, in die knappen senken wo die toten liegen könnten. statt dessen dämmerungsaktives, beredtes bild. (Gesammelte Gedichte 799) [MINERVA ’ S LOW-ALTITUDE FLIGHT barely a breeze: twilight-active word. which makes its way in high resolution, at great speed, into the image. in thermal images. Ashes falling from the sky, sinking into botany, ending as material. Just breeze. regurgitated media pellet. falling like shadows into the embrasures, sink into the hollows where the dead may lie. instead of this, twilight-active, eloquent image.] The enemy missile attacking the NATO base is called “ ein datending ” ( “ a data thing ” ) (1) (Gesammelte Gedichte 800). Here it is similarly called “ mediengewölle ” ( “ media pellet ” ) (7), for the missile does not hit the mark but falls into the greenery and destroys itself. The missile, understood as data and media, is also called here “ dämmerungsaktives wort ” ( “ twilight-active word ” ) (2) in the sense that the missile is controlled by computer language and is understood here as language. This missile appears on the NATO monitor as “ wärmebilder ” ( “ thermal images ” ) (4) in “ hochauflösung ” ( “ high resolution ” ) (3). That is why in the last line the missile is called “ dämmerungsaktives, beredtes bild ” ( “ twilight-active, eloquent image ” ) (10). “ twilight-active word ” (2) and “ twilight-active [. . .] image ” (10) are the same missile, but it has two names because it is viewed from two different angles: from the attacking side in terms of how the missile functions, and from the side under attack in terms of how the monitor captures the image. In the first poem of the cycle the script-image relationship is expressed more clearly: TURM. NACHT. AUSSEN. BELAGERUNG. als zustand. sagen wir: lichtwaffe. schwarzschillernde materie. eine zeughaus-anlage, beschienen. turm, getroffen vom lichtkatapult. getroffen von blicken. fliegen im panzerglas-aquarium. es werden augen feuersäulen, suchscheinwerfer. so wird im aufschein auge aschenträger. bunkerträger. ein monitor, auf dem die nacht in tätigkeit erscheint. ein angestrahltes BILD VON SCHRIFT. vorm höhlensystem nachtwache schieben: deutliche dämmerungsaktivität. (797) [TOWER. NIGHT. OUTSIDE. SIEGES. the conditions. let ’ s say: light weapon. shimmering, Visual Representativeness in Uncomprehended Script and Martial Script 65 black material. an armoury building, illuminated. tower, hit by a light catapult. hit by glances. flying in the armour-glass aquarium. eyes become pillars of fire, searchlights. eye becomes as if a bearer of ash. a bearer of bunkers. a monitor on which the night can be seen, active. an illuminated IMAGE OF SCRIPT. doing night duty in front of the cave system: clear twilight activity.] “ ein monitor, auf dem die nacht in tätigkeit erscheint. ” ( “ a monitor on which the night can be seen, active. ” ) (8): what this line says about observing the night sky through radar and monitor is expressed again in different words in the next line: “ ein angestrahltes BILD VON SCHRIFT ” ( “ an illuminated IMAGE OF SCRIPT ” ) (9). The enemy activities in the air are understood as script because they are controlled by computer, i. e. binary script, and this “ script ” appears on the bunker monitor as “ image ” . What functions as script on the enemy side is perceived on the NATO side as image. The whole cycle is designed to illuminate the imagined war from the level of data and to present it as a data war. The cycle probably thematizes “ Bild von Schrift ” ( “ image of script ” ) (9) in this context, too. In this war natural languages are faded out. When the poet writes of the “ datennächte ” ( “ data nights ” ) (798) (10) in the second poem, he does so in the sense that languages such as English or German do not come into consideration for Kling ’ s description of the war. While script in these languages certainly existed in the real bunkers in Hombroich, in the second text of his cycle Kling chooses rather to emphasize inscriptions in pictograms. The first poem speaks of “ AUSSEN ” ( “ OUTSIDE ” ) (1) the missile base, and now the second text speaks of “ INNEN ” ( “ INSIDE ” ) (1), i. e. the rooms of the bunker are described: NATO NIKE SITE. NACHT. INNEN. und sahen bunker-präzisionsinschriften. in bunkern piktogramme männlicher wünsche und raketen. sahen fundamentplan, raumbezeichnung, lichteinfälle. kantenschatten, gitterroste, maschenweiten. böden aus linoleum, aus gußasfalt. Estrich öldicht. [. . .] (798, lines 1 - 7) [NATO NIKE SITE. NIGHT. INSIDE. and saw bunker precision inscriptions. in bunkers pictograms if male desires and missiles. saw foundation plan, room designation, incidences of light. shadows of edges, grates, expanses of mesh. floors made of linoleum, of mastic asphalt. Screed oil-proof. [. . .]] People of different nationalities, who speak different languages, work in the NATO bunkers. Pictograms function here beyond the multilingualism of NATO. The people who wage and fight wars are presented here as men. “ piktogramme männlicher wünsche ” ( “ pictograms of 66 Nawata Yûji (Tokyo) male desires ” ) (3): with this phrase Kling refers to the gender context of the pictograms in the bunkers and therefore also to the way pictograms are not used for no reason, but in particular social contexts. The context in which pictograms are embedded in this poem is called, wholly in Marcel Beyer ’ s sense, the “ European history of the twentieth century ” or “ politics ” . Kling reminds us that pictograms have a lot to do with history, politics and war. “ die lufthoheit. gesirr. die erdhoheit./ der deutungshoheit datenflackern. ” (air sovereignty. buzzing. earth sovereignty./ flickering data of interpretation sovereignty ” ) (800, 9 - 10). The cycle closes with these two lines. While Kling presented, so to speak, the battle for language supremacy between the Etruscans and the Romans on the Italian peninsula, here he speaks of a “ interpretation supremacy ” : supremacy in the digital world where enemies identify one another via radars and the data collected in this way is interpreted via computers. *** Not only Thomas Kling ’ s two works, but also Marcel Beyer ’ s text about Futura script, are about the visual representativeness of script, which comes to the foreground particularly in military or aggressive situations. Beyer, too, is concerned with the Cold War, and he saw how Poland fought this war also with the aid of Futura. Marcel Beyer and Thomas Kling are on the victorious side in this. Beyer entered the countries of the former enemy and looked at the scripts in Russian or Polish explicitly as a “ Westkind ” “ child of the West ” (Erdkunde 48, 2). Kling had his texts printed in the Latin alphabet, as do all present-day German-language authors. Because the missile base had been decommissioned due to the West ’ s victory in the Cold War, Kling was later able to live and write in Hombroich, incidentally still under the air, earth and interpretation sovereignty of NATO. The two authors commemmorate these past wars with such a fine eye, even for the losing side. Beyer ’ s sober reflection on the inscribed relic left on the field, Kling ’ s fictional interpretation of the lost Etruscan language, or his imagining of aerial warfare on the former NATO base: here and there in these works of memory script appears as image so beautifully, in a way we so rarely encounter. References Atsuji. 阿辻哲次「漢字の連続性」 NHK 「中国文明の謎」取材班『中夏文明の誕生-持続する中国の源 を探る』東京:講談社 2012 年 168 - 75 頁 Beyer, Marcel. Erdkunde. Gedichte. Köln: DuMont, 2002. — . Nonfiction. Köln: DuMont, 2003. — . Putins Briefkasten. Acht Recherchen. 3rd ed. Berlin: Suhrkamp, 2012. — . “ Narva, Bright as Day ” . Trans. Michael Hofmann. Mouth to Mouth: Contemporary German Poetry in Translation. 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Seoul: Jimoondang Publishing Company, 2001. 68 Nawata Yûji (Tokyo) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dichter und ihre grünen Daumen Transdisziplinäres (Miss-)Verstehen am Beispiel dichterischer Pflanzendarstellungen Dagmar Schmauks (Berlin) Neben Landschaft, Wetter und Tierwelt ist auch die Pflanzenwelt eine sehr fruchtbare (! ) Ursprungsdomäne für Metaphern. Dieser Beitrag untersucht, inwieweit die zahlreichen Zeichenfunktionen von Pflanzen in Gedichten und Redensarten botanisch korrekt sind. So wird die kausale Beziehung zwischen Aussaat und Ernte oft auf die Textproduktion übertragen, die im Idealfall auf “ blühender Phantasie ” beruht. Auch der beliebte Vergleich von Mädchen mit Blüten ist gut begründet, wenn man vom evolutionären Nutzen der Schönheit ausgeht. Ferner dienen Pflanzen als Anzeichen der Jahreszeiten und der Lebensphasen des Menschen. Hierbei ist es sachlich verfehlt, den herbstlichen Laubfall als Symbol für Vergänglichkeit einzusetzen. Vielmehr ist das Abwerfen der Blätter eine aktive Schutzmaßnahme, die das Überleben des Baumes im Winter und sein neues Austreiben im Frühling erst sicherstellt. Besides landscape, weather and animal kingdom, also the vegetable kingdom is a fruitful (! ) source domain of metaphors. This contribution investigates, to which extent the numerous sign functions of plants in poems and sayings are botanically valid. For example, the causal relation between sowing and harvesting is often transferred to text production, which ideally is based on a “ fertile imagination ” . Also the popular comparison of girls with flowers is well-founded, assuming the evolutionary benefits of beauty. Furthermore, plants serve as indicators of seasons and of phases of human life. In this connection, it is factually misguided to use the autumnal fall of leaves as a symbol of transience. In contrary, the shedding of leaves is an active strategy, ensuring the tree ’ s survival in winter and its new sprouting in spring. 1 Einführung und Zielsetzung Keimzelle dieser Untersuchung war vor vielen Jahren die Einsicht, wie wenig die zahlreichen Herbstgedichte mit ihrem eindringlich beklagten Laubfall der botanischen Wirklichkeit entsprechen. Gerade der Abwurf der Blätter nämlich stellt das erneute Austreiben der Bäume im nächsten Frühling sicher, weil er sie vor Schneebruch und Vertrocknen schützt. Nun hat zwar jeder die dichterische Freiheit, seine Vanitas-Motive nach Gutdünken zu wählen und den Tod in allen Dingen zu sehen, dennoch halte ich auch poetische Texte dann für schlüssiger, wenn sie nicht frontal mit den Tatsachen kollidieren. Im Folgenden stelle ich daher einige repräsentative Texte einander gegenüber, deren Autoren das wohl verstandene Pflanzenleben kreativ übertragen oder aber es gründlich missverstehen. Aufgrund dieser Fragestellung ist der Beitrag interdisziplinär angelegt. Den Rahmen bildet die Kognitive Linguistik, die durch Analyse sprachlicher Ausdrücke zu erhellen versucht, wie Menschen ihre Welt begrifflich gliedern und beschreiben. Besonders aufschlussreich sind metaphorische Wendungen, die abstrakte und komplexe Zusammenhänge anschaulich und damit leichter verständlich machen sollen. Der linguistische Fachausdruck “ Metapher ” bedeutet wörtlich “ Übertragung ” , nämlich die eines Ausdruck aus seiner konkreten Ursprungsdomäne auf eine abstrakte Zieldomäne. So überträgt die Redewendung “ leeres Stroh dreschen ” das sinnlose Tun des Bauern in abstrakte Bereiche wie die Textproduktion. Im Zentrum der Untersuchung stehen neben alltäglichen Redewendungen ausgewählte Romane und Gedichte, deren Autoren das Pflanzenreich als Ursprungsdomäne gewählt haben. Ein paar griffige Wendungen zu Pilzen werden einbezogen, obwohl sie keine Pflanzen sind. Abschnitt 2 umreißt einleitend, wie stark die menschliche Kultur von der natürlichen Vegetation und den verfügbaren Nutzpflanzen abhängt. Abschnitt 3 untersucht die Pflanzenwelt als Ursprungsdomäne sprachlicher Ausdrücke, deren Bandbreite von punktuellen Übertragungen wie “ Pfirsichhaut ” bis zu komplexen kognitiven Modellen reicht, die etwa Mädchen und Blüten gleichsetzen. In Abschnitt 4 geht es um Saatmetaphern, zu denen neben dem “ fruchtbaren Schaffen ” der Dichter auch die Vorstellung zählt, das gesamte Leben würde im Kosmos gezielt “ ausgesät ” . Abschnitt 5 untersucht die Rolle von Pflanzen als Zeitzeigern, die entweder eine reale Jahreszeit angeben oder die Phasen des Menschenlebens zwischen Kindheit und Tod durch entsprechende Pflanzen kennzeichnen. Eine Schlussbemerkung versucht, den menschlichen Wunsch nach Spiegelung in der Außenwelt zu relativieren. 2 Vegetation und Kultur “ Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausreißen, was gepflanzt ist [. . .]. ” Prediger 3,1-2 Da nur Pflanzen, Algen und einige Bakterien Primärproduzenten für Biomasse sind, gäbe es ohne sie keine Tiere und Menschen. Pflanzen erzeugen lebensnotwendigen Sauerstoff und liefern uns Nahrung, Brennstoff, Baumaterial, Fasern, Medikamente und Gifte. Unsere Vorfahren stellten aus Pflanzen lebensnotwendige Gerätschaften wie Werkzeuge, Waffen und Behälter her; später begleiteten Genussmittel wie Tabak, Gewürze und Kaffee den Weg zu kulturell verfeinerten Bedürfnissen (vgl. Schmauks 1997). Da ist es nur angemessen, dass der Ausdruck “ Kultur ” vom lateinischen Wort “ cultura ” (= Landbau, Pflege) abgeleitet ist und daran erinnert, dass die menschliche Kultur im engeren Sinn erst begann, als unsere Vorfahren vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht übergingen. Von der Kohle, die aus Pflanzen früherer Epochen entstanden ist, hängen große Teile unserer heutigen Wirtschaft ab. Die Bionik untersucht Problemlösungen der Evolution daraufhin, inwieweit sie sich technisch nachbauen lassen. So wurde der Klettverschluss tatsächlich von der Klette inspiriert (Patent 1951), während am “ künstlichen Blatt ” zur Energiegewinnung aus Sonnenlicht heute weltweit gearbeitet wird. Wie nahezu alle Objekte lassen sich auch Pflanzen oder deren Teile zu guten oder bösen Zwecken einsetzen. Mit einem abgerissenen Ast kann man Knollen ausgraben oder einen Rivalen erschlagen. Auch gilt grundsätzlich die Warnung des Paracelsus, dass in zu hoher 70 Dagmar Schmauks (Berlin) Dosis alle Dinge zu Giften werden. Er würde gewiss staunen, wie treuherzig die Aussage “ rein pflanzlich ” heute in vielen Werbeanzeigen benutzt wird - ein Verkaufsargument, das ein bereits ein flüchtiger Blick auf starke Giftpflanzen wie den Blauen Eisenhut oder den Rizinusbaum zu entkräften vermag. Spätestens seit Beginn der Industrialisierung lässt sich auch im Bereich der Vegetation die Grenze zwischen Natur (Urwald, Wildnis) und Kultur (Park, Garten) nicht mehr trennscharf ziehen. Falls man von Naturlandschaften fordert, sie dürften gar nicht durch menschliche Eingriffe beeinflusst werden, so gibt es sie heute schon darum nicht mehr, weil Gase und Stäube vom Wind weltweit verdriftet werden. Am wenigsten vom Menschen beeinflusst sind Dschungel, Wüsten, Tundren und Hochgebirge. Diese Landschaftstypen werden oft als “ Wildnis ” bezeichnet, wobei dieser Ausdruck nicht ohne weiteres mit ihrer Auffassung als “ Ökosystem ” vereinbar ist (Kangler und Voigt 2010). Wildnisse im lebensweltlichen Sinn sind Rückzugsgebiete “ naturverbundener ” Lebensweisen und dienen Touristen aus Industrieländern als Orte von Abenteuer und Bewährung. Aber sogar “ undurchdringliche ” Urwälder, “ lebensfeindliche ” Wüsten und “ abweisende ” Hochgebirge werden schließlich doch “ erobert ” , wobei Ausdrücke wie “ jungfräuliche Gipfel ” und “ Erstbesteigung ” aufschlussreiche Querverbindungen nahelegen. Bereits in keltischer Zeit hat der Mensch die ausgedehnten Wälder Mitteleuropas intensiv genutzt, weil er Holz für die Metallbearbeitung brauchte. Seither wurden die Primärwälder zum Teil in Nutzwälder verwandelt, ganz überwiegend aber für Äcker, Viehweiden, Siedlungsflächen und Verkehrswege gerodet. Die Etymologie spiegelt die Ambivalenz dieser Entwicklung, denn “ roden ” ist auch mit “ ausrotten ” verwandt. Heute sind Land- und Forstwirtschaft weitgehend industrialisiert und an Stelle kleinräumig gegliederter Agrarlandschaften sind oft riesige Flächen getreten, die sich effizienter bearbeiten lassen. Während Äcker, Weiden und Nutzwälder vor allem praktischen Nutzen haben, erfüllen Parks, Gärten und Balkonblumen auch ästhetische Bedürfnisse. Interessante “ nachkulturelle ” Landschaften sind die oft riesigen Industrie- und Militärbrachen mit ihrer eigenständigen “ Ruderalvegetation ” (Schäfer 2001) - durch “ Renaturierung ” kann aus ihnen eine “ Natur aus zweiter Hand ” werden. Die Kurische Nehrung ist ein Paradebeispiel für unsere widersprüchliche Auffassung von Natur. Sie entstand vor rund 7.000 Jahren durch Sandanspülungen, wuchs bald zu und blieb bis ins Mittelalter dicht bewaldet. Dann holzten zuerst Angehörige des Deutschen Ordens, später die Armeen des Siebenjährigen Krieges und Kolonisten die Wälder ab. Auf den Kahlschlägen bildeten sich riesige Wanderdünen, die bis zu drei Meter im Jahr vorrückten und zahlreiche Dörfer begruben. Ab etwa 1800 versuchte man zunächst erfolglos, diesen Prozess durch Errichtung einer Vordüne aufzuhalten. Als der vorrückende Sand auch die Fischerei im Haff und die wichtige Poststraße bedrohte, beauftragte Preußen 1870 den Düneninspektor Epha mit neuen umfassenden Sicherungsarbeiten. Jahrzehnte hindurch pflanzte man Kiefern und andere geeignete Bäume innerhalb eng geflochtener Zäune. Diese Aufforstung war so erfolgreich, dass die Nehrung heute wieder weitgehend bewaldet ist. Es verblieben lediglich auf beiden Seiten der russisch-litauischen Grenze einige große Dünen, die zu den beliebtesten Touristenzielen zählen. Über sie lässt sich trefflich streiten: Soll man sie zuwachsen lassen, weil dies ein natürlicher Prozess ist? Oder soll man sie durch Rodung künstlich offenhalten, weil sonst die spektakulären Anblicke verschwinden, die schon die Sommerfrischler des 19. Jahrhunderts priesen? Gewiss wird man sie offenhalten, nur sollte man auf den bis zu 60 Meter hohen Dünen daran denken, dass man (ebenso wie bei Almen Dichter und ihre grünen Daumen 71 und Heidegebieten) eine von Menschen geschaffene Sekundärnatur vor Augen hat, deren Reiz im Aufeinanderprallen von Freiflächen und dichter Vegetation liegt. Insgesamt gibt es also vielfältige und widersprüchliche Umgangsweisen mit Pflanzen, die auf anthropozentrischen Einteilungen und Vorlieben beruhen. Unsere materielle Kultur würde nicht existieren ohne Nutzpflanzen, zu deren Optimierung jeweils modernste Mittel bis hin zur Gentechnik eingesetzt werden. Ferner erfüllen Pflanzen vom Brautstrauß bis zum Grabkranz wichtige symbolische Funktionen. Auf Sportplätzen und in Vorgärten ist makelloser Rasen erwünscht, der intensiver Pflege bedarf. Umstritten sind die früher nützlichen Alleen, da rasante Autofahrer oft an ihnen enden, während das domestizierte “ Straßenbegleitgrün ” positiv bewertet wird. Was von alleine wächst, wird entweder als “ Spontanvegetation ” geduldet oder als “ Unkraut ” bekämpft, wobei die Mittel von großflächiger Brandrodung bis zum Einsatz wirksamer Herbizide reichen. Die extremste absichtliche Vernichtung der Vegetation erfolgt durch Entlaubungsmittel, die erstmals während des Vietnamkriegs allgemein bekannt wurden. Über Wäldern versprüht nehmen sie dem Feind die Deckung, auf Feldern eingesetzt sollen sie ihn langfristig aushungern. Abschließend sei ein Blick auf zwei Strategien geworfen, wo und wie Autoren die von ihnen beschriebene “ Wildnis ” verorten. Um das geistige Unterwegssein im noch Unerschlossenen griffig zu beschreiben, gab Heidegger im Motto zu seinem Sammelband Holzwege (1950) dem Ausdruck “ Holzweg ” eine philosophische Deutung: “ [Holzwege] sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören ” . Der grübelnde Philosoph gleicht also einem Wanderer, der einem Holzweg folgt und dabei ins “ Unbegangene ” gerät. Beide müssen also entweder umkehren oder sich weglos vielleicht als Erster durch widerständiges Dickicht kämpfen. Dieses Bild ist soweit recht anschaulich, aber: “ Holzwege ” im forstwirtschaftlichen Sinn führen immer nur zu einem temporären Holzeinschlagsgebiet. Wer ihnen als Wanderer ahnungslos folgt, ist von Anfang an “ auf dem Holzweg ” , also in eine Sackgasse geraten. In seinem Horror-Roman Der Friedhof der Kuscheltiere beschwört Stephen King (1988; vgl. Abschnitt 4.4) immer wieder die geheimnisvollen und gefährlichen “ Indianerwälder ” Maines. Der Leser nimmt also an, sie lägen weit weg von der beschaulichen Kleinstadt Ludlow. Dann jedoch liest er, der Protagonist Louis Creed sei schon nach drei Stunden wieder zu Hause, nachdem er seinen toten Kater bei Nacht durch Nebel, Sumpf, Treibsand und einen Windwurf zu einem magischen Friedhof getragen und dort ohne geeignete Werkzeuge begraben hat. Rechnet man auch nur eine Stunde für diese Mühsal, so liegt das archaische Grauen nur wenige Kilometer hinter Ludlow - wobei diese läppische Entfernung sowohl den Schrecken steigert als auch zum Schmunzeln reizt. 3 Die Pflanzenwelt als Ursprungsdomäne sprachlicher Ausdrücke Dieser Abschnitt soll einen Eindruck davon vermitteln, für wie viele Sachverhalte die Pflanzenwelt als fruchtbare Ursprungsdomäne dient. Zahlreiche sprachliche Ausdrücke beziehen sich auf das Aussehen von Pflanzen (3.1) oder ihre Lebensphasen (3.2). Sobald eine starre Pflanzensymbolik geschaffen wird, tauchen auch bald deren Parodien auf (3.3). Abschließend geht es um die sachliche Basis des beliebten Vergleichs von Mädchen mit Blüten (3.4). 72 Dagmar Schmauks (Berlin) 3.1 Aussehen und Verhalten von Pflanzen “ Der Gerechte blühet der Palme gleich, wie die Zeder im Libanon wächst er empor. ” Psalm 92,13 Blüten, Früchte und andere Pflanzenteile haben oft charakteristische Farben und Formen, welche die Prägung beschreibender Ausdrücke motivieren. Besonders zahlreich sind zusammengesetzte Farbadjektive. l Farbe: lilienweiß, mohnrot, maisgelb, olivgrün, enzianblau, kastanienbraun, ebenholzschwarz l Form: Bananenstecker, Bananenflanke (Fußball), Menschentraube, Atompilz, Stopfpilz l Wuchs: gerade wie eine Tanne, biegsam wie eine Weide Weitere Wendungen bewerten das Aussehen von Menschen oder Landschaften. l attraktiv: Pfirsichhaut, Rosenwangen, Apfelbäckchen, Erdbeermund l unattraktiv: Orangenhaut, welke Haut, Spargeltarzan (= magerer Mann) l Sumpfgewächs (= moralisch anfechtbar) l durch Windräder verspargelte Landschaften Linguistisch wenig ergiebig sind Wendungen, die punktuell die Eigenschaften einer bestimmten Pflanze übertragen. Sie liefern zwar spontan verständliche und einprägsame Bilder, werden aber nicht zu systematischen Modellen ausgebaut. l an jdm. hängen wie eine Klette l sich in die Nesseln setzen l stachlig wie ein Kaktus l empfindlich wie eine Mimose l zittern wie Espenlaub l in den sauren Apfel beißen müssen l Äpfel mit Birnen vergleichen l eine harte Nuss zu knacken haben l Tomaten auf den Augen haben l jdn. ausquetschen wie eine Zitrone Vergleichsweise viele Schimpfwörter für Kleinigkeitskrämer beziehen sich auf kleine Früchte. l Erbsen-, Graupen-, Linsenzähler l Korinthenkacker, Kümmelspalter Auch für menschliche Dummheit liefert die Pflanzenwelt griffige Beschreibungen, wobei es jedoch rätselhaft bleibt, warum ausgerechnet Bohnenstroh so beispielhaft dumm sein soll. l Pflaume, taube Nuss, eine weiche Birne haben l dumm wie Bohnenstroh, nicht alle Rillen auf der Erbse haben l Seerosengießer Dichter und ihre grünen Daumen 73 Wichtige und gut erkennbare Pflanzenteile hingegen motivieren ganze Metapherngruppen und einschlägige Sprichwörter. l auf dem absteigenden Ast sein l den Ast absägen, auf dem man sitzt l auf keinen grünen Zweig kommen l Zweigstelle; Berufs-, Industrie-, Studienzweig l einen dornenreichen Weg gehen, jdm. ein Dorn im Auge sein l sofort zum Kern einer Sache kommen, Kerngedanke l kernfaule Organisation l In einer harten Schale steckt oft ein weicher Kern. l etw. ist die Wurzel allen Übels, das Übel an der Wurzel packen l zurück zu den Wurzeln (= zum Ursprung) gehen Menschen werden am häufigsten mit Bäumen verglichen, weil diese auch langlebige Individuen sind und aufrecht dastehen (Haerkötter und Haerkötter 1989: 17 ff); ihr deutlichstes Gegenbeispiel ist das massenhaft vorhandene Gras (vgl. Abschnitt 5.4). Mensch und Baum haben eine klare vertikale Gliederung und brauchen starke “ Wurzeln ” für einen festen Stand. l fest verwurzelt in der Tradition, dastehen wie angewurzelt l im Alter nicht verpflanzt werden wollen, entwurzelt l Wer hoch wachsen will, muss tief wurzeln. Auch die klar erkennbaren Lebensphasen von Bäumen lassen sich mit denen des Menschen vergleichen. Der junge Mensch ähnelt “ hochstrebenden ” und “ lichthungrigen ” Bäumchen, der alternde sieht sich von morschen Bäumen verwandtschaftlich berührt. In Thomas Manns Erzählung Die Betrogene (vgl. Abschnitt 5.3) bewundert die ältere Witwe Rosalie von Tümmler die Tapferkeit einer alten knorrigen Eiche (Mann 1971: 704). Hat manchen Sturm erlebt und wird noch manchen überleben. [. . .] zu voller Belaubung reicht es nicht mehr. Aber es kommt seine Zeit, da steigen die Säfte ihm doch [. . .]. Einige Mythen führen die Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Bäumen sogar auf Verwandlungen zurück (Schmauks 1997: 142 f). So verwandeln die Götter in Ovids Metamorphosen die Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum, um sie vor den Nachstellungen Apolls zu bewahren. Ein Nachklang solcher Vorstellungen ist das Ritual, bei Geburten einen Baum zu pflanzen, dessen Gedeihen oder Verkümmern künftig das Wohlbefinden des Kindes spiegeln soll. Selbst die Philosophie bezieht sich auf die Pflanzenwelt, wenn sie deren Strukturen auf Begriffssysteme überträgt. Traditionelle Systeme nehmen die oberirdischen Teile von Bäumen als Vorbild, so dass sich hierarchisch gegliederte Systeme ergeben. Auf Ideen von Plato und Aristoteles geht der “ Baum des Porphyrius ” zurück, bei dem aus einem Stamm durch binäre Unterteilungen die Äste und Zweige hervorgehen. Zum Beispiel gliedern sich die Lebewesen in nicht-empfindende (= Pflanzen) und empfindende, und diese wiederum in nicht-vernünftige (= Tiere) und vernünftige (= Menschen). Ähnliche “ Baumdiagramme ” finden sich in vielen Bereichen von der Genealogie ( “ Stammbaum ” ) bis zur logischen 74 Dagmar Schmauks (Berlin) Rekonstruktion von Abläufen ( “ Entscheidungsbaum ” ). Ein moderner Gegenentwurf von Deleuze und Guattari lehnt solche binären Hierarchien als zu einfach ab, weil sie keine Überschneidungen und Neustrukturierungen erlauben. Er postuliert ein dichtes Geflecht von Begriffen, das folgerichtig “ Rhizom ” genannt wird wie das Wurzelgeflecht einer Pflanze. Umfangreichere Übertragungen beziehen auch das Verhalten von Pflanzen mit ein; so ist eine “ Großstadtpflanze ” vermutlich lärmresistent und trubelbedürftig. Während Kate Middletons Verlobungszeit mit dem britischen Prinzen William wurden Kate und ihre Schwester Pippa in Boulevardzeitungen oft als “ wisteria sisters ” bezeichnet. “ Whisteria ” ist der botanische Namen des Blauregens - “ wunderschön, überaus wohlriechend und wild darauf, sich hochzuranken ” ( “ highly decorative, terribly fragrant and with a ferocious ability to climb ” , Daily Mail online vom 2. 11. 2008). Gottfried Benn erläutert seine Auffassung absoluter Prosa anhand einer Pflanzenmetapher. In seinem autobiographischen Text Doppelleben nennt er den Montagestil einen “ Orangenstil ” , weil seine Bestandteile nur durch eine gemeinsame Achse verbunden sind (Benn 1968: 1998 f). Eine Orange besteht aus zahlreichen Sektoren, alle gleich, alle nebeneinander, gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht einige Kerne mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die Weite, in den Raum, sie tendieren in die Mitte, nach der weißen zähen Wurzel, die wir beim Auseinandernehmen der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phänotyp, der Existentielle, nichts wie er, nur er, einen weiteren Zusammenhang der Teile gibt es nicht. Während “ Phänotyp ” in der Genetik die Gesamtheit der Merkmale eines Organismus bezeichnet, meint Benn damit viel spezieller “ das Individuum einer jeweiligen Epoche, das die charakteristischen Züge dieser Epoche evident zum Ausdruck bringt ” (ebenda 2009 f). Die Vermehrung von Pflanzen motivierte den auf alle Lebewesen angewendeten Ausdruck “ Fortpflanzung ” , wobei die Strategien vom vitalen Wuchern bis zur gezielten Veredelung durch den Menschen reichen. l Fortpflanzung, Sprössling, Stammhalter l ein Ableger des Unternehmens, ein junges Reis am Stammbaum l ins Kraut schießen (= schnell wachsen) l sich vermehren wie Unkraut l aufschießen wie Pilze nach dem Regen l wachsender Groll überwuchert schöne Erinnerungen l jdm. etw. aufpfropfen (= etw. Fremdes aufzwingen) Die vermeintliche Bewegungslosigkeit von Pflanzen regte die Prägung negativer Ausdrücke an. l am Existenzminimum dahinvegetieren l couch-potato (= fett und faul) Und schließlich werden auch die Strategien der Pflanzenvernichtung kreativ übertragen. l Gerüchte im Keim ersticken l den Wildwuchs zurechtstutzen l etw. mit Stumpf und Stiel ausrotten l Kahlschlag in der Jugendarbeit Dichter und ihre grünen Daumen 75 In umgekehrter Richtung liest man menschliche Handlungen in die Pflanzenwelt hinein. Der Ausdruck “ Pionierpflanzen ” umfasst alle Arten, die als erste unwirtliche Zonen besiedeln und durch ihren Humus nachfolgenden Arten das “ Fußfassen ” ermöglichen. Ähnlich militärisch ist die Rede von “ unbeugsamen ” oder “ tapferen ” Pflanzen als “ Vorposten der Blütenpflanzen ” (Schmauks 1997: 140). Praktisch wichtig ist das Wissen, wie man eine Pflanze leicht und sicher bestimmen kann. Populärwissenschaftliche Bestimmungsbücher enthalten Bilder, die neben der ganzen Pflanze auch besonders charakteristische Teile wie Blüten, Blätter, Früchte oder Rinde zeigen. Diese Funktion bestimmter Pflanzenteile formuliert das Lukasevangelium als Gleichnis, um die Beziehung des Menschen zu seinen Taten zu verdeutlichen. Denn jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt; denn von Dornen sammelt man nicht Feigen, noch liest man von einem Dornbusch Trauben (Lukas 6, 44). Dieselbe Rolle kennzeichnender Teile greift Bertolt Brecht in sozialkritischer Absicht auf. Sein Bäumchen hat “ zu wenig Sonn ” , so dass es gar keine Früchte trägt und sich die Baumart lediglich an seinen Blättern erkennen lässt. Es liegt nahe, den Baum als Symbol eines Menschen zu sehen, dem dürftige Lebensumstände eine “ naturgemäße ” Entfaltung versagen (Brecht 1967: 49). Bertolt Brecht: Der Pflaumenbaum Im Hofe steht ein Pflaumenbaum, Der ist so klein, man glaubt es kaum. [. . .] Dem Pflaumenbaum, man glaubt ihm kaum, Weil er nie eine Pflaume hat. Doch er ist ein Pflaumenbaum: Man kennt es an dem Blatt. 3.2 Die Phasen des Pflanzenlebens “ Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters. ” Kahlil Gibran Deutlich unterscheidbare Lebensphasen von Pflanzen sind brauchbare Anzeiger der Jahreszeiten (vgl. Abschnitt 5). Alltäglichen Wendungen übertragen vor allem den Dreischritt “ Blühen → Reifen → Welken ” auf das Menschenleben, wobei der Frühling die Zeit des Blühens und der Jugend ist. l eine blühende Phantasie haben, Blütenträume (= Illusionen) l Jugend-, Mädchenblüte; Blütezeit (einer Kultur, Kunstform usw.) l etw. treibt üppige Blüten, ein Geschäft floriert, im Flor stehen (veraltet) l in der Blüte seiner Jahre stehen, Spätblüher l einen zweiten Frühling erleben 76 Dagmar Schmauks (Berlin) Im Sommer reifen die Früchte und die Lebenspläne des Menschen. Das meist reichlich vorhandene Gras, das auch Heu liefert, hebt sich deutlich von selteneren Nutzpflanzen ab (vgl. Abschnitt 5.4). l frühreife Kinder vs. Spätentwickler l unreif, noch grün hinter den Ohren, junges Gemüse l Reifezeugnis, ein Plan reift, sich etw. reiflich überlegen l Geld wie Heu haben (= im Überfluss) l Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht (afrikanisches Sprichwort). Der Herbst ist die Zeit der Ernte, aber auch die von Prozessen wie Verwelken und Laubfall, die oft als Zeichen von Vergänglichkeit eingesetzt werden (vgl. Abschnitt 5.2). l im Herbst seines Lebens stehen Im Winter schließlich ruht die Vegetation, bis sie durch wachsende Tageslänge und steigende Temperaturen wieder “ erwacht ” . Der Ausdruck “ Brache ” hingegen bezeichnet oft eine Ruhezeit von Äckern außerhalb des Winters. In dieser (kürzeren oder längeren) Zeit wird der Boden nicht bestellt, damit er sich erholen kann, oder um bestimmten Tierarten ein Überleben zu ermöglichen. Seit Beginn des Ackerbaus beobachtete der Mensch aufmerksam das Leben seiner Nutzpflanzen und überlieferte seine Erkenntnisse etwa in Bauernregeln. Vor allem die Aussaat wurde eine produktive Ursprungsdomäne, wobei es jedoch manchmal nur um die Art der räumlichen Verteilung geht. l Aufträge streuen (= auf mehrere Firmen verteilen) l Fachkräfte sind dünn gesät Andere Wendungen übertragen den kausalen Zusammenhang zwischen Aussaat und Ernte ausdrücklich auf ein “ Säen ” und “ Ernten ” in abstrakteren Bereichen (vgl. Abschnitt 4). l Gerüchte ausstreuen, Misstrauen (Zweifel) säen l die Saat der Auflehnung verbreiten l Keime des Radikalismus l die Drachensaat geht auf l jdm. die Liebe zur Heimat ins Herz pflanzen l ein Forschungsfeld beackern, Neuland unter den Pflug nehmen Nur kundige Bauern dürfen im Herbst eine gute Ernte einfahren, während andere erfolglos bleiben. l die Früchte seines Fleißes ernten l an verbotenen Früchten naschen l die Spreu vom Weizen trennen l leeres Stroh dreschen, abgedroschene Phrasen Ein bekanntes Sprichwort hingegen stellt fest, man könne trotz erheblicher Dummheit großen Erfolg haben - die Glücksgöttin verteilt ihre Gaben offenbar nach abweichenden Kriterien . . . l Die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln. Dichter und ihre grünen Daumen 77 Zwei komplexere Wendungen sollen belegen, wie produktiv die Phasen der Feldbestellung sind. Das Sprichwort l Wer Wind sät, wird Sturm ernten. verknüpft den kausalen Zusammenhang zwischen Säen und Ernten mit einer Steigerung des Windes zum Sturm. Anders als in der Landwirtschaft sind hier nämlich zwei Personen oder Parteien beteiligt. Der mögliche Angreifer wird also gewarnt, der überfallene Gegner könnte sich mit noch stärkeren Mitteln rächen. In der Psychologie spricht man von der Fähigkeit zum “ Bedürfnisaufschub ” , wenn eine Person gelernt hat, dass ihre Wünsche oft erst später erfüllt werden. Hingegen beschreibt die Wendung l Saatfrucht vermahlen das kurzsichtige Verhalten, vorhandene Reserven sofort zu verbrauchen, anstatt sie für ihren eigentlichen Zweck aufzusparen (vgl. Grober 2013). Für frühe Ackerbauern war es vermutlich eine gewaltige kognitive Leistung, gerade die besten Samen für die nächste Aussaat aufzusparen und nicht als erste aufzuessen (Dawkins 2008: 58 und 557). Andererseits kann natürlich nur der im nächsten Frühling säen, der im Winter nicht verhungert ist . . . Thomas Mann beschreibt mit dieser Wendung in seiner Novelle Der Tod in Venedig die “ Jugendsünden ” des Schriftstellers Aschenbach (Mann 1971: 361). Aschenbach war problematisch, war unbedingt gewesen wie nur irgendein Jüngling. Er hatte dem Geist gefrönt, mit der Erkenntnis Raubbau getrieben, Saatfrucht vermahlen, [. . .] die Kunst verraten [. . .]. “ Saatgut ” ist eine überzeugende Parallelbildung etwa zu “ Bildungsgut ” , “ Kulturgut ” und “ Rechtsgut ” , denn ohne Vegetation wären “ höhere ” Güter gar nicht möglich. Diese Einsicht motivierte unter anderem die Schaffung des Samendepots “ Global Seed Vault ” , das auf Spitzbergen die Samen wichtiger Nutz- und Wildpflanzen archiviert und langfristig aufgewahrt (wobei manche Getreidesorten über 1.000 Jahre keimfähig bleiben). 3.3 “ Blüh wie das Veilchen im Moose ” . Konventionelle Pflanzensymbole und ihre Parodien Pflanzen dienen bei vielen Ritualen als kulturspezifische Symbole, etwa rote Rosen als Liebesgabe (vgl. Abschnitt 3.4) oder “ Trauerpflanzen ” bei Beerdigungen (vgl. Abschnitt 5.4). Im 18. Jahrhundert baute man diese Symbolik zu einer echten “ Blumensprache ” aus, die vielen Pflanzen feste und oft komplexe Bedeutungen zuordnete. Nun mahnte eine Distel “ Des Lebens Poesie geht an Dir spurlos vorüber ” , und die Zahl von Glockenblumen gab die Uhrzeit eines Treffens an (Krampen 1994: 233). Zwar wirkt diese Blumensprache auf heutige Leser weit hergeholt, aber auch wir kennen Symbolpflanzen wie die rote Nelke der Arbeiterbewegung, den vierblättrigen “ Glücksklee ” und das Alpen-Edelweiß als Logo des Deutschen Alpenvereins. Pflanzensymbole sind jedoch immer kultur- und epochenspezifisch. So kann man den roten Mohn mit dem Opiumhandel in Verbindung bringen, an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs denken (ein bekanntes englisches Gedicht beginnt mit der Zeile “ In Flanders fields the poppies blow ” ) oder ihn als erfreuliches Zeichen einer nicht überdüngten Feldflur sehen. Hinzu kommen personenspezifische Zusammenhänge. So taucht der blaue Enzian in Thomas Manns Roman Der 78 Dagmar Schmauks (Berlin) Zauberberg immer dann auf, wenn Hans Castorp im einem abgelegenen Wiesengrund an Clawdia Chaudat denkt, während der deutsche Schlager ihn mit “ Blau, blau, blau blüht der Enzian ” beträllert (Heino 1972). Mitunter gewinnen auch mythische oder reale Einzelbäume symbolische Bedeutung. Die Weltenesche Yggdrasil der nordischen Mythologie stiftet den Zusammenhalt aller Welten. In der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte wird der Baum der Erkenntnis zur Ursache von Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies. Siddharta Gautama gewann seine Erleuchtung unter einer Pappelfeige, die Legenden zufolge als “ Bodhi-Baum ” immer noch durch Ableger existiert. Der heute auf Schloss Ribbeck von Touristen bewunderte Birnbaum hingegen ist das Ergebnis sorgfältiger Nachzüchtung, die durch Theodor Fontanes Gedicht “ Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland ” inspiriert wurde (von Ribbeck: Website). Keineswegs nur auf Pflanzen bezogen ist die schillernde Bedeutung der Farbe Rot zwischen Leidenschaft und Gewalt (Schmauks 2008). Leuchtendes Rot ist in der Natur selten und zieht daher als Signalfarbe immer die Aufmerksamkeit auf sich, etwa wenn Verletzungen stark bluten. Weitere Beispiele reichen von reifen Erdbeeren inmitten grüner Blätter über die aufgerissenen Rachen von bettelnden Nestlingen bis zu den leuchtend roten Gesäßschwielen von Pavianweibchen während ihrer Brunst. Man kann es daher als physiologisch durchaus motiviert ansehen, dass Menschen einander als Zeichen leidenschaftlicher Liebe rote Rosen schenken. Ein interessanter Sonderfall verschränkt Pflanzen- und Namenssymbolik. Als sich Effi Briest in Fontanes gleichnamigem Roman mit dem Landrat Geert von Innstetten verlobt, wagt ihr Vater eine botanische Allegorie: “ Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm, und Effi sei dann also der Efeu, der sich darum zu ranken habe ” (Fontane 1985: II, 447). Wie häufig weist ihn seine Frau zurecht: “ Briest, sprich was du willst, und formuliere deine Toaste nach Gefallen, nur poetische Bilder, wenn ich bitten darf, laß beiseite, das liegt jenseits deiner Sphäre ” . Wie leicht die unkritische Suche nach Symbolen in der Natur aufs Glatteis zu führen vermag, veranschaulicht Robert Gernhardt in vollendeter Form (Gernhardt 2009: 13). Robert Gernhardt: Lehrmeisterin Natur Vom Efeu können wir viel lernen: er ist sehr grün und läuft spitz aus. Er rankt rasch, und er ist vom Haus, an dem er wächst, schwer zu entfernen. Was uns der Efeu lehrt? Ich will es so umschreiben: Das Grünsein lehrt er uns. Das rasche Ranken. Den spitzen Auslauf und, um den Gedanken noch abzurunden: auch das Haftenbleiben. Eilers folgert: “ Der Mensch kann vom Efeu gar nichts lernen. Das vermeintliche Sinngedicht über den Symbolgehalt der Natur endet mit der Aufdeckung der Absurdität des Vergleichs ” (Eilers 2011: 445). Sobald ein symbolischer Bezug immer konventioneller, also gar nicht mehr individuell gesehen wird, tauchen auch bald Parodien auf. Dies lässt sich einprägsam am Beispiel der Linde zeigen, die durch viele Jahrhunderte besungen wurde. Walter von der Vogelweide führt den Reigen mit einem seiner “ Mädchenlieder ” (um 1200) an, in dem ein verliebtes Mädchen Dichter und ihre grünen Daumen 79 von einer Liebesbegegnung am Waldesrand erzählt: “ Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was . . . ” Früher versammelten sich die Menschen abends unter der Dorflinde zum Plausch, Liebespaare schnitten ihre Namen in die Rinde, und Friedrich Hebbel leitet in seinem Gedicht Linde den Namen des Baumes vom “ linden Duft ” seiner Blüten ab. Heute noch bekannt ist ein Gedicht aus dem Zyklus Die Winterreise von Wilhelm Müller (1823). Es wurde von Franz Schubert vertont und von Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg mehrfach an entscheidenden Stellen zitiert. Am Brunnen vor dem Thore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt ’ in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Ebenso beliebt ist ein Volkslied von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1840). Kein schöner Land in dieser Zeit, als hier das unsre weit und breit, wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit. Gottfried Benn greift das Motiv der Linde in einem Brief an F. W. Oelze vom 10. 9. 1936 auf. Anlässlich des Nürnberger Parteitages beklagt er, wie sehr die Nationalsozialisten die Kunst für politische Zwecke nutzen: “ Der deutsche Baum ist die Linde: süss, innig u. man kann Thee draus kochen ” (Benn 1979: 145). Fast dieselbe Formulierung findet sich im Prosatext Weinhaus Wolf, einer verbitterten Abrechnung mit dem Nationalsozialismus: “ An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen! [. . .] ja die Linde ist ihr Baum: süß, innig und man kann Tee daraus kochen. ” (Benn 1968: 1314). Diese Verhöhnung entspricht formal der beliebten “ Dreierregel ” (Vorhaus 2001: 162 ff): Nach zwei verwandten Ausdrücken, die ein bestimmtes Wortfeld eröffnen, bezeichnet der dritte Ausdruck etwas ganz Anderes, oft völlig Entgegengesetztes, und verletzt so die Erwartungen des Lesers. Ziel des Autors ist oft eine geistreich verpackte Aufklärung wie hier, wo Benn der kitschigen Süße der Lindenblüte ihre banale Nutzung entgegenstellt. 3.4 Im Schatten junger Mädchenblüte. Der evolutionäre Nutzen von Schönheit “ Die Ros ’ ist ohn ’ Warum, sie blühet weil sie blühet. Sie acht ’ t nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet. ” Angelus Silesius Die zitierten Verse aus dem Cherubinischen Wandersmann können als Lob der Schöpfung gelesen werden, deren Schönheit in der Rosenblüte aufscheint, aber auch Mahnung an den Menschen, der oft auf Wirkung aus ist. Die Behauptung jedoch, für die Rose sei Gesehenwerden unwichtig, greift deutlich zu kurz. Denn obwohl Blütenpflanzen nicht bewusst ihre wahrnehmbare Erscheinung gestalten, spielt diese doch eine entscheidende Rolle bei ihrer 80 Dagmar Schmauks (Berlin) Fortpflanzung. Alle Pflanzen, die nicht vom Wind bestäubt werden, locken durch auffällige Farben, Formen und Gerüche geeignete Bestäuber an - vor allem Insekten, aber auch Vögel und Fledermäuse. Da sich also diese Eigenschaften zunächst nur in Ko-Evolution mit Bestäubungstieren entwickelt haben, versteht es sich keineswegs von selbst, dass auch wir viele Pflanzen als “ schön ” empfinden. Seit der Antike griff der Mensch dann züchterisch ein, und heute wechseln die Trendfarben von Zierpflanzen ähnlich wie die von Kleidung. Der häufige Vergleich von Mädchen mit Blumen ist sachlich gut begründet, denn bei beiden hat die Schönheit denselben evolutionären Zweck: Sie soll Bestäubungstiere bzw. Männer anlocken und somit die nächste Generation sicherstellen (Schmauks 2008: 124 f). In einem traditionellen patriarchalischen Weltbild ist es dann auch schlüssig, eine voreheliche Entjungferung als Blumenpflücken zu beschreiben wie in Goethes Gedicht vom Heideröslein. Abgebrochene Blüten entwickeln keine Früchte und vorehelich geschwängerte Mädchen gebären keine legitimen Erben. Goethe kennt diesen Zusammenhang sehr klar, denn während sich sein Heideröslein vergeblich gegen seinen Angreifer wehrt und einen “ sozialen Tod ” erleidet, appelliert im Gedicht Gefunden das namenlose “ Blümlein ” erfolgreich an die Großmut des Ich-Erzählers und wird von ihm in seinen Garten “ verpflanzt ” . Auch Eigennamen spiegeln Ähnlichkeiten zwischen Mädchen und Blumen. Die jungfräuliche römische Göttin Flora hat dem gesamten Pflanzenreich ihren Namen gegeben, und in vielen Sprachen tragen Mädchen die Namen besonders schöner oder wohlriechender Pflanzen wie “ Erika ” , “ Jasmin ” , “ Violetta ” (= Veilchen) oder “ Marigold ” (= Ringelblume). Allerdings ist als Kehrseite dieser Gemeinsamkeit jede jugendliche Schönheit schnell vergänglich. Blüten verwelken (und werden daher gern auf Bildern “ verewigt ” ), und für das derzeit herrschende menschliche Schönheitsideal gilt das natürliche Altern als höchst unerwünschter Prozess, der durch vielerlei aufwändige “ Anti-Aging ” -Maßnahmen zumindest verlangsamt werden soll. Eine recht uncharmante Parodie der Blumenmetapher verwendet Heinrich Heine in seinem Gedicht Alte Rose. Eine Rückschau berichtet, wie ein schönes Mädchen zu “ voller Blüte ” aufschoss und das Werben des Dichters hochmütig ablehnte. Nun ist die damals Angebetete “ verwelkt ” und umwirbt umgekehrt ihren einstigen Verehrer. Der aber sieht nun ganz neue Ähnlichkeiten zwischen Frau und Rose (Heine 1991, Bd. 3/ 1: 104). Sticht mich jetzt etwa ein Dorn, Ist es an dem Kinn der Schönen. 4 Saatmetaphern “ Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht [. . .], und euer himmlischer Vater nährt sie doch. ” Matthäus 6,26 Der klassische Ackerbau hat etwas Geheimnisvolles: Man versenkt winzige Samen in der Erde, aus denen in absehbarer Zeit nützliche Pflanzen wachsen. Ein interessanter Vorläufer sind die Pilzgärten der Blattschneiderameisen, die arbeitsteilig errichtet und betreut werden. Die Ameisen zerkauen Blätter zu einem nahrhaften Substrat, in dem das Pilzgeflecht wächst und von den Ameisen ständig gesäubert wird. Dichter und ihre grünen Daumen 81 Nach einem Blick auf die Rolle des Bodens (4.1) geht es zunächst um Metaphern, welche die Textproduktion mit dem Tun des Sämanns vergleichen (4.2). Eine früher häufige Vorstellung sah in der Erdbestattung eine Form des Säens (4.3), und eine kosmologische These behauptet gar, das Leben auf allen Himmelskörpern entstehe durch die gezielte Aussaat von Keimen (4.4). 4.1 Die Rolle des Bodens Die biologische Lesart des Ausdrucks “ Boden ” bezeichnet die oberste und oft nur sehr dünne Schicht der Erdkruste. Sobald sie hinreichend verwittert und nährstoffreich ist, bildet sie die Lebensgrundlage zahlreicher Arten. Tiefgründige Böden mit hohem Humusanteil sind besonders fruchtbar und gehen oft in metaphorische Wendungen ein. l ein Nährboden für radikale Thesen l fruchtbare Diskussionen, ertragreiche Zusammenarbeit l ersprießliche Verhandlungen Das Gegenteil fruchtbarer Böden sind Wüsten, Sümpfe und Dschungel sowie Gebiete, die der Mensch durch Rodung oder Überweidung unfruchtbar gemacht hat. l eine Diskussion versandet, jdn. mit dürren Worten abspeisen l Servicewüste, eine Oase in der Kulturwüste l Korruptionssumpf, Spendensumpf l Paragraphendschungel, ein Dickicht von Floskeln l ein Thema ist abgegrast, Kahlschlagpolitik 4.2 Fruchtbares Schaffen. Der Dichter als Sämann Dem Markusevangelium zufolge erinnert Jesus daran, dass viele Saatkörner auf steiniger Erde verdorren oder von Vögeln gefressen werden, während andere vielfältige Frucht tragen (Markus 4, 1 - 8). Auf Nachfragen hin macht er sein Gleichnis deutlicher: “ Der Sämann sät das Wort ” (ebenda 4, 14). Nur wenn das Herz des Hörenden “ tiefgründig ” ist und der Satan die Keime nicht zerstört, trägt die Lehre Frucht, führt also zu christlichem Handeln (ebenda 4, 15 - 20). Schiller überträgt diesen Zusammenhang in einem seiner Gedankengedichte (1795) auf das dichterische Schaffen (Schiller 1993, Bd. 1: 233). Friedrich von Schiller: Der Sämann Siehe, voll Hoffnung vertraust du der Erde den goldenen Samen Und erwartest im Lenz fröhlich die keimende Saat. Nur in die Furche der Zeit bedenkst du dich Taten zu streuen, Die von der Weisheit gesät still für die Ewigkeit blühn? Auch Gottfried Benn benutzt die Saat-Metapher häufig. So würdigt er im autobiographischen Text Doppelleben seinen langjährigen Briefwechsel mit dem Bremer Kaufmann F. W. Oelze: “ vieles von dem, was in meinen neuen Büchern steht, fand sich als Keim und Setzling in unseren schriftlichen Gesprächen ” (Benn 1968: 2036). Botanisch unverständlich ist die Redeweise, ein Dichter würde “ Keime legen ” oder “ Keime streuen ” , da ein Sämann ja Saatkörner und keine Keime in die Erde einbringt. Bereits 82 Dagmar Schmauks (Berlin) gekeimte Saat wächst nicht an, schon gar nicht, wenn man sie ungezielt “ ausstreut ” . Möglich ist lediglich das sog. “ Pikieren ” oder “ Vereinzeln ” , bei dem man von zu dicht stehenden Keimlingen einen Teil verpflanzt. Die Wendung des Keime-Legens findet sich etwa in Heinrich Manns Laudatio zum 60. Geburtstag von Gerhart Hauptmann: “ Wer wirkt, frage niemals auf wen. Genug, daß er Keime legt ” (Mann 1922: 7). Diese Aussage zitiert Benn wiederum in erweiterter Form in seinem Text Heinrich Mann zum sechzigsten Geburtstag (Benn 1968: 701). Wer wirkt, frage niemals auf wen. Genug, daß er Keime legt. Sie verbreiten sich, indes er vielleicht zweifelt. Sie treiben - sieh, sie treiben schon in würdigeren Herzen. Im Vortrag “ Soll die Dichtung das Leben bessern? ” formuliert Benn noch einprägsamer, aber ebenso unrichtig (ebenda 1157). Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert. [. . .] Sie bringt ins Strömen, wo es verhärtet und stumpf und müde war, in ein Strömen, das verwirrt und nicht zu verstehen ist, das aber an Wüste gewordenen Ufer Keime streut, Keime des Glücks und Keime der Trauer, das Wesen der Dichtung ist Vollendung und Faszination. Sachlich wäre im Hinblick auf dieses “ Strömen ” zu ergänzen, dass die schwimmfähigen Samen tropischer Bäume gerade durch Flüsse weit stromab verbreitet werden. Botanisch unklar bleibt auch das Gedicht Aprèslude, in dem Benn den alternden Dichter mit einem Baum vergleicht (ebenda 326). Niemand weiß, wo sich die Keime nähren, niemand, ob die Krone einmal blüht - Halten, Harren, sich gewähren Dunkeln, Altern, Aprèslude. Der Plural “ die Keime ” kann sich nur auf zahlreiche Keime beziehen, die sich nicht alle zu Bäumen entwickeln, während “ die Krone ” nur einen Baum nennt. Der Leser darf also rätseln: Meint Benn mit “ die Keime ” vielleicht “ die Wurzeln ” , die Nährstoffe aus dem Boden saugen? 4.3 Die Erdbestattung als Säen von Leichen für eine Ernte im Himmel Einer transzendenten Ausweitung des Saat-Gedankens zufolge werden bei der Erdbestattung Leichen “ gesät ” , damit Gott sie im Himmel “ ernten ” kann (was auch als Einwand gegen die Feuerbestattung diente). “ Gottesacker ” bezeichnete ursprünglich einen Begräbnisplatz in den Feldern, “ Friedhof ” hingegen den umfriedeten Platz rund um eine Kirche. Im ersten Korintherbrief beschreibt Paulus dieses Säen und betont, wie sehr sich irdische und himmlische Leiber unterscheiden (1 Kor 15, 42 - 44). Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt wird in Unvergänglichkeit; gesät wird in Ehrlosigkeit, auferweckt wird in Herrlichkeit; gesät wird in Schwachheit, auferweckt wird in Kraft; gesät wird ein seelischer Leib, auferweckt ein geistlicher Leib. Friedrich von Schiller greift diesen Gedanken im Lied von der Glocke auf (Schiller 1993, Bd. 2: 233). Dichter und ihre grünen Daumen 83 Dem dunkeln Schoß der heil ’ gen Erde Vertrauen wir der Hände Tat, Vertraut der Sämann seine Saat Und hofft, daß sie entkeimen werde Zum Segen, nach des Himmels Rat. Noch köstlicheren Samen bergen Wir trauernd in der Erde Schoß Und hoffen, daß er aus den Särgen Erblühen soll zu schönerm Los. Viele heutige Leser dürfte das “ Leichen-Säen ” befremden, weil es Bilder unterirdischer Verwesung weckt - schließlich wird die Feuerbestattung oft auch deshalb bevorzugt, weil sie den Leichnam in optisch und hygienisch unbedenkliche Asche verwandelt. Eine weitere Querverbindung besteht zum Fachausdruck “ Body Farm ” . Er bezeichnet Flächen, auf denen die Leichen von Körperspendern in kontrollierten Umgebungen wie Hohlraum, Gebüsch oder offenes Gelände untergebracht werden, damit Wissenschaftler die Gesetzmäßigkeiten der Verwesung studieren können. 4.4 Teuflische Saat Horror-Texte bemühen gern die Metapher der Aussaat, um die naturgesetzliche und damit unabwendbare Herkunft des Bösen zu betonen. Filme wie The Bad Seed/ Böse Saat (Mervyn LeRoy 1956) und Inseminoid/ Samen des Bösen (Norman J. Warren 1981) stellen diese Überzeugung bereits in ihren Titeln klar. Eine makabre Travestie dieses Saat-Gedankens enthält Stephen Kings Horror-Roman Der Friedhof der Kuscheltiere (1988). Tiere und Menschen, die auf diesem Friedhof begraben werden, stehen schrecklich verwandelt wieder auf und verstören die Lebenden durch befremdliches Verhalten. Die Handlung beschreibt wenige Monate, nachdem Louis und Rachel Creed mit ihren Kindern und Kater Church nach Maine umgezogen sind. Als Church stirbt, begräbt Louis ihn auf einem alten Indianerfriedhof und der Kater taucht nur mäßig verändert wieder auf. Dies ermutigt Louis, auch seinen kleinen Sohn Gage dort zu begraben, nachdem dieser von einem Lastwagen überfahren wurde. Im schaurigen Finale kämpfen die wiedergekehrten Toten mit den Lebenden, bis nur noch die Tochter Ellie lebt. Schon beim ersten gemeinsamen Besuch des Tierfriedhofs stellt der neue Nachbar Jud Crandall lakonisch fest: “ Steiniger Boden [. . .]. Hier kann man wohl ohnehin nichts pflanzen als Leichen ” (45). Diese lakonische Aussage wird in den emotionalen Bereich übertragen und wie ein unheimlicher Refrain immer wieder geäußert, während sich die Handlung zuspitzt. Zunächst röchelt der sterbende Student Victor Pascow: “ Der Acker im Herzen eines Mannes ist steiniger. Ein Mann bestellt ihn . . . und lässt darauf wachsen, was er kann ” (79), wenig später wiederholt Jud diese Feststellung fast wörtlich (155). Von nun an gehen Louis bei jedem neuen Schrecken diese Worte durch den Kopf, nämlich als Church eine Krähe zerfetzt (211), nachdem Crandalls Frau gestorben ist (242), als er die “ Auferstehung ” seines Sohnes Gage plant (285) und nachdem er sie vollendet hat (421). 84 Dagmar Schmauks (Berlin) 4.5 Kosmische Saat Die umfassendste Ausweitung der Saat-Metapher trägt den Namen “ Panspermie ” (= All- Saat). Schon der griechische Naturforscher Anaxagoras vermutete im 5. Jahrhundert v. Chr., die Welt sei von Anfang an voller Samen von allem gewesen, aus denen durch Zusammenballung gleichartiger Bestandteile auch Lebewesen entstanden (Capelle 1968: 260 ff). Eine moderne und viel speziellere Theorie behauptet, das Leben würde absichtlich und gezielt im All verbreitet. Francis Crick (1960) zufolge wird diese interstellare “ Aussaat ” von Außerirdischen gelenkt, die den Menschen technisch weit überlegen sind und einen Satz von “ Lebenssporen ” auch auf die Erde geschickt haben. Auf eine viel spätere kulturelle Entwicklung zielt Erich von Dänikens Annahme, viele Zeugnisse früher Hochkulturen seien von Außerirdischen geschaffen worden. In Büchern wie Aussaat und Kosmos (1972) sieht er alle fruchtbaren Planeten als Ackerflächen, auf denen (bemerkenswert altruistische) Außerirdische die materiellen und spirituellen Samen einer Kultur einpflanzen und deren Wachsen auch weiterhin fürsorglich im Auge behalten. Alle diese Theorien sind kaum widerlegbar, vor allem wenn man annimmt, dass die Außerirdischen ihre Spuren sorgfältig verwischen, um den gesäten Kulturen eine ungestörte Entwicklung zu ermöglichen. Ferner verlagern sie die grundsätzliche Frage, wie das Leben entstanden ist, nur in eine gar nicht mehr überprüfbare räumliche und zeitliche Ferne. 5 Dichter als Phänologen. Pflanzen als Zeitzeiger Ein kundiger Betrachter kann Pflanzen in vielerlei Hinsicht als Anzeichen “ lesen ” (Schmauks 1997: 136 ff). Die an einem Ort wachsenden Pflanzengesellschaften informieren nicht nur über Höhenlage, Temperatur- und Lichtverhältnisse, Feuchtigkeit und Bodenart, sondern lassen auch frühere Ereignisse wie Lawinenabgänge oder ehemalige Almwirtschaft noch erkennen (vgl. Ringler 2009 für den Beispielraum Alpen). Aus Form und Duft einer Blüte lässt sich darauf schließen, welche Tiere sie bestäuben. Sogar die Blätter von Laubbäumen sehen nicht überall gleich aus, sondern sind in wärmeren Gegenden als Schutz gegen Wasserverlust schmaler und glattrandiger (Coombes 2012). Während diese Zusammenhänge eher Botaniker interessieren, sind Pflanzen als Zeitzeiger allgemein bekannt. Die vier Jahreszeiten der gemäßigten Breiten beginnen jeweils an astronomischen Fixpunkten, nämlich den Sonnenwenden und Tag-und-Nacht-Gleichen. Die Phänologie hingegen verwendet als Fixpunkte bestimmte Ereignisse im Pflanzenreich und gewinnt so eine viel feinere regionale Gliederung in zehn Jahreszeiten. So beginnt der Vorfrühling mit der Blüte des Schneeglöckchens, der Frühsommer mit der Holunderblüte und der Vollherbst mit dem Reifen der Rosskastanie. Mitunter werden die phänologischen Jahreszeiten praktisch wichtig, so informieren im Herbst Neuenglands alle Medien die Touristen darüber, wo die beeindruckende Laubfärbung ( “ foliage ” ) gerade ihren Höhepunkt erreicht. Jahreszeitliche Rhythmen werden von Dichtern häufig beschrieben, wobei dieser Abschnitt sich auf vier Aspekte konzentriert. Zunächst geht es um die “ Bewegung ” des Frühlings im geographischen Raum (5.1). Wenn das Aufblühen bestimmter Blumen oder Reifen bestimmter Früchte eine bestimmte Jahreszeit kennzeichnet, vermag ihre Nennung den Text in der Lebenswelt des Lesers zu verankern (5.2). Eine speziellere Metapher projiziert Dichter und ihre grünen Daumen 85 das Menschenleben in ein Jahr, so dass die Jugend dem Frühling und das Alter dem Herbst entspricht, wobei sich der Mensch in den jeweiligen Blumen gespiegelt sieht (5.3). Schließlich wird das Pflanzenleben auch als Zeichen entweder für Vergänglichkeit oder aber Wiedergeburt benutzt (5.4). 5.1 “ Hasch mich, ich bin der Frühling ” . Das Fortschreiten des Frühlings im Raum Macht man den Frühlingsbeginn am Beginn der Apfelblüte fest, so kann man auf einer Landkarte alle Orte verbinden, an denen sich die Blüten am gleichen Tag öffnen. Diese Linienscharen heißen in der Kartographie “ Isolinien ” und machen anschaulich, wie der Frühling mit steigender Tageslänge und Temperatur fortschreitet. In Europa beginnt er im Südwesten Portugals und legt auf seinem Weg nach Nordosten täglich rund 40 Kilometer zurück. Im Gebirge beginnt der Frühling in den Tälern und bewegt sich die Hänge hinauf, deshalb zieht das Weidevieh im Frühling auf die Hochalmen und kehrt im Herbst ins Tal zurück. Der “ Osterspaziergang ” in Goethes Tragödie Faust I belegt, wie sich diese Tatsachen sehr präzise darstellen und zugleich mit der alten Vorstellung eines personifizierten Winters parallel führen lassen, der sich in größere Höhen zurückzieht und erfolglose Rückzugsgefechte versucht (Goethe 1964: 31 f). Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, Zog sich in rauhe Berge zurück. Von dort her sendet er, fliehend, nur Ohnmächtige Schauer körnigen Eises In Streifen über die grünende Flur. Ganz ähnlich stellt Jens Peter Jacobsen in seinem Roman Niels Lyhne sehr poetisch dar, wie die herabstürzenden Schmelzwasser den Blüten im Tal den Frühling verkünden wollen, obwohl er dort schon längst angekommen ist (Jacobsen ca. 1910: 120). Um sie herum feierte der Frühling sein schönheitsschwangeres Fest. [. . .] Hundert kleine Bergströme stürzten kopfüber in das Tal hinab, um zu melden, das der Frühling gekommen sei, und sie kamen alle zu spät, denn wo sie zwischen grünen Ufern dahinflossen, standen die Primeln in Gold und die Veilchen in Blau und nickten: wir wissen es, wir wissen es, wir haben es vor dir vernommen! Während Goethe und Jacobsen die Natur sehr genau beobachten und beschreiben, steht das Gedicht Frühling von Hermann Hesse in äußerstem Gegensatz zu den Tatsachen. Hesse lässt den personifizierten Frühling von den Gipfeln herab ins Tal schreiten - wobei auch das Verb “ aufquellen ” anfechtbar ist, da es angesichts zarter Blüten seltsam unappetitlich klingt und im Hinblick auf Vogellieder gänzlich abwegig ist (Hesse 2002, Bd. 10: 144). Wieder schreitet er den braunen Pfad Von den stürmeklaren Berge nieder, Wieder quellen, wo der Schöne naht, Liebe Blumen auf und Vogellieder. 86 Dagmar Schmauks (Berlin) 5.2 Pflanzen als Anzeiger der Jahreszeit Naturverbundene Menschen warten oft sehnsüchtig auf die ersten Frühlingsboten oder das Aufblühen ihrer Lieblingspflanzen. Durch Erwähnung solcher Zeitzeiger können Dichter also ihre Aussagen klar und einfach in der Erfahrung ihrer Leser verankern. So nennt Gottfried Benn bekannte Blütenpflanzen ganz bewusst in zeitlicher Reihenfolge (Benn 1968: 325). Gottfried Benn: Letzter Frühling Nimm die Forsythien tief in dich hinein und wenn der Flieder kommt, vermisch auch diesen mit deinem Blut und Glück und Elendsein, dem dunklen Grund, auf den du angewiesen. Langsame Tage. Alles überwunden. Und fragst du nicht, ob Ende, ob Beginn, dann tragen dich vielleicht die Stunden noch bis zum Juni mit den Rosen hin. Auch in anderen Gedichten verwendet Benn bestimmte Blüten oder Früchte als Anzeiger der Jahreszeit. l Frühling: “ Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme ” (März. Brief nach Meran, ebenda 291). l Hochsommer: “ Astern - schwälende Tage, alte Beschwörung, Bann ” (Astern, ebenda 174). l Herbst: “ Ebereschen - noch nicht ganz rot, von jenem Farbton, wo sie sich entwickeln zu Nachglut, Vogelbeere, Herbst und Tod ” (Ebereschen, ebenda 324). Ähnlich einprägsame Beispiele finden sich im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. Im Juni trifft Hans Castorp in einem Sanatorium bei Davos ein und erlebt die unklar geschiedenen Jahreszeiten des Hochgebirges. Noch der Oktober bringt so sonnige Tage, dass man das Nahen des Winters nur an den Wiesenblumen erkennen kann: “ Nur noch der Enzian, die kurzaufsitzende Herbstzeitlose waren zu sehen und gaben Bescheid über eine gewisse innere Frische der oberflächlich erhitzten Atmosphäre [. . .] ” (Mann 1967: 240). Im nächsten Juni jährt sich Castorps Aufenthalt und er sieht dieselben Blumen, mit denen sein Vetter ihn zur Ankunft begrüßte: “ Schafgarbe und Glockenblumen - ein Zeichen für ihn, daß das Jahr in sich selber lief ” (ebenda 389). Im folgenden Herbst erlebt Castorp den Wechsel der Vegetation noch bewusster (ebenda 448). Das Rad schwang. Der Weiser rückte. Knabenkraut und Akelei waren verblüht, die wilde Nelke ebenfalls. Die tiefblauen Sterne des Enzian, die Herbstzeitlose, blass und giftig, zeigten sich wieder im feuchten Grase [. . .]. 5.3 Pflanzen als Anzeiger der Lebenszeit Zwei gebräuchliche und eng verwandte Metaphern projizieren das gesamte Menschenleben in einen leichter überschaubaren Zeitraum. Wählt man als Ursprungsdomäne einen irdischen Tag, so entstehen Wendungen wie “ Mittag des Lebens ” und “ Lebensabend ” , Dichter und ihre grünen Daumen 87 während die Wahl eines Kalenderjahres Ausdrücke wie “ Jugendblüte ” und “ Herbst des Lebens ” motiviert (vgl. Abschnitt 3.2). So führt Lenau in seinem Gedicht Herbst sehr gezielt Menschenleben und Jahreszeiten parallel (Lenau 1969: 59). Und mir verging die Jugend traurig, Des Frühlings Wonne blieb versäumt, Der Herbst durchweht mich trennungsschaurig, Mein Herz dem Tod entgegenträumt. Interessanter werden solche Vergleiche bei unklaren Fällen und Abweichungen vom konventionellen Ablauf. So vermag die Herbstzeitlose, die dem Krokus ähnelt, die Verflechtungen von Leben und Tod zu illustrieren. In Thomas Manns Erzählung Die Betrogene erlebt die ältere Witwe Rosalie von Tümmler mit dem jungen Englischlehrer ihres Sohnes einen “ zweiten Frühling ” . Sie sieht ihre mädchenhafte Verliebtheit trotz vorgerückten Alters in der Ähnlichkeit von Frühlings- und Herbstpflanzen gespiegelt, als sie die ersten Krokusse sieht (Mann 1971: 740). Ist es nicht merkwürdig [. . .], wie er der Herbstzeitlose gleicht? Es ist ja so gut wie dieselbe Blume! Ende und Anfang - man könnte sie verwechseln, so ähneln sie einander, - könnte sich in den Herbst zurückversetzt meinen beim Anblick des Krokus und an den Frühling glauben, wenn man die Abschiedsblume sieht. Während sich für Rosalie die Jahreszeiten vermischen, verschwimmt im Zauberberg sogar die Grenze zwischen unbelebter und belebter Natur. Im Frühling erleben Castorp und sein Vetter angesichts einer vermeintlichen Schneefläche eine “ märchenhafte ” Überraschung (Mann 1967: 384). [. . .] sie beugten sich staunend darüber, - das war kein Schnee, es waren Blumen, Schneeblumen, Blumenschnee, kurzstielige kleine Kelche, weiß und weißbläulich, es war Krokus [. . .], millionenweise dem sickernden Wiesengrunde entsprossen. 5.4 Sterblichkeit und Wiedergeburt. Pflanzen als Todes- und Lebenssymbole Pflanzen sind zwar die Grundlage der Tier- und Menschenwelt, aber auch selbst sterblich wie alle Lebewesen. Während manche Zierpflanzen viele Generationen menschlicher Besitzer überleben, werden andere zum baldigen Verbrauch gezüchtet wie die “ Wegwerftöpfe ” als Tischdekoration. Ferner ist zu unterscheiden zwischen schnell welkenden Blüten und der ganzen Pflanze, die immer wieder neu austreiben kann. Je nachdem, welche Aspekte man in den Vordergrund rückt, werden Pflanzen zu Symbolen für Vergänglichkeit und Tod oder aber für Unsterblichkeit bzw. Auferstehung. Vor allem langlebige Bäume sind kraftvolle Lebenssymbole. Ein Mann soll traditionell “ Ein Kind zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen ” , und auch zu offiziellen Anlässen wie einem Vertrag pflanzt man Gedenkbäume. Andererseits wird der herbstliche Laubfall in vielen bekannten Gedichten als Symbol für Vergänglichkeit benutzt - eine Bedeutung, die dieser Abschnitt relativieren soll. Sachlich gesehen ist der Laubfall gemäßigter Zonen keineswegs eine passiv erlittene Gewalttat, die den Baum seiner Blätter “ beraubt ” , sondern eine aktive und sehr raffinierte Schutzmaßnahme gegen die drohenden Gefahren des Winters. Sinkende Temperaturen und 88 Dagmar Schmauks (Berlin) abnehmende Tageslängen lösen einen Prozess aus, der den Blättern die Nährstoffe entzieht und sie im Inneren des Baumes für den nächsten Frühling speichert. Das Abwerfen der Blätter bewahrt den Baum vor Schneebruch und Austrocknung durch Verdunstung, er gewährleistet also ein erneutes Austreiben im Frühling. Bei Buchen etwa sieht man sogar an den Sollbruchstellen der Blattstiele bereits im Herbst die neuen Knospen. Für den Menschen steht der Laubfall im Schnittbereich von zwei völlig verschiedenen Zeitvorstellungen (Schmauks 2010). Unsere Vorfahren orientierten sich zunächst wie alle Lebewesen an natürlichen Rhythmen, nämlich der täglichen scheinbaren Sonnenbewegung, den Mondphasen und den Jahreszeiten, die wiederum das Verhalten von Pflanzen und Tieren beeinflussen. Diesen zyklischen Abläufen stehen lineare gegenüber, nämlich die Evolution, die Menschheitsgeschichte und vor allem das individuelle Leben zwischen Geburt und Tod. Diese doppelte zeitliche Verankerung ist Ursache widersprüchlicher Empfindungen: Wenn der Herbst beginnt, ist im linearen Zeitmodell fast schon wieder ein Jahr vergangen (und kehrt nie wieder! ), während man im Modell natürlicher Rhythmen schon auf einen neuen Frühling hoffen darf. Die Lyrik folgt oft dem linearen Modell, hier ist der Laubfall ein stark strapaziertes Vanitas-Symbol. Nikolaus Lenau vergleicht im Gedicht Herbstgefühl die herbstliche Laubfärbung mit der ungesunden Hautröte von Todkranken (Lenau 1969: 52). Der Buchenwald ist herbstlich schon gerötet, So wie ein Kranker, der sich legt zum Sterben [. . .]. Im Gedicht Das dürre Blatt spielt er gezielt mit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks “ Blatt ” (ebenda 78). Durchs Fenster kommt ein dürres Blatt, Vom Wind hereingetrieben; Dies leichte, offne Brieflein hat Der Tod an mich geschrieben. Rainer Maria Rilkes mehrschichtiges Gedicht Herbst führt von der Beobachtung des Laubfalls zu weit ausgreifenden Behauptungen über Vergänglichkeit und Hoffnung. Zunächst weist er den Blättern eine innere Einstellung zu, die sie “ mit verneinender Gebärde ” fallen lässt. Dann weitet er die Bewegung des “ Fallens ” auf alle natürlichen Prozesse aus, so dass sogar die Erde durch den Weltraum “ fällt ” (was im Rahmen der Newtonschen Mechanik durchaus richtig ist - unser Sturz in die Sonne wird jedoch durch die Fliehkraft verhindert). Die beiden letzten Zeilen jedoch heben diese umfassende Klage tröstend auf, da Gott alles Fallen in Händen “ hält ” - also wohl “ auffängt ” (Rilke 1996, Bd. 1: 282 f). Rainer Maria Rilke: Herbst Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Dichter und ihre grünen Daumen 89 Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. Eine zweite Pflanzengruppe im Spannungsfeld zwischen Vergänglichkeit und Auferstehung ist das Gras und das ihm verwandte Getreide. Das Substativ “ Gras ” bezeichnet sowohl die einzelne Pflanze als auch zusammenhängende mit Gras bewachsene Flächen. Diese wiederum haben je nach Entstehung und Nutzung speziellere Namen, wobei es gleitende Übergänge gibt. l Steppe (in Nordamerika Prärie): baumlose Graslandschaft der gemäßigten Breiten, geht ohne scharfe Grenze in die Savanne über l Weide: landwirtschaftliche Fläche für Nutztiere, die sich darauf aufhalten und sie abweiden l Wiese: artenreich, meist landwirtschaftlich genutzt l Rasen: artenarm, von Menschen angelegt und ständig gepflegt, innerhalb von Siedlungsgebieten (Gärten, Parks, Sportplätze . . .) Durch Mähen des Graslandes gewinnt man den Wintervorrat an Heu oder Silage für das Vieh. Ohne regelmäßige Mahd würden Wiesen schnell verbuschen und schließlich zu Wäldern werden. Für die Gräser selbst ist das Mähen ein Wachstumsreiz, der ähnlich wie das Abgefressenwerden durch Weidetiere eine nachhaltige Nutzung erst gewährleistet. Mit Blick auf Wildtiere kann ein zeitlich verteiltes Mähen (sog. “ Staffelmahd ” ) sicherstellen, dass sie ständig Nahrung und Deckung finden. Gängige Redensarten greifen alle Eigenschaften von Gras auf: Es ist massenhaft vorhanden, siedelt sich von selbst auf freien Flächen an, ist aber auch durch Überweidung oder menschliche Eingriffe gefährdet. l das Gras wachsen hören (= kleinste Anzeichen wahrnehmen und deuten) l dem Gras beim Wachsen zusehen (= sich langweilen) l Gras über eine Blamage wachsen lassen l ein Thema ist abgegrast l da wächst kein Gras mehr l ins Gras beißen (= sterben) Vergleiche zwischen Mensch und Gras beziehen sich auf zwei sichtbare Eigenschaften: Grashalme sind empfindlich und sehen alle gleich aus. Der erste Aspekt ist zu relativieren, da zwar die oberirdischen Grashalme durch Begehen oder Abweiden leicht beschädigt werden, ihre Wurzelgeflechte jedoch bei nachhaltiger Beweidung immer wieder neu austreiben. Ferner scheinen im Gegensatz zu “ individuellen ” Bäumen alle Gras- oder Getreidehalme gleich zu sein. Aus der Nähe betrachtet unterscheiden sie sich zwar, aber Menschen sehen sie in der Regel “ summarisch ” . Ein entsprechender Vergleich findet sich bereits in einem Psalm Davids (Psalm 103, 15 - 17). Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Feld; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. Die Gnade aber des HERRN währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Johannes Brahms formulierte diesen Gedanken in seinem Werk Ein deutsches Requiem mit den Worten: “ Denn alles Fleisch, es ist wie Gras ” . Das Motiv des Mähens wird von vielen Text- 90 Dagmar Schmauks (Berlin) und Bildsorten aufgegriffen. Todesanzeigen zeigen stehende Ähren als Zeichen eines “ fruchtbaren ” Lebens, aber auch geknickte Ähren als Zeichen der Vergänglichkeit, insbesondere bei jung Verstorbenen. Seit dem Mittelalter wird der Tod als “ Sensenmann ” personifiziert, der alle Menschen “ hinmäht ” und sie damit gleich macht - während die drei Parzen der griechischen Mythologie jedem Menschen seinen eigenen Lebensfaden spannen, zumaßen und abschnitten. Sogar die saloppe Wendung “ Jetzt ist Sense! ” , die das unverzügliche Ende einer Handlung ankündigt oder fordert, hängt inhaltlich mit dem “ Schnitter Tod ” zusammen. Schließlich werden auch Prozesse, die menschliche Siedlungen wieder in Grünland oder Äcker verwandeln, zu Zeichen für Vergänglichkeit. Andreas Gryphius wagte angesichts der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges in seinem Sonett Es ist alles eitel (1637) eine beklemmende Vorhersage (Gryphius 1963, Bd. 1: 7). Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden. Adelbert von Chamisso beschreibt seinen persönlichen Verlust im Gedicht Das Schloss Boncourt (1827). Eingeleitet durch “ Ich träum als Kind mich zurücke ” beschwören sechs Strophen seine Erinnerungen an das “ schimmernde ” Schloss seiner Ahnen. Erst danach erfährt der Leser, dass Boncourt schon lange nicht mehr existiert und Chamisso sich mit dieser Tatsache ausgesöhnt hat (Chamisso 1975, Bd. 1: 192 f). So stehst du, o Schloss meiner Väter, Mir treu und fest in dem Sinn, Und bist von der Erde verschwunden, Der Pflug geht über dich hin. Sei fruchtbar, o teurer Boden, Ich segne dich mild und gerührt, Und segn ’ ihn zwiefach, wer immer Den Pflug nun über dich führt. Chamissos tröstliche Vorstellung, das frühere Schlossgelände sei fruchtbarer Ackerboden geworden, leitet über zu Pflanzen, die ausdrücklich mit positiven Bedeutungen wie “ Unsterblichkeit ” oder “ Auferstehung ” verknüpft werden. Es liegt nahe, immergrüne Pflanzen wie Buchsbaum und Efeu als ebenso symbolträchtige wie pflegeleichte Grabbepflanzung zu wählen. Weiße Blüten stehen für Reinheit, Überwindung des Irdischen und Auferstehung. Auch Pflanzen, die im Winter blühen, gehören in diesen Symbolkreis. Die Christrose öffnet ihre großen weißen Blüten um Weihnachten und steht demnach in enger Beziehung zu Christi Geburt. Die Zaubernuss blüht bereits im Winter und verheißt damit das Nahen des Frühlings bzw. christlich gedeutet die künftige Auferstehung. Langlebige Pflanzen überspannen oft mehrere Generationen, so haben Waldbesitzer früher Bäume ausdrücklich “ für ihre Kinder und Kindeskinder ” gepflanzt. In Eichendorffs Gedicht Der alte Garten rufen bestimmte Blumen eine lange versunkene Epoche wach (Eichendorff 1987, Bd. 1: 402). Kaiserkron ’ und Päonien rot, Die müssen verzaubert sein, Dichter und ihre grünen Daumen 91 Denn Vater und Mutter sind lange tot, Was blühn sie hier so allein? Der Dichter begegnet im alten Garten “ denselben ” Gartenblumen wie damals als Kind. Dieser unmittelbare Eindruck scheint jedoch seinem Wissen zu widersprechen, dass die Eltern längst verstorben sind. Botanisch gesehen ist es jedoch durchaus möglich, dass er “ dieselben ” Pflanzen oder deren unmittelbare Nachkommen sieht, denn Kaiserkronen und Päonien (= Pfingstrosen) treiben jährlich neu aus und vermehren sich durch Zwiebeln bzw. Rhizome. Viel häufiger hingegen wissen wir nichts über das Schicksal von Pflanzen und sogar von langlebigen Bäumen. In seiner Erinnerung an die Marie A. erinnert sich Bertolt Brecht an eine lange zurückliegende Liebesbegegnung “ unter einem jungen Pflaumenbaum ” . Er überlegt, was seine damalige Geliebte wohl heute macht und was aus dem Baum geworden ist. Dabei decken seine beiden Vermutungen die ganze Bandbreite zwischen Sterben und Überleben ab (Brecht 1967: 12 f), denn in der zweiten Strophe heißt es “ die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen ” , in der dritten hingegen “ die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer ” . 6 Schlussbemerkung Die hier besprochenen Texte belegen eindrucksvoll das Bestreben des Menschen, auch außerhalb der Menschenwelt nach Phänomenen zu suchen, in denen er sein Erleben gespiegelt sieht. Eine weitere Möglichkeit neben den Pflanzen sind ganze Landschaften. Da die Savanne unseren Vorfahren alles bot - Nahrung, Wasser sowie gleichermaßen Überblick und Deckung - , bevorzugen Menschen auch heute noch offene Landschaften wie Heiden, Almen und weitläufige Parks. Nennt man die ganzheitliche Anmutung einer Landschaft in der Tradition Alexander von Humboldts ihre “ Physiognomie ” , so lassen sich Ausdrücke prägen wie “ heiteres Hügelland ” , “ düsterer Kiefernwald ” oder “ abweisende Felsenklippen ” . Wie beliebt das Wetter als weitere Projektionsfläche ist, belegen bereits Adjektive wie “ sonnig ” , “ heiter ” und “ düster ” , die gleichermaßen Wetterlagen und Stimmungen beschreiben. Hierbei kann das Wetter der menschlichen Stimmung entsprechen oder aber in scharfem Kontrast zu ihr stehen (Delius 1971). Auch die Tierwelt motiviert zahlreiche Textsorten. Klassische Fabeln kritisieren menschliche Fehler in tierischen Verkleidungen, wobei auch hier das Verhalten der “ anderen Wesen ” oft gründlich missverstanden wird. In Äsops Fabel Der Fuchs und der Rabe veranlasst der “ schlaue ” Fuchs den “ eitlen ” Raben zum Singen, nur damit dieser einen Käsebrocken fallen lässt. Die Lehre ist also, man solle nicht hochmütig sein und sich vor Schmeichlern hüten. Zoologisch würde man von Imponier- und Täuschungsverhalten sprechen, und da Raben ihre Artgenossen raffiniert täuschen und sogar Werkzeuge benutzen, sind sie Füchsen kognitiv klar überlegen. Heutige Schimpfwörter von “ Aasgeier ” bis “ Ziege ” verorten den Beschimpften außerhalb der Menschenwelt und sprechen ihm “ tierische ” Eigenschaften zu. Umgekehrt benannte der Mensch viele Tierarten aufgrund anthropozentrischer Übertragungen ( “ Faultier ” ) oder durch Vergleich mit mythischen Wesen ( “ Gespensterheuschrecke ” , “ Teufelsrochen ” ). 92 Dagmar Schmauks (Berlin) Insgesamt nutzen wir also die gesamte Tier- und Pflanzenwelt nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch, insbesondere als Projektionsfläche unseres Innenlebens. Ein Blick, der vor allem ein Bild des Sehenden sucht, versteht jedoch oft das Gesehene gar nicht. Brechen etwa im Herbst die Zugvögel nach Süden auf, so beneidet der Mensch sie oft um ihre Freiheit und ihren “ Winterurlaub im Süden ” . Unbeachtet bleibt, wie instinktgebunden und gefährlich diese langen Reisen sind. Angesichts dieser anthropozentrischen Suche (oder Sucht) nach Spiegelung möchte ich mit dem Wunsch enden, man möge doch häufiger andere Lebewesen von ihren ganz eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten her zu verstehen versuchen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir nicht mehr den herbstlichen Laubfall als Todeszeichen beklagen. Sollte man nicht sogar vermuten, dass unsere Vorfahren gerade durch genaue Beobachtung der zyklischen Lebensweise von Bäumen die religiöse Vorstellung einer Wiedergeburt entwickelten? Die umgekehrte Auffassung vom Tod als absolutem Ende legen eher Erlebnisse mit Tierkadavern nahe. Denn jeder Savannenbewohner wusste, wie schnell diese von Aasfressern skelettiert und dann vom Wind zermahlen und verdriftet werden. Vielleicht entstehen auch ganz neue und viel stimmigere Metaphern. Die moderne Botanik entdeckt nämlich immer deutlicher, dass die Pflanzenwelt keineswegs so dumpf und passiv ist, wie sie oft vorgestellt wurde. Viele Pflanzen haben ausgeklügelte Taktiken entwickelt, um ihre Samen über große Entfernungen zu verbreiten. Andere wehren sich gegen Fressfeinde nicht nur durch Dornen oder Nesselhaare, sondern warnen auch artgleiche Nachbarn durch freigesetzte Geruchsstoffe, die zur schnellen Erzeugung von Bitterstoffen anregen. Manche Orchideen locken sogar männliche Bestäubungsinsekten durch Blüten an, die den Weibchen der betreffenden Art gleichen. Es gibt also viel zu entdecken und in griffige Wendungen zu prägen . . . Bibliographie Benn, Gottfried 1960: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Wiesbaden: Limes Benn, Gottfried 1979: Briefe an F. W. Oelze, 1932 - 1945. Frankfurt a. M.: Fischer Brecht, Bertolt 1967: Ausgewählte Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Capelle, Wilhelm (ed.) 1968: Die Vorsokratiker. Stuttgart: Kröner Chamisso, Adelbert von 1975: Sämtliche Werke. München: Winkler Coombes, Allen J. 2011: The Book of Leaves. Chicago: University Press. Deutsch: Blätter und ihre Bäume. 600 Porträts. 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George Rossolatos (Kassel) This paper provides arguments for and against M.Lotman ’ s (2002) contention that Y.Lotman ’ s seminal concept of semiosphere is of post-modernist (post-structuralist; Posner 2011) orientation. A comparative reading of the definitional components of the semiosphere, their hierarchical relationship and their interactions is undertaken against the two principal axes of space and subjectivity in the light of Kantian transcendental idealism, as inaugural and authoritative figure of modernity, the Foucauldian discursive turn and the Deleuzian (post) radical empiricism (sic), as representative authors of the highly versatile post-modern vernacular. This comparative reading aims at highlighting not only similarities and differences between the Lotmanian conceptualization of the semiosphere and the concerned modernist and postmodernist authors, but the construct ’ s operational relevance in a post-metanarratives cultural predicament that has been coupled with the so-called spatial turn in cultural studies (Hess- Luttich 2012). 1 Introduction In order to start hinting at the prospect of providing definite answers to such a complex and multifaceted question that merely affords to intensify the complexity and the multifaceted nature of the very conceptual construct of semiosphere let us begin by clarifying how postmodernity has been defined. Post-modernity has been defined in two dominant ways. First, as a historical period that is characterized by a highly critical outlook towards the intellectual heritage of the Enlightenment (with any and many issues that emerge in such historical demarcations; see Lagopoulos 2010). Nevertheless, Lyotard (1991: 34) himself asserted that “ postmodernity is not a new age, but the rewriting of some of the features claimed by modernity ” . Second, as an ethos (scientific or otherwise) which, regardless of the feasibility of situating its emergence spatiotemporally (and ample arguments have been voiced as to why situating it within a tradition contradicts the very ‘ post ’ nature of post-modernity), still it reflects common argumentative patterns and stylistic aspects that recur (not at all invariably) throughout various writers, from Nietzsche to Breton to Deleuze. Post-modernist perspectives also differ based on whether they are of Marxist or non-Marxist affiliation, in which case Marxist perspectives (e. g., Jameson) view post-modernity as the cultural logic of postindustrial capitalism. “ Postmodern culture is the result of the extension of the market over cultural production as a whole, whence the need for a political economy of cultural production ” (Lagopoulos 2010: 178). Non-Marxist perspectives, largely aligned with Baudrillard ’ s notion of hyperreality (e. g., Perry 1998; regardless of Baudrillard ’ s own leftist affiliations), view post-modernity as a predicament where empirical and cultural reality are largely shaped by the fleeting imagery that is projected through the media. This predicament is marked by a diminution of the centrality of Reason ’ s faculties and operations in conferring judgments about the world (rational, ethical, aesthetic), in the face of a life-stylism without reserve. There are also perspectives that lie in between, such as Habermas ’ s attempt to salvage Kantianism by substituting (with questionable results) the Court of Reason with instrumental reason and pragmatic criteria against the background of a community of rational social actors. Post-modernism is a highly fragmented research field and certainly this is not the place to engage with the plethora of perspectives across various disciplines that have been laying claim to be of post-modernist orientation. However, insofar as a fundamental point of convergence among various post-modernist perspectives has been concerned with a highly critical outlook towards the centrality of Kantian Reason and its architecture in freeing humanity from the yoke of Medievalism and superstition, the Kantian (modernist) outlook to the formation of subjectivity is a core aspect of the modernist vision. According to some scholars post-modernity does not mark a radical rupture with the tradition of philosophy, but, just like deconstruction (which may be viewed as part of the wider skeptical outlook of post-modernity towards meta-narratives and totalizing/ essentializing forms of discourse), an attempt to lay bare latent presuppositions and tropically cloaked syllogistic aporias behind seemingly self-evident ‘ facts of Reason ’ . However, this does not entail necessarily that, as Deely (2011: 32) contends, “ postmodernity so far as it pertains to philosophy names some epoch within that history ” . If we subscribe to the argument that ‘ post ’ is just another epoche (from the Aristotelian epechei and epekeina tes ousias; see Derrida 1981), the entire ‘ trend ’ of post-modernity is reduced to another sublatable moment in the linear teleological deployment of an essentializing epiphenomenology, rather than constituting a radically ‘ other ’ way of thinking (at least for some post-modernists or authors who have been identified, willingly or not, with post-modernity). Immanuel Kant has been at the receiving end of vehement attacks that have been traditionally launched by post-modernists against modernity, for the sheer reason that the anti-foundationalist tendencies that have been definitive of post-modern theorists share a common mistrust towards totalizing architectural hyper-constructs, such as the architecture of Pure Reason. In this sense, an examination of arguments for and against the alleged postmodernist orientation of the semiosphere is bound to engage with how equivalent concepts were defined and operationalized by pre post-modern (or modern) and post-modern theorists. To this end, this paper assumes as theoretical groundwork whereupon the ensuing discussion deploys Kant ’ s conception of space and Foucault ’ s, Deleuze ’ s conceptions of space (as indicative authors who have been largely identified with the post-modernist vernacular). The latter camp also features perspectives on cultural geography and cultural spaces which have developed largely from within a post-modernist conceptualization of space. The analysis begins with an exposition of the concept of the semiosphere by drawing on Lotman ’ s seminal works, as well as on relevant commentaries that have attempted either to elucidate or to expand this allegedly multifaceted concept. Then it proceeds with an exploration of arguments for and against why the semiosphere is and is not modernist and post-modernist by recourse to key thinkers from each part of the pre/ post divide, mainly Kant, Foucault and Deleuze. The discussion concludes by pointing out directions whereby the semiosphere may be fruitfully extended by attending to post-modernist conceptualizations of space and subjectivity. 96 George Rossolatos (Kassel) 2 What is the semiosphere (and what is not ‘ it ’ )? “ The concept of semiosphere was first put forward by Juri Lotman in the context of cultural semiotics. He introduced the term in the article ‘ On semiosphere ’ and elaborated it further in Universe of the Mind and Culture and Explosion ” (Kull, Kotov 2011: 179). The semiosphere is a necessary condition for the existence and function of languages and other sign-systems (Kull, Kotov 2011). “ In defining the semiosphere Lotman is making a clear shift from the level of individual signs and their functioning in semiotic space toward a higher level of network semiosis and system level phenomena ” (Andrews 2003: 34). As repeatedly argued in the relevant literature (e. g., Kull 2005, 2011) the semiosphere is a multi-level and multi-faceted construct that seeks to delineate how cultural spaces are produced as multi-level inscriptions in an all-encompassing semiospheric hyperspace, like matryoshka dolls within dolls. The semiosphere constitutes an umbrella concept or metaconcept that designates a semiotic space that is made of various interlocking spheres with identifiable boundaries. “ As a metaconcept, semiosphere is a ‘ construct of semiotic method ’ (Kull 2005) that takes a holistic approach to culture, and as an object it refers to a given semiotic space ” (Semenenko 2012: 120). “ The semiosphere is heterogeneous space (or communicative medium), enabling qualitative diversity to emerge, to fuse, and to sustain ” (Kull 2005: 185). “ Lotman especially stresses that the semiosphere is not just the sum total of semiotic systems, but also a necessary condition for any communication act to take place and any language to appear ” (Semenenko 2012: 112). Each sphere in a semiospheric space is in a constant dialogue (a point of intersection between Lotman and Bakhtin ’ s notion of dialogism; cf. Bethea 1997) with every other sphere in varying degrees. “ New information in the semiosphere can be produced only as a result of a dialogue between different codes, by which he [Lotman] understands not simply different human or artificial languages, but different ways of organizing reality into coherent cognitive structures, or different ways of making reality conform to our understanding ” (Steiner 2003: 42). The semiosphere in its most abstract conceptualization, as noted by Kull (2005) and Lotman (2002), is the elementary unit of signification, a postulate that sets apart Tartu School semiotics from atomistic perspectives that seek elementary units at the level of minimal (rather than maximal) concepts (e. g., the theory of double/ triple/ multiple articulation). “ Four fundamental concepts are associated with the semiosphere: heterogeinety, asymmetry, boundedness, binarism ” (Andrews 2003: 35). Zylko (2001: 398 - 400) summarizes the most significant aspects of the concept of semiosphere as follows: First, “ the notion of semiosphere is related to definite homogeneity and individuality [. . .] Messages from the outside have to force their way through to become facts of a given semiosphere. To do this, they have to adapt to the conditions of a given semiospehere in such a way that the alien may become familiar. What is external becomes internal; what is nontext becomes text. ” Second, “ the internal organization of semiosphere is characterized by a lack of predetermined order. The hierarchy of languages and texts is constantly subverted; they collide as if they existed in one level. ” Third, “ the organization of semiosphere is marked by internal heterogeneity. The organization and structuring of particular centers can vary considerably. Lotman assigns special meanings to peripheries, which are less formally organized than centers and have more flexible constructions at their disposal [. . .] In this account, peripheries are considered a Is the semiosphere post-modernist? 97 reservoir of innovation and a source of dynamic processes, within semiosphere. ” In line with his previous theorization of modeling systems and the derivative distinction between primary and secondary modeling systems “ natural language takes the central position in the semiosphere because it permeates almost all semiospheric levels and quite a number of semiotic systems are based on it (e. g., literature and partially cinema and theater) ” (Semenenko 2012: 113). Fourth, “ the structural unevenness of a semiosphere ’ s internal organization is determined by the fact that different domains evolve at different speeds. ” Fifth, [. . .] according to Lotman, “ dialogue is the universal law which stipulates how semiosphere exists. This dialogue proceeds in different spheres, ranging from the individual ’ s cerebral hemispheres to the cultural contact on the national and international scale. As a consequence, semiosphere consists of levels, which range from each person ’ s autonomous semiosphere to the overall semiosphere of the contemporary world. ” Since out focal concern in this paper consists in furnishing answers to the question whether the semiosphere is of post-modernist orientation, two aspects of the semiosphere will be explored in this section in the light of Lotman ’ s prolific writings, but also of relevant commentaries that have surfaced over the past thirty years (cf. Kull 2011 for an extensive review of relevant texts), viz. (i) what kind of space is the semiospheric space (and, by implication, how it gives rise to cultural spacing) (ii) how the semiotic subject is conditioned existentially by the semiosphere that allows for subjects ’ enculturation who are, in turn, responsible for a semiosphere ’ s extension (or contraction) and its ‘ creative ’ propagation. These two pillars of space and cultural subjectivity constitute the principal axes whereupon the comparative reading between Lotmanian semiotics, Kant as inaugural and authoritative modernist author and key post-modernist authors, with a focus on Deleuze and Foucault will be construed. Lotman ’ s account of the semiosphere is not bereft of ambiguities which have turned out to be particularly inviting to diverse scholarly interpretations 1 . Nöth (2014) rightly claims that Lotman exhibits a considerably varied definitional approach to the concept of ‘ semiosphere ’ . “ The terms ‘ semiosphere ’ , ‘ semiotic space ’ and ‘ culture ’ are not sharply delimited in relation to each other ” (Nöth 2014: 2). Despite Lotman ’ s precluding outright the strictly metaphorical 1 Kull (2005) identified the following interpretations of the semiosphere upon conducting a relevant survey among scholars at a conference and pursuant to an extensive literature review: “ (1) ’ semiosphere is a textual whole, a text together with other texts that make it a text ’ (2) ‘ semiosphere is anything formed from the (endless) web of interpretations ’ (3) ‘ semiosphere is the sphere of communication ’ . It “ consists in communication ” (Hoffmeyer 1997: 933) (4) semiosphere is a web of sign processes, or semioses ’ (5) “ Semiosphere is the set of all interconnected umwelten. Any two umwelten, when communicating, are a part of the same semiosphere ” (Kull 1998: 305) (6) ‘ semiosphere is the space of semioses ’ . The concept of ‘ space ’ appears to describe an important aspect of the semiosphere, e. g., (7) ‘ semiosphere is the space of meaning-generation ’ . Also, (8) ‘ semiosphere is the space of whole-part relations ’ (9) ‘ semiosphere is where distinguishing occurs, where distinctions are made ’ . And as a reformulation of this definition, (10) ‘ semiosphere is the space of qualitative diversity ’ . (11) ‘ semiosphere is a sphere of healing ’ . This is because in a non-semiosphere, there is no such condition as ‘ healthy ’ or ‘ ill ’ or even ‘ broken ’ . There cannot be ‘ errors ’ outside the semiosphere. Unlike the physical world, which manifests a single truthful reality, (12) ‘ semiosphere is the world of multiple truths, of multiple worlds ’ . (13) “ the totality of ‘ contrapuntal duets ’ forms the sphere of communication — the semiosphere ” (Emmeche et al. 2002: 21). According to T. Sebeok (2001: 164): “ Biosemiotics presupposes the axiomatic identity of the semiosphere with the biosphere ” (14) “ semiosphere is thus the totality of interconnected signs, a sphere that covers the Earth ” (Emmeche et al. 2002: 21) (15) ‘ semiosphere as a continuum of culture ’ (16) ‘ semiosphere is the region of multiple realities ’ (or, semiosphere is the world of several realities). 98 George Rossolatos (Kassel) essence of the concept ( “ Lotman, in his first paper ‘ On the semiosphere ’ explicitly rejects the metaphorical interpretation of the semiotic space of culture ” [Nöth 2006: 251]), as Nöth (2006, 2014) remarks, metaphorical aspects clearly appear to be seething into the semiosphere ’ s definitional scope. However, in order to account more concretely for why the semiosphere is not merely metaphorical, it is suggested that we address, complementary to Nöth ’ s argument for the capacity of the semiosphere to function as modeling blueprint of culture, regardless of whether its existence may be conceived of separately from a strictly delimited in naturalistic terms biosphere, and hence as generativist mechanism of metaphors, rather than being a metaphor itself, Lotman ’ s (1990) own contention that a natural space (e. g., the space of a city) is always already semiotized. “ The city is a complex semiotic mechanism, a culture generator, but it carries out this function only because it is a melting pot of texts and codes, belonging to all kinds of languages and levels ” (Lotman 1990: 174 - 175). Hence, even if the semiosphere was not approached from a modeling device viewpoint, still its existence may not be merely metaphorical insofar as a comparison with a non-metaphorical or biospheric space (Vernadsky ’ s original conception), such as the natural space whereupon a city is built does not in itself have meaning prior to its constituting a city. “ While the biosphere, according to Vernadsky and Lotman, is ‘ the totality of and the organic whole of living matter and also the condition for the continuation of life, ’ the semiosphere is ‘ the result and the condition for the development of culture ’” (Nöth 2006: 253 - 254). And insofar as the constitution of a city walks hand in hand with its textualization it is always already semiotized. Does this automatically render the city a metaphorical construct? At least based on the original meaning of metaphor as transportation to another place, it certainly does. Yet, this transportation merely attests to the fundamental distinction between space and place. Space, at least natural space, means nothing prior to its transformation into place (see Low and Lawrence-Zuniga 2007). This transformation by default depends on the semiotization of space. Hence, space depends on place for its existence. Place is the existential condition of space. Space, which is continuous in human cognition, becomes transformed into a space with discrete loci in the cultural semiosphere. Whereas the cognition of real space presupposes perceptual continuity, the culturally organized semiotic space is as discontinuous as the verbal signs that represent it. (Nöth 2006: 254) By the same token, culture depends on the semiosphere for its existence. What still merits elucidation, at least in the context of the problematic that is raised in this paper, is not so much whether the semiosphere is a metaphorical construct or not, but how it differs from other concepts that have been occasionally employed by Lotman and that seem to be dependent on the semiosphere, as well as concepts that have been employed interchangeably with the semiosphere. More particularly, in order to provide definite answers about the nature of the semiosphere, its contents and/ or its levels we should first clarify how the concept functions as either inclusive or structurally homologous to the following concepts: (i) semiosphere(s) vs. sphere(s) (ii) semiotic space(s) (iii) markers of spatial orientation, such as inside/ outside (iv) demarcation markers, such as boundary. Our analytic will now turn to the elaboration of the relationships between the semiosphere and these hyponymic (with question-marks) spatial constructs. Is the semiosphere post-modernist? 99 2.1 Semiosphere(s) vs. sphere(s) We already saw that semiosphere is an existential condition vis-à-vis cultural spaces and texts. Also, in principle “ semiosphere as a metaconcept allows for describing larger entities of semiosis that transcend national borders (e. g., film noir, rock ’ n ’ roll music or art nouveau architecture) as well as ‘ microcultures ’ of various groups or even ‘ individual cultures ’” (Semenenko 2012: 124). Yet, Lotman (1990) applies the concept of culture, even though largely refraining from explicitly framing it conceptually as such, within geographically demarcated spaces (e. g., the analysis of geographical space in Russian medieval texts; Lotman 1990: 171 - 176), that is within the boundaries of national cultures (cf. Wodak et al. 2009 for differences between culture and state or national culture) This is highly debatable, especially in the face of globalization and the trans-national predominance of cultural forms, such as fashion and music. It is also question-begging whether, if we pursue the syllogism of a cultural centre as resting with cultural traits that partake of a national culture, then at the centre one would encounter folkloric garments and national anthems which would be of greater gravitas than, say, global fashion icons and musical artists, who would lie at the periphery of a national culture. The topographical model of cultural centre vs. periphery is most pertinent for mapping out the diachronic evolution of texts and semiotic spaces within a semiosphere, however no assumptions may be made a priori about the relative salience of national culture as against global cultural forms. Even though this is a matter for exploration in a different paper, suffice it to point out that if this indeed were the case, that is an inverse relationship held within nationally geographically demarcated cultures between national culture and global culture, then national cultures would lie at the periphery of a global culture which transcends national boundaries and which lies at the centre of the semiosphere. This would also imply that there is only one semiosphere and not different semiospheres, that is one for each nation. A different viewpoint would be furnished if culture were approached from a nation-centric angle in terms of the internal dynamics of the various semiotic spaces and texts that populate the semiosphere (in which instance one would expect that national cultural traits would not lie at the outskirts of the semiosphere, at least not at the farthest outskirts, but closer to the centre, or somewhere between the centre and the periphery). Surely these are hypotheses that remain to be verified through concrete, empirical research. However, the very problematization of whether semiosphere should be approached prima facie as globally uniform or as a multiplicity of nationally demarcated semiospheres resonates a more fundamental issue and an ambiguity that occasionally overshadows Lotman ’ s analytic, viz., whether we may refer to a hierarchically stratified space that consists of various semiospheres or it is only valid to lay claim to a uniform semiospheric space that consists of various spheres. In the Universe of the Mind (1990) Lotman alludes to cultural spheres, obviously as part of a wider semiospheric space. Each semiotic sphere has its own language, from simpler to more complex, and from strictly formalized to more fluid. “ These languages are not equivalent to one another, but at the same time are mutually interprojected and have various degrees of translatability ” (Semenenko 2012: 113). According to Semenenko, meaning is generated in communicative acts precisely through the tension that exists among the various languages that make up the distinctive spheres of a semiospheric space. “ This makes the semiosphere the universal mechanism of meaning generation ” (Semenenko 2012: 113). However, Lotman also lays claim to the existence of different semiospheres. 100 George Rossolatos (Kassel) The problem is that if different semiospheres exist, but also different spheres within semiospheres (not to mention the hierarchically inferior semiotic spaces and textsand even individual signs), then we are confronted either with a progressus in infinitum or with a regressus ad infinitum. In order to resolve this pro/ regress it would be prudent to view the semiospheric space as all-encompassing with regard to the rest categories that make up this overarching and all-inclusive spatial form, at the exclusion of the possibility of the existence of multiple semiospheres which would mitigate the very unificatory (within heterogeneity) task that this construct is summoned to accomplish. And insofar as the semiosphere is equivalent to the spatial condition of the possibility of semiotic existence, anything that lies beyond the semiospheric space is not part of another semiosphere, but of non-meaningful void. Nöth (2006) interprets the existence of different semiospheres by recourse to Lotman ’ s early distinction between primary and secondary modeling systems, where natural language functions as primary modeling system and cultural forms such as art and religion as secondary modeling systems. “ This hierarchy of strati fied semiospheres begins above the level that is still without any semiotic modeling, that is at the level of the nonsemiotic world of things. The transition to the first semiosphere leads to the system of signs and social languages; higher semiospheres are those of myth, art, and religion ” (Nöth 2006: 259). However, this distinction was later abandoned by Lotman (see Semenenko 2012) and rightly so insofar as “ natural language is rarely a system representing the world in a direct or even simple way, if at all (cf. Sebeok 1991: 58 - 59) ” (Nöth 2006: 258). The same ambiguity emerges, as we shall see in due course, in the instance of the role performed by ‘ boundary ’ or ‘ boundaries ’ that is whether they unite and divide at the same time two semiospheres (in the sense of a semiosphere and its other, still as semiosphere) or different semiotic spaces or spheres within a uniform semiospehric space. Both interpretations are encountered in the relevant literature, however, again, it is more prudent to operationalize the boundary as intrasemiospheric membranes that allow for cross-fertilizations among distinctive semiotic spaces and the texts that make up each semiotic space. 2.2 Semiotic space(s) If culture is equivalent to the semiosphere (Lotman 1990), then distinctive cultural spaces are equivalent to discrete semiotic spaces within the semiosphere. However, the semiosphere may not just consist in an aggregate of specific spaces (or places as already semiotized spaces), as this empiricist viewpoint would contravene Lotman ’ s fundamental position concerning the role of the semiosphere as “ the semiotic space necessary for the existence and functioning of languages ” (Lotman 1990: 123). Lotman ’ s conceptualization of the semiosphere displays considerable similarity to Kantian space as pure form of intuition (as will be shown in the ensuing section), while substituting intuition with semiosis in abstracto. However, a contradiction is lurking in the background concerning the equivalence between semiosphere and culture. If culture constitutes a secondary modeling mechanism that is hierarchically superior to natural language and if both natural language and culture exist within the same semiosphere, then the same semiosphere may not accommodate both natural language and culture. This antinomical relationship might be resolved by recourse to hierarchically ordered semiospheres. However, positing two semiospheres would generate a new impasse, viz., if there are two generativist mechanisms that are independent of each other, and given that beyond the boundaries of a semiosphere lies semiotic void, how can the one function as Is the semiosphere post-modernist? 101 primary modeling system for the other? Hence, the assertion “ in this hierarchy of levels, the secondary levels are always conceived of as semiotic space with more dimensions in relation to the space of its lower levels ” (Nöth 2006: 259) may not concern different semiospheres, but different semiotic spaces within the same all-encompassing semiospheric space. Yet, semiotic spaces within the semiosphere retain their irreducible heterogeneity (Kull, Kotov 2011). If different cultural forms (e. g., fashion, music) constitute different textual systems and if cultural spacing is rendered possible through textual forms, then the contents of a semiosphere are tantamount to textual forms. A cultural space within the semiosphere is the outcome of textualization. At the same time, according to Lotman, the subject is conditioned by a collective intellect whose memory is engraved in texts. “ If individual memory is preserved in the mind, collective memory rests on texts ” (Semenenko 2012: 117). The general text concept used by cultural semiotics is suitable to be used by all disciplines involved in the study of cultural phenomena. It is equally applicable to the subject matter studied by philology, history, architecture, art history, musicology, and the new media disciplines. Its utilization contributes to the bridging of disciplinary boundaries and to the formation of a nonmetaphorical conceptual basis for research into the structure and function of sign complexes in all media. (Posner 2004: 115) “ Lotman bases his approach on the broad concept of text according to which every artifact with a function and a coded message can be regarded as a text; he notes, however, that every culture selects from the set of these texts a small subset which its members consider important for their cultural identity ” (Posner 2004: 118). Lotman ’ s emphasis on the criteria for textual selection (and, furthermore, of particular signs from distinctive texts) is most pertinent for mapping dynamically sources of textual formation. “ Culture is the totality of texts or one complexly constructed text ” (Lotman et al. 1978: 233). Hence, strictly speaking from a Lotmanian point of view, what we are primarily concerned with is what may be called modes of (inter)textual coconditioning between cultural units (artifacts) and subjects (insofar as a text is always another text ’ s inter-text; Orr 1987: 814). Cultural units are constantly desemiotized, in Lotman ’ s terms, and resemiotized in discrete communicative contexts. “ The removal of text from the usual norms of semiotic meaning and its outward desemiotization are conditions for the semiotic meaning of the text ” (Lotman et al. 1978: 242). Insofar as, for Lotman, existence is inconceivable outside of a community we may infer that the very constitution of the subject is textual. In recapitulation, cultural spaces are delimited by texts, while texts construe and maintain the collective intellect on which a subject depends for its textual existence. 2.3 Markers of spatial orientation (inside/ outside, centre/ periphery) “ We know that spatial categories, such as ‘ center versus periphery, ’ ‘ up versus down ’ or ‘ foreground versus background ’ are omnipresent not only in the verbal representation of space but also in the form of metaphors representing abstract concepts in everyday language ” (Nöth 2006: 253). Such spatial categories are instrumental in finding one ’ s way through the hyperreal cultural maze of the semiosphere. Having already clarified what constitutes the inside of a semiospheric space and what amounts to its outside, let us focus on the notions of cultural centre vs. periphery. The centre of a semiospheric space is equivalent to the cultural spaces and their accompanying (conditioning) textual forms and texts that are responsible for upholding the 102 George Rossolatos (Kassel) uniformity of a culture (a culture ’ s metatexts). The periphery consists of non-integral cultural spaces and texts, what we may call a cultural centre ’ s ‘ underground ’ . A dominant cultural centre is always in a dialectical relationship with its periphery. In fact it feeds on the periphery, while the periphery constitutes a non-redundant entropic deposit that poses a threat to a cultural kernel inasmuch as the creative condition of its survival through renewal. Indeed, in an era that is marked by excessive connectivity among social actors on an international scale, enabled by increasingly rapid electronic communications, the rate at which texts and cultural units migrate from periphery to center, but also the scale on which such migrations are effected, could be characterized as being of unparalleled proportions compared to previous historical periods. “ Cultural dynamics consists in this fact above others: that nucleus and periphery can change places. What used to be central is now peripheral, and vice versa ” (Zylko 2001: 402). Lotman ’ s conception of the relationship between the centre and the periphery of a culture and the relative salience of various textual sources in a semiosphere is crucial for mapping out cultural dynamics. 2.4 Demarcation markers (boundary/ ies) Lotman employs the notion of the boundary predominantly in two different senses, as what separates the inside of a semiosphere from its outside (Lotman 1990: 131; Lotman 2004: 115), as well as the porous, membrane-like stuff that unites and separates at the same time, but also allows for the communication amongst distinctive semiotic spaces within a semiosphere. Regarding the first definitional prong, as Nöth (2006: 255) remarks: “ In Lotman ’ s cultural semiotics, it is the boundary that separates a culture from nonculture or the culture of alterity. It separates the territory of one ’ s own, good and harmonious culture from its bad, chaotic, or even dangerous anticulture ” . As regards the second definitional prong, Andrews (2003: 18) contends that “ membranes are viewed in Lotman ’ s theory as discontinuities. It is only through discontinuity that the illusion of continuous perception is possible ” . “ In this way, boundary that is de fined as an at least double-coded system of translation filters both determines the identity of the system and allows the translation of messages between the different semiotic systems ” (Kull, Kotov 2011: 182 - 183). Pursuant to the elucidation of the various spatial forms that make up the semiospheric space let us proceed with the examination of how space has been framed by seminal modernist and post-modernist authors, while drawing parallels with and points of divergence from Lotmanian theory. 3 Kant ’ s modernist conceptualization of space as pure form of intuition According to Kant ’ s transcendental idealism, space and time constitute pure forms of intuition and primary conditions of empirical understanding and knowledge. As against an empirical realist approach that considers the notion of space as an abstraction from empirically lived spaces, transcendental idealism posits space as an a priori condition of empirical intuition and hence as a formal condition for experiencing phenomena that impinge on sensibility. Is the semiosphere post-modernist? 103 Space is not an empirical conception which can be abstracted from external experiences. For in order that certain sensations may be related to something external to me (that is to something in a part of space different from that in which I am), and similarly, in order that I may represent them as outside of and next to each other, and consequently as not merely different from each other but also as in different places, the representation of space must already be there as a basis. (Garnett 1939: 166) This non-empirically dependent representation of space and hence pure and a prioristic form of intuition (intuitus purus) that conditions empirical spatial representations is part and parcel of the architectural mechanism of Pure Reason and hence located in the Mind (not necessarily as physical brain). Objects (of any form, including cultural artefacts) are constituted as such through successive acts of synthesis from various functions and faculties of empirical understanding and of Reason, starting with the synthesis of sensible phenomena against the background of the a priori forms of intuition (space and time) and moving progressively through the synthetic acts of apperception, transcendental imagination and conscious judgments that allow us to cognize and recognize, roughly speaking, empirical objects as identical throughout their multifarious manifestations in various contexts. An object, according to Kant, may not be known in itself (as ding-an-sich and its noumenal counterpart or object x) directly and in an unmediated fashion, that is outside of understanding and Reason ’ s own faculties and forms of sensibility. This would amount to what Kant called in the first Critique a paralogism of Pure Reason, that is claiming that objects may be known in themselves regardless of the synthetic activities of Reason ’ s faculties that are responsible for synthesizing objects or for objectifying them as such. The fact that a self, and by extension a culturally constituted self, cannot exist outside of space does not refer to an empirical self that is located in place A at time Y, but to a transcendental self (as carrier of the transcendental apparatus of Reason) that conditions the empirical self. The transcendental self is equipped with pure forms of sensibility “ in so far as they are presupposed in the sensation of things and thus cannot be abstracted from outer sensations ” (Caygill 2000: 373) and space is an integral part of these conditions. “ They are pure in that they cannot be derived from experience, a priori in that they are antecedent to any and every act of thinking, formal in that they order the manifold of appearance, and intuitions in so far as their manner of ordering the matter of sensibility is distinct from that of a concept (they co-ordinate but do not subsume their manifold) ” (Caygill 2000: 374). If an empirical self is responsible for producing texts and other objects of empirical understanding, this is because it is dependent on a transcendental self who is the carrier of the faculties of Pure Reason (an ‘ I/ me ’ dialectic that survived through the aeons, reaching up to existential phenomenology). Space is “ given to the mind prior to all perceptions ” (Garnett 1939: 166). Hence, place and cultural spaces are dependent for their existence on space as pure form of sensibility and integral part of empirical understanding. This conceptualization of space is equivalent to a pure representation insofar as in order to function as a priori form it must not be dependent on sensible content. However, in order to function it requires sensible content. Sensible content is sensible for a pure form of sensibility, inasmuch as space as form of sensibility is conditioning vis-a-vis its sensible content. In the Kantian sense, space as a priori form is devoid of content, while the transcendental self to whom this pure form of sensibility belongs may be said to live in a ‘ void ’ or empty space (metaphorically speaking). 104 George Rossolatos (Kassel) 4 Why the semiosphere is and is not modernist The subjugation of the empirical self and its lived spatial reality to the atemporal transcendental subject that is the carrier of the faculties of Pure Reason and hence the former ’ s sine qua non has been vehemently criticized by post-modernists on various grounds. A major and still open ground of ongoing contestation revolves around the possibility of so-called a priori synthetic judgments. In short, a priori synthetic judgments are judgments of empirical understanding, yet whose nature is non-empirically binding. Obviously, in any empirical instance involving other than analytical judgments (e. g., geometrical axioms), due to the cultural relativity and radical situatedness of the subjects that confer judgments about facts-of-the-world, the content and the value of these judgments are likely to vary, thus rendering the a prioristic validity of such judgments particularly question-begging. Judgments of empirical understanding are unquestionably synthetic (from a Kantian point of view) insofar as they consist of subsuming perceptual phenomena under categories of empirical knowledge (e. g., visual appearance X under the empirical category of table-clothe), however the inter-subjectively uniform subsumption of visual phenomenon X under empirical category Y is a subject of cultural agreement and hence not a priori given (in the same manner as forms of pure intuition, that is space and time, are given a priori to the cognizing subject). If there is no a priori legitimacy in empirical judgments and if empirical judgments are dependent on agreement among members of interpretive communities, then what kind of criteria of legitimacy may be furnished by Pure Reason? “ If I am unable to say not only that this A is the sun and this B is a stone but also that this B is at least a body, all the universal and necessary laws that the concepts of the pure intellect guarantee me are worth nothing, because they could refer to any datum of experience ” (Eco 2000: 73). “ It ’ s always that same modern thing, where we ’ re imposing forms on the world by not being informed by the world ” (Clarke 2005: 19). And if the echelons of Reason are always functional for a cognizing subject qua situated observer who is by default constrained by culturally constituted interpretative categories for cognizing objects and for producing cultural artefacts, then space is not a pure form of intuition, as lower-ranking function of a transcendental subject ’ s apparatus, but of an always already culturally pre-constituted empirical self. If the subject is first and foremost empirical and culturally constituted, then space may also be viewed as a formal condition for cognizing culture, while recognizing one ’ s a priori cultural spacing. In this sense, the semiosphere is certainly not Kantian and hence non-modern, but also more akin to a culturally relativistic post-modern conceptualization. However, it does retain pre postmodernist vestiges in its meta-theoretical nucleus, viz., its constituting a formal condition of cultural production that is not the sum of its parts and hence being posited as a formal condition of the possibility of cultural production which is akin to the Kantian conceptualization. Is the semiosphere post-modernist? 105 5 Post-modernist conceptions of space, discursivity and subjectivity: Foucault and Deleuze in focus 5.1 Lotman vs. Foucault The production of knowledge as discourse walks hand in hand with power relations for Foucault. “ While the human subject is placed in relations of production and signification, he is equally placed in power relations which are very complex ” (Foucault 1982: 778). This constitutes a most divergent point of departure in the theorization of how knowledge is produced between modernism and post-modernism. Hence, whereas Kant was mostly concerned with the self-generating epistemic powers of Reason, Foucault is concerned more with the social forces that are conducive to the consolidation and normalization of certain discursive formations at the expense of others. In this context space and discourse are inextricably linked. “ The problematics of power encounters spatial organization. Foucault is not generally interested in matters of geography, although he confesses in an interview that his genealogy of knowledge is tied to the techniques and strategies of power, which are deployed through the distribution, delimitation, and control of territories and the organization of domains, leading to a kind of geopolitics ” (Lagopoulos 2010: 215). Of course, since Foucault ’ s time, cultural geography “ which concentrates upon the ways in which space, place and the environment participate in an unfolding dialogue of meaning ” (Shurmer-Smith 2002: 3) has become an entrenched field in cultural studies. The concept of epistemological space initially delineates a doubling of language, thought, or knowledge by their respective conditions of possibility, which transforms them from linear entities to be interpreted, to exterior “ depths ” demanding an “ archaeological ” analysis. Later on Foucault ’ s concept of space would be further elaborated to supplement a “ deep ” , “ outside ” doubling of language, thought and knowledge, by practices, power relations, and material spatial environments. This elaborated concept of space then makes up a dispositif (or apparatus) of mutually enabling spatial practices. (West-Pavlov 2009: 121) Lotman does share the genealogical methodological principle that underpins Foucault ’ s ‘ archaeology ’ , however he does not emphasize the importance of power relations in the production of knowledge and when he refers fleetingly to such relations (e. g., in Lotman 2004) he does not regard them as a proper subject of semiotic analysis (see Schönle 2001: 68 - 69). He considers the cultural centre in the dialectic between centre and periphery as more of a necessary condition for the avoidance of a culture ’ s disintegration, rather than the outcome of stabilizing forces in a power play. Concomitantly, Lotman ’ s conception of the textual constitution of the subject as a direct reflex of a collective mind does display similarities with Foucault ’ s perspective on the formation of the subject as the outcome of internalization of various discourses, albeit not focusing on how power mechanisms function at the exclusion of some discourses from the centre of a cultural semiospheric space. In this respect Lotman ’ s semiosphere may be labeled as post-modernist, insofar as it does recognize the discursive constitution of the subject, inasmuch as not post-modernist, insofar as it does not emphasize the power mechanisms that are responsible for the ‘ hegemonic ’ imposition of which codes, texts, signs give rise to the cultural spaces that make up the centre of a cultural semiospheric space. Furthermore, whereas Lotman posits the existence of a collective intellect and subscribes to the theory of consciousness as well as to a unified conceptualization of the semiosphere, in 106 George Rossolatos (Kassel) which case modernist vestiges are retained in the form of an essentializing knowing subject and a totalizing outlook to the formation of culture (with the proviso of the recognition of heterogeneity as intra-semiospheric organizational principle), Foucault neither endorses the primacy of the subject in knowledge formation, nor the notion of a collective intellect. “ In The Order of Things, Foucault undermines our tendency to think that each of us is a self-sufficient, meaning-giving cogito by recounting the history of the construction of the Cartesian subject and the Kantian agent ” (Dreyfus 2004). Above all, he vehemently denounces any validity in attempts at unifying distinctive discursive practices under a totalizing or archi-discourse. Yet, by virtue of acknowledging the influence power structures play in the relative stability and dominance of certain discursive formations, we are certainly not flawed in at least provisionally lending credence to the hypothesis that similar power mechanisms are at play in an attempt to maintain a unifying thread that cuts across different discursive formations, inasmuch as in upholding the boundaries that separate and unite different discourses, or, in Lotman ’ s terms, in determining which discourses populate the centre and which the periphery of a culture. Moreover, Lotman ’ s stipulation that a semiotic space and its attendant language may be produced by recourse to a given code and that in a semiospheric space more than one codes are likely to co-exist, each being irreducible to each other, resonates Foucault ’ s conceptualization of the co-existence of irreducible discursive formations. The difference is that Foucault would be in principle antipathetic to the endorsement of the structuralist conception of code as generativist mechanism (even though it must be borne into mind that such generativism, for Lotman, concerns the modeling capacity of semiotics, rather than an inherent property of a semiotic space, in which case it is a methodological concept, rather than ontological and hence not likely to be dissonant with Foucault ’ s wider anti-ontological posture). Another crucial difference between the Foucauldian conception of spatiality and the relationship between spatial metaphors and the production of subjectivity concerns Lotman ’ s insistence on the existence of a cultural centre. This spatial metaphor connotes the existence of a centralized command-line or, at least, a virtual network of cultural mediators (akin to a kyberneion) who issue commands as to which codes and texts will populate the cultural centre in each stage of a semiosphere ’ s evolution. Regardless of whether robust empirical verification of this speculative remark is pending, Foucault, at least in his post-panopticon (aka Discipline and Punish) writings, endorses a completely different outlook to the production of culture in terms of a matrixial and decentralized organization. “ The dispositif is spread out, sprawling, multidimensional, enveloping extensions both in space and time, interconnecting, without a clear centre or commanding instance ” (West-Pavlov 2009: 150). 5.2 Lotman vs. Deleuze (& Guattari) The semiosphere begins to seriously ‘ lose on post-modernist points ’ once compared and contrasted with Deleuze (& Guattari ’ s) conception of ‘ territory ’ . Despite the fact that overall Lotman ’ s cultural theory wavers between structuralism (e. g., binarism, hierarchical structures) and post-structuralism (e. g., fluid boundaries among codes and semiotic spaces, not strictly reducible to binarist pairs), clinging onto the possibility of a hierarchical ordering of semiotic spaces and texts in the determination of a cultural centre (driven by an obscure ‘ necessity ’ for upholding the uniformity of a culture, also reflected in Andrews ’ [2003: 109] contention that a culture always selects a set of texts as metatexts which obliterates any human Is the semiosphere post-modernist? 107 agency from the ‘ selection ’ process) is in marked contrast with the emancipatory (from stateregulated, striated-space), deterritorializing, rhizomatic and non-arborescent discursive structures envisioned by Deleuze & Guattari in the two volumes of Capitalism & Schizophrenia (but also in individual works by Deleuze and Guattari). Deleuze ’ s reflection on space is “ rhizomatic ” rather than “ arborescent ” . Deleuze ’ s theory of space is not built like a tree, with a central hierarchical trunk from which subordinated ‘ branches ’ then spread out, themselves branching off into smaller twig-like subtopics. Rather, his theory of space seems to develop horizontally, spreading out tendrils and runner-shoots which then cross each other at some later point, forming a dense web of allusions and interconnections. (West-Pavlov 2009: 171) This fundamental premise of Deleuze and Guattari ’ s post-modernist (aka post-hierarchical) theorization of spatial organization as an attempt to endorse the originary flux of becoming without reducing it to binary structures is in stark contrast to the Lotmanian semiosphere which does retain hierarchical structruring and binarism as a fundamental form of organization of a semiotic universe (for example, see Lotman 1990: 124: “ Binarism and asymmetry are the two rules binding any semiotic system ” ). “ Deleuze and Guattari eschew the mere inversion of binary hierarchies for the simple reason that such binaries are from the outset bound into the underlying economy of absence and presence. It is this fundamental binary which they wish to eradicate, instead proposing flow as an option towards which we would do well to move ” (West-Pavlov 2009: 178). However, despite the fact that binarism is recruited by Lotman in the analysis of structures of literary works, in principle and on various instances throughout his writings the attempt to move beyond binarism, at least as fundamental form of semiotic organization, is also evident. Thus, when he talks about mapping dynamic processes whereby a semiospheric space changes, he includes the observer to whom a configuration of semiospheric space appears as such at a certain point in time. The descriptive crystallizations of semiospheric configurations follow a far from tidy binarist structural logic. However, Lotman does not dispense with binarism altogether, as against Deleuze & Guattari. For Deleuze & Guattari space is first and foremost process, as territorialization. Territory, as this or that space (place), is the outcome of the process of territorialization. Territorialization is not grounded in a pre-given container, as seems to be the case with the semiosphere which does constitute (even metaphorically) a sort of Newtonian container wherein change takes place. “ It is not that there is a space that is then qualified; rather, forces produce qualities and qualities produce fields or spaces, ‘ blocs of becoming ’ (West-Pavlov 2009: 181). Rather, territories are metaphorical constructs that seek to encapsulate the outcome of a non-ground as process of territorialization. Again, this should be marked as a fundamental distinction between Lotman ’ s pre post-modernist and Deleuze & Guattari ’ s post-modernist account of spacing. “ Territoriality is thus a process which creates insides and outsides, limits, zones, unevenness ” (West-Pavlov 2009: 180 - 181). One might say that if Deleuze & Guattari were to rewrite the semiosphere they would probably characterize it as the outcome of the process of semiosis, rather than a hyper-space wherein semiosis is contained. However, the very fluid process of spacing within the semiosphere and the constantly shifting boundaries among cultural spaces, in Lotman ’ s terms, do exhibit considerable similarities with the constant process of deterritorialization and retteritorialization that is put forward by Deleuze & Guattari. “ Territoriality takes pre-existing flows, the fluid materiality of being in 108 George Rossolatos (Kassel) itself in its state of becoming, and begins to make semi-formalized domains out of it. These domains are by no means permanent. They may dissolve once again back into the flux of being, only to be reformalized in another form, in another place, by the desiring attraction and conjunction of several elements ” (West-Pavlov 2009: 181). At this juncture it is also prudent to make a detour towards the earlier analysis on Kant ’ s conceptualization of space and read Deleuze & Guarttari ’ s concept of territorialization under a modernist prism, so to speak. In these terms, whereas for Kant the allocation of space to empirical phenomena would be incumbent on a pure form of sensibility as space (as pure representation), for Deleuze & Guattari the very possibility of producing a pure form of sensibility is incumbent on the flux of matter (obviously a paralogism, in Kantian terms). This radical materialist account that echoes Heraclitus ’ flux seems to constitute a lapse to pre- Kantian empiricism, against which Kant sought to argue. In fact, Deleuze has been particularly pre-occupied with a return to the ding-an-sich (as field of intensities) which, according to Kant, is not knowable as such, but only by recourse to the categories of empirical understanding which depend on how objects appear to space and time as pure forms of sensibility. Surely this is an argument that may not be fully tackled within the confines of this paper. However, in order to fully appreciate the differences and perhaps points of intersection between Lotman and post-modernism, we should at least take into account the different tasks that Kant ’ s first Critique and Deleuze & Guattari ’ s Anti-Oedipus sought to accomplish Thus, whereas the former sought to address epistemological issues and to furnish primary conditions for the possibility of knowledge, the latter were concerned with the possibility of producing emancipatory discourses (e. g., endorsing the singular assemblages that emerge in the flux of schizophrenic discourses as modeling system) that would eschew the totalizing power of striated state-space. Smooth space, the ‘ territoriality ’ of nomadic movement, is not marked by the pre-formed routes of roads, canals and fences which are characteristic of the state, and of the institutionalized attempts to control and subjugate the turbulences of water in the landscape [. . .] Smooth space is explored without calculation, without being quantified, it is constituted as a body of ‘ rhizomatiques ’ which are explored in the moment of travelling. (West-Pavlov 2009: 182) Smooth space, as against semiospheric space, is not demarcated by boundaries, however flexible and membrane-like these boundaries may be, but by singular and non-retraceable ‘ lines of flight ’ . Hard as it may be to argue for which modeling metaphor (i. e., Lotman ’ s membranes vs. Deleuze and Guattari ’ s lines of flight) is more apt for encapsulating the nonregimented process of constant reterritorialization, indubitably they both point to the multidirectional cross-fertilizations that take place in cultural hyperspace, with the difference that whereas for the former this taking-place is already situated within the container of the semiosphere, for the latter ‘ it takes place ’ in the pure extra-semiospheric void that in fact appears to be conditioning the very conceptualization of a semiosphere. “ Deleuze and Guattari advocate the construction of nomadic ‘ lines of flight ’ in order to experiment with implicit connections currently imperceptible to the subject that could be actualised into new realities ” (Lorraine 2005: 163). “ A nomadic style of subjectivity consists in the unfolding of patterns that are not referred to an external plan of organisation or conventional notions of space and time, but rather evolve from the force of patterns immanent to the individual in its specific milieu ” (Lorraine 2005: 171). Is the semiosphere post-modernist? 109 The generation of cultural spaces, from a Deleuzian point of view, entails a prioritization of the production of non consciousness-centric differences, and their non-reduction to binarist pairs. This stance is indicative of the wider polemic that Deleuze launched against Hegelian dialectics as the work of ‘ negative theology ’ (see Rossolatos 1995) cloaked under the progressive evolution of Geist. On the contrary, Deleuze endorses a purely differential becoming (as originally conceived by Heraclitus), while explicitly positing that any form of oppositional thinking, and hence binarism, constitutes an arbitrary imposition which must be given up in favor of situational vectors that map relative positions and the co-evolution between subject and its natural surroundings (as a proxy to the potential encapsulation of presence in its presencing prior to its succumbing to the thanatographical repetition of representation; see Rossolatos 1995). “ Difference, not opposition, is the real movement of thought. It is the principle or origin of the dialectic. For this reason, Deleuze writes, “ the negative expires at the gates of being. Opposition ceases its labor and difference begins its play ” (Hughes 2009: 49). Sedentary distribution is the thinking of the ‘ classical ’ world (romantic revolt also belongs to this world). Deleuze calls such a thinking the ‘ philosophy of representation ’ . The authority which it obeys is the principle of identity, whose mark is found in the iterative prefix REof the word ‘ representation ’ . Every present must be re-presented, in order that it may be re-discovered as the same; it follows that in this philosophy the unknown is only ever a not-yet-recognised known, that to learn is to remember, that to encounter is to meet again, that to leave is to return, etc. What eludes this rationalism, then, is difference as such. The difference between discovery and rediscovery is the gap which separates an experience from its reiteration - whence the problem of repetition. (Descombes 1998: 154) If post-modernity has been identified with the movement of the so-called ‘ philosophy of difference ’ and Deleuze & Guattari constitute most prominent representatives, and if the repercussions of the dismantling of consciousness and oppositional thinking as prototypical concepts of the Western philosophical tradition afforded to open up new ways of theorizing space, then Lotman ’ s semiosphere, by virtue of clinging onto binarism and consciousness as integral parts of the semiosphere, may hardly be approached as a post-modernist concept. And yet, insofar as the semiosphere does include a level of dynamism in its constant mutations that is similar to the process of territorialization, it may be said to include facets of the philosophy of difference. In conclusion, Lotman oscillates constantly between modernity and post-modernity in an attempt to salvage (perhaps) the tradition from the lavaic overflow of the philosophy of difference, while recognizing that if a sufficient account of the formative mechanisms of culture is to be yielded, then we have to move towards post-modernity. In an attempt to extend Deleuze ’ s anti-oppositional thinking and with view to reconciling it with the Lotmanian semiospheric conception, I would be inclined to argue that they both converge on the pre-Socratic philosopher ’ s Empedocles conception of the ‘ sphere ’ . Based on Empedocles ’ cosmogonical poem (at least the fragments that have been bequeathed to us), phenomena appear through the interplay between the antagonizing forces of Love (Filotes) and Strife/ Hatred (Neikos). These forces are situated at the level of pure becoming, that is the irreducible Many (or sensory manifold in the context of the Kantian Transcendental Aesthetic). In fact, the One emerges from the Many, in contrast to monistic cosmogonical accounts (e. g., Parmenides). The cosmos is conceived in the form of a sphere whose 110 George Rossolatos (Kassel) continent is originally stable thanks to the predominance of the forces of Love (hence its denomination as sphere of Love by Guthrie 1980: 166). Once Strife enters the sphere, the once stabilized elements re-enter a trajectory of de-territorialization (as Deleuze would put it). Love intervenes once again, thus culminating in the elements ’ stabilizing anew in determinate spaces within the sphere (they become re-territorialized). Indeed, the similarities in the employment of the spheric metaphor between Lotman and Empedocles are striking, inasmuch as between Deleuze ’ s processes of de-territorialization and re-territorialization (which are akin to Lotman ’ s deand re-semiotization; see Section 2) and Empedocles ’ conception of the constant re-organization of the Sphere ’ s space in the context of the conflicting forces of Love and Strife (see Rossolatos 1997). In this sense, neither Lotman, nor Deleuze are post-modernists, but philosophers of becoming, inasmuch as Heraclitus was a philosopher of becoming, long before his appropriation by Hegel or Marx. Lotman ’ s attempt to theorize culture through a philosophical prism of becoming urged him to revert to such primordial concepts as the sphere in order to transfer us metaphorically to a space that is neither dependent on Reason, nor the outcome of thinking processes, but, on the contrary, where Reason, as aspect of cultural production, is machinically assembled with a movement that underlies it and that may be mapped out not strictly through binarist pairs, but as lines of flight and as constantly shifting boundaries (membranes) among provisionally crystallized and constantly shifting semiospheric spaces. Finally, a point of intersection between Deleuzian materialist ontology and the semiosphere may be discerned in terms of what, most cryptically, has been termed by Lotman as the semiosphere ’ s constituting the minimal unit of analysis: “ The unit of semiosis, the smallest functioning mechanism, is not the separate language, but the whole semiotic space of the culture in question. This is the space we term the semiosphere ” (Lotman 1990: 125) One would expect that semiosphere, in its all-encompassing capacity vis-à-vis enunciators, texts and individual signs, would be, and has been interpreted repeatedly (cf. Section 2) as being the plenum of all possible units making up a culture, rather than the minimal unit of analysis. A tentative answer to this paradoxical remark is that insofar as semiosphere includes not only what is manifested as the outcome of territorialization, but the very event (in Deleuzian terms, as a theoretical freeze-frame on the first stages of the formation of empirical concepts according to Kant ’ s first Critique) where a stimulus (or a nano-particle of the primary hylean flux) impacts on the sensory apparatus of a subject (the aleatoric point of the encounter that allows for the actualization of signification, yet which, precisely as encounter, always rests in virtuality; cf. Hughes 2009: 143), then semiosphere is also the subject of scrutiny. In short, unless we are capable of accounting for shifts in the materiality of becoming in the first place, how can we ensure adequacy in any account concerning the communicative sublation whereby the stimulus is appropriated through signs and interpretatnts that make up a textual edifice? Deleuze seeks constantly to return to this primary event as the heart of the paralogically noumenal ding-an-sich that is retained in Lotman ’ s semiosphere as the impossible to be accounted for and at the same time reason for positing the semiosphere as minimal unit of cultural signification. But doesn ’ t this parallel, one might ponder, reflect more accurately the notion of biosphere and natural space rather than semiosphere and cultural space? Insofar as Deleuze ’ s conception of territorialization does not make this crude distinction or, rather, precedes this distinction (which would merely amount to re-lapsing into a binarist rationale as an after- Is the semiosphere post-modernist? 111 shock of territorialization), then the parallel not only is justified, but mandatory. Deleuze, inasmuch as Lotman, furnish modeling systems that are outcomes of ‘ thought-in-becoming ’ , where becoming is viewed from a spatial point of view as process of territorialization (Deleuze) -the spacing that gives space (and let it be noted that in French donner lieu [giving space] is synonymous with creating)or emerging semiotic spaces in a semiosphere, where a semiosphere, just like a territory, is “ superabstract and infraconcrete ” (Massumi 1996: 99) and hence may be approached at the same time as the minimal unit of analysis inasmuch as the all-encompassing hyperspace that conditions existentially its flow of becoming. 6 Conclusion In this paper an attempt was made at shedding light on points of divergence and convergence between Lotman ’ s concept of the semiosphere and seminal modernist and post-modernist conceptualizations of space, the production of discourse and subjectivity. Overall, the semiosphere was found to be rather pre-post-modernist in its undue focus on power relations as constitutive of discursive formations on which the notion of subjectivity is incumbent (compared with Foucault), but also in its (quasi)adherence on binarism and the hierarchical organization of meaning within a semiospheric space. However, these points of divergence do not necessarily render the semiosphere modernist stricto sensu. In an attempt to encapsulate multi-directional and multi-faceted becoming within a semiospheric space, Lotman ’ s theory was found to be similar in various salient facets to Deleuze and Guattari ’ s process of territorialization, albeit different in its retention of a ‘ container ’ rationale. Certainly the scrutinized facets are not exhaustive with regard to the vast conceptual spectrum where such differences and similarities may be pinpointed, however they attain to point out relevant directions whereby the semiosphere may be dialogically extended and enriched with view to finding its proper ‘ metaspace ’ amidst the post-modern vernacular. 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Giessen (Saarbrücken) Es ist bekannt, dass Inhalte und ihre Aufbereitung unterschiedlichen Gesetzen gehorchen, je nachdem, in welchem Medien sie dargestellt werden sollen. Dieser Beitrag versucht, herauszuarbeiten, welche Regeln bei der Herstellung von Videos befolgt werden sollten, die für Handys produziert werden. Es handelt sich um eine Folgestudie zu Giessen 2008; dort wurden die jeweils unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Aspekte von Bewegtbildproduktionen für das Kino, für das Fernsehen und für den Computer (im Kontext von Multimediaproduktionen) untersucht. Die Ergebnisse: Bei Handys sollten die Einstellungen, ähnlich wie bei Bewegtbildsequenzen für computergestützte Multimedia-Angebote, auf Großaufnahmen beschränkt bleiben. Im Gegensatz zu diesem Medium kann der Schnitt-Rhythmus für Handyproduktionen aber etwas langsamer sein; die Filme können auch etwas länger werden. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass bei Handys aus Sicht der Nutzerforschung chronologische, argumentative, sich entwickelnde Inhalte wieder eher möglich sind als insbesondere bei Multimediaproduktionen. 1 Einleitung Es ist bekannt und einleuchtend, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch das Medium selbst eine Publikation prägt. Das ist zunächst banal, denn natürlich muss ein Bericht in schriftlicher Form (als Aufsatz oder als Buch) anders gestaltet sein als, beispielsweise, eine Veröffentlichung zum selben Thema als Film. Inhalt müssen mediengerecht aufbereitet werden: Beim Film muss man sie beispielsweise bebildern. Dagegen muss in der Schriftform vieles (buchstäblich) beschrieben werden; und eine Argumentation muss darauf Rücksicht nehmen, dass sie zwangsläufig (nur) kognitiv nachzuvollziehen ist und normalerweise keine Unterstützung durch andere Sinne erfährt (Giessen 2003). Entscheidende Faktoren sind also medienimmanente Eigenschaften, aber auch charakteristische Nutzersituationen, die wiederum vom Medium abhängen. Es ist daher ein wichtiges Ziel der Informations-, Kommunikations- und Medienwissenschaft, zu untersuchen, wie der Informationstransfer in und mit unterschiedlichen Medien am effizientesten vonstatten geht. Im Idealfall lassen sich die medienspezifischen Vorgehensweisen mehr oder weniger exakt darstellen und typologisieren. Eine solche Typologisierung - ein Set von Regeln - erleichtert den Produzenten von medialen Inhalten die Arbeit. Die Kenntnis solcher Regeln ist aber auch von theoretischer Bedeutung. Auch dies soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Häufig hört man etwa die Klage, dass ein Spielfilm den Inhalt und die Komplexität eines Buches nicht angemessen wiedergeben habe - auch wenn der Film als Film wirksam und überzeugend gewesen sein mag. Eine solche Klage - also: Negativbewertung des Films, weil er ein Film ist und kein Buch - ist in der Tat aber Konsequenz dessen, dass die medientypischen Charakteristika des Films (wie auch des Buchs) nicht berücksichtigt worden sind. Man erwartet vom Film dasselbe wie vom Buch - was aufgrund der Mediencharakteristika nicht möglich ist. Eine angemessenere Würdigung müsste berücksichtigen, in wieweit der Film seinem Medium gemäß überzeugend war, anstatt ihn mit dem Medium Buch zu messen; es liegt auf der Hand, dass dies einem Film nicht gerecht wird. Theoretische Kenntnisse über die Regeln medienadäquaten Publizierens ermöglichen also, ein Werk angemessener, sachgerechter und ‘ objektiver ’ zu bewerten. Nun gibt es nicht nur unterschiedliche Charakteristika und Zwänge, die die Arbeit mit und für unterschiedliche Medien prägen. Medien sind selbst nicht monolithisch - Print ist nicht gleich Print. Ein Flugblatt wird anders rezipiert als ein Buch. Dies gilt auch für Bewegtbildmedien, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren will. Hier existiert allerdings noch immer der Eindruck des Monolithischen, weil es in der Tat fast ein halbes Jahrhundert nur ein Abspielort - und damit: eine charakteristische Nutzersituation gegeben hat. Das Kino etablierte sich um die Wende 19./ 20. Jahrhundert (Reitz 1995) und blieb zumindest bis in die fünfziger Jahre das fast ausschließliche oder zumindest doch dominante Medium, bevor das Fernsehen zunehmend Einfluss gewann (Abramson 2003). Bezogen auf Bewegtbildproduktionen waren also das Kino und die dort vorherrschenden Charakteristika und Zwänge mehr als ein halbes Jahrhundert für die Entwicklung einer Typologie bestimmend. So konnte sich langsam herauskristallisieren, was in diesem Kontext medienadäquat war. Dies beginnt beispielsweise mit der Filmlänge, die sich auf rund eineinhalb bis zwei Stunden eingependelt hat (für einen zehn Minuten langen Film würde niemand das Haus verlassen und Eintritt zahlen); aufgrund des großen Bildschirms sind weite Landschaftsaufnahmen oder Massenszenen besonders angemessen - damit diese detailreichen Bilder gut verarbeitet werden können, ist das Schnitt-Tempo eher langsam. Es gibt Regeln und Strategien, wie Geschichten möglichst spannend innerhalb von rund eineinhalb Stunden erzählt werden (Knauss 1995/ 2006); charakteristisch ist auch, dass es nur wenige Kinofilme gibt, die nicht fiktionale Narrationen präsentieren. Die Charakteristika des Leitmediums Kino wurden zunächst von Fernsehschaffenden übernommen. Schnell zeigte sich aber, dass das ‘ neue ’ Medium teilweise andere Regeln benötigte. Fernsehapparate waren zunächst deutlich kleiner als die Kinoleinwand; deshalb waren Totalen und Massenszenen hier weniger wirksam. Spätestens in den achtziger Jahren, als eine neue technologische Entwicklung mit (einerseits) mehreren Kanälen und (andererseits) der Fernbedienung einsetzte, die wiederum ein einfaches Wechseln zwischen diesen Kanälen ermöglichte, zeigte sich, dass die notwendigerweise plakativeren Bilder in der Regel auch schneller langweilten. In einem nun auch ökonomisch bedingten Wandel wurde daher das Schnitt-Tempo erhöht, das bis dahin, der cinematografischen Tradition gemäß (die nach wie vor aufgrund des leitmedialen Charakters dominierte), eher langsam war. Inzwischen hat sich der Schnitt-Rhythmus beim Fernsehen deutlich erhöht. Dies hat sogar Ausstrahlungseffekte zurück ins Kino, bemerkenswerterweise aber nicht auf Filme, die gerade durch ihre visuellen Effekte als charakteristische Kinoproduktionen empfunden werden ( “ Avatar ” , “ Gladiator ” und andere). Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 115 Spätestens seit den achtziger Jahren hat das Fernsehen das Kino als dominierendes Bewegtbildmedium abgelöst. Diese Dominanz blieb mindestens zwei Jahrzehnte bestehen, so dass auch hier genug Zeit war, medienadäquate Charakteristika zu erkennen und darzustellen. Etwa kurz vor der Jahrtausendwende hat dann die Digitalisierung zu einem neuen Leitmedium geführt: dem Computer und der multimedialen Präsentation, die schnell auch Bewegtbild integriert hat. Erneut haben die Charakteristika des Mediums und die unterschiedliche Nutzersituation dazu geführt, dass neue Typologien zu erstellen waren. Im Folgenden sei kurz dargestellt, dass und wie sich unterschiedliche Medien auf die Gestaltung von (für das jeweilige Medium produzierten) Bewegtbildpräsentationen und insbesondere Videofilmen auswirken. Die Darstellung unterscheidet zwischen Bewegtbildproduktionen (1.) für die Kinoleinwand, (2.) für den Fernseher und (3.) für ein Videoframe im Rahmen einer computergestützten Multimedia-Produktion (wenn der Computer mit Hilfe einer Vollbild-Darstellung als Kanal für Fernsehproduktionen genutzt wird, entspricht auch die Nutzersituation - Abstand vom Gerät usw. - derjenigen beim Fernsehen). Je nach Medium ändert sich das Nutzerverhalten; damit verändern sich auch die Voraussetzungen für eine medienadäquate Bewegtbildproduktion. Abb. 1: detailreiche Massenszenen wirken im Fernsehen unübersichtlich und wenig eindrucksvoll ( “ Panzerkreuzer Potjomkin ” von Sergeij Eisenstein) 116 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Ein Beispiel soll dies noch einmal kurz verdeutlichen: Eine Kinoleinwand ist groß; um sie angemessen zu füllen, muss man detailreiche Bildkompositionen erstellen - damit die Zuschauer ein solches detailreiches Bild ganz erfassen können, muss das Bild jedoch relativ lange stehen; die Schnitte dürfen also nicht allzu schnell aufeinander erfolgen. Das Fernsehbild und erst recht das Bewegtbildframe auf dem Computer-Monitor sind allerdings wesentlich kleiner. Hier würde ein zu detailreiches Bild unübersichtlich und - im Gegensatz zur Kinoleinwand - wenig eindrucksvoll wirken. Deshalb sind Halbtotalen oder gar Großaufnahmen für diese Medien üblich geworden. Großaufnahmen werden aber natürlich leichter und schneller erfasst, mit der Folge, dass das Bild auch schneller langweilt. Daher (und weil das Publikum, im Gegensatz zum Kinozuschauer, wegzappen oder sich durch ein multimediales Angebote weiterklicken kann) sind bei Produktionen für diese Medien schnellere Schnitt notwendig, um die Aufmerksamkeit immer wieder an die Bewegtbildbeziehungsweise Videoproduktion zu binden. Die Nutzersituation hat aber noch weitere Auswirkungen. So ist man im Kino in einem dunklen Raum, und man hat Eintrittsgeld bezahlt, um einen Film zu sehen. Man lässt sich also intensiv auf das Filmerlebnis ein. Dagegen hat sich das Fernsehen zum Begleitmedium entwickelt. Man plaudert, während der Apparat läuft; man geht zum Kühlschrank, um sich etwas zu trinken zu holen; das Telefon klingelt; zwischendrin hört man, wie der Nachbar zum wiederholten Mal versucht, sein Auto zu starten, und es erneut abwürgt. Die Zuschauer sind also unkonzentriert(er); dazu kommen die neuen Charakteristika des Mediums. Die Fernseh-Macher müssen nun jederzeit damit rechnen, dass die Zuschauer durch die Programme zappen. Um die Zuschauer an ein Programm zu binden, müssen die Autoren und Regisseure die Inhalte mithin so gestalten, dass man sofort erkennen kann, um was es geht. Da nicht mehr von der Vorstellung eines Zuschauers ausgegangen werden kann, der eine Sendung von Anfang bis Ende sieht, müssen Fernseh-Produktionen zunehmend so gestaltet werden, dass sie ohne Kontextwissen verstanden werden können. Natürlich gibt es nach wie vor den Tatort-Krimi; aber die Sendeformen, die seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts neu entwickelt worden sind und als ‘ fernsehtypisch ’ eingeschätzt werden, sind Talk Shows, Spiele, sowie die sogenannten Daily Soaps, in deren Handlung und Geschichte man sofort hineinkommt, weil ihre Dramaturgie jeweils nur auf punktuelle Spannungseffekte setzt, und nicht mehr auf eine innere Spannung, die aus einer komplexen Geschichte resultieren würde. Auf all diese Abb. 2: Nutzersituation im Kino, beim Fernsehen, beim Computer (nach Giessen, 2008) Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 117 Sendungen können die Zuschauer jederzeit zufällig stoßen, und dennoch werden sie nie lange brauchen, um das Geschehen zu verstehen. Natürlich dürfen diejenigen Zuschauer, die die Sendung von Anfang an verfolgen, nicht bestraft werden, indem sie sich langweilen - es muss also immer wieder Neues kommen. Aber dieses Neue darf nicht in zu engem Kontext mit bereits Gesehenem stehen. Es darf nicht auf Informationen aufbauen, die ein Teil der Zuschauer nicht kennen kann, weil sie zum Zeitpunkt, als diese Informationen präsentiert worden sind, möglicherweise noch gar nicht in der Sendung waren. Die Konsequenz ist das Prinzip der variierenden Redundanz. Ein Thema wird aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, aber es entwickelt sich nichts, weil dazu auf Vorinformationen Bezug genommen werden müsste, von denen nicht sicher ist, ob sie bei der Mehrheit der Zuschauer vorhanden sind. Diese Diskussion eines inhaltlichen Aspekts macht zudem deutlich, dass selbst diese Charakterisierung eigentlich zu grob ist. Denn auch auf dem Fernsehgerät wird unterschiedlich rezipiert, je nachdem, mit wem - und erneut: von welchem Abspielmedium aus Tab. 1: Typologisierung der Unterschiede zwischen Kino, Fernsehen und Computer (nach Giessen, 2008) Kino TV Computer Bildgröße Totale (z. B. Landschaften, Massenszenen), detailreich Halbtotale detailarm Großaufnahme detailarm Schnitt lange Einstellungen historisch: lange Einstellungen - aber: MTV schnelle Schnitte, Clip- Rhythmus Filmplanung (szenische) Planung von Einstellungen keine Planung! Kamera reagiert lediglich! (Charakteristische Formen: Reportage, Dokumentation, Talk-Show) (formale) Planung von Übergängen (Kamerabewegungen; Objektbewegungen) Filmlänge ≥ 90 Minuten ca. 20 bis 45 Minuten ≤ 2 Minuten Dramaturgie chronologisch erzählend historisch: chronologisch erzählend - Chronologie ist problematisch - Varianten des Gleichen (Geschichten! ) aber: Talk-Shows, Daily Soaps: Verzicht auf Kontext und Geschichte Verzicht auf Kontext und Geschichte 118 Hans W. Giessen (Saarbrücken) und mithin wann man schaut. So werden beispielsweise amerikanische oder japanische ‘ Kult ’ -Serien nur selten angemessen im Rahmen ihrer Fernseh-Erstausstrahlung gesehen, häufig aber auf ganz andere Art und Weise in der Folge rezipiert. Man betrachtet sie dann aber in der Regel zu Zeiten, zu denen es einem passt, und von anderen Abspielmedien aus: der DVD oder einem gepufferten Internetstream. Der Erfolg der amerikanischen und japanischen Kultserien liegt also gerade nicht am scheinbar eigentlichen Präsentationsmedium, dem Fernsehgerät, sondern an anderen Medien - und die Macher wissen das offenbar und distribuieren ihre Inhalte entsprechend (Beldi 2013). Die Beispiele machen in jedem Fall deutlich, dass die Erarbeitung einer Systematik zwischen unterschiedlichen Medien und einer medienadäquaten Gestaltung der Bewegtbildpräsentationen nicht nur theoretische Überlegungen sind. Vielmehr haben die unterschiedlichen Nutzersituationen entscheidende Auswirkungen für den Produktionsprozess. Innerhalb nur eines weiteren Jahrzehnts hat nun das Handheld - insbesondere das Smartphone, aber auch verschiedene andere Handys, PDAs oder der iPod von Apple - eine Bedeutung erlangt, die bezüglich der Nutzung von Bewegtbildern den Computer als neues Leitmedium erneut zu verdrängen schien. Von daher sollte untersucht werden, welche Typologisierung für die Produktion von Bewegtbild in diesem Kontext dargestellt werden kann. Die Untersuchung erfolgte im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts. Dass sich die Nutzersituation im Kontext der kleinen, mobilen Geräte wieder gänzlich verändert hat, ist einleuchtend. Die Fragestellung war, wie sich dies auf die Produktion von Bewegtbildinhalten für dieses Medium auswirkt beziehungsweise auswirken sollte oder muss. Im Folgenden wird versucht, im Rahmen eines Meta-Artikels darzustellen, welche Charakteristika für Bewegtbildproduktionen im Rahmen von Handys gelten. Der Übersichtartikel fußt auf einer Literaturrecherche; zudem werden eigene Untersuchungen berücksichtigt (Giessen, 2007; 2012). 2 Typologisierungen 2.1 Bildgröße Bilddarstellungen auf Handys sind heutzutage in der Regel zwischen zwei und fünf Zoll groß; das heißt, dass die Bildgröße sehr gering ist und Details sehr schlecht wahrgenommen werden können. Dies führt dazu, dass in beiden Medienkontexten detailreiche Darstellungen unübersichtlich sind und daher schnell zu Ermüdung führen. “ Wenn das Bild nur so kleinklein und chaotisch ist, verliert man schnell die Lust ” , so eine typische Nutzer-Aussage (weiblich, 35) im Rahmen der eigenen Befragungen. Daher sind Großeinstellungen unumgänglich. “ Man muss aber natürlich gut erkennen können, was man sieht ” , sagte ein anderer Proband (männlich, 27) unserer Befragung. Insgesamt wurden 31 Personen interviewt. Den Probanden wurden auch Videobeispiele gezeigt. Das Resultat war eindeutig: Es ist im statistischen Sinn signifikant, dass die Probanden ein schnell erfassbares Bild bevorzugen: bildfüllende Gegenstände, Gesichter. Umgekehrt sind abwechslungsintensive Landschaften oder Massenszenen im Rahmen dieses Mediums eher unattraktiv. Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 119 Großaufnahme Halbtotale Totale ja 30 22 5 nein 0 3 24 weiß nicht/ keine Antwort 1 6 2 Tab. 2: Preferänzen Handys (p=0,5) (Giessen, 2012) Die Ergebnisse dieser Befragung scheinen von fast allen Autoren geteilt zu werden. Stefan Sydow schreibt zwar, dass “ [a]lle Einstellungsgrößen [. . .] verwandt werden [können] ” , doch betont auch er: “ [J]edoch sind Totalen und Halbtotalen problematisch[,] in denen die dargestellten Objekte zu klein sind, um inhaltlich erkannt zu werden ” (2012: 93). Vahid Zamani fordert dazu auf, nicht nur totale, detailreiche Aufnahmen wie auch Weitwinkelaufnahmen zu vermeiden, sondern sogar Halbtotalen (Zamani, 2008). Stefan Sydow warnt vor zu viele Grafiken, die ein Bild überladen. Er fordert deshalb, wichtige Elemente hervorzuheben (Sydow, 2012: 94). Auch Adam und Kern raten, möglichst Nah- und Großaufnahmen (Adam, 2010: 128) beziehungsweise tendenziell große Abbildungen (eher Halbnahbis Detaileinstellungen) (Kern, 2012: 136) zu verwenden. Besonders wichtig scheint, dass viele eventuell auch inhaltsrelevante Details bei einem zu kleinen Bild gar nicht mehr zu erkennen sind. Angela Kern hat Beispiele präsentiert, in denen mimische und feingestische Bewegungen in einer totalen Bildeinstellung kaum noch differenziert wahrgenommen werden können (2012: 127, 129). Andererseits erzeuge die Verkleinerung auch einen höheren Schärfeeindruck - wenngleich dieser “ ästhetische Eingriff in der Darstellung der weißen Bildbereiche ( ‘ Ausbrennereffekt ’ ) [. . .] im verkleinerten Bild nicht als Darstellungsfehler erkannt, sondern als bildgestalterischer Aspekt ” gesehen werde (Kern 2012: 127). Einige der Beispiele seien hier reproduziert: 120 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Abb. 3: Der Unterschied zwischen dem Großbildschirm und dem Monitor des Handys ist groß und muss Konsequenzen haben (Giessen/ Wiatr) Abb. 4: Still 1 - Verkleinerung zieht Bildbereiche zusammen und erzeugt einen höheren Schärfeeindruck. Still 2 - Mimisches Spiel differenziert sich nicht mehr aus (Kern 2012: 127) Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 121 Auch Bildeffekte wie Strukturergänzungen, um zum Beispiel den visuellen Look einer Überwachungskamera zu erzeugen, werden den Erfahrungen Kerns zufolge in der Verkleinerung nur stark eingeschränkt wiedergegeben (2012: 128). Ähnlich sieht es mit bewusst eingesetzten Bildverzerrungen (131) oder der Wiedergabe von Raumtiefe (130) aus. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: “ Räumliche Tiefe wird von Strukturen und Reihungen bzw. Staffelungen erzeugt. Diese können nur bedingt im kleinen Bild erkannt werden. Inszenierungen, die ausschließlich in der Tiefe stattfinden, können nicht erkannt werden ” (Kern, 2012: 130): Abb. 5: Der Sänger liegt am Boden und in der Raumtiefe am weitesten entfernt. (Kern 2012: 130) Dagegen werde “ für Aufnahmen im Großbis Halbnahbereich die Rezeption durch die Verkleinerung nicht beeinträchtigt ” (Kern 2012: 131). Stefan Sydow meint, dass auch totalere Einstellungen möglich sind, wenn das gezeigte Objekt zuvor (mittels einer Großaufnahme) eingeführt worden sei. Zudem bestehe eine weitere Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf ein Objekte zu lenken, in einer Schussfahrt (Sydow 2012: 93). 2.2 Schnitt-Rhythmus Gerade weil die Bilder schnell erfassbar und mithin sehr plakativ sein müssen, besteht die Gefahr, dass sie schnell langweilig wirken können. Um dennoch nicht zu langweilen, darf der Schnitt-Rhythmus nicht zu langsam sein: “ Naja, wenn das Bild langweilig ist und nicht fesselt, dann schaut man eher weg, oder? ” , bestätigte eine Nutzerin (26). Ähnlich formuliert Maria del Mar Grandío, die für das Handy explizit “ kurze Aufnahmen ” empfiehlt (2010: 67). ‘ Kurz ’ ist nun ein durchaus relativer Begriff. So deuten unsere Befragungen insbesondere mit Demo-Videoclips darauf hin, dass die Umschnitte nicht ganz so schnell sein dürfen wie etwa im Kontext von computergestützten Multimedia-Produktionen. Einerseits ist das Bild häufig nun so klein, dass die Nutzer in der Tat längere Zeit benötigen, um es kognitiv zu erfassen - in jedem Fall länger als beim Computer-Monitor. “ Huch, wenn ’ s nur so vorbeihuscht, das macht auch keinen Spaß ” , sagte ein 19jähriger Student; diese Einschätzung bestätigten bei Nachfragen angesichts der unterschiedlich rasant geschnittenen Democlips alle Probanden, ohne jede Einschränkung. 122 Hans W. Giessen (Saarbrücken) ca. 2 ” ca. 4 ” ca. 6 ” zu schnell 18 5 0 gerade richtig 10 20 9 könnte schneller sein 1 5 18 weiß nicht/ keine Antwort 2 1 4 Tab. 3: Democlip, durchschnittliche Einstellungslänge (Großaufnahmen), p=0,5 (Giessen, 2012) Insgesamt scheint eine Zeitspanne von drei bis fünf Sekunden vor dem nächsten Schnitt angemessen zu sein. Freilich: So lange wie auf der Kinoleinwand sollte das Bild nicht stehen (aber so detailreich wie dort darf es eben auch nicht sein). Die Beobachtung scheint weitgehend akzeptiert zu sein (etwas anderer Ansicht: del Mar Grandío, 2010: 67, oben zitiert). Während klar ist, dass das Fernsehen (im Gegensatz zum Kino) einen viel schnelleren Bildwechselrhythmus erfordert (bei langen Einstellungen, wie sie für Filme aus der Anfangszeit des Fernsehens üblich waren, zappen heute viele Zuschauer weg), wendet sich beispielsweise Zamani (2008) bezüglich des Handy nun explizit gegen zu schnelle Schnitte. Auch Stefan Sydow betont, zu viele und schnelle Schnitte würden dazu führen, “ dass der Zuschauer inhaltlich nicht mehr folgen kann ” . Deshalb müsse “ darauf geachtet werden, das[s] Szenen nicht in unnötig vielen Einstellungen umgesetzt werden. [. . .]. ” Zudem rät er, für die Handlung wichtige Einstellungen zu verlangsamen. “ Kurze Einstellungen können wegfallen oder müssen verlängert werden, um sie wahrzunehmen zu können ” (Sydow, 2012: 94). Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 123 2.3 Bewegung - Statik Vahid Zamani geht davon aus (2008), dass auch die noch immer existierenden Übertragungsengpässe Produzenten dazu veranlassen sollten, allzu rasante Bildwechsel zu vermeiden. Er spricht sich deshalb für tendenziell statische Bilder mit wenig Bewegung aus. Schnelle Bewegungen der Darsteller oder der Kamera sollten vermieden werden. Dies impliziert unter Umständen auch ‘ natürliche ’ Bewegungen im Bild. So sollte sich bewegendes Laub an Bäumen, aber auch Flüsse und Bäche, allgemein fließendes Wasser und ähnliches vermieden werden (Zamani, 2008). Die von Zamani 2008 geschilderten (und noch 2010 von Cesar, Knoche und Bultermann ins Feld geführten) Übertragungsengpässe existieren heute, im Zeitalter des LTE-Standards, kaum noch (siehe Dahlman, Parkvall und Sköld, 2011). Von daher ist fraglich, ob dieser Vorschlag noch immer die selbe Gültigkeit hat. Bereits 2010 hat sich del Mar Grandío “ viel Bewegung ” (67) gewünscht, um den Blick immer wieder auf das relativ kleine Display zu lenken. Allerdings hat die Nutzersituation beim Handy in der Regel sowieso eine intensive Betrachtung zur Folge: das Warten auf den Bus, die Fahrt im Zug. Immer wieder wird auf die charakteristische Nutzersituation im Kontext von ‘ Warte ’ - oder ‘ Transitsituationen ’ hingewiesen (etwa von Herzberg, 2007: 53, von Zamani, 2008: 27, von Teiwes, 2009: 26 - übrigens so gut wie nie bei Wartesituationen im eigenen Haus, sondern fast immer unterwegs: Marcus, Roibás und Sala, 2010: 178); dazu kommen soziale Situationen, in denen Kommunikation bewusst vermieden beziehungsweise ausgeschlossen werden soll. Denn beispielsweise scheinen Frauen dieses Medium als Strategie und Möglichkeit anzusehen, um etwa in Bussen (oder anderen öffentlichen Räumen mit erzwungener Untätigkeit und in Gegenwart vieler anderer Personen) männlichen Blicken ausweichen zu können. “ Wenn man auf das Handy kuckt, ist es egal, ob die Kerle einen anglotzen ” , sagte eine junge Frau (21). Sie fuhr fort: “ Aber es ist dann natürlich gut, wenn man auch was hat, was man auf dem Handy ansehen kann, was ablenkt und spannend oder zumindest interessant ist. ” Dieser Mehrwert erzwingt gar eine konzentrierte und durchaus längere Mediennutzung. Demnach scheint die Nutzersituation dafür zu sprechen, Bewegungen der Darsteller oder der Kamera doch eher zu vermeiden. Zudem wird Bewegtbild auf Handys oft mit anderen Körperhaltungen (stehend, eingezwängt von anderen Menschen) angesehen. Daher ändert sich oft der Blickbeziehungsweise Betrachtungswinkel. Somit herrscht unter Umständen eh schon Bewegung und Unruhe, die das kognitive Erfassen des Bildes erschweren. Diese Effekte sollten nicht noch verstärkt werden. Auch aus diesem Grund kommen wir zu dem Ergebnis, dass schnelle Bewegungen der Darsteller oder der Kamera in der Tendenz durchaus vermieden werden sollten. Experimente mit Filmbeispielen, die Stefan Sydow durchgeführt hat, konnten zudem empirisch belegen, dass zu viele Bewegungen dem Verständnis einer Filmszene hinderlich sind. Seine Konsequenz ist daher, Möglichkeiten der Zeitdehnung, Bildstabilisierung oder Objektverfolgung anzuwenden, “ um den Bildinhalt verständlicher zu machen, jedoch muss eine schnelle Actionszene immer noch als solche wahrgenommen werden ” . Insgesamt sind seine Forderungen moderat: “ In der Produktion oder im Schnitt sollte darauf geachtet werden, Szenen mit viel Kamerabewegungen auch ruhige Momente zu geben. Einerseits wird dadurch das Auge des Smartphone-Zuschauers entlastet und andererseits der Inhalt verstanden ” (Sydow: 2012: 93). Weitergehend sind die Ratschläge von Jessika Adam: 124 Hans W. Giessen (Saarbrücken) “ Weiterhin ist bei mobilen Videos von schnellen Schnitten und allzu bewegungsreichen Szenen abzusehen. Auch schnelle Kamerafahrten, Kameraschwenks und Zooms sind möglichst zu vermeiden ” (2010: 129). 2.4 Kontraste Weil Bewegtbildproduktionen mit Handys mobil und an unterschiedlichen Orten, häufig auch im öffentlichen Raum betrachtet werden, sind die Lichtverhältnisse mitunter problematisch. Mitunter werden sie bei Tageslicht, sogar bei direkter Sonneneinstrahlung auf das Display betrachtet. Auch in solchen Situationen muss ein zumindest akzeptables Erkennen der Bilder möglich sein. Die Technik hat auf diese Herausforderungen Rücksicht genommen, und die meisten Handys ermöglichen deshalb eine bezüglich Kontrastumfang, aber auch Auflösung, Farbechtheit und Helligkeit gute bis hervorragende Darstellung (Adam, 2010: 47). Dennoch betont Kern, dass die üblicherweise hochglänzende Oberfläche der Handy-Displays nur scheinbar einen höheren Kontrastumfang in der Bildwiedergabe ermöglicht. Tatsächlich vermindere sich die Bilderkennung “ in einigen Lichtsituationen, die speziell für die spiegelnde Oberfläche ungünstig sind, wie z. B. bei hoher Umgebungshelligkeit und reflektierende Flächen in der Nähe des Displays ” . Das gelte “ auch für eine sehr dunkle Lichtsituation: Ist die Person beleuchtet und befinden sich reflektierende oder strahlende Objekte in der direkten Umgebung, ergibt sich ein visueller Mix aus Medieninhalt (selbstleuchtend) und den spiegelnden Bildinformationen auf dem Display ” (Kern, 2012: 124). Natürlich kann man hoffen, dass die Nutzer ihre Umgebung einer optimalen Medienwiedergabe anpassen. Letztlich sind die üblichen Nutzersituationen aber so unvorhersehbar und bezüglich der Lichtverhältnisse oder auch zum Beispiel bezüglich des Betrachtungswinkels oftmals so irritierend, dass auch bei der Produktion darauf Rücksicht genommen werden sollte. Zumindest sind stärkere Kontraste nötig als bei allen anderen Medien für Bewegtbilder. Vahid Zamani fordert deshalb dazu auf, kontrastarme Aufnahmen zu vermeiden (2008). Stefan Sydow rät, dunkle Szenen durch Veränderung von Flächen, Mitteltöne und Schatten aufzuhellen (Sydow, 2012: 93). Ähnlich wie bei der Frage zu Bewegungen, die inhaltlich zu einer sehr vorsichtigen Herangehensweise etwa an Action-Szenen führen muss, hat auch dieser Sachverhalt inhaltliche beziehungsweise dramaturgische Konsequenzen. So rät Zamani sogar davon ab, Nachtaufnahmen in Handy-Produktionen einzubauen (Zamani, 2008). Interessanterweise haben Regisseure, die Erfahrung mit der Produktion für unterschiedliche Medien haben, diesen Ratschlag aufgegriffen beziehungsweise antizipiert. Jonas Åkerlund hat zwei Clips zu Rihannas Song “ Who ’ s that Chick ” produziert, von denen einer offenbar vorrangig für die Fernsehausstrahlung konzipiert worden ist, der andere aber offenbar explizit für die Nutzung via Handy. Beide Versionen sind einerseits “ von der ästhetischen Gesamtanlage, der dramaturgischen Abfolge [. . .] und sogar der Faktur der Dekoration exakt identisch ” und scheinen sich zunächst nur in dem Punkt zu unterscheiden, “ dass die Day-Version mit Elementen arbeitet, die typischerweise mit dem hellen Tag assoziiert sind (fröhliche Farben, Klarheit, Lebensfreude), während die Night-Version das in jeder Hinsicht dunklere und unheimlichdüstere Gegenstück dazu bietet (so werden z. B. auch als Übergangsblenden Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 125 verwendete Formen entsprechend adaptiert: Fungieren in der Day-Version hierbei die Umrisse von Schmetterlingen, Blumen, einem Herz und Teddybären, so werden diese in der Night-Version durch Fledermäuse, Alienköpfe, Dollarzeichen und Totenköpfe ersetzt) ” (Keazor, Giessen und Wübbena, 2012: 13). Dabei ist die “ Night Version ” für die Fernsehnutzung vorgesehen gewesen, während die “ Day Version ” für das Betrachten mittels eines Handys produziert wurde. Keazor, Giessen und Wübbena betonen daher: “ Die Day-Version mit ihrer hellen Chromatik und klaren Kontrasten (u. a. zwischen den grau-fahl gehaltenen Szenen an Bord des Raumschiffs und den farbenfrohen Performance-Szenen) eignet sich einmal besonders gut für eine Rezeption auf einem Handy, während die Night-Version besonders gut auf einem großen Display funktioniert ” (Keazor, Giessen und Wübbena, 2012: 13). Ähnliche Erfahrungen hat Angela Kern gemacht: “ Empirische Erfahrungen zeigen, dass es in der Wiedergabe der Extremen der Bildhelligkeit durchaus Wahrnehmungsprobleme in verschiedenen Medientypen gibt. In den dunklen Lichtsituationen wird das Auge sehr angestrengt. Die Differenzierung der einzelnen Bildinhalte kann durch das kleinere Format beeinträchtigt werden ” (Kern, 2012: 133). Dagegen könne eine Bildästhetik, die auf intensive Kontraste (Sättigungs- und Helligkeitskontrast) und die bildliche Formung durch in ihrer Größe unterschiedliche Flächen setze, “ auch noch in einer stärkeren Verkleinerung ohne wesentliche Kommunikationsverluste betrachtet werden ” (2012: 132). Kern fordert deshalb erneut tendenziell große Abbildungen (eher Halbnahbis Detaileinstellungen), eine gute Flächendifferenzierung (wenig Strukturen, Texturen), eine ausgewogene, tendenziell helle Lichtsituationen, sowie eindeutige Raumabbildungen (2012: 136). Auch del Mar Grandío empfiehlt “ viel [. . .] Farbe ” (2010: 67). Weitere Ratschläge Vahid Zamanis sind, totale, detailreiche Aufnahmen, schnelle Bewegungen der Darstellungen oder der Kamera, oder Wasser zu vermeiden (Zamani 2008); diese Punkte werden auch im Kontext der Themen ‘ Bildgröße ’ , und ‘ Schnitt-Rhythmus ’ diskutiert. Ein anderer Vorschlag Zamanis zielt beispielsweise auch darauf ab, Laufschriften zu umgehen. Stefan Sydow empfiehlt im Zweifelsfall eine Schrift ohne Serifen. Zudem: “ Farbiger Text wird besser lesbar, wenn er mit Farbflächen hinterlegt wird ” (Sydow, 2012: 94). 2.5 Format Eine wirkliche Neuerung, die das Betrachten von Bewegtbild im Kontext von Handys verändert, ist der quasi automatische Wechsel vom Querins Hochformat, wenn das Gerät entsprechend gehalten wird. Dies führt einerseits dazu, dass viele Bilder, die (bewusst oder unbewusst) breitformatig konzipiert sind, noch kleiner und irritierender werden. Somit ist der potentiell mögliche und oft in verschiedenen Nutzersituationen auch praktizierte Formatwechsel ein weiteres Argument dafür, sich auf plakative Großaufnahmen zu reduzieren, starke Kontraste einzuarbeiten, sowie allzu schnelle und verwirrende Bewegungen zu vermeiden. Obwohl der Formatwechsel eine tatsächliche Neuerung ist, wird er (nach der bisherigen Literatursichtung) kaum beziehungsweise in seinen Konsequenzen für die Produktion von Bewegtbild gar nicht thematisiert. Dies ist umso bemerkenswerter, als alle anderen bisher und in der Folge diskutierten Aspekte eine Einengung, in gewisser Weise gar eine Reduktion von in anderen Kontexten üblichen künstlerischen beziehungsweise gestalterischen und ästhetischen Möglichkeiten 126 Hans W. Giessen (Saarbrücken) der Produktion Bewegtbild sind. Der Formatwechsel stellt dagegen eine potentielle Erweiterung dar. Es wird etwas (erstmals) möglich, was zuvor nicht denkbar war. Vor allem entstehen ungewohnte Sichtaspekte, da die ‘ normale ’ Ansicht, der der Anordnung und Stellung des menschlichen Auges folgt, querformatig ist. So erscheint die Metapher vom Aufbrechen eingefahrener Sehgewohnheiten in der Tat berechtigt. Eine medianadäquate hochformatige Darstellung hat also (zumindest) einen erhöhten Aufmerksamkeitswert zur Folge, vielleicht gar neue ästhetische oder auch inhaltliche Aussagen. Nochmals: Dies ist eine produktive Chance des neuen Mediums; es ist daher sehr erstaunlich, dass dieses Faktum bisher noch nicht thematisiert worden ist. Hier seien deshalb erste Überlegungen zu einer hochformatigen Bewegtbildproduktion formuliert, die in der Regel theoretische Weiterführungen der anderen Punkte dieses Überblicks sind. Demnach sollte auch eine hochformatige Darstellung medienadäquat erfolgen - es sollte sich also nicht um eine ‘ übliche ’ querformatige Darstellung handeln, die nun hochformatig erfolgt und daher ein noch kleineres und unübersichtliches Bild erzeugt. Vielmehr sollte das Bild entsprechend konzipiert werden. Wie ist dies möglich? Zunächst bedeutet dies, dass das Bewegtbild vertikal, nicht horizontal geplant sein sollte. Dies ist weniger befremdlich, als es den Anschein hat - die bildende Kunst nutzt häufig hochformatige Darstellungen. Nur beim Bewegtbild war dies bisher weitgehend unüblich. Andererseits ist dies - da ja eine hochformatige Tradition bei Bewegtbildproduktionen gänzlich fehlt - doch relativ schwierig, weil eben eingespielte Sehgewohnheiten ignoriert werden müssen. Dies ist einerseits ja die große neue Chance; andererseits ist dies offenbar so überraschend, dass vielleicht auch deshalb dieses Thema bisher ignoriert worden ist. Aus diesem Grund wären also gerade zu diesem Thema weitere Untersuchungen notwendig. 2.6 Filmlänge Die Nutzersituation wirkt sich auch auf die Filmlänge aus. Bemerkenswerterweise scheint bei Handys einer Bewegbildproduktion (deutlich) länger zugesehen zu werden, als dies üblicherweise beim Computer der Fall ist (Giessen, 2008; Snickars und Vonderau, 2009). Der Grund scheint darin zu liegen, dass ein Wechsel zwischen verschiedenen Angeboten wie beim Computer (Abschweifen des Blicks vom Videoframe zur Navigationsleiste, zum danebenstehenden Text, eventuell gar ein Weiterklicken, während die Bewegtbildproduktion noch läuft) hier kaum möglich ist. Bei einer Computer-Multimediaproduktion liegen zudem viele Angebote (eben der Text, andere Bilder, Navigationsleisten usw.) auf der selben Seite, deren Nutzung beim Handy - zwangsläufig; aufgrund des kleinen Monitors, der kleinen Navigationsleisten usw. - auf anderen Ebenen stattfinden. “ Wenn Du telefonierst, dann telefonierst Du und kannst nichts anderes mit deinem Handy machen, wenn Du simst, dann simst Du und machst eigentlich auch nichts anderes, und wenn Du einen Clip anschaust, ist es das gleiche, ebenfalls, Du kannst nicht einen Clip ansehen und daneben was anderes machen, das geht ja gar nicht, wenn Du Dein Handy in der Hand hast und den Clip kuckst ” , bestätigte eine Nutzerin (37). Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Nutzer in der Folge konzentrierter und länger zusehen, als dies bei Multimedia-Produkten der Fall ist. Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 127 1' 2' 3' 4' 5' 6' 7' 8' 9' 10' > weiß nicht/ keine Antwort 0 0 1 0 3 2 0 7 0 9 4 5 Tab. 4: Wenn Sie sich einen Clip ansehen - wie lange schauen Sie konzentriert zu? (Giessen 2012) Die spezifischen Nutzungsarten weisen einen medialen Mehrwert auf. Genannt wurde bereits das Beispiel der Frau, die das Handy nutzt, um männlichen Blicken ausweichen zu können. Dies erzwingt, wie gesagt einen konzentrierten Blick auf das Display. Auf dem Display gibt es ebenfalls wenig Ablenkungen: Das Gerät und damit auch das Bild ist im ausschließlichen Fokus, im Gegensatz zum Fernsehapparat (und teilweise auch zum Computer, wo zudem - im Rahmen von Multimedia-Angeboten - auf dem selben Monitor weitere Ablenkungen existieren). Auch die typischen Nutzersituationen, die sich überwiegend auf Gelegenheiten beziehen, in denen Wartezeiten überbrückt werden müssen, führen zu einer konzentrierteren, ausschließlicheren Mediennutzung, als wir dies von Bewegtbildproduktionen im Kontext von computergestützten Multimedia-Angeboten kennen. Einschränkend muss betont werden, dass insgesamt noch keine Erfahrungen mit einer Situation des Überangebots existieren (wie wir sie vom Fernsehen mit seinen heutzutage unzähligen Programmen - im Gegensatz zu den ein bis drei Programmen, die es bis in die achtziger Jahre gab - , oder dem großen Angebot von Bewegtbildmaterialien im Internet kennen). Bisher kennen die Befragten auch erst wenige kommerzielle Anbieter - einerseits ihre Handy-Vertragspartner mit eigenen Spezialangeboten, andererseits die Angebote einiger weniger großer Fernsehanstalten (hier war bei unserer Probandengruppe englischsprachige Angebote wie CNN oder BBC World am Bekanntesten, deutlich vor den öffentlichrechtlichen Anbietern aus Deutschland). So muss noch offen bleiben, ob und wie sich das Nutzerverhalten unter anderen zeitökonomischen Bedingungen (wieder) ändern wird. Die Konsequenz ist eben, dass Filme länger werden können (oder gar müssen) als die recht kurzen Bewegtbildproduktionen, die bei computergestützten Multimedia-Produktionen sinnvoll zu sein scheinen. Da es bei Handys weniger Ablenkungen gibt und ein einmal geöffnetes Video auch relativ konzentriert beobachtet wird, ist bezüglich der Filmlänge keine extreme Verkürzung notwendig und sinnvoll. 128 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Dennoch ist fraglich, ob Sascha Jost recht hat, der mit dem Hinweis auf Rezipientenbefragungen (denen zufolge fast drei Viertel der Befragten angaben, ‘ mobiles Kino ’ nutzen zu wollen) davon ausgeht, dass Filme sogar in Kinolänge auf dem Handy gesehen würden - Jost bezieht sich hier eher auf Wünsche denn auf eine empirisch beobachtbare Realität (Jost, 2008: 117). Unsere Befragungen (Giessen, 2007; 2012) haben dagegen nicht explizit Kinofilme angesprochen; wir haben Probanden nur gefragt, wie lange sie auf dem Handy Bewegtbild sehen wollten (oder üblicherweise sehen); hier war das Ergebnis, dass ein Film nicht länger als maximal zehn bis fünfzehn Minuten sein sollte; dies ist aber immerhin drei Mal so lang als die Richtwerte für eine Multimedia-Produktion (Giessen, 2008). Eine Ausnahme werden, unserer Vermutung zufolge, Übertragungen aus aktuellem Anlass darstellen: Ein Reisender wird beispielsweise, wenn er damit begonnen hat und seine Reise noch nicht zu Ende ist, ein Sportereignis wie ein Fußballspiel in seiner Gänze betrachten, auch wenn es eineinhalb Stunden dauert. Dies bestätigten alle unsere Probanden (bis auf zwei Frauen, die angaben, an solchen Sportereignissen oder auch an aktuellen politischen oder anderen Berichten uninteressiert zu sein), wobei die Frage und Antwort hypothetisch waren: keiner hatte zum Befragungszeitpunkt bereits ein ganzes Fußballspiel oder eine andere aktuelle Live-Berichterstattung eines Informationsanbieters auf seinem Handy gesehen. Immerhin gab es mehrere Nutzer von Nachrichtensendern, die auch angaben, in der Regel mindestens drei, durchschnittlich sogar vier bis fünf Filmberichte zu sehen. Mehrfach wurde bestätigt, dass man auch länger zugesehen hatte, wenn interessante Berichte kamen. Dies bedeutet nun beispielsweise aber, dass kurze bis mittellange Bewegtbildproduktionen ganz und konzentriert zu großen Teilen oder sogar von Anfang bis Ende betrachtet werden - im Gegensatz zum typischen Nutzerverhalten bei einer computergestützten Multimedia-Produktion. 2.7 Inhalte Damit kommen wir zur Frage, welche Inhalte für das Medium Handy geeignet sind. Fast alle Probanden haben angegeben, privat zugesandte Filme zu betrachten (Familie, Freunde; Situationen wie Feste, Urlaube). Bezüglich kommerzieller Angebote haben ebenfalls fast alle von uns interviewten Probanden bestätigt, dass sie Musikclips und Filmtrailer kennen, wobei Videoclips aktueller Popsongs von 29 der 31 Befragten zumindest ‘ gelegentlich ’ gesehen werden; Filmtrailer werden deutlich seltener genutzt (5 von 31). Bei der Frage nach den bevorzugten Inhalten wirkten sich die Alters- und Bildungsunterschiede am deutlichsten aus. Je älter und gebildeter die Probanden, desto eher waren sie an Informationssendungen interessiert und desto weniger an Musikclips; je jünger und weniger gebildet die Probanden, desto ausgeprägter war eine umgekehrte Gewichtung. 27 Probanden nutzen zumindest ‘ gelegentlich ’ Nachrichtensender. Immerhin acht männliche Probanden bestätigten auch Erfahrungen mit Porno-Clips. Die genannten Themen würden dafür sprechen, solche Filme für Handys zu produzieren, die auch bei Multimedia-Produktionen sinnvoll und üblich sind: Erotik, Musikvideos, Nachrichten und Sport; dies ist auch die Position beispielsweise von Zamani (2008: 69 ff.) oder Teiwes (2009: 51 ff.); ähnlich gelagert dürften Filmtrailer und ähnliches sein. Allerdings sind diese Themenfelder bei Multimedia-Produktionen zu populär, weil sie in sehr kurzer Zeit intensive Informationstransfers ermöglichen; zudem sind bei all diesen Themen keine Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 129 Entwicklungen (Narration, Geschichten, aber auch Argumentationen) nötig und auch kaum möglich. Fraglich ist, ob dies bei Handys auch gilt. Informationssendung Musikclips <20 6 9 20 - 30 6 6 30 - 40 5 5 40 - 50 5 3 >50 4 2 Tab. 5: Wenn Sie sich auf dem Handy Videos ansehen: eher Informative Sendungen oder eher Musikvideos? (Mehrfachnennungen möglich) Zum einen schauen die Nutzer wieder etwas länger zu, so dass bereits mehr Zeit existiert, die eventuell für Narrationen, Geschichten; aber auch Argumentationen notwendig ist. Auch Sebastian Teiwes geht von rund einer Viertelstunde aus, an der Programm am Stücke konsumiert werde (Teiwes, 2009: 47; anderer Ansicht übrigens del Mar Grandío, 2010, die kürzere Zeitvolumina angibt, die aber ihre Aussage nicht aus Nutzerbefragungen zieht, sondern aus der Analyse und Beobachtung von ‘ Mobisoden ’ , die in der Regel eine bis drei Minuten, selten bis maximal fünf Minuten lang sind). Zudem aber, und das ist wohl noch wichtiger, zwingt das Medium die Nutzer (derzeit noch) zu einer (wieder) linearen, kontinuierlichen Betrachtung (was ja von del Mar Grandío ebenfalls bestätigt wird). Nochmals: Damit gibt es einen Gegensatz zu anderen digitalen Medien, insbesondere zur Nutzung des Bewegtbildmaterials computergestützter Multimedia-Angebote. Dort war festzustellen, dass nur wenige Nutzer eine längere Bewegtbildpräsentation kontinuierlich 130 Hans W. Giessen (Saarbrücken) von Anfang bis Ende betrachtet hatten. In der Regel hatten sie schon nach relativ kurzer Zeit die interaktiven Möglichkeiten des Mediums genutzt. So sind sie mit dem Schieberegler ans Ende der Produktion gefahren, um zu sehen, wie sie aufhört. Wenn sie wieder ‘ zurück ’ in den Film wollten, fanden sie selten ihre ‘ Ausstiegsstelle ’ ; da sie Wiederholungen vermeiden wollten, suchten sie zumeist einen neuen ‘ Einstieg ’ . In der Regel fehlte ihnen also ein Stück; in jedem Fall hatten sie den Film nicht kontinuierlich beziehungsweise chronologisch betrachtet. Diesem charakteristischen Nutzerverhalten kann begegnet werden, indem anstelle eines kontinuierlichen, argumentativen, auf die Chronologie beruhenden Films eine Produktion nach dem Prinzip der ‘ variierenden Präsentation ’ erstellt wird. Im Übrigen schien diese inhaltliche Vorgehensweise bereits für viele Fernsehformate sinnvoll zu sein (und dort auch bereits praktiziert zu werden): Auch hier wird immer weniger ohne Unterbrechungen am Stück zugesehen. Charakteristisch für das heutige Nutzerverhalten ist, dass die Zuschauer eine Sendung ‘ verlassen ’ , durch die Programme zappen, woanders ‘ hängenbleiben ’ und irgendwann zum Film, den sie ‘ eigentlich ’ sehen wollten, zurückkehren; wer mit einem solchen Nutzerverhalten rechnet beziehungsweise rechnen muss, wird auch dort Sendungen nach dem Prinzip der ‘ variierenden Präsentation ’ produzieren. In der Regel folgen Talk Shows, aber auch fiktionale Formate wie Daily Soaps diesen Forderungen. Es ist auffällig, dass dieses Nutzerverhalten bei Handys bei den hier Befragten nicht beobachtbar ist. Dort zwingen das Medium wie auch die typischen Situationen, in denen es eingesetzt wird, dazu, einen Film in seiner chronologischen Folge zu betrachten. “ Wenn wir Filme auf dem Handy ansehen, dann schauen wir auch recht aufmerksam zu, wir schauen selten woanders hin. Wir schauen den Film von Anfang bis Ende an, oder bis wir angerufen werden oder so. Aber meistens schauen wir den Film von Anfang bis Ende an, ja, genau ” , bestätigte ein Handy-Nutzer (31). - Dazu kommen Nutzersituationen, die ein relativ intensives Sehen erfordern: das Warten auf den Bus, die Fahrt im Zug; soziale Situationen, in denen Kommunikation bewusst vermieden beziehungsweise ausgeschlossen werden soll (genannt wurde bereits das Beispiel der Frau, die das Handy nutzt, um sich zumindest subjektiv männlichen Blicken zu entziehen). Aus diesem Grund entsteht der Eindruck, dass bei Handys (wieder) chronologische, argumentative, sich entwickelnde Inhalte möglich beziehungsweise sinnvoll sind. Diese Aussage scheint den Inhalten zu widersprechen, die die Vertragsanbietern für Handys bislang vorrangig zur Verfügung stellen: Musikclip, Filmtrailer und Erotik. Diese Inhalte scheinen für Mulitmeida-Angebote auf dem heimischen Computer ideal zu sein; dass sie (noch) den Handy-Markt dominieren, kann auch mit Ausstrahlungseffekten erklärt werden. Wir finden solche Ausstrahlungseffekte ja häufig - etwa in der Tatsache, dass sich das Schnitt-Tempo beim Fernsehen an der cinematographischen Tradition orientierte, bis man durch das Aufkommen von Fernbedienung und Programmvielfalt merkte, dass die Zuschauer bei langen und sie langweilenden Einstellungen wegzappten. Möglicherweise müsste noch genauer geklärt werden, welche Inhalte für das Handy optimal sind. Als Folge dieser Überlegungen wird jedoch die Aussage beispielsweise von Christian Jungwirth bezweifelt, der die Delinearisierung als charakteristisch auch für Handys ansieht (2009: 85 ff.). Sicherlich werden Inhalte aus dem Kontext Erotik, Musikvideos, Nachrichten und Sport im Kontext des Handy weiter Bestand haben, aber vermutlich werden sich weitere, spezifischere Genres entwickeln, deren inhaltliche Reduktion nicht ganz so ausgeprägt ist - sie muss es auf jeden Fall nicht sein, im Gegensatz zum computergestützten Multimedia- Angebot. Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 131 In der Tat geht wohl die Mehrheit der Beobachter davon aus, dass das Handy wieder vermehrt narrative Strukturen und argumentative Darstellungen erlaubt. Zumindest sind (wieder) ‘ klassische ’ Geschichten erzählbar (del Mar Grandío, 2010: 73). Allerdings müssten die entsprechenden Produktionen schnell auf den Punkt kommen. Adam rät angesichts der kurzen Erzählzeit allerdings dazu, sich inhaltlich zu beschränken und nicht zu komplex zu werden - beispielsweise nur wenige Charaktere einzuführen (2010: 126 f.). 2.8 Apps Im Kontext des Handys ist es seit der Marktdurchdringung durch Apples iPhone und diverse andere Smartphones möglich, Bewegtbild mit Apps zu kombinieren. Hierbei können Videosequenzen mit anderen animierten Elementen gekoppelt werden. Zudem ist ein interaktives Element möglich. Dies reicht von Aspekten der sogenannten Augmented Reality bis hin zu Spielen (Snickars und Vonderau, 2012). Damit sind Apps, neben der oben schon genannten Möglichkeit des Formatwechsels (und die damit erstmals mögliche hochformatige Nutzung von Bewegtbild), die zweite wichtige Neuerung, die das neue Medium ermöglicht. Dies korreliert mit Aussagen von del Mar Gradío, die die Allgegenwart und den individualisierten und personalisierten Konsum als charakteristisch für das Medium ansieht und deshalb davon ausgeht, dass (unter anderem) diese Faktoren die weitere Entwicklung prägen würden (del Mar Gradío, 2010: 67 ff.). Im Gegensatz zum Formatwechsel werden Apps häufig und mit großem künstlerischen Mehrwert eingesetzt. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. So hat die japanische Interpretin Salyu zum Song Su(o)n(d)beams 2011 eine App produzieren lassen, die “ live mit der iPhone- Kamera gefilmte Bilder passend zur Musik verfremdet und mit vorproduziertem Material kombiniert, so dass jeder Nutzer ein höchst individuelles und einmaliges Video betrachten kann (Keazor, Giessen und Wübbena, 2012: 14), ähnlich funktioniert die App Will.i.am ’ s will. i.app der Black Eyed Peas: “ [A]uch bei ihr kann jeder Benutzer eine ganz persönliche Version des von Rich Lee für die Black Eyed Peas gedrehten und im November 2010 veröffentlichten Musikvideos zu deren Song The Time (Dirty Bit) erleben: Unter Rückgriff auf die Bewegungssensoren des Handhelds wird es dem Betrachter hier ermöglicht, aus einer 360 Grad-Perspektive heraus jeweils gezielt bestimmte Schauplätze des Videos frei zu wählen und zwischen diesen beliebig zu wechseln, so, als sei er vor Ort und wandere zwischen den verschiedenen Orten hin und her ( ‘ You are in the party - look around with your device ’ war dann auch der Werbeslogan der App). Zudem gewährt die App Zugriff auf Bonus-Angebote wie ein Augmented-Reality-Cover zu dem Album der Band [. . .] ” (Keazor, Giessen und Wübbena, 2012: 15). Fraglich ist allerdings, ob damit nicht das reine Bewegtbild verlassen worden ist. Die Abstufungen sind sicher graduell; die dezente Einbindung von Effekten der Augmented Reality in einen Film würde noch nicht darauf deuten, dass es sich nicht mehr um eine Bewegtbildproduktion handelte. Dominieren aber diese Bestandeile, handelt es sich wohl nicht mehr um vorproduzierte Bewegtbildprodukte, um spezifische Film- oder Video- Produktionen - so dass auch keine Typologisierungen mehr genutzt werden können (zumindest nicht für das konkrete Produkt, den Film, den Videoclip - dass auch Apps auf Mediencharakteristika Rücksicht nehmen müssen, ist natürlich ebenso selbstverständlich). 132 Hans W. Giessen (Saarbrücken) In jedem Fall aber reicht die Einbeziehung von Apps über die Thematik dieser Übersicht hinaus. 2.9 Die Ergebnisse im Überblick Bildgröße extreme Großaufnahmen, detailarm. Das Bild muss extrem plakativ und schnell erfassbar sein: bildfüllende Gegenstände, Gesichter; keine abwechslungsintensiven Landschaften oder Massenszenen. Schnitt-Rhythmus tendenziell schnelle Schnitte, Bild nicht zu lange stehen lassen. Umschnitte nach etwa drei bis maximal fünf Sekunden scheinen angemessen zu sein. Bewegung tendenziell eher wenig Bewegung Kontraste starke Kontraste, “ viel Farbe ” , eine gute Flächendifferenzierung (wenig Strukturen, Texturen), eine ausgewogene, tendenziell helle Lichtsituationen, eindeutige Raumabbildungen Format neue Chance: auch Hochformat ist möglich (und in der Alltagsnutzung leicht möglich), bringt neue ästhetische und auch inhaltliche Möglichkeiten mit sich. Allerdings muss dann auch bewusst der Bildaufbau entsprechend konzipiert werden. Vertikale, nicht horizontale Planung des Bildes! Filmlänge länger als bei Multimedia-Produktionen, aber nur bei Streaming- Varianten über zehn bis fünfzehn Minuten. Inhalte im Gegensatz zu Bewegtbildproduktionen im Kontext computergestützter Multimedia-Angebote sind bei Handys wieder chronologische, argumentative, sich entwickelnde Inhalte möglich. allerdings: Bei der Erweiterung mit Hilfe von Apps sind Spiele und Augmented Realiy-Aspekte möglich - eine klassische Geschichte kann so aber nur noch schwer erzählt werden. Jedoch ist fraglich, ob sich Apps noch im Kontext der Eingrenzung und Begrifflichkeit dieses Überblicks bewegen. 3 Diskussion Ist eine solche Typologisierung sinnvoll? Die Frage deutet bereits an, dass es sich bei diesen ‘ Regeln ’ nicht um unumstößliche Gesetze handelt, sondern um Hinweise - eine ‘ Handreichung ’ . Wie viele ‘ Regeln ’ im künstlerischen, geistes- oder sozialwissenschaftlichen Kontext unterliegen sie einem technischen, aber auch historischen und ästhetischen Wandel. Eine Typologisierung kann deshalb nur ‘ idealtypisch ’ zu verstehen sein (im Sinn Max Webers, vergleiche Weber, 1922: 190 ff.). In der Realität wird sie stets aufgeweicht. Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 133 Die Gründe sind teilweise inhaltlich oder dramaturgisch begründet; aber es gibt auch andere Effekte, zum Beispiel Ausstrahlungseffekte der aktuellen Leitmedien. So wurde beispielsweise beobachtet, dass auch im Kino in den achtziger und neunziger Jahren Elemente des Fernseh- Werbeclips auftauchten (wie Großaufnahmen, obwohl ja für das Kino mit seiner großen Leinwand eher Totalen geeignet sind) - dies war der Zeitpunkt, als das Fernsehen spätestens zum neuen Leitmedium wurde. Auf jeden Fall entstand damals der Eindruck, dass nun erstmals die medienadäquaten Charakteristika des Fernsehens deutlich wurden - aufgrund der Entwicklung der Fernbedienung und der Programmvermehrung und dem damit verbundenen Druck, medienadäquater zu arbeiten. Die neuen Regeln waren so überraschend, dass sie nun auch auf Kinoproduktionen rückwirkten (vergleiche dazu ausführlicher in Giessen, 2003). Aber nicht nur modische Aspekte können dazu führen, dass begründete Regeln ignoriert werden. Natürlich spielt der Inhalt beziehungsweise die Geschichte mit, zudem spielen auch dramaturgische Notwendigkeiten eine so große Rolle, dass sie häufig die beschriebene Typologisierung ignorieren (müssen! ). Angela Kern hat beispielsweise angesichts der oben unter ‘ Bildgröße ’ diskutierten Beispiele beobachtet, dass die Entscheidung für einen spezifischen Workflow, mancher Wahrnehmungsveränderung zum Trotz, “ nicht unbedingt an der Größe des Zielmediums, sondern an der zu erzielenden Ästhetik ausgerichtet werden sollte ” (Kern, 2012: 131). Andererseits ist deutlich, dass eine Entscheidung ‘ pro Inhalt ’ witzlos ist, wenn beispielsweise inhaltsrelevante Details bei einem zu kleinen Bild nicht mehr erkannt werden können. Die Dominanz des Inhalts, der Ästhetik oder der Dramaturgie führt, wo sie möglich ist, zu mehr oder weniger begründeten Verstöße gegen Regeln, die als solche dadurch aber nicht weniger berechtigt sind. Dass diese Regeln beziehungsweise die genannte Typologisierung in der Regel auch anerkannt und - bewusst oder unbewusst - akzeptiert und befolgt wird, macht die Geschichte populärer Bewegtbildprodukte für alle Medien, vom Kino angefangen, deutlich (Giessen, 2008); dies gilt natürlich auch für Handys. In der Tat gibt es zahlreiche Filme und Clips, die explizit für die Nutzung mit einem Handy produziert wurden. Damit sind nicht so sehr Filme gemeint, die mit Hilfe von Handys gedreht wurden - wenngleich es auch hier bereits eine mehr oder weniger umfangreiche Geschichte von entsprechend produzierten Filmen gibt. Erste Clips, die mit Handys gedreht wurden, stammten aus der Mitte des ersten Jahrzehnts, etwa Grant Marhsalls Musikvideo “ Some Postman ” zum Song der Presidents of the United States of America, die damit auch bereits “ das neue Medium ins Bild gerückt [ hatten], auf dem Videoclips künftig angeschaut werden können ” (Keazor, Giessen und Wübbena, 2012: 12); ein anderer früher Clip war Mike Hodkinsons Musikvideo “ Surfing at 32°F ” für den Song der Gruppe Eskimohunter aus dem Jahr 2008. Allerdings sind nicht alle Produktionen, die mit Hilfe von Handys gedreht wurden, für die Nutzung durch das Handy konzipiert worden. Ein Gegenbeispiel wäre der Film Paranmanjang der südkoreanischen Brüder Chan-wook und Chan-kyong Park aus dem Jahr 2011, der durchaus für die Kinovorführung produziert wurde und der auf der ‘ Berlinale ’ 2011 sogar den ‘ Goldenen Bären ’ für den besten Kurzfilm verliehen erhielt. Umgekehrt gibt es aber auch professionell erstellte - also: mit einer Profikamera, Beleuchtung, Kamerawagen usw. - Bewegtbildproduktionen, die explizit zur Nutzung durch das Handy produziert worden sind. So veröffentlichte ‘ Fox ’ bereits 2005 ein Spin Off seiner erfolgreichen Fernsehserie 24 mit dem Titel 24 Conspiracy, die erste ‘ Mobisoden ’ -Produktion 134 Hans W. Giessen (Saarbrücken) eines großen Networks in den USA (Potts 2004). 24 Conspiracy war speziell und ausschließlich für den Handymarkt entworfen worden. Die Regisseure haben gerade aus diesem Grund auf Charakteristika verzichten müssen, die für die Originalserie typisch waren (wie aufwändige Kamerafahrten oder lange Autojagden). Die Spin Off-Reihe war (in der Folge? ) nicht erfolgreich. In der Tat scheinen Mediencharakteristika die Ursache dafür gewesen zu sein, dass sie eingestellt werden musste, obwohl hier noch der Ausstrahlungseffekt der sehr erfolgreichen Fernsehserie zu Publikumsneugierde geführt haben dürfte. So war schon bei diesem frühen Versuchen deutlich geworden, dass das Medium Form und sogar Inhalt und mithin auch Erfolg einer Produktion beeinflusst. Dennoch gab es in der Folge weitere ‘ Mobisoden ’ und andere für die Nutzung auf einem Handy konzipierte Filme. Young selbst begann bereits im Folgejahr mit einer weiteren Serie, dises Mal ein Spin Off der Fernsehserie Prison Break, die er unter dem Titel Prison Break: Proof of Innocence veröffentlichte. Bereits im selben Jahr wurde in Spanien mit dem Spin Off zu einer komödiantischen Fernsehserie namens Supervillanos experimentiert; dieses Experiment war auf die beeindruckende Anzahl von 40 Folgen angelegt und verlief wohl deshalb nur bedingt erfolgreich, weil diese Länge und die Zeitspanne der Veröffentlichung angesichts kurzer, jeweils rund drei Minuten langer Folgen offenbar dazu führte, dass die narratologische Struktur überfordert war (del Mar Gradío, 2010). Anderer Versuche liefen dagegen erfolgreicher. In den Jahren 2007 und 2008 etwa veröffentlichte ABC in den USA ein dreizehnteiliges Spin Off zur Fernsehserie Lost. Noch immer sind ‘ Mobisoden ’ kein Standard- Element bei einer erfolgreichen Fernsehserie, aber gab es immer mehr entsprechende Versuche. Auch im Bereich von Musikvideos wurden Clips eigens zur Nutzung mit dem Handy gedreht. Beispiele sind die bereits erwähnten Kombinationen eines ‘ traditionellen ’ Musikvideos mit einer für das Handy produzierten Version, die ihre Funktion mit Hilfe einer App erreicht, durch die Bewegtbild aus der Umgebung des Nutzers eingebunden wird (2010 von den Black Eyed Peas oder 2011 von Salyu zum Song “ Su(o)n(d)beams ” ) - parallel dazu gibt es jeweils auch einen ‘ klassischen ’ Musikclip. Auch das Beispiel von Jonas Åkerlunds Clip zu Rihannas Song “ Who ’ s that Chick ” wurde bereits genannt, bei dem zwei unterschiedliche Versionen, eine für die Fernsehnutzung und eine für die Nutzung mit dem Handy, konzipiert wurden. Dass die “ Day Version ” des Clips eigens für das Handy produziert wurde, wird bereits daran deutlich, dass die Marketingstrategie, die zur Produktion zweier so unterschiedlicher Clips führte, gezielt das Handy nutzte: “ Die Firma Frito-Lay hatte die beiden Clips zur Bewerbung ihrer Chips-Marke Doritos mitfinanziert und die zwei Versionen auf ihrer Website (http: / / doritoslatenight.com bzw. http: / / www.doritos.com) hochgeladen[. . .] - dort konnte man zunächst, wenn man ein auf einer Doritos-Tüte angebrachtes Symbol als so genannten ‘ Marker ’ in die Kamera des eigenen [. . .] Handys[. . .] hielt, [. . .] die (eigens für Doritos gedrehte) Day-Version anschauen. Brachte man jedoch während der Darbietung den auf der Tüte aufgedruckten und als Code fungierenden Marker erneut vor die Kamera, so wechselte die gezeigte Day-Version solange übergangslos zur (als offizielles Musikvideo zu dem Stück fungierenden) Night-Version, als sich das Symbol vor die Kameralinse befand. [. . .] Dieses Arrangement zielt nun implizit deutlichst auf eine bevorzugte Rezeption via. [ Handy], denn während man sich im Falle der Verwendung eines Laptops den Bildschirm mit der Chipstüte ungewollt verdeckte, wenn man sie vor die eingebaute Kamera hielt, erweist sich dieses optische Einspeisen des Markers im Falle eines [ Handys] als unproblematisch, da Gestaltungsaspekte bei Videoproduktionen für das Handy 135 sich die Kamera auf der Rückseite des Geräts befindet ” (Keazor, Giessen und Wübbena, 2012: 13 f.). Da der Song wie auch das Musikvideo sehr erfolgreich waren, kann davon ausgegangen werden, dass Jonas Åkerlund offenbar erfolgreich und bewusst eine mediengerechte Produktion gelungen ist; dabei hat er - bewusst oder unbewusst - die hier herausgearbeitete Typologie berücksichtigt. Sein Film ist mithin empirischer Beleg für die Nutzbarkeit und auch Nutzung der Typologisierung. Sie wurde berücksichtigt, um entsprechende Wirkungseffekte im und mit dem spezifisch genutzten Medium (hier Fernsehen, dort Handy) zu erzielen. Dass es dennoch relativ wenige entsprechende Produkte gibt, hängt offenbar mit einem anderen Phänomen zusammen. Im Gegensatz zu Kino und Fernsehen, die jeweils rund ein halbes Jahrhundert als Leitmedien für Bewetbildproduktionen dienten und in deren Kontext sich daher Kenntnisse über die entsprechenden ästhetischen Regeln langsam und in steter Weiterentwicklung herausbilden konnten, wurde das Handy als neuer, wichtigster Ort für Bewegtbildproduktionen bereits ein halbes Jahrzehnt später bereits wieder in Frage gestellt, da es in seiner Bedeutung zunehmend von anderen Handhelds (mobilen Digitalgeräten wie vor allem dem iPad, das 2010 eingeführt wurde), abgelöst wurden. In jedem Fall führt die Dynamisierung der Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit in immer kürzeren Rhythmen zu immer neuen Geräten, die die Möglichkeiten und Erscheinungsformen verändern. Die neuen Geräte sind in der Tat Weiterentwicklungen, die aber (erneut) so spezifische Unterschiede aufweisen (zum Beispiel aufgrund des größeren Monitor oder der anderen Haltung und damit Handhabung des Geräts), dass einige der hier vorgestellten Regeln in ihrem Kontext wieder obsolet geworden sind. Fraglich ist, ob man wieder von neuen, eigenständigen Medien reden kann und muss - zumindest bezüglich der Produktion von Bewegtbildmedien sind die Unterschiede aber so groß, dass, wie Kai Wißmann schreibt, die rasante Entwicklung des Marktes verschiedene Fragestellungen wieder “ aufgelöst ” habe, so dass es gleich nach dem Anfang zum Highspeed- Ende gekommen sei. Nun habe das “ mobile Internet ” die Dominanz übernommen (2012: insbesondere 86), oder andere Handhelds. Auch die technische Entwicklung mit der Einbindung von Apps wurde bereits angesprochen. Als Gegenposition kann jedoch gesagt werden, dass die Fragestellung nicht ‘ aufgelöst ’ sei, dass allenfalls ihre Relevanz abnehme. Dennoch: Auch nach 2010 gibt es noch Bewegtbildproduktionen für das Handy; und selbst wenn deren quantitative Bedeutungen den ursprünglichen Erwartungen nicht entspricht, bedeutet dies nicht, dass man keine Typologisierung für dieses Medium suchen und darstellen dürfte. Bibliographie Zitierte Filme Bender, Jack (Regisseur); Abrams, J. J.; Bender, Jack; Burk, Bryan; Cuse, Carlton; Jossen, Barry; Lindelof, Damon; Jeff Pinkner (Produzenten) (2007 - 2008), Lost Video Diaries. USA: ABC, 13 ‘ Mobisoden ’ à 1' - 4' Cameron, James (Regisseur; Autor; Produzent m. Landau, Jon) (2009), Avatar. USA: 20th Century Fox. Spielfilm, 162' Eskimohunter (Band); Hodkinson, Mike (Regisseur) (2008), Surfing at 32°F. USA: Adventure Broadcasting. Videoclip, 6'17" 136 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Fernández Groizard, Guillermo (Regisseur), (2006), Supervillanos. Spanien: Globo Media. 40 ‘ Mobisoden ’ à ca. 3' Lee, Rich (Regisseur) Black Eyed Peas (Band), (2010), The Time (Dirty Bit). USA: Will.i.am; 2 Versionen: Musikvideo und App ( “ Will.i.am ’ s will.i.app ” ), 5'08" Park, Chan-wook; Park, Chan-kyong (Regisseure, Autoren) (2011), Paranmanjang. Südkorea: Korea Telecom. Kurzspielfilm, 31' The Presidents of the United States of America (Band); Marshall, Grant (Regisseur) (2005), Some Postman. USA: PUSA. Videoclip, 3'06" Rihanna (David Guetta feat. Rihanna; Interpretin); Åkerlund, Jonas (Regisseur) (2011), Who ’ s That Chick. 2 Versionen ( “ day Version ” , “ Nichht Version ” ). USA: Virgin, 3'19" Cornelius (Produzent); Salyu (Interpretin) (2011), Cornelius presents Salyu x Salyu Su(o)n(d)beams. Tokyo: Toys Factory Scott, Ridley (Regisseur; Autoren: Franzoni, David; Logan, John; Nicholson, William; Produzenten: Franzoni, David; Lustig, Banko; Wick, Douglas) (2000), Gladiator. USA: DreamWorks; Universal. Spielfilm: 155' Young, Eric Neil; Ostrick, Marc (Regisseure, Autoren) (2005), 24 Conspiracy. USA: Fox. 24 ‘ Mobisoden ’ à 1' Young, Eric Neil (Regisseur) (2006), Prison Break: Proof of Innocence. USA: Fox. 26 ‘ Mobisoden ’ à 2' Sekundärliteratur Abramson, Albert (2003): The History of Television, 1942 to 2000. Jefferson, NC: McFarland & Company Adam, Jessika (2010): Micromovie - Ein kreatives Medium für mobile Endgeräte. Hamburg: Diplomica Beldi, Ariane (2013): Un passeur culturel, technologique et commercial: le DVD et la transformation des déries TV en oeuvres culturelles - le cas de la réception des séries TV d ’ animation japonais en Europe. Strasbourg, Univ: Thèse Cesar, Pablo; Knoche, Hendrik; Bulterman, Dick C. A. (2010): From One to Many Boxes. 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Schon in der Einleitung erfährt man, dass “‘ kritische ’ Perspektiven in der Tradition Adornos [ . . .] in der heutigen Kommunikationswissenschaft kaum mehr präsent ” (p. 13) seien und “ sich die große Mehrheit der kommunikationswissenschaftlichen Akteure in Deutschland als empirische Sozialwissenschaftler ” (ibid.) verstünde. Wird noch gönnerhaft konzediert, der Strukturwandel der Öffentlichkeit und die Theorie der kommunikativen Kompetenz (sic! ) von Jürgen Habermas seien “ von Einfluß ” , reibt man sich verblüfft die Augen, wenn man erfährt: Weil sie sich hauptsächlich im Feld der Soziologie positioniert haben, zähle ich beispielsweise Jürgen Habermas, Axel Honneth oder Oskar Negt in dieser Arbeit nicht zur kommunikationswissenschaftlich relevanten Akteursgruppe. Auch Hans-Magnus Enzensberger und Alexander Kluge gehören aus einer Bourdieu ’ schen Perspektive nicht zur ‘ Kritischen Kommunikationsforschung ’ (p. 65). Diese Bemerkung, der Andreas Scheu keine vierzig Seiten später expressis verbis widerspricht, ist ähnlich sinnvoll wie diejenige, daß man den römischen Papst nicht zu den Christen zählen könne, weil er sich zu stark als Katholik positioniert habe. Wie selektiv die Wahrnehmung Andreas Scheus ist, erkennt man daran, daß das von Georg F. Meier herausgegebene Fachorgan Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung genauso wenig erwähnt wird wie dessen Handbuch der Linguistik und Kommunikationswissenschaft (Meier/ Meier, 1979). Die kommunikationswissenschaftlich höchst ergiebige Aufsatzsammlung, die Werner Neumann 1976 in zwei Bänden herausgegeben hat, findet ebenfalls keine Berücksichtigung, woraus man wohl den Schluß ziehen muß, dass DDR-Wissenschaftler eo ipso als unkritisch zu betrachten sind. 1 Rezension zu: Scheu, Andreas M. 2012: Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft. Eine Verdrängungsgeschichte? , Köln: Herbert von Halem, 363 pp., kart., 32,00 € , 987 - 3-86962 - 054 - 1. Andreas Scheu sucht in seiner Arbeit nach einer Antwort auf die Frage, ob Adornos Erben in der Kommunikationswissenschaft eine Verdrängungsgeschichte erlebt hätten, was nicht nur semantisch schräg klingt; man sollte aber wissen und bedenken, daß Michael Meyer diese Arbeit betreute, der vor fünf Jahren mit feiner Ironie die zusammen mit Maria Löblich herausgegebenen biographischen Interviews unter den Titel stellte: Ich habe dieses Fach erfunden. An und für sich ist es nicht besonders schwierig, Erben, Mitarbeiter, Schüler ausfindig zu machen, weil man dazu nur in Melderegister, Personalakten, Immatrikulationsunterlagen zu schauen brauchte. Man könnte aber auch den in Wissenschaftlerkreisen durchaus üblichen Weg beschreiten und die einschlägige Sekundärliteratur zu Rate ziehen; hier würden sich in ganz besonderem Maße anbieten: Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Institutes für Sozialforschung 1923 - 1950 (1976), Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung (1986) sowie Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland (1987) und Sahmel, Karl-Heinz: Die kritische Theorie. Bruchstücke. Würzburg: Königshausen & Neumann (1988) - jeweils mit reichen weiterführenden Literaturhinweisen. Eine so einfache Lösung kommt für Andreas Scheu aber nicht in Frage: stattdessen formt er sich unter Anlehnung an Pierre Bourdieus strukturalistische Wissenssoziologie mit viel Tamtam und Qualm einen Golem, der sich vor allem durch die bemerkenswerte Eigenschaft auszeichnet, daß es ihn nicht gibt. Fünfundzwanzig Jahre vor Andreas Scheu hatte Lutz Hachmeister betont: Zu berücksichtigen ist ohnehin, daß sich wesentliche Anstrengungen auf dem Feld der Kommunikationsforschung und Medientheorie außerhalb der Disziplingrenzen vollzogen haben; Namen wie Walter Benjamin, Horkheimer/ Adorno, Günther Anders, H. M. Enzensberger, aber auch Habermas ( ‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit ’ ) und Hans-Dieter Müller ( ‘ Der Springer-Konzern ’ ) können hier beispielhaft genannt werden (Hachmeister, 1987: 2). und man möchte Herbert Marcuse, Alfred Schmidt, Ulrich Oevermann u. a. dringend hinzufügen. Wie kann es zu einer derart eklatanten Diskrepanz kommen? Wir haben es erstens mit der wundersamen Metamorphose der Zeitungswissenschaft zu tun und zweitens mit der Vernachlässigung der realen historischen und politischen Verhältnissen im 20. Jahrhundert, was bei Scheu nur einmal ganz kurz aufblitzt, wenn bei der Erwähnung der Rolle Elisabeth Noelle-Neumann während der Nazizeit die Möglichkeit eines Pöttker-Skandals (cf. p. 129) angedeutet wird. Es wäre wirklich einmal interessant zu erfahren, wie Andreas Scheu sich erklärt, daß es nach 1945 in Deutschland, aber auch in Österreich, Ungarn, Frankreich, fächerübergreifend ein so großes Maß an politischer Homogenität gegeben hat. Keiner hatte etwas gesehen, keiner war dabei gewesen, alle waren ihrerseits Opfer, Leidtragende und Betrogene gewesen und gesprochen hat schon gar keiner darüber: Opa war kein Nazi, wie Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall 2002 titelten, da war es nur drei Jahrzehnte her, daß Hans E. Schneider alias Hans Schwerte Rektor der RWTH-Aachen werden konnte, obwohl er ein hochrangiger SS-Offizier gewesen war, was er mit dem SS-Führer Franz Alfred Six gemeinsam hatte, den Lutz Hachmeister 1998 als Gegnerforscher porträtierte: daß der Remigrant Theodor W. Adorno den Nazi der ersten Stunde Arnold Gehlen überhaupt anschaute, ist schwer verständlich. Alexander und Margarete Mitscherlich konstatierten Die 140 Achim Eschbach (Essen) Unfähigkeit zu trauern: Diese “ Erbenproblematik ” sollte das Rückgrat einer Kommunikationsgeschichte bilden, anstatt Märchen von anno nazimal zu kolportieren. Einem jeden Fachmann ist bekannt, daß Emil Dovifat in Berlin, Karl d ’ Ester in München und Walter Hagemann in Münster Zeitungswissenschaft und gar nichts anderes betrieben haben. Wenn aus der Zeitungswissenschaft im Laufe der Jahre Publizistik werden sollte, so verdankt sich dies schlicht der Tatsache, daß immer neue Medien aufkamen, die sich an ein immer unüberschaubareres Publikum wandten. Leider hat man es in dieser Situation versäumt, säuberlich zwischen einer Kommunikationstheorie und einer Medientheorie zu unterscheiden. Während die Kommunikationstheorie die menschlichen Verständigungshandlungen erforscht und zwar exakt im Sinne des Frankfurter Institutes für Sozialforschung (cf. Scheu p. 85) oder unserer Bausteine der Kommunikationswissenschaft (cf. Eschbach/ Eschbach, 2011) kann es einem Zeitungs-, Rundfunk- oder Fernsehjournalisten nicht darum gehen, sich mit seinem Leser, Zuhörer oder Zuschauer über irgendetwas zu verständigen, sondern einzig und allein darum, das weitestgehend anonyme Publikum zu erreichen und zu irgendwelchen Entscheidungen und Präferenzen - Wahlentscheidungen, Kaufentscheidungen etc. - zu veranlassen, was der Bühler-Schüler Paul Lazarsfeld bereits in den zwanziger Jahren in seiner Wiener Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle und nach seiner Emigration an der New School of Social Research in New York erforscht hat; nur eine ordentliche Medientheorie fehlt bis heute. Um nun den Hütchenspielertrick zu durchschauen, mit dem in einer doppelten Rochade aus dem Radio Research Project eine “ kritische Medientheorie ” alias “ kritische Kommunikationswissenschaft ” alias “ materialistische Medienforschung ” (p. 78) wird, muß man die Begriffe ‘ kritische Theorie ’ und ‘ kritischer Rationalismus ’ nur nahe genug aneinanderrücken, damit sie gewissermaßen ineinanderfließen; dasselbe gilt für ‘ Massenkultur ’ , ‘ Massenkommunikationsforschung ’ und ‘ Kommunikationsforschung ’ , die betrachtet werden als stünden sie in derselben Beziehung wie Venus, Morgenstern und Abendstern; liest man dann die Namen der “ kritischen Kommunikationsforscher ” (p. 66), von denen es heißt, sie wären “ kaum untereinander vernetzt, geschweige denn institutionell organisiert ” (p.63) gewesen, so fragt man sich gespannt, was das bloß für eine geheimnisvolle Truppe gewesen sein mag. Natürlich wird Andreas Scheu im Chor zahlreicher weiterer Medienforscher einwenden, daß das doch ein Streit um des Kaisers Bart sei; es dürfe sich schließlich jeder einen Künstlernamen zulegen, wenn ‘ Zeitungswissenschaft ’ , ‘ Publizistik ’ oder ‘ Journalistik ’ nicht mehr attraktiv, cool oder sexy erschienen. Daß es kein Sandkastenstreit um belanglose Namen ist, verdeutlichen mit großer Anschaulichkeit die Auseinandersetzungen zwischen Paul Lazarsfeld und Theodor W. Adorno an der New School of Social Research, denn es macht durchaus einen Unterschied, ob ich mich meinem Gegenstand mit dem mathematisch-statistischen Instrumentarium nähere, das Lazarsfeld im Bühler-Institut zum Einsatz brachte, um gewisse Daten in Korrelation zu stellen, was Roland Burkart im zweiten Teil seiner Kommunikationswissenschaft (Burkart, 2002) in aller Ausführlichkeit präsentiert oder ob ich mich im Sinne der Verstehenstheorie um eine hermeneutische Erschließung oder Deutung einer Problemlage bemühe. Bei dieser Gegenüberstellung erscheint der Untertitel von Andreas Scheus Buch plötzlich in einem völlig anderen Licht: Es ist in der Tat von einer Verdrängungsgeschichte die Rede, nämlich der Verdrängung der Tatsache, daß es seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und dann erneut bei Gelegenheit der Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Petitio principii oder die Erschleichung des Beweisgrundes 141 Gesellschaft für Soziologie (Oktober 1961) in mehreren Wellen oder Schüben einen Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften gegeben hat (bei dem Vertreter des sog. Kritischen Rationalismus (e. g. Karl Popper, Hans Albert, Wiener Kreis) gegen Vertreter der Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno, Habermas) angetreten sind. Wie wir weiter oben bereits gehört haben, hält Andreas Scheu es für legitim, diese beiden grundverschiedenen Positionen so zusammenzuschieben, daß für die Neue Kommunikationswissenschaft alias Publizistik nur noch ein schlecht getarnter Neopositivismus übrig bleibt. Um diese Diskursion hier nicht ausufern zu lassen, sei auf die zusammenfassende Darstellung von Hans- Joachim Dahms: Positivismusstreit - Die Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus - Frankfurt: Suhrkamp 1994 verwiesen. Nach den gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen im Gefolge der Russischen Revolution haben sich nicht wenige (Links-) Intellektuelle auf den Weg in das revolutionäre Rußland gemacht, um an Ort und Stelle die atemberaubenden Errungenschaften kennenzulernen. Aus den Biographien nicht weniger dieser Rußlandreisenden ist bekannt geworden, daß sich ihr anfänglicher Enthusiasmus angesichts der wenig erbaulichen Wirklichkeit doch merklich abgekühlt hatte, was beispielsweise für Walter Benjamin, André Gide, Ludwig Wittgenstein, Otto Neurath, Samuel Beckett und viele andere zutraf, die nicht deshalb zu Antikommunisten oder Antimaterialisten mutierten; nur einem dogmatischen und parteipolitisch gesteuerten Marxismus standen sie skeptisch gegenüber, was für die nach 1945 quantitativ vernachlässigbare Gruppe der Mitglieder der KPD, KPF etc. ausdrücklich nicht galt. Hier sollte aber der Grund für die Verfolgung in der Nazizeit und die Verhängung eines Berufsverbots in der Bundesrepublik Deutschland deutlich ausgesprochen werden: In der BRD gab es den sog. Radikalenerlaß nicht aus Angst vor schlechten Lokomotivführern oder Kommunikationswissenschaftlern, sondern wegen der notorischen Kommunismushysterie. Einen mit Berufsverbot belegten Wissenschaftler dann aber als “ schlecht vernetzt ” (cf. e. g. p. 63, 214, 246, 262: bestimmte Geschichten werden nicht dadurch besser, daß man sie gebetsmühlenartig wiederholt) zu bezeichnen, erscheint mir gelinde gesagt als zynisch. Am Ende der Lektüre hat sich der unangenehme Eindruck festgesetzt, daß hier der krampfhafte Versuch unternommen worden ist, dem “ empirisch-sozialwissenschaftlichen Paradigma ” in Ermangelung eigener Väter einen goldenen Gründungsmythos anzudichten, was sich in eklatanter Weise in der Haßliebe gegenüber Jürgen Habermas und dem Versuch manifestiert, dessen Mitarbeiter und Schüler zu verdrängen. Wenn schon Zuflucht zu psychopathologischen Kategorien genommen werden soll, würde ich das Geltungsstreben der Erbsenzähler unter dem Stichwort ‘ Minderwertigkeitskomplex ’ verbuchen. Warum hat Andreas Scheu nicht wenigstens den Versuch unternommen, nach den Erfolgen der Frankfurter Schule im Bereich der kritischen Kommunikationsforschung zu fragen? Man müßte dabei gar nicht bei der unbestreitbar großen Wirkung der Theorie des kommunikativen Handels von Jürgen Habermas ansetzen, sondern man könnte an die Tage denken, als Herbert Marcuse Eindimensionaler Mensch, worüber ich meine philosophische Zwischenprüfungsklausur geschrieben habe, in aller Breite diskutiert wurde und Ulrich Oevermanns frühe Schriften - zumindest in Raubdrucken - in allen linken Buchläden auslagen. Ein Soziolinguistikseminar ohne Oevermanns Thesen über restringierte Codes der Unterschichtkinder und den eilfertig angesetzten kompensatorischen Sprachunterricht hätte sich damals niemand vorstellen können. 142 Achim Eschbach (Essen) Das gleiche gilt doch auch für Walter Benjamins legendären Aufsatz “ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ” , Max Horkheimers Kritische Theorie und die gemeinsam mit Theodor W. Adorno verfaßten Studien, die bereits aus den dreißiger Jahren stammen und die kennzeichnenden Merkmale der aufkommenden Massenkommunikation einer ebenso kritischen Reflexion unterziehen wie der zuvor bereits erwähnte Herbert Marcuse. Zu den bahnbrechenden und richtungsweisenden nordrhein-westfälischen “ Rahmenrichtlinien für das Fach Kunst ” , die aus der Feder meiner väterlichen Freunde und Kollegen Hans Brög und Hermann Sturm stammen, wäre es doch ohne die kritischen Frankfurter gar nicht gekommen und damit auch nicht zu gewissen inhaltlichen und personellen Entwicklungen in den Bereichen visuelle Kommunikation und Semiotik. Es war gerade die am Frankfurter Institut für Sozialforschung praktizierte Interdisziplinarität, die ich von einem weiteren meiner Aachener Lehrer, dem Adorno-Schüler Helmut Schanze gelernt habe, die die kritische kommunikationswissenschaftliche Fragestellung allererst begründet hat. Diese Art von Kommunikationsforschung kümmerte sich höchstens am Rande um meßbare Daten wie Einschaltquoten oder Auflagenhöhen, sondern fragte eher danach, was die Deutschen gelesen haben, als die Klassiker ihre Meisterwerke verfaßten. Ein geradezu paradigmatisches Beispiel hierfür wäre Rudolf Schendas Sozialgeschichte populärer Lesestoffe, die unter dem Titel Volk ohne Buch (Schenda, 1988) veröffentlicht worden ist. Andreas Scheu hätte sich aber auch inhaltlich und intensiv mit einem kritischen Kommunikationswissenschaftler auseinandersetzen können, der die junge Bundesrepublik Deutschland in den fünfziger Jahren in Richtung Amerika verlassen hat, weil er meinte, die Indikatoren wiesen nicht nur in Richtung Restauration, sondern geradezu auf Restitution der 1945 überwunden geglaubten politischen Verhältnisse. Hanno Hardt hat in den Vereinigten Staaten seine Ausbildung als Kommunikationswissenschaftler absolviert und nach üblichen Kriterien eine glanzvolle Karriere absolviert, die ihn auch wiederholt nach Deutschland geführt hat, wo er u. a. Rufe nach Berlin und Dortmund erhielt - wenn man das eine Sackgasse nennen möchte, so sind mir zahlreiche jüngere Kommunikationswissenschaftler bekannt, die liebend gerne in so etwas hineingeraten würden. Weshalb Hardts profunde Studien zur kritischen Kommunikationsforschung kaum am Rande erwähnt werden, kann ich mir nur damit erklären, daß ansonsten das Bourdieusche Kartenhaus sang- und klanglos in sich zusammenstürzen würde. Bibliographie Burkart, Roland 2002: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Wien: Böhlau. Dahms, Hans-Joachim 1994: Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus. Frankfurt: Suhrkamp. Eschbach, Achim und Eschbach, Nora (eds.) 2011: Bausteine der Kommunikationswissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann. Hachmeister, Lutz 1987: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. 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Weshalb der Renaissance-Philosoph Giambattista Vico, der Wiener Sprachpsychologe Karl Bühler oder der Kunsthistoriker Aby Warburg auf die Liste der Schlüsselwerke der Kulturwissenschaft geraten sind, wäre ebenso erklärungsbedürftig wie die Nennung des Soziologen Georg Simmel, des Anthropologen Clifford Geertz oder der Semiologin Julia Kristeva, was nicht deren Exzellenz in Zweifel ziehen soll, sondern lediglich nach den Gemeinsamkeiten fragt. In ihrer Einleitung räumen die HerausgeberInnen mit entwaffnender Offenheit um nicht zu sagen Chuzpe ein, daß die Schlüsselwerke “ ohne Furcht eklektisch ” seien und den “ notwendigen Mut zur Lücke ” aufbrächten, keinen “ Anspruch auf Vollständigkeit und theoretische Konsistenz ” erhöben und folglich keine Kanonbildung beabsichtigten (13 f.). Wo hat man denn jemals in einem Werk mit dem nicht gerade unbescheidenen Titel Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften gelesen, daß es keine Konsistenzansprüche erhebe, obwohl eine solche Erwartung bereits an eine Seminararbeit gerichtet werden muß. So löblich diese Ehrlichkeit erscheint, sollte man das Buch doch aus der Perspektive seiner zukünftigen Nutzer beurteilen und das werden in der Regel Studienanfänger und noch keine gestandenen Fachleute sein. Deshalb wird der Eindruck entstehen, daß die Herausgeber aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz die rund 100 wichtigsten kulturwissenschaftlichen Werke ausgewählt und präsentiert haben. Weshalb gerade diese Werke der ausgewählten Autoren vorgestellt werden, wird der Anfänger nicht hinterfragen (können), weil das 1 Rezension zu Leggewie, Claus; Zifonun, Darius; Lang, Anne; Siepmann, Marcel; Hoppen, Johanna (Hg.) 2012: Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, 344 pp., kart., 25,80 € , 978 - 3-8376 - 1327 - 8 (Zitate im Text beziehen sich - soweit nicht anders markiert - auf diese Ausgabe). schließlich voraussetzt, daß der entsprechende Leser bereits Kenntnis von der Existenz einschlägiger Werke des betreffenden Autors besäße, was in der Regel bei Anfängern nicht der Fall sein dürfte. Daß sich der Umfang der zu präsentierenden Werke und deren Komplexität stets in das zwei bis drei Seitenschema einpassen läßt, wird den Anfänger genauso wenig verblüffen wie sich der Tagesschaubetrachter darüber wundert, daß täglich gerade so viel passiert, daß man in einer Viertelstunde darüber berichten kann. Wenn man das Inhaltsverzeichnis der Schlüsselwerke aufmerksam durchmustert, werden einem sehr bald einzelne herausragende Kulturwissenschaftler oder sogar ganze Schulrichtungen ins Gedächtnis kommen, die in dem vorliegenden Werk mit keinem Wort erwähnt werden: Wo ist etwa von dem äußerst erfolgreichen Tübinger Studiengang ‘ Empirische Kulturwissenschaft ’ die Rede? Weshalb werden die ‘ cultural studies ’ völlig ausgeblendet, die dem Essener KWI politisch gesprochen doch gar nicht so unsympathisch sein dürften? Wo sind Arnold Hauser, Hartmut Böhme, Aleida Assmann etc., die ein jeder von uns gelesen und präsent haben muß. Auch wenn man gewisse Präferenzen einräumen würde, kann man kulturwissenschaftliche Schlüsselwerke doch nicht unter Ausschluß von Maurice Halbwachs, Susan Sontag, Johan Huizinga, José Ortega y Gasset, Umberto Eco, Irene Portis Winter etc. diskutieren; hier wäre deutlich mehr als nur die Proklamation des “ Muts zur Lücke ” fällig gewesen; was fehlt ist eine ausgewachsene Kriteriologie, die dem Anfänger Auskunft und Orientierung geboten hätte. Der Leser der Schlüsselwerke wird sich nicht über die Kürze der Texte und die Sparsamkeit im Umgang mit weiterführenden Hinweisen beklagen, denn schließlich hat er in seinem Studium ja auch noch andere Texte zur Kenntnis zu nehmen und außerdem entspricht die Knappheit und Bündigkeit dem gehetzten Zeitgeist, der Fakten, Fakten, Fakten verlangt und keine langatmigen und unverständlichen Argumentationen und Begründungen. Während man sich früher noch die Zeit für einen mehrseitigen Brief nahm, schickt man heute eine mail oder SMS, weshalb es nur konsequent ist, wenn Yahoo für die Komprimierung einer Nachricht dem 17-jährigen Nick D ’ Aloisio einen zweistelligen Millionenbetrag gezahlt hat. Man sollte dann aber den Nutzer der Schlüsselwerke auch nicht dafür schelten, wenn ihm bei der Nennung eines Namens - sagen wir Max Weber - als Paßwort nur “ protestantische Werkethik ” und sonst gar nichts mehr einfällt. Diese atemlose, lakonische Kürze entspricht im Übrigen voll und ganz den Erwartungen, die an die berufsqualifizierenden Bachelorstudien gerichtet werden; wer damit noch nicht zufrieden ist, muß sich halt in weiteren zwei Jahren zum Wissenschaftler ausbilden lassen. Georg Simmels Essay über den Streit, der im vorliegenden Band von Thorsten Bonacker und Lars Schmitt vorgestellt wird, kreist um ein Kulturverständnis, das die Herausgeber- Innen in ihrer Einleitung in Anlehnung an Clifford Geertz als ein Gewebe von Bedeutungen bezeichnen, die es zu interpretieren gilt (cf. 13). Nicht nur an dieser Stelle des Bandes springt ins Auge, daß an den Platz des Kulturbegriffs ohne jede Verrenkung der Kommunikationsbegriff treten könnte, was ausdrücklich von dem Simmelschüler Kurt Singer in dessen Studie The Idea of Conflict (Singer, 1973) und von dem amerikanischen Semiotiker Charles William Morris vollzogen worden ist. Die Parallelführung der Kultur- und Kommunikationsverständnisse dürfte mit wechselseitigem Gewinn noch ein ganzes Stück fortgesetzt werden, denn das Inhaltsverzeichnis der Schlüsselwerke und die Lektüreliste des Essener Instituts für Kommunikationswissenschaft weisen zahlreiche Überschneidungen auf, was besagen soll, daß man aus ähnlichen Quelle schöpfen und bei unterschiedlich akzentuierten Fragestellungen dennoch zu andersartigen, wenngleich komplementären Resultaten gelangen kann. 146 Achim Eschbach (Essen) In ihrem Artikel über Karl Bühlers Sprachtheorie stellt Gisela Zifonun die Behauptung auf: Das Zeichen selbst ist gleichzeitig ‘ konkretes Schallphänomen ’ und Bestandteil des abstrakten Sprachsystems - zugleich token und type. [. . .] Nur durch diese Integration der Bezüge kann erklärt werden, wie mittels sprachlicher Zeichen Verhalten gesteuert, Interaktion hergestellt werden kann. Dieser integrative Wert des Organon-Modells ist für die kulturwissenschaftliche Sprachwissenschaft der entscheidende Gesichtspunkt (67). Leider ist zu befürchten, daß Frau Zifonun die eigentliche sematologische Pointe des Bühlerschen Werkes völlig entgangen ist. Bühler hat wiederholt erklärt: Meinen Vorschlag kennen Sie: Man vergleiche die Sprache mit anderen Darstellungsgeräten. Wären wir soweit und könnten eine allgemeine Zeichenlehre, eine ausgewachsene Sematologie vorlegen, so wäre unser Beitrag geleistet. Eine allgemeine Sematologie - das ist es, was zustande gebracht werden muß und hier werden von allen Seiten die heute noch getrennten Beiträge einmünden (Bühler, TS 90: 4) Die sematologische Pointe seines Ansatzes hat Karl Bühler bereits dreißig Jahre früher im ersten Satz seiner Habilitationsschrift formuliert: Es gibt wohl kaum eine andere einzelwissenschaftliche Frage, auf die man so viele verschiedene Antworten erhalten kann als auf die: was ist Denken? Denken ist Verknüpfung, Denken ist Zerlegung. Denken ist Urteilen. Denken heißt Apperzipieren. Das Wesen des Denkens liegt in der Abstraktion. Denken ist Beziehen. Denken ist Aktivität, ist ein Willensvorgang (Bühler, 1907: 297). Es geht also darum, immaterielle Gedanken und materielle Laute so zu verknüpfen, daß das sinnvolle Benehmen der Gemeinschaftsmitglieder wechselseitig gesteuert werden kann, wie es in der Krise der Psychologie (Bühler, 1927: 50) heißt. In demselben Buch findet sich allerdings ebenfalls der § 14: “ Freud, der Stoffdenker ” , in dem Bühler den Schluß vom Materiellen auf das Immaterielle als einen schweren Fehler, als eine Stoffentgleisung (Bühler, 1927: 165) geißelt. In seinem wichtigen Aufsatz von 1931 “ Phonetik und Phonologie ” spricht Bühler nicht wie Frau Zifonun davon, daß das Zeichen sowohl type als auch token sei, sondern er spricht von dem Laut, der phonetisch beschreibbar ist und fordert dann dazu auf, in einer völlig neuen Betrachtungsweise ein Zeichen zu konstituieren und ein konstituiertes Zeichen kann man nicht mit den Mitteln der Phonetik messen, sondern man kann es nur denken, wie Bühler schon in seiner Habilitationsschrift unter dem Stichwort ‘ Apperzeption ’ ausgeführt hatte. Auf diesen Gedanken hätte Frau Zifonun allerdings auch bei der Lektüre der Sprachtheorie stoßen können, wo Bühler die apperzeptive Ergänzung behandelt. Eine apperzeptive Ergänzung ist ein echtes Erweiterungsurteil, das Charles Sanders Peirce in seinen Pragmatismus-Vorlesungen als Wahrnehmungsurteil bezeichnet. Ein Wahrnehmungsurteil ist ein Extremfall abduktiven Schließens und eine Abduktion ist nichts anderes als ein Zeichen, das sich auf ein Perzeptuum bezieht, das Peirce meistens als dynamisches Objekt bezeichnete und wofür Immanuel Kant den Terminus ‘ Erscheinung ’ benutzte. Wir sehen also, daß Bühler ebenso wie Peirce nicht von einem janusköpfigen materiell/ immateriellen type/ token redet, sondern von einem Prozeß der fortschreitenden Verzeichnung. Gisela Zifonun gelangt am Ende ihres Artikels zu dem Eindruck, “ daß Bühler einen oft unsystematischen, abschweifenden und z. T. auch begrifflich unklaren Stil ” (68) pflege; das ist Shortology 147 die Folge davon, daß der Fokus auf die Sprachtheorie von 1934 verengt wurde. Hätte Frau Zifonun die Schriften zur Sprachtheorie (Bühler, 2012) zur Kenntnis genommen, hätte sie nachvollziehen können, wie Bühler seine Argumentation mit großer Konsequenz Schritt für Schritt entfaltet hat; außerdem hätte ihr die umfangreiche Sekundärliteratur (cf. Kamp, 1984: 273 - 289 sowie Bühler, 2012: 229 - 247) sicherlich zum besseren Verständnis geholfen. Luise Röska-Hardy strickt in ihrem Beitrag zu den kulturwissenschaftlichen Schlüsselwerken munter weiter an dem goldenen Gründungsmythos der strukturalistischen Linguistik. In ihren Literaturhinweisen erwähnt sie zwar Ludwig Jägers lesenswerte de Saussure- Einführung, die 2010 im Junius-Verlag erschienen ist, ohne aber die geringsten Konsequenzen daraus abzuleiten. Stattdessen verpasst sie dem Herausgeber der ersten kritischen Edition des Cours de linguistique générale den schönen Vornamen ‘ Payot ’ und einer der Cours-Herausgeber hätte sich bestimmt nicht über die Verhunzung seines Familiennamens gefreut. Dafür schwadroniert Frau Röska-Hardy über den “ dyadischen Zeichenbegriff ” (64) als wäre nicht seit mehr als einem Dritteljahrhundert bekannt, daß Ferdinand de Saussure sich mit aller Macht gegen die dualistische Etikettentheorie der Sprache gestemmt hat. Vielleicht sollte sie sich einmal der Mühe unterziehen und Ludwig Jägers Düsseldorfer Dissertation studieren, die 1975 unter dem Titel Zu einer historischen Rekonstruktion der authentischen Sprachidee Ferdinand de Saussures eingereicht worden ist. Es würde auch nicht schaden, die verdienstvollen Werke der zahlreichen Saussure-Forscher (Robert Godel, Rudolf Engler, Jean Starobinski, Johannes Fehr, Christian Stetter, Peter Wunderli, um nur einige zu nennen) zur Kenntnis zu nehmen. An dem Saussure-Beispiel läßt sich ein besonders problematischer Aspekt der Schlüsselwerke drastisch veranschaulichen: Immer wieder ist selbst von linguistischen Fachkollegen in seltener Unbekümmertheit zu hören, der Cours de linguistique générale habe doch schließlich eine derart beeindruckende Rezeptionsgeschichte absolviert, daß man ihn heute unmöglich außer Acht lassen könne. Das erinnert in verblüffender Weise an den Stolberger Schrebergärtner, der im Schatten der Bleihütte vergnügt an seinen selbstgezüchteten Radieschen knabbert, während auf der Nachbarweide die Kühe vergiftet zusammenbrechen, und jede Warnung mit der Begründung in den Wind schlägt, der Vater und der Großvater hätten schließlich auch schon hier gegärtnert. Vielleicht sollte man einmal die unkritische und ahistorische Umgangsweise mit dem Cours mit der Behandlung apokrypher Schriften seitens der katholischen Kirche vergleichen: Der Studienanfänger wird sich dann unversehens in der Rolle des ahnungslosen Laien wiederfinden, der treu und brav das nach Hause trägt, was man ihm von der Kanzel aus gepredigt hat - kritische Wissenschaft geht anders! Wenn Joachim Fischer in seinem Beitrag über Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch schreibt: Für die Kulturwissenschaften im biologischen Zeitalter bleibt Plessners Text der Goldstandard, weil die dort grundgelegte Philosophische Anthropologie angesichts der fortwährenden evolutionsbiologischen Herausforderung einerseits und der konstruktivistischen Verkapselung andererseits theorietechnisch eine dritte Möglichkeit anbietet, Kulturwissenschaften zu betreiben (254), dann fragt man sich schon, wie dies mit der Erklärung vereinbar ist: Andererseits wäre es ein Mißverständnis, Kulturwissenschaften als Sammelbegriff für alle Geistes- und Sozialwissenschaften zu verstehen. In diesen finden sich bedeutsame und wirk- 148 Achim Eschbach (Essen) mächtige Denkströmungen, die dezidiert nicht - oder gar antikulturwissenschaftlich sind, da sie in ihren Deutungen und Erklärungen z. B. auf universale Denkstrukturen der biologischen Determinanten rekurrieren und gerade nicht auf Kultur. Entsprechend finden sich Schlüsselwerke dieser Wissenschaftstradition hier nicht ” (14). Ob man aber dann noch so apodiktisch wie Plessner von einer säuberlichen Hemisphärentrennung sprechen darf (cf. 253) oder ob nicht vielmehr von gleitenden Übergängen die Rede sein sollte, wie bereits Karl Bühler nahelegte und Thomas A. Sebeok energischer postulierte, indem er unermüdlich Gegenbeispiele türmte, sollte ernsthaft bedacht werden. Eine Gesamteinschätzung eines Sammelbandes, der über einhundert bedeutende Werke der Kulturwissenschaften vorstellt, fällt von der Natur der Sache her nicht leicht und richtet sich nicht gegen die Entscheidung für oder gegen den einzelnen Klassiker, sondern gegen die Art der Präsentation, die einfach zu kurz ausfällt, um der Komplexität der präsentierten Werke gerecht zu werden. Ließe sich garantieren, der vorliegende Band würde wie eine kommentierte Bibliographie benützt, die nach den Appetithäppchen das Studium der gesamten Werke folgen ließe, müßte man die Schlüsselwerke rückhaltlos empfehlen; weil diese Hoffnung aber aller Wahrscheinlichkeit nach enttäuscht wird, besteht Grund zu der Annahme, daß einmal mehr des im Stil der BA/ MA-Studien hektischen Herunterwürgens viel zu vieler unverdaulicher Brocken Vorschub geleistet wird. Shortology 149 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Article Interkulturelle Paarbeziehungen 1 Robin Kurilla (Essen) Moderne Gesellschaften schaffen Raum für eine Vielzahl von Kulturkontakten unterschiedlichster Façon. Nationale Öffentlichkeiten diskutieren die sich in ihren Reihen abspielenden Mikrokontakte der Kulturbegegnung zumeist auf einem Spektrum zwischen Integration und Pluralismus, wobei die eine oder die andere Seite dominieren mag. In Deutschland ist dies eher die Integration, in den USA eher der Pluralismus. Bedauerlicherweise entgeht diesen Debatten regelmäßig ein Phänomenbereich, der als Prüfstein für die Bedingungen der Möglichkeit von Integration und Pluralismus in einem engen Wortsinne zu dienen vermag. Dabei handelt es sich um den Bereich interkultureller Paarbeziehungen und besonders der Gespräche innerhalb solcher Beziehungen. Vom Standpunkt wissenschaftlicher Diskurse sind freilich mehrere Herangehensweisen an diesen Phänomenbereich möglich und durchaus auch üblich. Auf den inklusive Anhang 236 Seiten ihrer 2013 im Akademie Verlag erschienenen Monographie “ Conversations of Intercultural Couples ” verschreibt sich Kellie Gonçalves einem soziolinguistischen Zugang, den sie sozialpsychologisch anreichert und mit einer qualitativ-ethnographischen Methode unterlegt. Anders als in ihrer Dissertation von 2009, deren Veröffentlichung das Buch darstellt, spezifiziert Gonçalves den Titel nicht näher. Dabei hätte der Dissertationstitel “ Language and Identity Performance among Intercultural Couples: An Interactional Approach ” den Inhalt des Buches viel treffender umrissen und den Leser somit viel besser orientiert. So widmet sich Gonçalves in theoretisch fundierter und methodologisch in Ansätzen reflektierter Weise einem empirisch exakt abgrenzbaren Phänomenbereich und schafft dadurch einen erfrischenden Kontrapunkt zu einem “ geheimen Positivismus ” (Flader/ Trotha 1988) auf der einen und einer empirielosen Begriffsarchitektur auf der anderen Seite. Doch fußt dieses gesamte Unternehmen auf nur zwei Säulen: Sprache und Identität. Selbst “ Intercultural Couples ” scheint angesichts des vergleichsweise geringen Grades an Interkulturalität und der spezifischen Form der untersuchten Partnerschaften ein wenig allgemein gegriffen. Gonçalves verfolgt drei Forschungsziele: 1 Rezension zu: Kellie Gonçalves 2013: Conversations of Intercultural Couples (Diskursmuster - Discourse Patterns 4). Berlin: Akademie Verlag, 208 pp., geb., 84,95 € , 978 - 3-05 - 006055 - 2 (Zitate im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). First, I want to learn about Anglophone migrants ’ experiences of language learning within a German-speaking canton. [. . .] Second, I explore individuals ’ explanations about specific sociocultural practices deemed ‘ Swiss ’ and their reasons for adopting or rejecting such practices. From this investigation of conversations of intercultural couples the construction of sameness and difference emerges, which leads to the third research aim, namely, if and how individuals come to terms with their culturally hybrid identities as a result of living abroad in an intercultural marriage. (16 - 17). Um sich diesen Zielen zu nähern, bedient sich Gonçalves einer empirischen Studie zu neun ex ante als solchen identifizierten interkulturellen Paaren im Raum Interlaken in der Schweiz. Die Paare bestehen allesamt aus je einem Partner aus einer anglophonen Sprachgemeinschaft und einem Partner aus der deutschsprachigen Schweiz. Zu ihren Ergebnissen gelangt Gonçalves durch eine Triangulation von teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews. Dabei schöpft sie auch aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz als anglophone Teilnehmerin an einer ebenfalls in Interlaken ansässigen ‘ interkulturellen ’ Partnerschaft. (18) Theoretisch anleiten lässt sich Gonçalves dabei von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Identitätskonzepten, der positioning theory (im Folgenden Positionierungstheorie genannt) von Davies und Harré (1990) und einer macht- und ideologietheoretischen Herangehensweise an den Spracherwerb in diglossischen Regionen. Zudem unternimmt Gonçalves den Versuch, die gesellschaftliche Praxis und deren diskursive Reifizierung analytisch getrennt voneinander zu betrachten. Nach ihrer Durchsicht der Formvorlagen für Integration aus dem Schweizer Bundesamt für Migration kommt Gonçalves gleich zu Beginn von Kapitel 1 zu der Diagnose, dass “ language learning and knowing certain socio-cultural norms and practices are just two of the many obligations foreigners residing in Switzerland face. ” (16) Der Gesetzgeber lasse indessen einerseits unberücksichtigt, dass der Dialekt oft die regionale Landessprache dominiert, und andererseits unklar, welche ‘ kulturellen Normen und Praktiken ’ im Einzelnen als schweizerische zu gelten haben. Nach einer Skizze ihres Verständnisses von qualitativer Forschung unterstreicht Gonçalves, dass ihre eigene langjährige Erfahrung als Teilnehmerin an einer interkulturellen Partnerschaft vom Standpunkt des qualitativen Paradigmas keinen Forschungsbias, sondern einen Vorzug darstelle. In 1.2 stellt Gonçalves ihre Forschungsfragen an die Gespräche von interkulturellen Paaren vor (19): 1) How do individuals understand who they are as a result of living in an intercultural marriage abroad? 2) How is doing Swiss discursively co-constructed and negotiated? 3) How do individuals position themselves and each other in talk and what linguistic forms are used to accomplish this? Gonçalves zielt auf die “ emic perceptions ” der Individuen ab und wählt daher einen diskursanalytischen Ansatz (20). In 1.3 folgt ein Umriss ihres theoretischen Ausgangspunktes als Fusion von Positionierungstheorie und dem “ sociocultural linguistic approach to identity ” von Bucholtz und Hall (etwa 2005) (20). Von dort aus gelangt Gonçalves zu der Unterscheidung von situated und situational identity. Ersteres bezieht sich auf die konstanten Identitätsbausteine entweder aus der Sicht der eigenen Person oder aus der Sicht anderer, Letzteres auf die flüchtigere situationsbezogene Konstruktion von Identität (23 - 24). Die letzten beiden Abschnitte des Kapitels bestehen aus einer Übersicht über den Forschungsstand (1.4) und einem Ausblick auf das Buch (1.5). Interkulturelle Paarbeziehungen 151 In Kapitel 2 legt Gonçalves den Prozess der Datensammlung und -auswertung offen. Sie liefert hier sehr detaillierte Beschreibungen des Zugangs zum Feld, der Datenerhebung und der Datenauswertung. Ihre hauptsächlich zum Einsatz kommende Methode beschreibt Gonçalves mit Webb und Webb (1932: 130) als “ conversation with a purpose ” . Gonçalves ’ Interviewleitfaden sei nur ein einziges Mal vor dem ersten Interview konsultiert worden, so dass sich die ‘ Interviews ’ letzten Endes als quasi-natürliche Gespräche gestaltet hätten (39 - 41). Abschnitt 2.2.2 beschreibt, wie Gonçalves durch teilnehmende Beobachtung zusätzliches Datenmaterial generierte (42 - 43). Diese Ausführungen münden in eine Diskussion von Beobachtungseffekten im Allgemeinen und den Einwirkungen von Gonçalves als Forscherin auf das Feld im Besonderen. So nimmt Gonçalves etwa zur Kenntnis, dass ihr manchmal in den Gesprächen die Rolle einer Therapeutin oder Beraterin zugewiesen wurde (44 - 48). Zum Zwecke der Analyse bedient sich Gonçalves (49) fünf thematischer Kategorien ( “ language choice(s) and language practices ” , “ couple discourse ” , “ language learning ” , “ overt mentions of identity ” und “ socio-cultural daily life practices ” ), die sie in 14 Subkategorien auflöst. Im Anschluss identifiziert sie verschiedene Positionierungstypen, die in Kapitel 5 beschrieben werden, und reduziert ihren Fokus allmählich auf die für ihre Studie relevanten Kernkategorien, die sich in den oben genannten Fragen 1) bis 3) widerspiegeln (48 - 51). Kapitel 2 endet mit einer Vorstellung der neun untersuchten Paarbeziehungen und gibt Aufschluss über die persönlichen Situationen der einzelnen Teilnehmer. Kapitel 3 widmet sich der soziolinguistischen Komposition der Schweiz und der Region Interlaken. Hinsichtlich der diglossischen Situation in der deutschsprachigen Schweiz stellt Gonçalves fest, dass sich der Dialekt nicht mehr auf die ihm angestammten Bereiche beschränke, sondern sich auch in denjenigen Sphären ausbreite, die traditionell dem Schweizer Hochdeutsch vorbehalten waren. Ihre Beschäftigung mit den Sprachvorlieben der Anwohner und der speziellen, vom Tourismus geprägten wirtschaftlich-demographischkulturellen Situation Interlakens führt Gonçalves zu dem Schluss, dass Englisch in Interlaken zur Lingua franca für den Umgang mit internationalen Besuchern avanciert sei. Gonçalves belegt ihre Hypothese mit einer standardisierten Befragung von 150 in der Tourismusindustrie Beschäftigten, die durch ihre Arbeit häufig Kontakt zu internationalen Besuchern und Mitarbeitern haben (71 - 73). Englisch werde in vielen Situationen des Kontakts mit internationalen Besuchern dem Schweizer Hochdeutsch gegenüber bevorzugt. Selbst wenn die Besucher das Schweizer Hochdeutsch verwendeten, werde ihnen oftmals auf Englisch geantwortet (74 - 75). Als Lingua franca sei Englisch auch die Sprache der Wahl vieler interkultureller Paare. Die bei den Einheimischen Interlakens anzutreffende Präferenz des Dialekts gegenüber dem Schweizer Hochdeutsch erscheint vor diesem Hintergrund und angesichts mangelnder Institutionen im Sinne Berger/ Luckmanns (1989), um die Kluft zwischen den Varietäten zu überbrücken bzw. den Dialekt direkt zugänglich zu machen, als Herausforderung an die Paare, da in bestimmten sozialen Kreisen die Beherrschung dieses Codes über Inklusion und Exklusion entscheide. Damit liegt die Zugangsvoraussetzung zu den Orten der Dialektpraxis und damit eigentlich auch der Dialektaneignung in für lernwillige Außenstehende ungünstiger Weise im geübten Umgang mit dem Dialekt. Gonçalves formuliert in diesem Zusammenhang auch bereits die in Kapitel 6 näher beleuchteten Fragen, inwieweit der Dialekt Bestandteil des ‘ doing Swiss ’ ist und wie sich die spezielle Sprachkonstitution der Paare und ihres Umfelds auf die Hybridisierung ihrer Identitäten auswirkt (75). 152 Robin Kurilla (Essen) In Kapitel 4 stellt Gonçalves verschiedene Herangehensweisen an das Thema “ Identität ” vor und kategorisiert diese als sozialkonstruktivistische und poststrukturalistische Ansätze. Die Gemeinsamkeit dieser beiden Stränge sieht Gonçalves in den Annahmen, dass nicht von einem stabilen Selbst ausgegangen wird (81), dass Identität kein essentialistisches, prädiskursives Phänomen ist (87) - wobei aber berücksichtigt werden müsse, dass die Sprecher selbst häufig von einem solchen ausgehen - und dass Sprache eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von Identitäten spielt (88). In 4.2 betrachtet Gonçalves einen Ausschnitt aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion zur Relationierung von Sprache und Identität (88). Sie beginnt mit einer ethnolinguistischen Identitätsstheorie, um sich im Hinblick auf diese in einem zweiten Schritt der Kritik anzuschließen, dass sie wie auch die “ variationist ” Soziolinguistik der Sprache zwar eine wichtige Rolle für die Identitätsgenesis zuschrieben, Identität letzten Endes aber doch als ein prädiskursives Substrat betrachteten (89 - 92). In einem dritten Schritt stellt Gonçalves es als Vorzug gegenüber diesen Ansätzen heraus, dass die interaktionale Linguistik Identität konzipiere als “ [. . .] produced and constructed in communicative processes and verbal interaction, highlighting the notion of multiplicity. ” (93) Ensprechend verlässt Gonçalves in 4.3 ihren Fokus auf Sprache, um die Relevanz von nicht-sprachlichen sozialen Praktiken für die Konstruktion von Identitäten zu unterstreichen. In diesem Zuge führt Gonçalves (94 - 96) den Begriff der community of practice (CofP) ein, den sie von Wenger (1998) übernimmt. Solche Praxisgemeinschaften bilden laut Gonçalves den primären Anknüpfpunkt für soziale Identitäten bzw. Zugehörigkeiten zu Kollektiven. Auch andere Identitätsbausteine betrachtet Gonçalves als Produkte sozialer Praxis. So seien Gender- und nationale Identitäten an bestimmte Muster des doing gender und beispielsweise doing Swiss gebunden. Durch einen Verweis auf die soziale Gestaltung und Applikation von Authentizitätskriterien bezieht Gonçalves an dieser Stelle - in Anlehnung an Fenstermaker und West (1995) - auch ein machttheoretisches Element in die Diskussion ein (99 - 102). In 4.4 präsentiert Gonçalves das multidimensionale Identitätskonzept von Bucholtz und Hall (2005), das modelliert, mit Hilfe welcher sprachlichen Mittel Identitäten diskursiv zusammengesetzt werden, und das Gonçalves für ihre Analysen in den Kapiteln 6 und 7 verwendet. Buchholz und Hall veranschlagen die Interaktion als Analyseebene, da sprachliche und andere semiotische Ressourcen durch sie ihre Bedeutung erhielten. An diese Autoren anschließend unterscheidet Gonçalves fünf Prinzipien der Identitätskonstruktion: “ Emergence, Positionality, Relationality, Indexicality, and Partialness. ” (103) Emergent sind Identitäten demnach insofern, als sie durch soziale Mikroprozesse konstruiert werden. Das Prinzip der Positionalität verortet sie auf drei sozialstrukturellen Ebenen und referiert dazu erstens auf demographische Kategorien der Makroebene, zweitens auf lokale, ethnographisch spezifizierbare kulturelle Positionen und drittens auf temporäre und interaktionsspezifische Haltungen und Partizipationsrollen. (104) Das Prinzip der Indexikalität besagt, dass unterschiedliche Sprachmittel eingesetzt werden, um Identitäten zu produzieren. (105) Zu diesen “ indexical processes ” (105) zählt Goncalves “ overt mention of identity categories and labels ” (105, im Original fett), “ pragmatic processes of implicatures and presuppositions regarding one ’ s own or others ’ identity position ” (105, im Original fett), “ displayed evaluative and epistemic orientations to ongoing talk, as well as, interactional footings and participant roles ” (106, im Original fett) und “ the use of linguistic structures and systems that are ideologically associated with specific personas and groups ” (106, im Original fett). Nach dem Prinzip der Relationalität bestehen Identitäten nicht unabhängig voneinander, gewissermaßen in vacuo, sondern sind mit anderen Identitäten vernetzt, die unter den Differenzen Interkulturelle Paarbeziehungen 153 Ähnlichkeit/ Unterschiedlichkeit, Echtheit/ Künstlichkeit und Autorisierung/ Delegitimierung betrachtet werden können. Im Rückgriff auf diese Differenzen leitet Goncalves je unterschiedliche kommunikative Prozessierungsformen von Identitäten ab. (106 - 108) Das Prinzip der Partialität schließlich besagt, dass Identitäten stets intersubjektiv produzierte, kontextuell situierte und ideologisch geprägte Prozesse sind, die sich weder auf makrosoziologische Variablen noch ausschließlich auf Mikrokomponenten reduzieren lassen. (108 - 109) Kapitel 5 ist der Positionierungstheorie und verschiedenen Positionierungstypen gewidmet. Gonçalves ergänzt hier die Identitätstheorie aus Kapitel 4 mit der Positionierungstheorie, um das Begriffsinstrumentarium für ihre empirischen Analysen zu erweitern. Davies und Harré (1990, 1999) folgend begreift Gonçalves Positionierungen als diejenigen diskursiven Praktiken, mit denen sich Gesprächsteilnehmer in einer kohärenten Weise wechselseitig innerhalb einer gemeinsam hergestellten fiktiven Handlungslinie verorten (113 - 114). Anschließend beschreibt Gonçalves, wie diesem Ansatz zufolge Identitäten in Gesprächen hergestellt und ausgehandelt werden, und zählt eine Reihe von Positionierungstypen auf, von denen sie im Einzelnen die folgenden anhand von Beispielen aus ihrem Datenmaterial detaillierter betrachtet: positioning of self and other (118 - 119), first and second order positioning (119 - 122), tacit and intentional positioning (122 - 128), forced-self positioning and forced positioning of others (128 - 131). Bei ihrer Betrachtung von Identitätsaushandlungen kommt Gonçalves in Anlehnung an Pavlenko und Blackledge (2004) auf drei mögliche Identitätstypen: imposed identities, assumed identities und negotiable identities. Diese Unterscheidungen sollen das Phänomen erklären, dass Identitäten einerseits interaktiv geformt werden, andererseits aber auch der aktuellen Interaktion in gewissem Maße vorausgehen (132 - 133). Der abschließende Teil von Kapitel 5 befasst sich mit “ direct reported speech, pronominal use, prosodically marked utterances, code-mixing and overt mentions of national labels ” (134) sowie “ stance markers ” (134), “ discourse markers ” (134 f) und “ hedges ” (135) als sprachlichen Mitteln der Positionierung. Auf diese Weise schlägt Goncalves eine Brücke zu Bucholtz und Halls Prinzipien der Positionalität und der Indexikalität, die so empirisch greifbar gemacht werden sollen. In Kapitel 6 untersucht Gonçalves ihr Datenmaterial in Hinsicht darauf, mit welchen sprachlichen Mitteln sich die Gesprächsteilnehmer in Sachen Zweitspracherwerb wechselseitig positionieren. Sie synthetisiert sechs Themen, die die individuelle Spracherwerbserfahrung prägen. Darunter befinden sich “ language ideologies of standard German and Swiss German dialects ” , “ language learning strategies for integration ” und “ giving up and rejecting language learning ” (138). Zudem begreift Gonçalves vier Faktoren als maßgeblich für den Verlauf des Spracherwerbs: “ participants ’ access or lack of access to Swiss German speaking CofPs ” , “ relations of power within these CofPs ” , “ participants ’ altered gendered identities ” und “ participants ’ altered professional identities ” (139). Mit Blick auf die diglossische Situation in Interlaken zeichnet Gonçalves die Spracherwerbsstrategien und -schwierigkeiten der Untersuchungsteilnehmer nach. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass es für eine gelungene Integration und Identitätsanpassung nicht ausreiche, die in der Region Interlaken gängige Nationalsprache zu erlernen. Stattdessen käme es auf die Beherrschung des Dialekts an, der maßgeblich für die Identitätszuschreibung sei, dessen Erwerb sich jedoch Hindernisse in den Weg stellten. So zeige sich etwa die Schweizer Bevölkerung Interlakens abgeneigt gegenüber dem Hochdeutschen und bevorzuge die englische Sprache für den Umgang mit internationalen Gästen. Zudem hätten die Zugewanderten wie ausgeführt 154 Robin Kurilla (Essen) Schwierigkeiten beim Zugang zu den relevanten CofPs. Ein Schwerpunkt bei dieser Diskussion liegt auf den Machtstrukturen innerhalb der CofPs, zu denen Gonçalves auch die Partnerschaften zählt. Angelehnt an Ng und Bradac (1993) unterscheidet Gonçalves “ power to ” und “ power over ” . Ersteres bezieht sich auf das Vermögen, die eigenen und kollektive Ziele durchzusetzen und andere an der Durchsetzung ihrer Ziele zu hindern, Letzteres auf Machtpositionen in sozialen Beziehungen. (140) Gonçalves betrachtet den Dialekt im Gegensatz zur Hochsprache als kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus. Da er über den Zugang zu relevanten CofPs und damit zu anderen symbolischen Ressourcen entscheide, sei die Aneignung des Dialekts das Kardinalproblem der Machtaneignung aufseiten der Zugewanderten. Der Partner könne hier zwar bis zu einem Gewissen Grad behilflich sein. Letztlich entscheide aber das “ investment ” des Lernenden in die Sprachaneignung, dessen Beziehung zur Zielsprache über den Verlauf des Lernprozesses, was hier auch heißen muss: über die Aneignung von symbolischen Ressourcen als Medien von power to und power over. (141 f) Seinerseits werde das investment durch soziokulturell tradierte Glaubenssysteme zu Sprache und ihrem funktionalen Gebrauch beeinflusst. Diese Glaubenssysteme bezeichnet Gonçalves mit Watts (1999) als Ideologien des Dialekts. An ihrem Datenmaterial zeigt Gonçalves, wie sich die ideologische Sinnbewirtschaftung der Differenz von Standardsprache und Dialekt in den Gesprächen entlang den angeführten Präferenzlinien fortsetzt und zum Hindernis für den Spracherwerb der Zugewanderten wird. (146 - 154) In Kapitel 7 untersucht Gonçalves, wie die Studienteilnehmer diskursiv ihre stabilen und hybriden Identitäten formen und was sie unter “ doing Swiss ” verstehen. Gonçalves stützt sich hierbei auf ihre bereits zuvor thematisierte Unterscheidung von situated und situational identities. Sie identifiziert drei Haltungen gegenüber der Hybridisierung der eigenen Identität: “ admitting hybridity ” , “ rejecting hybridity ” und “ embracing hybrid identities ” (166). Aus ihren Daten schöpft Gonçalves sieben Themen, um die die Diskussionen über die Unterscheidung Schweizerisch/ anders rankten: “ competence in the local Bernese dialect ” , “ social arrangements/ socializing ” , “ housekeeping ” , “ cooking/ eating ” , “ means of transportation ” , “ working/ child-rearing ” und “ shopping ” (167). “ These local and socio-cultural practices that individuals voluntarily engage in or deliberately avoid serve as identity markers and attest to their various levels of doing Swiss. ” (167) Es bleibt offen, ob Gonçalves in Rechnung stellt, dass ihr Datenmaterial lediglich über die Reifizierung dieser Praktiken Aufschluss zu geben vermag. In 7.2 präsentiert Gonçalves (169) zwar eine Bystydzienski (2011) entlehnte Arbeitsdefinition von Kultur, versäumt es aber, anhand dieser Definition nachzuzeichnen, inwiefern es sich bei den von ihr untersuchten Paaren um ‘ intercultural couples ’ handelt, worauf weiter unten noch en detail einzugehen ist. Der Rest des Kapitels ist der Feinanalyse der Positionierungsprozesse aus dem Datenmaterial gewidmet. In 7.3 präsentiert Gonçalves unter dem Titel “ Merging identity categories ” (170) Standpunkte wie “ I fight to have my own identity ” (170), “ I still feel like a total foreigner ” (173) und “ I actually came here to see the Alps, I did not plan on staying here ” (177). Abschnitt 7.4 läuft schließlich unter der Flagge “ Embracing a Swiss identity ” (182) und versammelt Standpunkte wie “ All these junk stores, you don ’ t need that anymore ” (183), “ When I go back to California, I don ’ t do it either ” (185) und “ My personality is still American ” (186). Anhand der sechs erwähnten Identitätsmarker zeigt Gonçalves exemplarisch im Zusammenhang mit diesen Standpunkten aus ihrem Datenmaterial, dass sich nicht ex ante von einer subjektiv auch als solche konzipierten Hybridisierung der Identität ausgehen lässt, wie es der Autorin zufolge einige postmoderne Ansätze suggerieren. Mit der Unterscheidung von situated und situational Interkulturelle Paarbeziehungen 155 identities scheint Gonçalves den attestierten Widerspruch zwischen essentialistischen und poststrukturalistischen Identitätsbegriffen überkommen zu wollen. Kaptitel 8 resümiert die Ergebnisse der einzelnen Kapitel (195 - 201). Zudem streift es die theoretischen Implikationen der Studie (201 - 202), evaluiert Gonçalves ’ Herangehensweise an ‘ Identität ’ positiv (203 - 205) und liefert eine Skizze von Forschungsimplikationen und Zukunftsperspektiven (205 - 206). Als Stärke ihrer Arbeit unterstreicht Gonçalves den Versuch, die subjektiven Perspektiven auf Hybridität und die individuellen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einem Leben im Dazwischen nachzuzeichnen. “ I went beyond the categories-and-labels approach by analyzing discourse about individuals ’ claims but also looking at how the discourse produced positioned the individuals themselves and each other in the context of our conversations. ” (205) Kapitel 9 bildet den Anhang des Buches, in dem Gonçalves neben Details zu ihrer Befragung auch das Literaturverzeichnis und ein Autorenverzeichnis wie auch ein Stichwortverzeichnis versammelt. Gonçalves knüpft mit ihrer Studie an eine Reihe soziolinguistischer Arbeiten unterschiedlicher Spielart an. Dazu gehören Gal (1979), Heller und Lévy (1992), Boyd (1998), Varro (1988) und Piller (2002). Zudem greift sie auch Diskussionsfäden auf, die in jüngerer Zeit in den Sozialwissenschaften hoch im Kurs stehen. Am prominentesten hierunter ist das Thema von Praxis und Reifizierung. (Adler & Pouliot 2011, Loenhoff 2012, Schützeichel 2012, Renn 2012, Knobloch 2012, Walton 2013) So experimentiert Gonçalves mit dem Begriff des “ doing Swiss ” , mit dem Sie die Defizite eines rein reifizierenden, ausschließlich aus objektivierenden Stereotypen zusammengeschusterten Begriffs von nationalen oder allgemein sozialen Identitäten durch Praxisintegration überkommen will. In letzter Instanz ist dieses Unternehmen jedoch zum Scheitern verurteilt. Denn Gonçalves vollzieht zwar mitunter präreflexive Identitätspraktiken nach. Doch legt sie dabei ihren Fokus exklusiv auf die diskursive Fabrikation von Reifizierungen und übersieht so die Praxis nicht reflektierter Identitätsarbeit. Anders: Das Konzept des doing Swiss verlagert die identitätsstiftenden Praktiken lediglich in reifizierter Form in den Diskurs, während Gonçalves sich allein mit der Praxis der sprachlich-interaktiven Konstruktion stereotyper Identitäten befasst, also sozusagen mit der Praxis interaktiver Reflexionsprozesse. Die Praxis der Identitätspraxis hingegen, wie sie sich in Alltagsritualen mit kommunikativen und präkommunikativen Elementen vollzieht, ohne dabei zum Thema zu werden, entzieht sich der Beobachtung. Gonçalves schlittert so um Haaresbreite daran vorbei, den praxeologischen Aspekten der Identitätskonstruktion auch bei solchen Fällen begrifflich Rechnung zu tragen, bei denen es sich nicht um Explizierungsprozesse der Praxis handelt. Luhmann (1985) zeigt hinsichtlich der geschichtlich-historischen Entwicklung des zweiteiligen Identitätsmodells, dass Authentizität in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht kommunizierbar ist. Wer etwa zu viel davon berichtet, wie er anderen Gutes tut, provoziert “ Motivverdacht ” - und zwar bei anderen und bei einer entsprechenden Beobachtungskonfiguration auch bei sich selbst. Die alltagsweltliche Relevanz dieser Feststellung zeigt sich etwa in dem Bemühen unzähliger Autoren aus dem Bereich der PR-Ratgeberliteratur, dem Slogan “ Gutes tun und darüber reden ” die negativen Konnotationen zu nehmen. (etwa Gaus 2008, Bartel 2011, Esser/ Schelenz 2012) Auf der anderen Seite kommen gerade von Vertretern der Kirche moralische Appelle gegen diesen ‘ Mangel an Bescheidenheit ’ . (etwa Bassler 2013) Dieses Beispiel macht plausibel, dass gerade die nicht kommunizierten sozialen Praktiken einen elementaren Bestandteil der sozialen Identitätsformung bilden können, wohingegen deren 156 Robin Kurilla (Essen) Explizierung der sozialen Identitätskonstruktion sogar im Wege stehen kann - und zwar nach sozialen wie auch individuellen Kriterien. Das Identitätsmodell von Bucholtz und Hall schließt solche Phänomene nicht prinzipiell aus der Betrachtung aus - wohl aber Prozesse der personellen oder psychischen Identitätsbildung zu Gunsten einer Konzentration auf die Interaktionsebene. Hieraus resultieren drei Probleme in Hinsicht auf Gonçalves ’ Arbeit. Erstens steht dieser Ausschluss im diametralen Gegensatz zu Gonçalves ’ Anspruch, im Unterschied zu einigen postmodernen Ansätzen die Individuumsperspektive nicht aus der Betrachtung auszuschließen. Zweitens ist zu fragen, inwiefern Gonçalves ’ diskursanalytische Herangehensweise sich überhaupt für die Nachzeichnung der sozialen Mikroprozesse der Identitätskonstruktion eignet. Schließlich geht es Gonçalves um eine emische Beschreibung im Gegensatz zu einer mikro-strukturellen bzw. sequenzanalytischen Betrachtung. Und drittens unterminiert das Identitätsmodell von Bucholtz und Hall die Unterscheidung von situated und situational identities. Einerseits blenden Bucholtz und Hall gezielt den “ individual sense of self ” (23) der situated identity aus. Andererseits sind Identitäten Bucholtz und Halls Interaktionsfokus gemäß immer partiell, also nie in ihrer Gänze realisierbar und daher per se situational. Schwerer noch wiegt aus interaktionstheoretischer Sicht ein anderes Problem. Obgleich Gonçalves hie und da von Ko-Konstruktion und Konversation spricht, bleibt sie dem Paradigma des Einzelnen verhaftet. Das zeigt sich beispielsweise, wenn sie Konversationen als bloße Aneinanderreihungen einzelner Redebeiträge beschreibt (40). Ähnlich bezeichnet sie “ language ” als praktische Tätigkeit (96), anstatt von Kommunikation zu sprechen. Gonçalves ’ spezielle diskursanalytische Perspektive legt es nahe, dass die Beteiligten Diskurselemente lediglich aktualisieren, anstatt sie in wechselseitiger Laboration im Rückgriff auf diskursive Rohmaterialien zu verfertigen. Das mag auch letzten Endes dazu geführt haben, dass Gonçalves durch die Einführung des individual sense of self mit Bucholtz und Halls Interaktionsfokus bricht. Wenn auch Identität bei Gonçalves ceteris paribus als Interaktionsprodukt erscheint, positioniert sie ihren Identitätsbegriff doch gewissermaßen im gesellschaftslosen Vakuum. Allerdings könnten sozialstrukturelle Faktoren angesichts des Partialitätsprinzips von Bucholtz und Hall ohnehin nur situativ in der interaktiven Identitätskonstruktion aufblitzen. Zur Verknüpfung einzelner Interaktionen zu einer Interaktionshistorie und zur konsequenten Berücksichtigung sozialstruktureller Phänomene fehlt das begriffliche Rüstzeug. In Frage kommen für ein solches Unternehmen etwa das Konzept der “ interaction ritual chains ” von Randal Collins (2005), Giddens (1984) Modell der “ structuration ” , eine interaktionstheoretische Translation von Niklas Luhmanns (1998: 316 ff) Konzept symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien oder Berger/ Luckmanns (1989) Begriff der Institutionalisierung. Gonçalves umschifft dieses Problem, indem sie die Perspektive des Individuums im Kontrast zu einem rein interaktionistischen Identitätsbegriff stärkt - eine Argumentationsfigur, die sich nicht mit Bucholtz und Halls Prinzipien in Einklang bringen lässt und eigentlich schon beim Prinzip der Emergenz hätte kippen müssen. Über die Interaktion hinausgehende Kenntnisse aus teilnehmender Beobachtung und eigener Erfahrung hat Gonçalves freilich für die Interpretation der Daten in Anschlag gebracht. Somit unterliegt sie zumindest keinem positivistischen Selbstmissverständnis. Doch versäumt es Gonçalves, ihre Vor-Urteile der Kritik zugänglich zu machen und schützt sie so vor theoretischer Widerlegung und empirischer Falsifizierung. Überdies entgeht ihr die Möglichkeit, ihre Analyseinstrumente zu verbessern und so ihre Beobach- Interkulturelle Paarbeziehungen 157 tungen zu schärfen. Im Einzelnen kommt es zu folgenden blinden Flecken in Gonçalves ’ Betrachtungen. Es ist ein soziologischer Gemeinplatz, dass sich moderne Gesellschaften im Vergleich zu ihren historischen Vorläufern durch ein erhöhtes Maß an sozialer Differenzierung und eng damit verbunden auch durch ein erhöhtes Maß an geographischer und sozialer Mobilität des Einzelnen auszeichnen. Bereits die Klassiker des Fachs haben den Komplexitätsanstieg aufseiten der Individuen nachgezeichnet, worüber insbesondere die von Simmel angestoßene individualisierungstheoretische Debatte Aufschluss gibt (Simmel 1890, Beck 1986). Die klassischen Beispiele für verschiedene Umgangstypen mit den für moderne Gesellschaften charakteristischen Differenzerfahrungen bilden der Kosmopolit (Simmel 1890) und der Marginal Man (Park 1928). Aufschlussreich über aktuelle Umgangstypen mit kultureller Differenz ist Renns (2007) Unterscheidung von vertrauter Fremdheit und desperater Vergemeinschaftung. Eine Auseinandersetzung mit diesen Umgangstypen mit sozialer Differenz im Allgemeinen und kultureller Differenz im Besonderen hätte Gonçalves Blick dafür schärfen können, inwieweit die von ihr attestierten Phänomene Besonderheiten der Paarkommunikation oder aber typische Behandlungsweisen von kultureller Differenz in modernen Gesellschaften sind. Ähnlich aufschlussreich sind milieuspezifische Trends im Verhältnis zur Ehe zwischen Tradition und Deinstitutionalisierung. (Schneider/ Rüger 2007, Burkart 1990) So informieren sie mitunter darüber, ob der Eindruck einer Gefährdung der eigenen Autonomie in Sachen Arbeitsplatzwahl (175 - 177) aus der Teilnahme an einer interkulturellen Ehe und der damit verbundenen Migration in ein anderes Land oder allgemein aus der Kritik an der Institution Ehe mit einer traditionellen Rollenverteilung vonseiten bestimmter Milieus resultiert. Die Fragen, inwieweit Ehen, deren Mitglieder aus verschiedenen Milieus stammen, als interkulturelle Partnerschaften aufzufassen sind und inwieweit sich andersherum die als interkulturell ausgewiesenen Differenzen von milieuspezifischen Deutungs-, Verhaltens- und Geschmackspräferenzen (Bourdieu 1985) herleiten, kommen bei Gonçalves erst gar nicht in das Blickfeld. Wir kommen darauf zurück. Vorher sind allerdings noch zwei weitere blinde Flecke im Bereich der Institutionalisierung von Paarbeziehungen aufzudecken. Wenn milieuspezifische Besonderheiten zurückgestellt werden, führt die Diskussion des Bindekitts von Paarbeziehungen in der Regel zum Phänomen der Liebe - ganz gleich, ob christlich-augustinisch, griechisch-platonisch bzw. indisch-buddhistisch im Sinne eines wertkonstitutiven Instruments epistemischer und vergemeinschaftender Akte (Scheler 1970: 5ff, 1974: 150 ff), evolutionstheoretisch im Sinne der Versorgung des Nachwuchses (Burunat 2014) oder soziologisch-systemtheoretisch im Sinne der Fortsetzung von Kommunikation durch mediale Einrichtungen. Luhmann (1998: 316 ff) betrachtet Liebe als ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das als spätes Produkt der gesellschaftlichen Evolution einen Kontrapunkt zu den flüchtigen Identitäten moderner Gesellschaften schafft. Liebe zeigt sich bei Luhmann nicht als Gefühl, sondern als Code, anhand dessen sich Gefühle bilden ließen und - wichtiger noch - mit dessen Hilfe die Autopoiesis von Systemen der Intimkommunikation vorangetrieben werde. Im Unterschied zur flüchtigen Inanspruchnahme einzelner Identitätsbausteine, die kontextspezifisch in unpersönlichen Beziehungen aktiviert werden, fordere der Code Liebe die Bezugnahme auf den Partner als Ganzem, also nicht nur auf einzelne Aspekte seiner Identität. (Luhmann 1983: 200) Hier wird ersichtlich, dass sich nicht nur interkulturelle Paarbeziehungen einem intensiven Identitätsgeschäft hingeben, sondern Intimbeziehungen im Allgemeinen, was sich zudem nicht auf das Aushandeln von Identitäten reduzieren lässt. 158 Robin Kurilla (Essen) Vielmehr muss jeder Partner seinen Entscheidungshabitus so auf die gesamte Person seines Partners einstellen, dass dessen Perspektive bei jeder Entscheidung berücksichtigt wird. Nimmt ein Partner etwa ein Stellenangebot in einem anderen Erdteil an, ohne seinen Partner zumindest zu berücksichtigen, ist er im luhmannschen Sinne nicht verliebt, entspricht also nicht den Vorgaben des Codes und gefährdet damit die Beziehung, was sich im Alltags häufig in der ‘ kommunikativen Gattung ’ des Beziehungsstreits äußerst. Intimbeziehungen unterwerfen die Kommunikation aber noch in einem anderen Sinne äußerst unwahrscheinlichen Bedingungen. Die Berücksichtigung der Partneridentität bei jeder Entscheidung muss spontan, darf also nicht auf Nachfrage erfolgen. Wird der Wunsch nach einem romantischen Ausflug nach Paris erst geäußert, ist es bereits zu spät. Die Partner befinden sich in der paradoxen Situation, mit Handeln auf Erleben reagieren zu müssen. (ebd. 26, 209) Daher erscheint die Liebe Luhmann zufolge zuweilen als Zumutung. In Hinsicht auf Gonçalves ’ Studie hätte eine Berücksichtigung dieser sozialstrukturellen und historischen Bedingungsfaktoren Auskunft darüber geben können, inwiefern die allgemein für Ehen charakteristischen Kommunikationseigenheiten von den für interkulturelle Ehen charakteristischen divergieren. Besonders die Charakteristika des gesamten Identitätsgeschäfts in Intimbeziehungen, also nicht nur der Identitätsaushandlungen wären in diesem Zusammenhang aufschlussreich gewesen. Ganz ähnlich lässt der andere in diesem Kontext relevante blinde Fleck Gonçalves übersehen, dass mindestens acht der neun untersuchten Paare an der institutionellen Form der Ehe teilnehmen und somit über ein geteiltes rechtlich-institutionelles Flussbett für das Zusammenleben verfügen. Es wäre beispielsweise interessant zu sehen, wie die Paare mit einer Form umgingen, die ihnen aus ihrer eigenen Lebenswelt unbekannt erscheint, selbst wenn diese Form zumindest dem Anschein nach in beiden Staaten (nicht Kulturen) die gleiche ist. Ein solcher Fall bestünde beispielsweise in Regionen, in denen polygame Ehen für einen der Partner rechtlich zulässig sind bzw. einer der Partner angesichts seines Geschlechts oder ähnlichem partout benachteiligt wird. Bei den untersuchten ‘ Ehekulturen ’ ist dies jedoch nicht der Fall, so dass davon ausgegangen werden muss, dass die Erwartungen der Partner weitgehend übereinstimmen. Hier soll freilich nicht suggeriert werden, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen die Praxis des Zusammenlebens determinierten. Doch können sie für das Zusammenleben relevant werden, und nicht erst dann, wenn es um Scheidungsprozesse geht. Röttger-Rössler (2004) etwa untersucht von einem ethnologischen Standpunkt aus Fluchthochzeiten bei den Makassar in Sulawesi und in diesem Kontext auch die rechtliche Stellung von damit in Zusammenhang stehenden und sogar über die Paarkommunikation hinausgehenden Praktiken im Nationalstaat Indonesien im Vergleich zu traditionellen Rechtssystemen - ein Beispiel dafür, wie ein moderner Rechtsstaat traditionelle Praktiken des Zusammenlebens zu überformen und in einen globalen Kontext zu stellen vermag. Die von Gonçalves untersuchten Partner haben sich unabhängig von persönlichen oder milieuspezifischen Präferenzen des Beziehungsstils auf die rechtliche Form der Ehe eingelassen, weshalb ihnen die lokalen rechtlichen Spielregeln bekannt sein sollten. Darüber hinaus sind in den Ländern, aus denen die Untersuchungsteilnehmer stammen, Hochzeiten, die keine Liebeshochzeiten sind, häufig Subjekt moralisierender Kritik. In China etwa wäre dies angesichts der Fokussierung ökonomischer Kriterien für die Bildung einer Lebensgemeinschaft vielleicht nicht zu erwarten gewesen (Mees/ Rohde-Höft 2000: 245). Ganz gleich ob Liebe nun systemtheoretisch als Einheitsmedium der funktional differenzierten Weltgesellschaft, evolutionsbiologisch als ahistorisches Erbe von “ halb- Interkulturelle Paarbeziehungen 159 menschlichen Urerzeugern ” (Darwin 2009: 1121) oder als massenmediales Substrat globaler Kulturströme im Sinne der Cultural Studies (etwa Barker 2001: 113 f) betrachtet wird, sie bildet im Verbund mit den rechtlichen Rahmenbedingungen einen nicht zu verachtenden Konvergenzpunkt von Erwartungen an die Partnerschaft und überbrückt so milieu- und kulturbedingte Divergenzen, sofern diese überhaupt vorausgesetzt werden können, was uns zu der Differenzierung von milieu- und kulturbedingten Divergenzen zurückführt und die Aufmerksamkeit auf Gonçalves blinden Fleck bei der Ausweisung der von ihr untersuchten Paarbeziehungen als interkulturelle Paarbeziehungen lenkt. Gonçalves versieht die Paarbeziehungen allesamt ex ante mit dem Prädikat “ interkulturell ” , ohne die Definitionskriterien dafür anzugeben. Noch nicht einmal bei der Einführung des Bystydzienski entlehnten Kulturbegriffs nimmt Gonçalves dazu Stellung. Dazu hätten die Ausprägungen von Bystydzienskis Kulturdimensionen (Wertsysteme, Normensysteme und Praktiken) in den Sozialgebilden, denen die Untersuchungsteilnehmer entstammen, eruiert und miteinander verglichen werden müssen. Man erhält den Eindruck, Gonçalves unterliege dem Vor-Urteil, die geographischen Landesgrenzen steckten auch gleich die Kulturgrenzen ab, und beziehe von dorther ihre Gewissheit über die Interkulturalität der Paarbeziehungen. Allein eine ausführlichere Beschäftigung mit dem Postkolonialisten Homi Bhabha, den Gonçalves (29) zwar in Bezug auf die Position des Dazwischen konsultiert, allerdings ohne die angegebene Quelle im Literaturverzeichnis auszuweisen, hätte Gonçalves zu dem Schluss bringen müssen, dass die Zeit der großen Narrationen auch in Hinsicht auf Nationalgeschichten vorüber ist, da diese Homi Bhabha (1990) folgend auch von den Rändern der Gesellschaft und somit vor allem durch Migrationsprozesse mitbestimmt werden. Kulturelle Differenzen an nationale Zugehörigkeiten zu binden, ist vor dem Hintergrund globaler Interkonnektivität und sozialer Differenzierung nicht nachvollziehbar. Daher kommt Gonçalves letzten Endes doch nicht wesentlich über den “ categories-and-labels approach ” hinaus, auch wenn sie die Reifizierung der Praxis in die Hände der Untersuchungsteilnehmer legt. Wie bereits ausgeführt erweitert Gonçalves zwar den Fokus auf die Praxis der Reifizierung, lässt aber die Praxis der Praxis unberücksichtigt. Mögliche Konvergenzen, die nicht thematisiert werden, fallen unter den Tisch, was auch verständlich ist, wenn die Studie auf Divergenz ausgelegt ist und sich die Gespräche inhaltlich entsprechend gestalten. Wie aber allein das reibungslose Funktionieren des Positionierungsgeschäfts zeigt, scheinen die kulturellen Unterschiede in der Praxis der Paarkommunikation relativ gering zu sein. Aus Gonçalves ’ Perspektive wird daher nicht ersichtlich, wie sich die diskursiv ausgehandelten Reifizierungen der Gesprächspartner zur vermeintlich interkulturellen Gesprächspraxis verhalten. Wie Gonçalves selbst zeigt, gibt es hier anscheinend mehr Konvergenz als Divergenz. Doch wäre angesichts Gonçalves ’ theoretischen Rüstzeugs auch bei kulturell in der Gesprächspraxis stärker divergierenden Partnern fraglich, ob sich selbst dann eventuelle Unterschiede überhaupt feststellen ließen. Das lässt Zweifel daran aufkommen, ob Gonçalves ihrem Anspruch gerecht wird, qualitative, auf emische Perspektiven ausgerichtete Forschung zu betreiben. So ist das aus der Fusion von Positionierungstheorie und dem Identitätsmodell von Bucholtz und Hall in Kapitel 5 entstandene Set analytischer Kategorien nicht aus dem Datenmaterial synthetisiert worden und zwängt die Alltagswelt in ein Begriffskorsett. Das mag bei den untersuchten Feldern nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Es lässt sich aber nicht von vornherein davon ausgehen, dass Identitätspositionierungen konversationell in allen Gesellschaftsformationen und Gesprächskulturen vorkommen bzw. von den dortigen Interaktanten als solche gedeutet 160 Robin Kurilla (Essen) werden. Sind die analytischen Register allerdings erst einmal zur Anwendung gebracht worden, ist die soziale Wirklichkeit außerstande, diesen Eindruck zu korrigieren oder auch zu bestätigen. Freilich mag Gonçalves ’ Vertrautheit mit dem Feld in gewisser Hinsicht einen Vorteil für die Studie dargestellt haben. Nur besteht oftmals ein schmaler Grat zwischen dichten Beschreibungen und der unreflektierten Explizierung der eigenen Alltagstheorien. Ein in diese Richtung weisendes Indiz findet sich in der Tatsache, dass in Gonçalves ’ Beschreibungen die Perspektive der Zugewanderten überwiegt und die der Schweizer Beziehungsteilnehmer eher unterbelichtet bleibt. Darüber hinaus reflektiert Gonçalves zwar den Einfluss, der von ihr als Beobachterin auf das Feld ausgeübt wird. Es bleibt aber fraglich, wie sich diese Reflexion auf die Analyse des Datenmaterials in Hinsicht auf die Besonderheiten der Positionierung der Paare vor Dritten ausgewirkt hat. Gonçalves scheint überdies zu übersehen, dass ihre eigene Person einen gewissen Einfluss auf die Art und Weise gehabt haben könnte, wie sich die Paare präsentierten und welche Aspekte ihrer Identitäten sie betonten. So waren nicht alle untersuchten Paare so ‘ erfolgreich ’ in Sachen Integration wie Gonçalves selbst. Für einen gewissen Grad an Unreflektiertheit in diesem Zusammenhang sprechen einige sprachliche Formulierungen. So verwendet Gonçalves Verben wie to confess und to admit, um die Art der Mitteilung zu beschreiben, wenn die Befragten beispielsweise angaben, dass sie nicht Deutsch, sondern Englisch mit ihren Kindern sprechen (54), dass sie es immer noch schwer finden, in der Schweiz zu leben (143), dass Englisch sprechende Freunde die Integration in Schweizer Gemeinschaften erschweren (144) oder dass der Dialekt erst wichtig für sie wurde, als die Kinder in die Schule kamen (161). Gonçalves mag hier ein moralisches Moment in die Gespräche eingeführt haben, was sich jedoch ihrer Kenntnisnahme entzieht. Abgesehen von den geschilderten Problematiken liefert Gonçalves alles in allem eine solide, mit Einschränkungen ethnographische Detailbeschreibung einiger spezieller Konversationselemente der von ihr untersuchten Paare. Dabei schafft sie es, einige Bestandteile ihrer eigenen Alltagswelt aus dem Dunkel des Trivialen zu befreien und also gewissermaßen über die Wahrnehmungsschwelle zu heben. Leider gelingt Gonçalves dies nicht immer bei ihren eigenen Alltagstheorien, die wie an den vielen zu Gunsten einer vom Selbstverständnis her emischen Perspektive in Kauf genommenen blinden Flecken gezeigt unbemerkt ihren Gegenstand formen. Gemessen am theoretischen ‘ Ergebnis ’ , das Gonçalves unter “ theoretical implications ” (201) führt und auf nur eineinhalb Seiten einschließlich zweier längerer Zitate konzentriert, ist das Umfangsverhältnis zwischen empirischem und theoretischem Teil nicht angemessen. Zwar illustriert Gonçalves die vorgestellten Theorien anhand ihres eigenen Datenmaterials. Der eigentliche empirische Teil, das Herzstück der Arbeit, beginnt jedoch erst auf Seite 137. Das mag an den Zwängen einer Qualifikationsschrift liegen. Dem Leser jedenfalls erscheint diese lange Hinführung wie eine Durststrecke. Gonçalves verfolgt allerdings auch gar kein theoretisches Erkenntnisinteresse, weshalb ihr Buch nicht an diesem Anspruch gemessen werden darf. Vielmehr geht Gonçalves in ihrem Buch den drei angeführten empirischen Forschungsfragen nach und löst somit ihre Versprechen aus der Einleitung weitgehend ein - nur leider nicht das im Titel des Buches implizierte. Insofern bestätigt Gonçalves ’ Monographie die alte Maxime “ Don ’ t judge a book by its cover! ” und erinnert daran, dass auch der Titel zum Einband gehört. Interkulturelle Paarbeziehungen 161 Bibliographie Adler, Emanuel/ Pouliot, Vincent (2011): International Practices. In: International Theory, 3, 1 - 36. Barker, Chris (2001): Cultural Studies - Theory and Practice. 2. Aufl., London: Sage. Bartel, Rainer (2011): Die große Social-Media- & Online-PR-Bibel: [erfolgreiche Unternehmenskommunikation im Social Web, auf Facebook & Co.]. Düsseldorf: Data Becker. Bassler, Annette (2013): Vergelts Gott. In: Anstöße SWR1/ Morgengruß SWR4 Rheinland-Pfalz, Sendetext von Dienstag, 05. November 2013. Online unter: http: / / www.kirche-im-swr.de/ ? page=manuskripte&id=16332 [abgerufen am: 09. 06. 2014]. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 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B. Hess-Lüttich (Bern) “ Was ist ein gutes Gespräch ” ? Dieser Frage widmete sich 1978 ein Colloquium der Evangelischen Akademie in Loccum, zu dem Gerold Ungeheuer unter dem Titel “ Gut geführte Gespräche und ihr Wert ” ein Impulsreferat beisteuerte, das die im deutschsprachigen Raum gerade erst beginnende linguistische Gesprächsanalyse nachhaltig beeinflussen sollte (Ungeheuer 1978: 5 - 14; cf. Weydt 1993: 3 - 19). Eine Dekade später, vor mehr als einem Vierteljahrhundert, veröffentlichte Karl-Heinz Göttert unter dem Titel Kommunikationsideale seine Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie (Göttert 1988). Der Titel der von S IMON M EIER (im folgenden: Verf.) vorgelegten Dissertation gemahnt an den dieses Buches. 1 Tatsächlich knüpft der Verf. an diese Untersuchungen in seinem großangelegten Versuch einer Rekonstruktion des Wandels von Gesprächsauffassungen im 20. Jahrhundert ausdrücklich an, wenn er die im deutschsprachigen Raum in mehreren Disziplinen entwickelten Prämissen oder Konzepte modellhaft gelingender dialogförmiger Verständigung einer diskurshistorischen Analyse unterzieht. Dazu wählt er als einen (methodisch mutigen, aber) suggestiven Einstieg die Gegenüberstellung einer Schilderung geselliger Konversation in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und der nahezu zeitgleich entstandenen philosophischen Reflexion über das ernste Zwiegespräch in Karl Jaspers ’ Philosophie. Der Vergleich dient dem Verf. dazu aufzuzeigen, dass und wie sich die zeitgenössische Gesprächsauffassung um die Zeit des Ersten Weltkriegs verändert hat. Das zweite Kapitel entfaltet sodann die theoretischen und methodischen Grundlagen. Zunächst wird der Untersuchungsgegenstand näher bestimmt als “ die theoretische Reflexion über das Gespräch in ihrer historischen Entwicklung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts ” (Meier 2013: 9). Die im Zuge solcher Reflexion vorgenommenen Entwürfe vollkommener Gespräche bezeichnet der Verf. als “ Gesprächsideale ” , die er in Anlehnung an Kants Idealbegriff als kontrafaktische Vorstellungen eines vollkommenen Gesprächs bestimmt, die für die Bewertung konkreter Gespräche das Richtmaß vorgeben und als regulative Prinzipien praktische Kraft entfalten können. Die sich durch eine Vielzahl von Texten in mehreren Disziplinen (wie Philosophie, Theologie, Pädagogik usw.) ziehende Figur der normativ-idealisierenden Auseinandersetzung mit dem Gespräch konstituiert in 1 Simon Meier 2013: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert (= Studia Linguistica Germanica 116), Berlin/ Boston: de Gruyter, 396 pp., geb. 109,95 € , ISBN 978 - 3-11 - 031488 - 5 (Zitate im Text beziehen sich auf diese Ausgabe). thematischer Hinsicht den “ gesprächsreflexiven Diskurs ” . Anschließend begründet der Verf. plausibel seine zeitliche Eingrenzung des gesprächsreflexiven Diskurses auf den Zeitraum 1918 bis 2001 im deutschsprachigen Raum. Aus seinem konzisen Überblick über den Forschungsstand zieht er das Fazit, dass die bisher in Literaturwissenschaft und Linguistik auf die Gesprächsreflexion früherer Epochen angewandten Ansätze auf die des 20. Jahrhunderts zu übertragen seien, welche vornehmlich aus philosophischer, pädagogischer und theologischer Perspektive thematisiert wurden. So wie die Untersuchung der Geschichte des Sprachbewusstseins einen Beitrag zur Erklärung von Sprachwandel liefert (weil sprachreflexive Konzeptbildungen, Wertungen und Normsetzungen die Sprachwirklichkeit beeinflussen können), so ist die Untersuchung des Gesprächsbewusstseins und seiner Veränderungen als Teil einer Geschichte des Gesprächs anzusehen. Normative gesprächsreflexive Äußerungen stellen somit, wie der Verf. in Anlehnung an Koselleck formuliert und durch Beispiele veranschaulicht, “ nicht nur Indikatoren, sondern auch Faktoren des historischen Wandels von Gesprächswirklichkeit ” dar (ibid. 38). Da sich die Arbeit nur mit der professionellen Gesprächsreflexion befasst, werden als soziologische Substrate des Gesprächsbewusstseins in Anlehnung an den Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck “ Denkkollektive ” bestimmt, die sich durch gedankliche Wechselwirkung ihrer Mitglieder und durch einen gemeinsamen Denkstil konstituieren. Ein Denkstil geht mit einem typischen Sprachstil einher, so dass sich zur Untersuchung von Denkstilen die Beobachtung des Sprachgebrauchs als geeignete Methode erweist, die an das diskursanalytisch orientierte Programm der linguistischen Mentalitätsgeschichte (Busse, Hermanns) anschließbar ist. Nach Bemerkungen zum ausgreifenden Quellenkorpus werden die Analysemethoden einer diskursanalytisch erweiterten Begriffsgeschichte umrissen. So bietet schon die Untersuchung der expliziten Aushandlung der “ deontischen Bedeutung ” von Gespräch und anderer Ausdrücke des Begriffsfelds der Kommunikation einen ersten Zugriff auf das gesuchte Wissen vom Gespräch. Aber auch umfassenderen bedeutungskonstitutiven Textbestandteilen (wie typische Kollokationen, Metaphern, Präsuppositionen etc.) wird genaue Beachtung zuteil. Im Hinblick auf den Begriff des Denkstils lässt sich dieser methodische Zugriff an neuere Ansätze der Stilistik anschließen, die Stil als bedeutungskonstitutiv betrachten und hierfür auch wiederkehrende textstilistische Muster (wie antithetische Argumentationen oder hypostasierende Beschreibungen) in den Blick nehmen. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten des aus wissenschaftlichen Texten bestehenden Quellenkorpus betont der Verf. jedoch, dass diese diskursanalytischen Methoden nur einen Teil der vorzunehmenden Untersuchung des gesprächsreflexiven Diskurses abdecken, die zugleich ein wissenschafts- und theoriehistorisches Interesse verfolgt und sich damit dem Programm der “ Diskurshermeneutik ” (im Sinne von Fritz Hermanns) verpflichtet sieht. Die Relevanz der Untersuchung für die Gesprächslinguistik erweist sich nicht zuletzt schon darin, dass die Auseinandersetzung mit historischen Gesprächsauffassungen die Historizität der heutigen Gesprächslinguistik vor Augen führen und somit ihren eigenen Standort erhellen kann. Das dritte Kapitel zeichnet in groben Zügen die Geschichte der normativen Gesprächsreflexion vor dem 20. Jahrhundert nach, vor deren Hintergrund die Besonderheiten des gesprächsreflexiven Diskurses im 20. Jahrhundert erst deutlich werden. Zunächst wird in knapper Skizze die Entwicklung der Konversations- und Geselligkeitstheorie seit der Antike rekonstruiert, deren Schicklichkeitsideal am Ende des 18. Jahrhunderts durch das Ideal der erkenntnisfördernden Debatte (Garve) ergänzt wird, während im späten 19. Jahrhundert Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? 165 eine zunehmende Idealisierung des Zwiegesprächs (Nietzsche, Lazarus) festzustellen ist. Anschließend werden frühe Ansätze einer Philosophie des Gesprächs bei Schleiermacher und Humboldt nachgezeichnet, welche schließlich zu einer ersten Formulierung des später so genannten ‘ dialogischen Prinzips ’ bei Feuerbach führen. Schließlich wird anhand von zeitgenössischen Wörterbüchern aufgezeigt, dass der Reflexionsgegenstand Gespräch am Ende des 19. Jahrhunderts “ zwischen den Polen der geselligen Konversation, des vertraulichintimen Gesprächs etwa unter Freunden sowie des argumentativen, auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Austauschs ” (ibid. 75) steht. Die folgenden Kapitel sind wohlbegründet in sieben chronologisch geordnete und nach den einzelnen ‘ Denkkollektiven ’ differenzierte Abschnitte gegliedert. Der erste (Kapitel 4) widmet sich den dialogphilosophischen Entwürfen aus dem Zeitraum 1918 bis 1942, die von der sprachtheoretisch fundierten Unterscheidung zwischen wechselseitigen Ich-Du-Verhältnissen und einseitigen Ich-Es-Verhältnissen ausgehen. Dabei stehen zunächst die religiös geprägten dialogphilosophischen Grundlagenschriften von Buber und Ebner sowie Kracauers gesprächsreflexive Essays, die als profanierte Fassungen der dialogphilosophischen Beiträge gelten können, im Vordergrund. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Idealisierung des persönlich-ernsten Zwiegesprächs, das von empraktischer Kommunikation, sachlicher Argumentation und geselliger Konversation kritisch abgegrenzt wird. Vor dem Hintergrund der zivilisationskritischen Motive in Bubers Texten geht der Verf. anschließend der auf Tönnies zurückgehenden und durch die Jugendbewegung zu breiter Wirkung gekommenen Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft nach, deren begriffliche und sprachliche Ausgestaltung (etwa durch Metaphern) den gesprächsreflexiven Diskurs der 20er Jahre prägt. Anhand einer Vielzahl von Texten (auch anderer Disziplinen) zeigt der Verf., wie zu dieser Zeit die Antithese Gemeinschaft - Gesellschaft als “ diskursive Grundfigur [. . .] die Art und Weise der Thematisierung von zwischenmenschlicher Kommunikation und die damit verbundenen Haltungen von Grund auf prägt ” (ibid. 111) und das Begriffsfeld der Kommunikation entsprechend strukturiert. Dies gilt auch für die anschließend thematisierten phänomenologischen Weiterentwicklungen der Dialogphilosophie (Löwith, Gadamer, Binswanger), die einerseits an die Gesprächsphilosophien des 19. Jahrhunderts anknüpfen, andererseits in Fortführung von Heideggers Theorie des ‘ Man ’ durch eine rigorose öffentlichkeitskritische Grundhaltung gekennzeichnet sind. Darüberhinaus wird die dialogphilosophisch inspirierte Essayistik in den Blick genommen, in der das Ideal des “ echten ” Gesprächs weiter ausgestaltet wird. Dabei zeigt der Verf. überzeugend, wie durch eine Reihe von textstilistischen Mustern (z. B. den Gebrauch organischer Metaphern) oder durch die personifizierende Beschreibung des Gesprächs (bzw. dessen vornehmlich negative Kennzeichnung) dem Gespräch Eigenständigkeit zugeschrieben wird und wie sich der antisubjektivistische Denkstil der Dialogphilosophie somit auch sprachlich manifestiert. Im zweiten Abschnitt (Kapitel 5) thematisiert der Verf. die zwischen 1919 und 1938 entwickelte Theorie der ‘ existentiellen Kommunikation ’ von Karl Jaspers, dessen gesonderte Behandlung er durch dessen Zugehörigkeit zu einem anderen Denkkollektiv rechtfertigt. Dabei rekonstruiert er die von Jaspers entworfene normative Gesprächstypologie, an deren Spitze das Ideal der existentiellen Kommunikation steht, die auf das “ Wirklichwerden des Ich als Selbst ” (Jaspers) abzielt. Trotz der indikativischen Form haben die kommunikationsreflexiven Aussagen eindeutig appellativen Charakter und können somit als “ eine Tugendlehre der Kommunikation in nuce gelesen werden ” (ibid. 150), die auf den Forderungen nach wechselseitiger Anerkennung, Niveaugleichheit und Offenheit aufbaut. Zudem erweist sich 166 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern) vor dem Hintergrund von Jaspers ’ zeitdiagnostischer Schrift Die geistige Situation der Zeit sein “ zeitlos ” formuliertes Ideal der existentiellen Kommunikation als Gegenentwurf zum vergesellschafteten Dasein des Menschen in der Moderne. Die gesellschafts- und öffentlichkeitskritisch motivierte Hochschätzung des privat-intimen Zwiegesprächs gehört somit “ zu den Auffassungen, die unter Intellektuellen zur Zeit zwischen den Weltkriegen weithin als selbstverständlich gelten ” (ibid. 161). Dem gesprächsreflexiven Diskurs in der Nachkriegszeit (1945 bis ca. 1968) ist der dritte Abschnitt gewidmet (Kapitel 6). Dem Gespräch wird jetzt “ die Funktion zugeschrieben, die durch Krieg und Kapitulation erschütterte soziale Ordnung in Deutschland sowie ihre Normen und Werte neu zu begründen [. . . und . . .] von der vermeintlichen Gesprächsfeindlichkeit des Nationalsozialismus abzugrenzen ” (ibid. 164), indem das Gespräch zu einer demokratischen Praxis stilisiert wird. Gesprächsreflexion dient somit der Stiftung kollektiver Identität. Zunächst zeigt der Verf., wie den Diskussionsformaten im Zuge der (anfangs fast euphorisch angenommenen) ‘ Reeducation ’ -Maßnahmen der Alliierten seit den frühen 50er Jahren eine als spezifisch deutsch bezeichnete, dialog- und existenzphilosophische Traditionen fortführende Gesprächsauffassung entgegengehalten wurde. Diese Kontinuität früherer Ansätze weist der Verf. anschließend in linguistischen Mikroanalysen auch auf der sprachlichen Ebene überzeugend nach. Dazu nimmt er u. a. die organische Metaphorik sowie das wiederkehrende syntaktische Muster der nicht-sondern-Konstruktion als sprachliche Grundlage einer emphatischen Redeweise und einer antithetischen Argumentation in den Blick, durch die das Gespräch als eigenständige, von den Handlungen der Gesprächspartner unabhängige Größe konzeptualisiert wird. Da dem Gespräch die Funktion zugeschrieben wird, soziale Ordnung neu zu begründen, wird vor allem sein gemeinschaftsstiftendes Potential betont und der Gesellschaft und Öffentlichkeit entgegengesetzt. Die Reflexion über das Gespräch als eigenständiges und nichtinstitutionalisierbares Geschehen in einer natürlich gewachsenen Gemeinschaft könne vor diesem Hintergrund auch als “ Abwehr alliierter Demokratisierungspolitik ” (ibid. 217) gelesen werden; das diskursive Konstrukt Gespräch erfülle im Deutschland der Nachkriegszeit somit eine “ sozial- und häufig sogar nationalsymbolische Funktion ” (ibid. 218). Nach einem ausführlichem Exkurs über das Thema Freundschaft, das häufig als “ Bezugspunkt normativer Gesprächsreflexion ” fungiere (Kapitel 7), die sich in die Gemeinschaftsideologie einfüge und die Abgrenzung des Gesprächs von angelsächsisch konnotierten, öffentlich-politischen Kommunikationsformen plausibilisieren und historisch verbürgen solle, geht der fünfte Abschnitt der pädagogischen Gesprächsreflexion insbesondere seit 1945 nach, die aufgrund der Formulierung von Didaktiken, Lehrplänen und Bewertungsrichtlinien maßgeblichen Anteil an der praktischen Wirksamkeit der aus der theoretischen Reflexion hervorgegangenen Gesprächskonzepte hat (Kapitel 8). Dabei zeigt der Verf. zunächst, wie in der Nachkriegszeit die schon in der Reformpädagogik der 20er und 30er Jahre reflektierte Erziehung durch das Gespräch um die Erziehung zum Gespräch ergänzt wird, wobei diese zunächst im Sinne der ‘ Reeducation ’ -Maßnahmen der Alliierten als Grundlage einer Erziehung zur Demokratie gedacht ist und dementsprechend die Diskussion als oberstes Lernziel auszeichnet. In den 50er Jahren wird dagegen in Anknüpfung an dialog- und existenzphilosophische Ansätze die Begegnungspädagogik (Bollnow, Derbolav u. a.) entwickelt, in der das ‘ echte ’ (d. h. persönliche, nicht planbare) Gespräch zum Ideal erhoben und Gesprächsfähigkeit als eine durch Vorbehaltlosigkeit, Anerkennung und Wohlwollen gekennzeichnete Haltung bestimmt wurde. Die so gegründete “ Ethik des Gesprächs ” nimmt z. T. die Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? 167 Diskursethik Apels und Habermas ’ vorweg, bleibt allerdings anders als diese auf das privatintime Gespräch als Teil einer Gemeinschaftserziehung bezogen. In den 70er Jahren wird die Gesprächserziehung unter dem Einfluss der kritischen Theorie Habermas ’ sowie der Konjunktur der Kommunikationswissenschaft in eine kommunikative Pädagogik überführt, die “ politische Mündigkeit und Kritikfähigkeit als Erziehungsziel ansetzt und die rationale Diskussion zum Ideal erhebt ” (ibid. 267). Die weitere insbesondere durch den Einfluss der Sprachwissenschaft gekennzeichnete Entwicklung verfolgt der Verf. bis zu den Ansätzen der späten 90er Jahre, die den Begriff der Gesprächskompetenz ganz auf methodisch-technische Aspekte der Gesprächsführung ausrichten, das “ Wissen um die Vielfalt und Komplexität kommunikativer Wirklichkeit zum primären Lernziel der Gesprächsdidaktik ” (ibid. 267) erklären und damit die Orientierung am idealen Gespräch aufgeben. Im vorletzten Abschnitt (Kapitel 9) widmet sich der Verf. dem Ideal der herrschaftsfreien Diskussion, wie es in einem soziologisch orientierten Denkkollektiv um Habermas, Dahrendorf, Apel u. a. seit den 60er Jahren entwickelt wurde, und beschreibt dieses als Ausdruck einer umfassenden “ Politisierung des Gesprächs ” . Bei Habermas würden die Ausdrücke des Begriffsfeldes der Kommunikation “ deontisch so konnotiert, dass sich in ihre Verwendung die Forderung nach politischer Beteiligung unmittelbar einschreibt ” (ibid. 281). Neben der breiten Rezeption des Ideals der öffentlichen Diskussion innerhalb der Soziologie (und Pädagogik) hebt der Verf. besonders die praktische Rezeption durch die Studentenbewegung hervor, welche die Diskussion als kommunikative Praxis fest in ihren Aktivitäten verankerte und somit ein Beispiel dafür liefert, dass normative gesprächsreflexive Äußerungen “ Indikatoren und Faktoren des historischen Wandels von Gesprächswirklichkeiten darstellen ” (ibid. 287). Anschließend geht der Verf. der philosophischen Weiterentwicklung des Ideals der herrschaftsfreien Diskussion hin zu einer Theorie der kommunikativen Rationalität nach, welche neben Überlegungen des späten Jaspers auch die im Umkreis der Erlanger Schule (Paul Lorenzen, Kuno Lorenz) ausgearbeitete dialogische Wahrheitstheorie aufgreift. Sowohl die in Anknüpfung an die Sprechakttheorie ausgearbeitete Universalpragmatik mit der charakteristischen Figur des Vorgriffs auf die ideale Sprechsituation als auch die später entwickelte Diskursethik stellen das Ideal der herrschaftsfreien Diskussion mit der zeittypischen Aufwertung von Öffentlichkeit in den Mittelpunkt. Trotz ihrer Formalisierung sind sie klar auf öffentlich-politische Handlungskontexte und das Problem der Legitimierung politischer Normsetzungen zugeschnitten, was der Verf. anhand der Rezeption diskursethischer Positionen im Bereich der sog. “ Technikfolgenabschätzung ” exemplarisch aufzeigt. In den hier aufscheinenden normativen Gesprächskonzepten treten die in früheren Ansätzen so stark betonten personalen Aspekte des Gesprächs vollständig hinter den sachlichargumentativen zurück, was sich auch sprachlich in einem deutlich sachlicheren, durch objektiv-distanzierte und stärker fachterminologisch geprägte Argumentationen gekennzeichneten Stil niederschlägt. Der letzte Abschnitt im Hauptteil des Buches (Kapitel 10) thematisiert in der Form eines Ausblicks den Dialog der Religionen und den Dialog der Kulturen als Bereiche, in denen sich “ die normative Gesprächsreflexion bis in die Gegenwart fortsetzt und die die aktuelle Semantik insbesondere des Ausdrucks Dialog maßgeblich prägen ” (ibid. 322). Zunächst geht der Verf. am Beispiel einer begriffsgeschichtlichen und -systematischen Analyse der Enzyklika Ecclesiam suam der kirchlichen Rezeption des Dialogbegriffs in erster Linie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 - 1965 nach, welches den Dialog zur Pflicht eines 168 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern) jeden gläubigen Katholiken erhebt. Der Begriff des Dialogs wird einerseits ganz im Sinne überkommener Gesprächskonzepte ausgedeutet, andererseits wird er aber auf den offiziellen Austausch zwischen Vertretern verschiedener Glaubens- und Weltanschauungssysteme übertragen. Damit einher geht die Etablierung einer neuen, synekdochalen Verwendungsweise des Ausdrucks Dialog (der Kirche, des Christentums, mit dem Islam etc.), der nun verschiedenste Kommunikationsprozesse von der spontanen Begegnung bis hin zu institutionalisierten Arbeitsgruppen bezeichnen kann. Dieses Dialogverständnis wird später auch auf die internationale Politik und das Programm des Dialogs der Kulturen übertragen, das der Verf. in Anlehnung an die kritischen Analysen von Gesine L. Schiewer als Resümee des gesprächsreflexiven Diskurses des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt, da in diesem “ nahezu das gesamte in diesem Zeitraum ‘ zum Selbstverständlichen sedimentierte kollektive Wissen ’ (Busse) vom Gespräch und der normativen Ordnung zeitgenössischer Gesprächswelten enthalten ” sei (ibid. 341). Statt einer Zusammenfassung greift der Verf. in einem kurzen Fazit dieser in jeder Hinsicht herausragenden Darstellung die Frage nach der Relevanz der Untersuchung für die Gesprächslinguistik auf und zeigt anhand einiger Texte zu einer linguistischen Theorie des Gesprächs (Ungeheuer, Schwitalla, Adamzik u. a.), wie die Bevorzugung des handlungsentlasteten, privat-intimen Gesprächs die linguistische Begriffsbildung immer noch prägt, während seine “‘ gesprächsbewusstseinsgeschichtliche ’ Perspektive ” dazu beitragen könne, “ den gesprächslinguistischen Denkstil historisch zu situieren und damit auch kritischdistanziert zu reflektieren ” (ibid. 330). Das Buch, das zudem übrigens durch ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzt wird, stellt m. E. einen echten Forschungsfortschritt dar, hinter den künftige Untersuchungen zum Thema nicht zurückfallen sollten. Es erfüllt für den deutschen Sprachraum in vorbildlicher Weise endlich die schon von Hess-Lüttich (1980: 6; id. 1996) oder Ehlich (2007: 134) markierten Forschungsdesiderate im Interferenzbezirk zwischen Philosophie, Linguistik und Wissenschaftsgeschichte des Gesprächs. Bibliografie Ehlich, Konrad 2007: “ Schulischer Diskurs als Dialog? ” , in: id. 2007: Sprache und sprachliches Handeln, vol. 3: Diskurs - Narration - Text - Schrift, Berlin/ New York: de Gruyter, 131 - 167 Göttert, Karl-Heinz 1988: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München: iudicium Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1980: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1981: “ Literatur und Konversation. Der literarische Dialog als Gegenstand empirischer Textwissenschaft ” , in: id. (ed.) 1980: 5 - 22 Hess-Lüttich, Ernest W. B. (ed.) 1981: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, Wiesbaden: Athenaion Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1996: “ Sechs Ansichten vom Dialog ” , in: Erwin Hasselberg, Ludwig Martienssen & Frank Radtke (eds.) 1996: Der Dialogbegriff am Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin: Hegel-Institut, 19 - 34 Meier, Simon 2013: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert (= Studia Linguistica Germanica 116), Berlin/ Boston: de Gruyter Ungeheuer, Gerold 1978: “ Gut geführte Gespräche und ihr Wert ” , in: Karl Ermert (ed.) 1978: Was ist ein gutes Gespräch? Zur Bewertung kommunikativen Handelns, Loccum: Loccumer Protokolle, 5 - 14 Weydt, Harald 1993: “ Was ist ein gutes Gespräch? ” , in: Heinrich Löffler et al. (eds.) 1993: Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992, Tübingen: Niemeyer, 3 - 19 Was ist ein ‘ gutes Gespräch ’ ? 169 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews Roland Schmiedel 2015: Schreiben über Afrika: Koloniale Konstruktionen. Eine kritische Untersuchung ausgewählter zeitgenössischer Afrikaliteratur (= Cross Cultural Communication 26), Frankfurt/ Main: Peter Lang, 328 pp., geb., 61,95 € , ISBN 978- 3-631-65694-5 Seit einiger Zeit ist in Deutschland das Interesse am deutschsprachigen Afrika-Roman (und seinen etwaigen Verfilmungen) nicht nur im Buch- und Medienmarkt deutlich gewachsen, auch die germanistische Literaturwissenschaft setzt sich zunehmend intensiv mit dem Genre auseinander. Deren Beschäftigung mit den mittlerweile zahlreichen literarischen Beispielen und den sich darin gegebenenfalls manifestierenden postkolonialen Potentialen und Perspektiven ist oft geprägt durch eine Einbettung der Lektüre in eine reflektierte meta-historische Verarbeitung der in ihnen explizit thematisierten oder implizit assoziierten geschichtlichen Ereignisse. In diesen Diskurs reiht sich auch die hier von R OLAND S CHMIEDEL (im folgenden: Verf.) zunächst als Dissertation vorgelegte Studie ein. 1 Im Hinblick auf die politischen Dimensionen des Postkolonialismus untersucht der Verf. die vier von ihm exemplarisch ausgewählten Zeitromane mit Afrikabezug im Hinblick auf die Frage, ob die von den Autoren beabsichtigten postkolonialen Potentiale erreicht werden oder ob sie eher zur Fortschreibung kolonialer Stereotype beitragen. In einem ausgreifenden Überblick (Kap. 1: 21 - 68) wird der facettenreiche Hintergrund des ‘ europäischen Blicks ’ auf Afrika entfaltet und die Entwicklung des präkolonialen, kolonialen und postkolonialen ‘ Afrikadiskurses ’ nachgezeichnet. Zum Zwecke einer begrifflich genaueren Fassung des Ausdrucks ‘ postkolonial ’ diskutiert der Verf. zunächst die beiden wichtigsten Richtungen postkolonialer Theorien und rekonstruiert überdies die historische Entwicklung postkolonialer Theorieansätze überhaupt, nicht ohne dabei die Unterschiede zwischen der deutschen Ausprägung dieser Diskursstränge und derjenigen in den ehemaligen Kolonialstaaten herauszuarbeiten. In seinen theoretischen Überlegungen unterscheidet der Verf. (im 2. Kap.: 69 - 89) landläufig so genannte ‘ postkoloniale Afrikaliteratur ’ genauer von der postkolonial intendierten Literatur, die diegetische Realitäten entwirft und damit den Leser dafür sensibilisieren will, einerseits die Grenzen der eigenen Erfahrungen zu erkennen, andererseits die historisch-politischen Schilderungen und zeitgeschichtlichen Anspielungen im jeweiligen Text kritisch zu reflektieren. Die Fiktionalisierung von geschichtlichen Ereignissen und ihre narrative Einbettung in die rekonstruierten historischen Prozesse ist für sich genommen natürlich noch keine Geschichtsschreibung, sondern allenfalls ein Impuls für den spezifisch interessierten Leser, sich mittels historiographischer Studien selbst ein genaueres Bild zu machen. Auf diese indirekte Weise vermag postkolonial intendierte deutsche Literatur beim Lesepublikum im Glücksfalle auch eine politische Wirkung zu erzielen. Damit legt der Verf. neben seinem analytischen Erkenntnisinteresse zugleich die humanistische Motivation seines engagierten Unterfangens frei. Das dritte Kapitel (91 - 125) stellt die für die Untersuchung benötigten Analysekriterien vor und bestimmt Joseph Conrads Herz der Fins- 1 Alle Zitate beziehen sich im Folgenden auf die oben genannte Ausgabe. ternis als Prätext seines Genres und als Muster kolonialer Konstruktion. Das ist keine ganz originelle Idee, aber der Verf. will auch keine grundsätzlich neue Interpretation des Textes vorschlagen, sondern ihn explizit als Imperialismuskritik lesen. Conrad gelinge es, argumentiert der Verf., durch Entfaltung der charakteristischen Muster des Kolonialismus die Prämissen und Strukturen des Imperialismus aufzuzeigen, statt sie plakativ anzuklagen. Durch die Konfrontation mit dem unbegriffen-unbegreiflich Fremden führe er dem Leser die eigenen Ängste und Denkweisen unmittelbar vor Augen, womit der Text die behauptete imperialismuskritische Wirkung erziele. Die Auseinandersetzung der Autoren postkolonial intendierter Literatur mit der Rekonstruktion kolonialer Wirklichkeit anhand der Thematisierung des Eindringens der Kolonisatoren in den ihnen fremden Lebensraum, der Ausbeutung von Mensch und Natur, der Entmenschlichung der Kolonisierten und der Kolonisatoren, des fragilen Verhältnisses von Zivilisation und Barbarei dient dem Verf. als kategoriales Gerüst für die anschließenden vier Analysekapitel der Studie, in denen die ausgewählten Zeitromane mit Afrikabezug im Hinblick auf das jeweilige postkoloniale Potential untersucht werden. Den Auftakt bildet Lukas Bärfuss ’ Roman Hundert Tage, der nicht nur formale Parallelen zum Conradschen Prätext aufweist. Ein Schwerpunkt der Analyse (Kap. 4: 127 - 164) ist auf die von Bärfuss beschriebene Praxis der Akteure internationaler Entwicklungshilfe gelegt, die hier am Beispiel der D EZA (der Schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) als neokoloniale Beziehung bewertet wird. Indem der Protagonist (der an seinen Aufgaben und den eigenen Fähigkeiten scheiternde Entwicklungshelfer David Hohl) die Fremdheit der ‘ Anderen ’ als koloniale Konstruktion akzeptiert, werden Prinzipien des Kolonialismus bewusst gemacht. Kulturelles Fremdverstehen wird möglich in dem Maße, in dem die kolonialen Muster zugunsten verbindender kultureller Vorstellungen und hybrider Identitäten aufgelöst werden. In der psychischen Degeneration des Protagonisten, seiner Entwicklung vom Helfer zum Täter, meint der Verf., zeige sich im Kontext des Genozids die Gleichzeitigkeit von Zivilisation und Barbarei, in der sich das europäische Identitätsprofil und damit die Differenz zum imaginierten Anderen aufzulösen beginne. Hans Christoph Buchs Erzählung Kain und Abel in Afrika, die eigene Augenzeugenberichte und persönliche traumatische Erfahrungen in Ruanda mit der historischen Rekonstruktion von Wirklichkeit zum Genozid in Ruanda zu verschmelzen sucht, ist Gegenstand der Analyse im fünften Kapitel (165 - 212). Die Erzählung, eine Literarisierung einer Serie von Reportagen des Autors in der Zeit über die Zustände in Ruanda, sei gekennzeichnet durch Oppositionen, die dem kolonialen Diskurs entstammen, die aber dadurch nicht automatisch zu einer Pluralität der Perspektiven führen. Die Figur des Du-Erzählers, dessen sexuellen Triebe keine moralischen Grenzen kennen und der sich dadurch eher als ‘ echter Kolonialist ’ erweise, mache es schwer, in der Gegenwartserzählung einen postkolonialen Ansatz zu erkennen. Die Beschreibungen der Flüchtlingssituationen, die fast voyeuristische Darstellung von Szenen menschenverachtender Gewalt, verhinderten nicht nur die angestrebte Kritikfunktion der Schilderung, sondern schrieben mit der symbolischen Vereinnahmung ‘ des Afrikaners ’ die koloniale Sichtweise des deutschen Journalisten lediglich fort. Zwar zeige die Figur des Afrikaforschers Richard Kandt mit Bezug auf dessen autobiographischen Reisebericht auf der historischen Erzählebene Züge eines Kolonialkritikers, die in der Summe jedoch nicht das System des Kolonialismus an sich kritisch hinterfrage und damit am literarischen postkolonialen Diskurs kaum teilzunehmen beanspruchen könne. Das sechste Kapitel (213 - 252) analysiert den zeitaktuellen Kolonialroman Der Schrei der Hyänen des Autorenpaares Andrea Paluch & Robert Habeck, der die problematische deutsche koloniale Vergangenheit thematisiert und damit als ein Beispiel kritischer Gegenwartsliteratur mit kolonialem Sujet gilt. Ausgehend vom deutschen Kolonialismus in ‘ Deutsch-Südwestafrika ’ hinterfragt die Erzählung zugleich koloniale und rassistische Perspektiven in den Jahren 1959 und 1989 in der Bundesrepublik Deutschland. Auf mehreren Erzählebenen wird die kolonialkritische Perspektive entwickelt, indem der Bezug von der inneren Gewalt des kolonialen Systems (am Reviews 171 Beispiel der Figur Arabella im kolonialen Deutsch-Südwestafrika) zum Rassismus in der postkolonialen bundesdeutschen Gesellschaft des Jahres 1959 hergestellt und im Blick auf den Bedeutungswandel pejorativ konnotierter Begriffe wie ‘ Neger ’ oder ‘ Kaffer ’ Verbindungslinien zum Jahr 1989 ausgezogen werden, wobei freilich der Versuch einer lexikalisch-semantischen Analyse des Bedeutungswandels solcher heute abwertend wirkenden Wörter in Kap. 6.5 (239 ff.) aus linguistischer Sicht erkennbar unterinformiert wirkt. Immerhin, so macht der Verf. geltend, diene die Darstellung des kolonialen Stoffes der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Diskriminierungen und plädiere für politische Veränderungen im Sinne einer vorurteilsfreien Gesellschaftsordnung. Ilija Trojanows Bestseller Der Weltensammler steht im Mittelpunkt des Schlusskapitels (253 - 289). Der Roman ist ein postkolonialer Roman, in dem das ‘ Dazwischen ’ zum erzählerischen Prinzip erhoben wird: die Analyse des Ostafrika- Kapitels präpariert die transkulturellen Elemente der Figuren Burton und Bombay heraus, die in der Begegnung mit den Fremdkulturen so etwas wie ein transkulturelles Identitätskonzept entwickeln. Die Geschichte der Sklaverei in Ostafrika wird geschickt mit der historischen Figur des Briten Richard Francis Burton verknüpft, der in Bombays Erzählung gleichsam zum Statisten gerät, der sich der Elemente verschiedener Kulturen bedient und damit so etwas wie ein transkulturelles Kulturkonzept entwickelt, in dem ein Mensch nicht durch einen bestimmten Kulturindex oder durch religiöse Zugehörigkeit zu definieren, sondern an allgemein gültigen moralischen Maßstäben seines Handelns zu messen sei. Damit diene Trojanows erzählerischer Ansatz der Auflösung kolonialer Differenzproduktion und werde im Sinne eines transkulturellen Identitätskonzept postkolonial wirksam. In seiner resümierenden Schlussbetrachtung (291 - 298) meint der Verf., dass das koloniale ethnisierende Inferioritätsdenken in der deutschsprachigen postkolonial intendierten Literatur überwunden werden könne, wenn die Autoren in ihren Texten Charaktere entwürfen, die fähig seien, in der Begegnung mit der Fremde eigene Irrtümer, Unsicherheiten und Irritationen zuzulassen und sich die Grenzen der eigenen Erfahrung einzugestehen. Damit vermöchten sie die deutsche koloniale Vergangenheit ohne die Wiederaufnahme kolonialer Stereotype zu problematisieren und politisch eine postkoloniale Wirkung zu erzielen. Ein Anhang mit farbig reproduzierten Abbildungen und ein reichhaltiges Literaturverzeichnis schließen den Band ab (299 - 325). Insgesamt ist die Untersuchung in sich schlüssig und auf der Grundlage breiter Rezeption einschlägiger Sekundärliteratur solide gearbeitet. Auch wenn der Ausgang von Conrads Herz der Finsternis als Prätext nicht so neu - und übrigens nicht unproblematisch: man denke an die Kritik von afrikanischen Autoren wie Chinua Achebe, der das Buch als rassistisch bezeichnet hat - erscheint, so bieten die Interpretationen der vier Beispieltexte doch einen guten Einblick in die aktuelle deutschsprachige Afrikaliteratur (auch wenn kaum begründet wird, warum die Wahl auf diese Texte fiel und nicht auf andere in diesem Zusammenhang ebenfalls einschlägige Texte (und Medien, etwa Verfilmungen wie Die weiße Massai nach dem Buch von Corinne Hofmann oder Nirgendwo in Afrika nach dem Bestseller von Stefanie Zweig). Dennoch bietet das Buch einen durchaus fruchtbaren Beitrag zu den aktuellen Postcolonial Studies in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft. Ernest W. B. Hess-Lüttich Ivan Vlassenko 2015: Sprechen über HIV/ AIDS. Narrative Rekonstruktionen und multimodale Metaphern zur Darstellung von subjektiven Krankheitstheorien (= Germanistik 46), Berlin: Lit, 560 pp, br., 64,90 € , ISBN 978-3-643-13061-7 Im anglophonen und im romanophonen Raum erschienen vor etlichen Jahren die ersten linguistisch, kommunikationswissenschaftlich und semiotisch interessierten Untersuchungen zur öffentlichen Kommunikation über AIDS und die Kampagnen zur AIDS-Prävention. In jüngerer Zeit stößt das Thema auch in der germanistisch- 172 Reviews diskurslinguistisch orientierten Forschung sowie im Bereich der Untersuchung medizinischer Kommunikation auf Interesse. Dabei sind jedoch empirische Arbeiten auf der Grundlage von linguistischen Analysen der Gespräche mit Betroffenen aus naheliegenden Gründen bislang sehr rar. Umso verdienstvoller das Vorhaben von I VAN V LASSENKO (im folgenden: Verf.), diese Lücke zu schließen. 1 Seine hier vorgelegte umfangreiche Arbeit - ursprünglich eine in Bayreuth von Karin Birkner betreute Dissertation - basiert auf Audio- und Videoaufzeichnungen narrativer Interviews, die der Verf. mit vom HI-Virus infizierten bzw. an AIDS erkrankten homosexuellen Männern geführt hat. Allein schon diese kommunikative Konstellation ist hochkomplex, deren genaue Untersuchung ein methodisches Instrumentarium erfordert, das in verschiedenen Disziplinen z. T. erst in der jüngeren Zeit entwickelt wurde. Für die Analyse von multimodal codierten Texten (wie Gesprächen von Angesicht zu Angesicht und deren Notation) gelten zunächst die grundsätzlichen methodischen Probleme der Corpusgewinnung, -speicherung und -auswertung von Zeichenketten, die parallel über mehrere Kanäle gleichzeitig ablaufen. Die damit verbundenen zeichentheoretischen Fragen werden vom Verf. im Ansatz ebenso reflektiert wie die diskursiven Probleme, die sich aus dem Sprechen von homosexuellen Betroffenen über heikle Themen wie ihre eigene Erkrankung (meist aufgrund ungeschützter Sexualpraktiken) ergeben mit all deren Implikationen (ich nenne nur die Stichworte gay identity, membership categorisation, implizites Wissen, Fach- und Gruppensprache, Experten-/ Laienkommunikation, in sich gestaffelte bzw. differenzierte Subkultur, soziale Ausgrenzung, Selbsthilfegruppen von schwulen HIV- Positiven u. v. m.). In dieser anspruchsvollen Ausgangsposition setzt sich der Verf. zum Ziel aufzuzeigen, inwiefern “ spontane ins Krankheitsnarrativ eingebettete Erzählungen und multimodale Metaphern eine wichtige kommunikativ veranschaulichende Funktion erfüllen und zur Darstellung der subjektiven Vorstellungen über die HIV-Infektion eingesetzt werden ” (p 17). Dazu zieht er den im Rahmen der Medizinischen Kommunikation entwickelten Ansatz der ‘ Subjektiven Krankheitstheorien ’ heran, den er in dritten Kapitel (pp 398 - 73) ausführlich vorstellt, nachdem zuvor der Gesprächsgegenstand HIV-Infektion genauer erläutert und der Kontext der gesellschaftlichen, medialen, religiösen, politischen Wahrnehmung von AIDS entfaltet wurde. Nicht minder gründlich wird im vierten Kapitel (pp 75 - 122) der zweite Forschungsstrang der ‘ Konversationellen Erzählung ’ entwickelt, die im Zentrum des Corpus und des Interesses an den Erzählungen der Interviewpartner über ihre Krankheit stehen. Von besonderer Bedeutung ist hier die Fortentwicklung der Erzählanalyse unter Einschluss ihrer non-verbalen Anteile in der direkten Interaktion. Folgerichtig widmet sich der Verf. hier den jüngsten Entwicklungen der Gesprächsanalyse, die das kommunikative Ereignis als multimodales ernst nimmt. Meine diesbezüglichen (und seinerzeit weitgehend ignorierten) Forderungen bei der Gründung der Sektion ‘ Multimediale Kommunikation ’ in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (1976), nämlich die Komplexität des Zeichenprozesses nicht auf das zu reduzieren, was in eine zu eng dimensionierte linguistische Schublade passt, finden in der heutigen Forschung meist in vollem Umfang Berücksichtigung. Ihren aktuellen Stand fasst das fünfte Kapitel (pp 123 - 158) in übersichtlicher Weise zusammen. Weil das Interesse aber auch dem Gebrauch von Metaphern in den konversationellen Erzählungen der Interviewten gilt, widmet sich der Verf. im sechsten Kapitel (pp 159 - 203) mit der ihm eigenen Genauigkeit auch diesem wohl etablierten Forschungssegment und erweitert es um die multimodale Perspektive auf den Metapherngebrauch in der direkten Interaktion. Damit ist das forschungsgeschichtliche, methodologische und theoretische Fundament gelegt für die Betrachtung des nach allen Regeln der Kunst erhobenen und für die Zwecke der Analyse aufbereiteten Datenmaterials, das im siebten Kapitel (pp 205 - 214) vorgestellt wird. Dieses Material besteht wesentlich in den Transkripten von neun Interviews, die im Hinblick auf die zuvor entwickelten Kategorien im zentralen achten Kapitel (pp 215 - 438) exempla- 1 Alle Zitate beziehen sich im Folgenden auf die oben genannte Ausgabe. Reviews 173 risch analysiert werden. Die Analysen folgen dabei aus Gründen der Vergleichbarkeit einem einheitlichen Aufbau: an die Beschreibung der Situation des jeweiligen Gesprächs schließt sich zunächst eine Grobanalyse des Verbaltranskripts zur narrativen Struktur an, die dann um eine multimodale Feinanalyse erweitert wird. Die jeweilige Auswertung präpariert die dabei zutage tretenden Aspekte (wie z. B. die Rolle multimodaler Metaphern in Traumerzählungen zur Veranschaulichung subjektiver Krankheitstheorien, die Funktion der Erzählung biographischer Erfahrungen und deren narrativer Re-Inszenierung, die Dynamik spontaner Metaphernbildung und die Formen des Wissenstransfers usw.) auf eine den Leser sehr überzeugende (stellenweise auch bewegenden) Weise heraus. Die Ergebnisse dieser Fallanalysen werden dann im abschließenden neunten Kapitel (pp 439 - 492) eingehend diskutiert im Hinblick auf die eingangs begründeten Forschungsebenen, also insbesondere in der makroskopischen Perspektive auf das AIDS-bezogene Krankheitsnarrativ, in der mesoskopischen Perspektive auf die Phasenstruktur der Erzählungen und in der mikroskopischen Perspektive auf die konversationellen Verfahren der Veranschaulichung, auf die Dynamik der Metaphernbildung und die Pragmatik der Metaphernmodifikation sowie auf die Rolle der multimodalen Metapher im Erzählprozess. Ein letzter Abschnitt über die Subjektiven Krankheitstheorien der Betroffenen zu HIV und AIDS schlägt den Bogen zum Ausgangspunkt der Untersuchung und rundet sie hinsichtlich der eingangs formulierten Fragestellungen auf beeindruckende Weise ab (auch wenn der Leser stellenweise verwirrt werden könnte durch die nicht immer ganz einheitliche Abgrenzung zwischen makrostrukturellen und mesostrukturellen Analyseebenen). Es folgt im 10. Kapitel ein Literaturverzeichnis, dessen Umfang (pp 493 - 525) von der einschlägigen Belesenheit des Verf. eindrucksvolles Zeugnis gibt, sowie ein umfangreicher Anhang mit den vollständigen Transkripten (pp 527 - 557), die dem Leser die Einbettung der exemplarischen Analysen in den Zusammenhang des jeweiligen Gesprächs erlauben und die nicht nur vom methodischen Aufwand des Transkriptionsverfahrens zeugen, sondern auch für den spezifisch medizinsoziologisch und krankheitsbiographisch interessierten Leser aus anderen Disziplinen Material von eigenem Gewicht bereitstellen können. Insgesamt hat Ivan Vlassenko, dessen Muttersprache Russisch ist, mit diesem umfangreichen Buch eine ungewöhnlich gelungene, akribisch durchgeführte, auch im formalen Detail überzeugende (freilich auch nicht ganz redundanzfreie) Studie vorgelegt, die in mehreren Hinsichten innovative Ergebnisse zeitigt, nicht nur im Hinblick auf die bislang wenig untersuchte Thematik der subjektiven Krankheitstheorien über die Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Erkrankung durch die von AIDS Betroffenen, sondern auch im Hinblick auf die Multimodalität direkter Interaktion und der multimodalen Konstitution von Metaphern in den konversationellen Erzählungen. Ernest W. B. Hess-Lüttich Max Behland, Walter Krämer & Reiner Pogarell (Hrsg.) 2014: Edelsteine. 107 Sternstunden deutscher Sprache vom Nibelungenlied bis Einstein, von Mozart bis Loriot, Paderborn: IFB Verlag Deutsche Sprache, 671 pp, geb., 25,00 € , ISBN 978- 3-942409-31-5 Der Journalist Max Behland, der Statistiker Walter Krämer und der Linguist Reiner Pogarell haben in diesem fast 700 Seiten dicken Buch über 100 Texte zusammengetragen, vom ostgotischem Attar unsar aus Wulfilas früher Bibelübersetzung um 370 n. Chr. und Beispielen aus den mittelfränkischen Merseburger Zaubersprüchen bis zur Dankesrede des kürzlich verstorbenen Feuilleton-Chefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher anlässlich der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises oder der Gedenkrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Danziger Westerplatte, in der er 2014 an den 75. Jahrestag des Einfalls der Deutschen in Polen erinnerte. Der Aufmerksamkeit mancher selbstbewussten Germanisten, Linguisten und Semiotiker wird das Buch möglicher- 174 Reviews weise entgehen, denn sie kennen die Herausgeber als in ihren Augen fachfremde Aktivisten des Vereins Deutsche Sprache (VDS), der sich der Pflege des Deutschen in Wissenschaft und Alltag, in Politik und Medien verschrieben hat. Insbesondere Linguisten, die den gegenwärtigen Sprachgebrauch nichts als beschreiben wollen, sind Krämers kritische Kommentierungen von dessen Eigenheiten etwa in der Werbung (Anglizismen) oder im öffentlichen Umgang (Politjargon) ein Dorn im Auge. “ Unwissenschaftlich ” lautet meist das Verdikt von Linguisten, die fasziniert sind von allerlei Soziolekten wie dem sog. ‘ Kiezdeutsch ’ deutsch-türkischer Jugendlicher in Berlin, dem sie eine eindrucksvolle Kreativität bescheinigen, die indes Personalchefs kaum zu würdigen wissen, die solche Jugendlichen einstellen sollen. Germanisten mag befremden, dass die Sammlung der Texte erkennbar abweicht von den ihnen vertrauten Anthologien sprachlicher Meisterwerke der deutschen Literaturgeschichte, vielmehr alle möglichen Textarten enthält, die den Herausgebern als für die Vielfalt der deutschen Sprache irgendwie bedeutsam erscheinen, also auch, wie der Klappentext verheißt, Reportagen und Patentanmeldungen, Briefe und Beipackzettel, Libretti und Verordnungen. Die Texte sind nicht textsortentypologisch sortiert, sondern in chronologischer Folge locker aneinandergereiht. Manche sind jedem Schüler vertraut, andere völlig unbekannt. Man nimmt den Band also vielleicht nicht ohne die wissenschaftsbetriebsübliche Skepsis zur Hand - aber dann liest man sich fest, wird man hineingezogen in den eigentümlichen Sog, den die Texte aus ca. 12 Jahrhunderten entfalten; man lässt sich berühren vom fremden Klang der ersten Zeugnisse im Althochdeutschen, man erkennt die vertrauten Verse des Nibelungenliedes wieder und spricht sie auswendig mit ( “ Uns ist in alten mæren/ wunders vil geseit/ von helden lobebæren/ von grôzer arebeit/ von fröiden, hôchgezîten/ von weinen und von klagen/ von küener recken strîten/ muget ír nu wunder h œ ren sagen ” ), man erinnert aus der frühen Neuzeit die sieben Todsünden (und allerlei weitere) in Sebastian Brants Narrenschiff, man versichert sich noch einmal des 1516 erlassenen deutschen Reinheitsgebots Wilhelms IV von Bayern und wünschte sich heute ähnlich klare Lebensmittelschutzgesetze, man ist auch als notorisch Ungläubiger ergriffen von der kraftvollen Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung, man schmunzelt über die Aktualität der frühen Polemik gegen sprachlichen Mischmasch im Buch von der deutschen Poeterey des Martin Opitz und freut sich in Zeiten der zunehmenden Englisch-Pflicht an den Universitäten über Christian Thomasius ’ Mut, 1687 sein Kolleg über Gratian erstmals in Deutsch zu halten. Und so geht es fort, Leibniz und Lichtenberg und Lessing! Kant! Das sapere aude, das jedem und gerade dem von weither Zugezogenen Mut mache, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Man blättert und stößt auf ein Lied von Bach oder ein Gedicht von Hölderlin, auf einen von der Schulzeit her vertrauten Textausschnitt aus Werken der Weimarer Klassik oder Romantik. Man kann sich aber auch mit Franz Bopp über das “ Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache ” informieren oder über die Patentanmeldung des ersten Automobils von Carl Friedrich Benz, über Die Prinzipien der Mechanik von Heinrich Hertz oder über die von Einstein beschriebene Elektrodynamik bewegter Körper. Dazwischen Kostproben aus Texten philosophischer Sprachgenies wie Schopenhauer, Nietzsche oder Wittgenstein, bedeutende Rechtstexte, politische Programmschriften (Marx, Herzl, Rosa Luxemburg), Meilensteine der deutschsprachigen Wissenschaftsliteratur (Freud, C. G. Jung, Gödel, Zuse, Heisenberg). Wer sich davon erholen möchte, blättere weiter und ergötze sich an den aberwitzigen Definitionsanstrengungen von Juristen, die in der Käseverordnung dem Lebensmittel ein für allemal begriffliche Form zu verleihen streben, an Robert Gernhardts Ode auf den Ernst oder Loriots herrlicher Dankesrede anlässlich der Verleihung des Jakob-Grimm-Preises 2004 in Kassel, in der er sich Gedanken macht über die Fährnisse der Verständigung: “ Ich war mehrere Jahre Analphabet ” . In diesem Buch wird jeder fündig. “ Wer vieles bringt, wird manchen etwas bringen ” , hofft, mit Goethe, einer der Herausgeber, lauter bits ’ n ’ pieces, ungeordnet bunt durcheinander, mag man einwenden, Wichtiges fehlt, anderes mag entbehrlich scheinen - und dennoch: ein Lesevergnügen, ein Lese-Buch, das Bekanntes Reviews 175 und Unbekanntes und Vergessenes einbettet in begleitende Erläuterungen; 47 Autoren - sie werden in einem Anhang vorgestellt - kommentieren die ausgewählten Texte (deren Kenntnis sie mehr oder weniger voraussetzen), stellen sie und ihre Verfasser in den zeitlichen Zusammenhang, dem sie entstammen, begründen mehr oder weniger plausibel ihre Auswahl, zeichnen ihre Wirkung nach und heben ihre Bedeutung für die Entwicklung deutsche Sprache in all ihrer Vielfalt hervor. Das Literaturverzeichnis regt zum Weiterlesen an. Bei aller Begeisterung der Linguisten für die sprachliche Abgrenzungsphantasie Jugendlicher, bei aller Sympathie für die Wachsamkeit der feministischen Sprachpolizei, bei aller Faszination angesichts des technisch induzierten Sprachwandels in den Mini-Texten der sozialen Medien: wären nicht jene Eltern und Lehrer zu loben, die ihren Schülern und Schützlingen dieses Buch zum Stöbern empfehlen, auf dass sie ein wenig sensibler würden für die Wirkung von Worten und lernten, ‘ pfleglich ’ umzugehen mit ihrer Sprache? Ernest W. B Hess-Lüttich 176 Reviews K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autoren / Addresses of the Authors Sarah K. Baumann über Prof. em. Dr. Achim Eschbach Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Kommunikationswissenschaft Universität Duisburg-Essen Universitätsstraße 12 D-45117 Essen achim.eschbach@uni-due.de Henrik Dindas, M. A. Universität Duisburg-Essen Zentrum für Hochschul- und Qualitätsentwicklung (ZfH) Keetmanstr. 3 - 9 D-47058 Duisburg henrik.dindas@uni-due.de Prof. em. Dr. Achim Eschbach Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Kommunikationswissenschaft Universität Duisburg-Essen Universitätsstraße 12 D-45117 Essen achim.eschbach@uni-due.de Prof. Dr. habil. Hans W. Giessen Universität des Saarlandes D-66041 Saarbrücken Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Ernest W. B. Hess-Luettich Prof. em. German Department, University of Berne Laenggass-Str. 49, CH-3012 Berne, Switzerland Hon.Prof. Technische Universität Berlin (TUB) Institut für Sprache und Kommunikation Straße des 17. Juni 135, D-10623 Berlin Hon.Prof. University of Stellenbosch Dept. of Modern Foreign Languages Private Bag X1, Stellenbosch 7602, South Africa mail: ernest.hess-luettich@germ.unibe.ch Prof. Dr. Arne Klawitter Faculty of Letters, Arts and Sciences Waseda University Toyama 1 - 24 - 1, Shinjuku-ku J-162 - 8644 Tokyo, Japan klawitter@waseda.jp Dr. Robin Kurilla Universität Duisburg-Essen Campus Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Kommunikationswissenschaft Universitätsstraße 12 D-45141 Essen robin.kurilla@uni-due.de Prof. Dr. Nawata, Yûji Faculty of Letters Chuo University Hachioji-shi Higashinakano 742 - 1 J-192 - 0393 Tokyo, Japan nawata@da3.so-net.ne.jp George Rossolatos, MSc, MBA, PhD Department of English University of Kassel, Germany Poseidonos 2 N.Voutzas GR-19005 N. Makri, Greece/ Griechenland georgerossolatos123@gmail.com Prof. Dr. Dagmar Schmauks TU Berlin Semiotik, FH 4 - 3 Fraunhoferstr. 33 - 36 10587 Berlin schmauks@mail.tu-berlin.de Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift KODIKAS/ CODE (ca. 10 - 30 S. à 2.500 Zeichen [25.000 - 75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2 - 3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarzweiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3 - 5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für KODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht ( “ . . . ” ). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im SPIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “ normalen ” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren . . . (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “ [. . .] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen ” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “ f. ” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [. . .], Hinzufügungen durch Initialen des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “ (Hervorh. im Original) ” oder “ (Hervorh. nicht im Original) ” bzw. “ (Hervorh. v. mir, Initial) ” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “ [sic] ” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt ( “ . . . ‘ . . . ’ . . . ” ). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “ Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet. ” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “ Fähe bedeutet ‘ Füchsin ’ . ” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “ *Rettet dem Dativ! ” oder “ *der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. ” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [. . .] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “ Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben ” , in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1 - 2 (1999): 27 - 41 Duck, Donald 2000: “ Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag ” , in: Duck (ed.) 4 2000: 251 - 265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “ und ” oder “ & ” (bei mehr als drei Namen genügt ein “ et al. ” [für et alii ] oder “ u. a. ” nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “ etc. ” ): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 179 Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘ graue ’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck ( “ Zürich: Diss. phil. ” ), vervielfältigte Handreichungen ( “ London: Mimeo ” ), Manuskripte ( “ Radevormwald: unveröff. Ms. ” ), Briefe ( “ pers. Mitteilung ” ) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “ Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis ” , in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47 - 67 Duck, Daisy 2001 b: “ Zum Rollenverständnis des modernen Erpels ” , in: Ente und Gesellschaft 19.1 - 2 (2001): 27 - 43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “ Schon wieder keinen Bock ” , in: Franz Gans ’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15. 01. 2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15. 01. 2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15. 01. 2009] 180 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotation marks “. . .” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn’t make sense; one is taken out of context; one isn’t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘normal’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind . . . (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [. . .], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “. . .‘. . .’ . . .”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001, http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15. 01. 09]. ARTICLES Henrik Dindas Auf den Spuren der Würzburger Schule der Denkpsychologie Sarah K. Baumann Eine Analyse verschiedener Sprachursprungstheorien Arne Klawitter Die hybriden Zeichen des chinesischen Künstlers Xu Bing Yûji Nawata Visual Representativeness in Uncomprehended Script and Martial Script Dagmar Schmauks Transdisziplinäres (Miss-)Verstehen am Beispiel dichterischer Pflanzendarstellungen George Rossolatos Is the semiosphere post-modernist? Hans W. 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