eJournals

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2015
383-4
KODIKAS/ CODE An International Journal of Semiotics Volume 38 (2015) · No. 3-4 Themenheft / Special Issue Grenze und Tabu. Vom Diskurs der Differenz Borders and Taboos. Discourse of Difference Herausgegeben von / edited by Ellen Fricke, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Articles Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Grenze und Tabu Zur Einführung in diesen Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Sabine Krajewski Listening to the Unsaid Pacific Shades of Taboo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Martin Siefkes Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive Wie Äußerungstabus, mentale Grenzziehungen und gesellschaftliche Exklusion zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Ulrike Lynn Berührungstabus Der Körper als Medium für ritualisierte Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 William L. Leap Language, Sexuality and the Suspension of Taboo: Lessons from “Gay English” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Daniel H. Rellstab Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos Der Fall Chlyklass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Hiloko Kato Versehren, Verschandeln und Bekritzeln Tabu(brüche) an den Rändern von Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Stefan Meier “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” Zur ‘Kultur der Überwachung’ als Brückendiskurs zwischen Politik und Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Urszula Topczewska Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität in deutschen und polnischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Antonietta Fortunato Die Finanzkrise als Tabu-Thema Ein intra- und interkultureller Diskurs in Deutschland und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Ernest W. B. Hess-Lüttich Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Autoren / Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Anschriften der Autoren / Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . . 365 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 128,- (special price for private persons € 102,-) plus postage. Single copy (double issue) € 82,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P. O. Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISSN 0171-0834 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Grenze und Tabu Zur Einführung in diesen Band Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Wichtige zeitgenössische Ansätze zur semiotischen Analyse von Kultur lassen relevante Teilbereiche als ein komplexes System von Diskursen und Diskurstypen erscheinen, in dem bestimmte Grenzziehungen beachtet werden müssen, wenn die Verständigung zwischen einzelnen Personen und Personengruppen gelingen soll. Das Entstehen und Brechen von Tabus als spezifische Grenzziehungstechnik, durch die z. B. Status und Gruppenzugehörigkeit nicht nur markiert, sondern oft erst konstituiert wird, steht im Zentrum dieses Bandes. Tabu ist eines der wenigen polynesischen Wörter, die Eingang in den Wortschatz vieler Sprachen gefunden haben. Verantwortlich dafür sind James Cook und seine Mannschaft, die das polynesische Wort in ihren Tagebucheinträgen verwenden, um Gebräuche und Sitten der Tongaer zu beschreiben. Cook schreibt über Speisen, welche die Menschen nicht essen dürfen, sie seien “tabu”, und er fügt sogleich einen metasprachlichen Kommentar an, welcher die Bedeutung des Wortes erläutert: “which word of a very comprehensive meaning; but, in general, signifies that a thing is forbidden” (Cook 1821: 348). Sein Schiffsarzt, William Anderson, schreibt, tabu sei eine allgemeine Bezeichnung für all das, was man nicht berühren dürfe, “unless the transgressor will risque some very severe punishment as appears from the great apprehension they have of approaching any thing prohibited by it” (Cook 1967: 948). Cook und Anderson verwenden das Wort Tabu, sie übersetzen es aber nicht; offenbar fand sich im Englischen dafür keine Entsprechung. Doch übte das Wort eine starke Faszination auf die Leserschaft der Tagebucheinträge Cooks aus, denn es fand schnell Verbreitung in vielen Sprachen Europas (cf. Gutjahr 2008: 30). Heute finden wir es nicht nur im Deutschen und im Französischen (tabou) oder im Italienischen (tabù), sondern auch etwa im Russischen (табу) oder im Finnischen (tabu). Allerdings dürfte schon das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts unter Tabu etwas ganz anderes verstanden haben als die Menschen in Polynesien; und heute verstehen wir es noch einmal anders als die Menschen im 19. Jahrhundert. Als kleinster gemeinsamer Nenner des Tabubegriffs könnte gelten, Tabus als “Meidungsgebote” zu bezeichnen, die das Verhalten in Gemeinschaften regeln und durch psycho-soziale Grenzziehungen Identität stiften (cf. Gutjahr 2008: 19). Tabus sind darüber hinaus, wie auch schon Douglas (1979) erwähnt, effektive ‘Herrschaftsmittel’, mit denen soziale und politische Kontrolle ausgeübt werden kann (cf. Schröder 2008: 53). Tabus gibt es in allen Gemeinschaften, und es gibt Tabus, die in der einen oder anderen Form universell sind. Objekttabus tabuieren Gegenstände, Personen und Institutionen, oftmals auch entlang der Gendergrenze: Strenggläubige muslimische und jüdische Männer können fremden Frauen den Handschlag verweigern; Objekttabus sind also durch “negative Konventionen des Handelns” (Handlungstabus) verknüpft, die regeln, was man tun und lassen soll. Auch in diesem Bereich spielt die Regulierung des Verhältnisses von Gender und Sexualität eine wichtige Rolle. Kommunikationstabus regeln das Schweigen über Themen oder die Art und Weise, wie man über diese Themen doch sprechen darf (Müller & Gelbrich 2013: 159-160). Nicht nur Sexualität kann tabu sein, auch für uns harmlose Themen wie Politik oder Familie können tabu sein, Themen also, über die man nicht sprechen darf. Sprachtabus regeln die Unterlassung der Verwendung von Bezeichnungen für bestimmte Dinge und Sachverhalte (Schröder 2008: 58). Bildtabus ziehen Grenzen zwischen dem, was zeigbar ist und was nicht (Bouchara 2009: 114). Absolute Tabus gibt es nicht, denn Tabus variieren nicht nur kulturell, sondern auch historisch. Die Abbildung Toter in den Fernsehnachrichten ist für westliche moderne Gesellschaften unproblematisch; die Darstellung Toter ist in einigen Stämmen der Aborigines tabu (siehe dazu auch Krajewski, in diesem Band). Ein Relief der Église de Sainte Radegonde zeigt eine weibliche Figur, die ihre Vulva präsentiert; eine solche Darstellung wäre heute in einer Kirche nicht mehr möglich (Allen & Burridge 2008: 9-11). Dass Tabus nicht einmal in einer Gesellschaft allgemein Gültigkeit haben, gilt gerade in spätmodernen, komplex ausdifferenzierten Gesellschaften, in welchen Werte und Normen kontigent geworden, Tabus aber nicht verschwunden, sondern “hochgradig gruppen- und situationsspezifisch” (Schröder 2008: 63) geworden sind. Was in einer Gruppe getan werden kann, ohne dass Sanktionen gewärtigt werden müssen, ist in einer anderen unmöglich; was in einer Situation sagbar ist, kann in einer anderen vollkommen unsagbar werden oder muss mit Hilfe spezifischer kommunikativer Umgehungsstrategien besprochen werden. Tabuverletzungen sind auch hier zum Teil ritualisiert, wie im Karneval, Tabubrüche in spezifischen kommunikativen Situationen möglich und angebracht, ja gar institutionalisiert, so etwa in der Arzt-Patienten-Kommunikation oder im wissenschaftlichen Diskurs, wo Themen besprochen werden müssen und dürfen, die in anderen Kontexten tabu sind (Schröder 2008: 61-62). Tabu ist Thema der Ethnologie und der Anthropologie, der Sprach-, Kommunikations- und Medienwissenschaft; Tabu ist in spezifischer Weise aber auch ein Thema der Semiotik, die sich mit Zeichenprozessen in verschiedenen Kontexten auseinandersetzt. In der Sektion “Diskurs und Grenzziehung/ Diskurs an der Grenze: Das Erzeugen und Brechen von Tabus” haben wir uns daher im Rahmen der internationalen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2014 in Tübingen das Ziel gesetzt, aus semiotischer Perspektive die Funktionsweise, das Entstehen und Brechen von Tabus zu analysieren. Im Zentrum standen Fragen danach, ob und inwieweit sich Tabus als spezifische Form der Grenzziehung verstehen lassen und in welcher Relation sie zu anderen Formen von Grenzziehungen stehen. Es wurde diskutiert, woran man man Tabus erkennt, wie diese kommuniziert bzw. nicht kommuniziert werden, wie Grenzziehungen, Tabus und Tabubrüche medial realisiert werden und welche kulturspezifischen Unterschiede es gibt. Es wurde untersucht, welche sprachlichen Mittel und Zeichenpraktiken im Falle einer Tabuverletzung dem Scheitern oder dem Abbruch der Kommunikation entgegenzusteuern vermögen oder welche ein erwünschtes Scheitern erst bewirken. Eine Auswahl aus den Beiträgen zu dieser Sektion sind in dem hier vorgelegten Band versammelt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Tabus auch in modernen Gesellschaften eine wichtige Rolle spielen und dass in spätmodernen Gesellschaften Begegnungen über kulturelle Grenzen hinweg und damit Tabubrüche geradezu Alltag geworden sind, zeigt 182 Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab SABINE KRAJEWSKI in ihrem Beitrag, dass Menschen, die zwischen Tradition und Moderne lebten, auch unterschiedliche Tabu-Vorstellungen miteinander vermitteln müssten und sich so in einem ständigen interkulturellen Diskurs befänden. In ihrer Analyse qualitativer Interviews mit Migrantinnen und Migranten aus Tonga und aus Fidji sowie mit Aborigines wird deutlich, dass und wie diese die traditionellen Tabu-Vorstellungen, die oftmals ihren spirituellen Aspekt schon eingebüßt haben, in Australien mit westlichen Vorstellungen in Einklang zu bringen versuchen und wie sie im interkulturellen Raum zwischen Tradition und Spätmoderne damit in der Alltagspraxis umgehen. MARTIN SIEFKES kombiniert in seinem theoretischen Beitrag Juri Lotmans Beschreibung von Kulturen als Semiosphären und Roland Posners semiotische Unterscheidung materialer, mentaler und sozialer Bereiche der Kultur und entwickelt daraus ein Vier-Ebenen-Modell des Diskurses, das ermöglicht, Diskursanalyse als einen Analyseprozess zu betreiben, in dem in einer bestimmten Textmenge spezifische Textmuster sichtbar gemacht werden, die sich als Indices mentaler und/ oder sozialer Muster interpretieren lassen. Siefkes argumentiert, dass sich dieser Beschreibungsapparat auch verwenden lasse, um Fälle von Grenzziehungen und Tabus in Kulturen zu untersuchen, wenn Lotmans Vorstellung der Semiosphären mit Posner als konzentrisches System interpretiert werde. Denn dann könnten, so der Verfasser, Ausgrenzungen spezifischer Zeichensysteme und ihrer Benutzer als Prozesse der Verdrängung aus einem inneren Bereich der Kultur in einen äußeren oder als Fernhalten aus einem inneren Kreis interpretiert werden. Die Ausgrenzung auf der sozialen Ebene zeitige, auch Konsequenzen auf der mentalen Ebene der Kultur. Exklusion und Tabu drückten sich jedoch auch im Bereich der materialen Kultur aus, etwa in Rede- und Handlungstabus. Tabus lassen sich damit in Siefkes Modell als Diskursmuster rekonstruieren, die einen sozialen, einen mentalen und einen materialen Aspekt aufweisen, die in Relation zueinander stehen. ULRIKE LYNN stellt den Körper ins Zentrum ihrer Überlegungen und diskutiert ausgehend von emblematischen Berührungsgesten, die sie im Anschluss an Ekman & Friesen (1969) definiert als durch intentionalen Gebrauch ausgezeichnet, kulturspezifisch und stark konventionalisiert, ob und inwiefern sich Berührungstabus ebenfalls klar beschreiben und abgrenzen lassen. Sie argumentiert, dass es schwierig sei, eine Taxonomie der Berührungstabus aufzustellen, da nicht jedes Berührverhalten intendiert und kodifiziert sei, sich damit also nicht-intentionales Berührverhalten nur bedingt von intentionalem, konventionalisiertem Berührverhalten unterscheiden lasse und Berührverhalten zudem auch kontextabhängig sei. Was in der einen Situation angebracht sei, sei es in einer anderen möglicherweise gerade nicht. Lynn kommt zum Schluss, dass man genauer zwischen Berührungstabus und Nicht-Berührungstabus unterscheiden solle - eine Überlegung, die etwa in aktuellen Debatten über die Verweigerung des Handschlags zur Begrüßung (z. B. von muslimischen Schülern gegenüber ihrer Lehrerin) an Bedeutung gewinnt. WILLIAM LEAP analysiert in seinem Beitrag, wie Frauen aus einem Township in Kapstadt Ende der 1990er Jahre über Demütigungen und Belästigungen sprechen, die ihnen widerfahren, weil sie lesbisch sind. Dazu untersucht er im Detail die räumliche Syntax (nach de Certeaus 1984) zweier kurzer Kneipentouren-Erzählungen, also die Beschreibung der Bewegung, das Management von Sicherheit und Bedrohung. Indem er aus intersektionalitätstheoretischer Perspektive die Verwendung von Deiktika zur Konstitution einer Dichotomie zwischen “wir” und “ihr” im Sinne der Gay Studies interpretiert, veranschaulicht er, wie unterschiedlich sich diese beiden Frauen selbst positionieren. Während die eine Informantin sich an die in ihrer Gemeinschaft bestehenden Tabus halte und Sexualität nicht Grenze und Tabu 183 anspreche, also ein Englisch spreche, das sich als “Township English” bezeichnen lasse, gebrauche die andere eine Art Kapstadt-Stadtzentrum-Englisch, in dem sie das Tabu missachte, über Sexualität zu sprechen, was sie auf den ersten Blick als transgressiv wirken lasse. Leap weist aber auch darauf hin, dass die Sprecherin mit diesem Tabubruch im Sinne einer “semiotic of instance” versuche, ihrer homosexuellen Identität öffentlich Anerkennung zu verleihen. DANIEL RELLSTAB widmet sich den Tabus und Tabubrüchen im Hip-Hop, der innerhalb des akademischen Diskurses oft als Strömung dargestellt werde, die sich gegen bestehende soziale Ungerechtigkeiten wende, was freilich übersehe, dass Hip-Hop im Hinblick auf Gender und Sexualität oftmals misogyn und homophob sei. Er präsentiere nämlich eine ganz spezifische Männlichkeit als Norm, die ihrerseits mit spezifischen Tabus behaftet sei: Männer dürften keine Schwäche zeigen, die Gendergrenzen müssten klar markiert sein. In seiner multimodalen Analyse zweier Videoclips der Schweizer Hip-Hop-Crew Chlyklass und deren Interpretation aus männlichkeitstheoretischer Perspektive zeigt Rellstab, dass hier Männlichkeiten konstruiert werden, die keineswegs dem Stereotyp des hypermaskulinen Rappers entsprechen. Damit würden bestehende Tabus multimodal gebrochen und im Hinblick auf Gender und Sexualität gegenhegemoniale Potentiale freigesetzt. HILOKO KATO widmet sich einem Thema, das in der Semiotik bislang kaum Beachtung fand, nämlich der “Unart” (Brod 2014), die Seitenränder von Büchern zu bekritzeln. Ihr Interesse gilt dabei den dort zu findenden Tabubrüchen. Im Anschluss an Michael Camille (1994) diskutiert sie zunächst das “Verschandeln” von Texträndern in gotischen Handschriften, etwa jene zuweilen recht derben Zeichnungen, die einen subversiven Kommentar des eigentlichen Textes darstellen. Sie thematisiert auch die bis ins 19. Jahrhundert hinein gängige Praxis von Buchrestauratoren, Bücher zu ‘beschneiden’, um sie auf die von Sammlern gewünschte einheitliche Größe zu bringen. Diese Praxis wurde als ‘Verstümmelung’ des Buchkörpers kritisiert und mit einem Handlungstabu belegt, das auch heute noch gilt. In der Übertretung eines solchen Tabus liegt z. B. der Reiz eines Buches wie das von Keri Smith, das unter dem Titel Mach dieses Buch fertig (2013) seine Leserschaft ausdrücklich dazu ermuntert, es zu bekritzeln oder Kleiderfusseln hineinzukleben. Kato diskutiert auch den Roman von Doug Dorst und J. J. Abrams, S - Ship of Theseus (2013), der eine eigenwillige Mehrstimmigkeit des Textes inszeniert, indem er die Randnotizen zweier ‘Leser’ zum konstitutiven Bestandteil des Romans macht. Dadurch werde er zu einer Liebeserklärung an das gedruckte Buch, das im Zeitalter digitaler Medien zu verschwinden drohe. Mit der Digitalisierung gehe nicht nur dessen materielle Fixiertheit und verlässliche Gültigkeit verloren, sondern auch das haptische Erlebnis des Lesens und der Respekt vor dem Aufwand seiner Herstellung und Lektüre, aus dem das Gebot erwachse, es ‘rein’ zu halten. STEFAN MEIER plädiert in seinem medienwissenschaftlichen Beitrag dafür, die permanente elektronische Überwachung des Privatbereichs als eine Form des Tabubruchs zu interpretieren. Dazu analysiert er fiktionale und nicht-fiktionale Diskurse, in denen die Medienüberwachung problematisiert wird. Er untersucht, wie die Praxis der Überwachung semiotisch-performativ dargestellt wird und inwiefern sich die Verletzung des Privatbereichs zeichentheoretisch fassen lässt. Neben der verbalen Diskursivierung von Überwachung als Tabubruch diskutiert Meier auch prototypische Beispiele für die Überwachungstätigkeit und die Verletzung der Privatsphäre, etwa die aus dem Film “Matrix” bekannten grünen Reihen aus Nullen und Einsen oder grob gepixelte Screenshot von Überwachungskameras. Überwachungstechnologien werden in den sogenannten Spy-Serien wie 24 und Homeland in 184 Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab Szene gesetzt; sie sind konstitutiv für Formate des ‘Reality-TV’ wie Big Brother, die den Tabubruch natürlich immer schon einkalkulieren. Meier findet in den von ihm analysierten Diskursen eine Schwächung der Überwachungstabus und zieht daraus den Schluss, dass man entweder die Überwachung als Normalität akzeptieren oder sich aus der Medialität überhaupt zurückziehen müsse, was freilich mit medialer Isolation bezahlt werde. URSZULA TOPCZEWSKA vergleicht Medientexte aus Deutschland und Polen über jugendliche Delinquenz. Ihrer Analyse zufolge dienen die Äußerungen über jugendliche Straftäter den Sprechern zugleich zur Konstruktion eines spezifischen Images ihrer selbst: Der polnische Politiker, der jugendliche Straftäter begnadigt, präsentiert sich als Wohltäter, der den durch widrige Umstände straffällig Gewordenen eine zweite Chance gibt; ein anderer, der bei Jugendgewalt hart durchgreift, als Vertreter einer Recht-und-Ordnung-Politik; eine Populärpsychologin, die nicht die Jugendlichen verantwortlich macht, sondern das Milieu, in welchem sie aufwuchsen, präsentiert sich als Expertin für gesellschaftliche Ursachen jugendlicher Delinquenz. Deren Darstellung und die Argumentation, wie man mit ihr umgehen solle, aktualisierten immer auch stereotype Vorstellungen, was Topczewska auch anhand der Analyse von Einträgen in Internetforen von Online-Zeitungen zu zeigen sucht. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass sich sowohl in deutschen wie auch in polnischen Äußerungen zum Thema grob zwei Untertypen finden ließen: ein Entlastungsdiskurs, in dem die Ursache für Jugendkriminalität im sozialen Umfeld lokalisiert werde, und ein Gerechtigkeitsdiskurs, der die Schuld bei den Jugendlichen selbst suche. In beiden Fällen werben die Autoren jeweils um die Zustimmung der Leser. ANTONIETTA FORTUNATO schließlich beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der anhaltenden Debatte über die europäische Finanzkrise. Für Politiker in Italien und Deutschland sei sie im Grunde ein Tabuthema, aber sie würden von Journalisten genötigt, in ihren Pressekonferenzen darüber zu reden. Am Beispiel einer deutsch-italienischen Pressekonferenz vom Juli 2012 und 100 Online-Artikeln zum Thema im Juni und Juli desselben Jahres vermag Fortunato die verbalen Umgehungsstrategien aufzuzeigen, derer sich Angela Merkel und ihre italienischen Gesprächspartner bedienen, um das Thema zu vermeiden. Dazu gehöre die gezielte Verwendung euphemisierender Metaphern, die Kaschierung der Krise durch positiv besetzte Begriffe, die wortreiche Flucht ins semantisch Unbestimmte. Journalistinnen und Journalisten kommen indes ihrer Pflicht nach und konfrontieren die Regierenden mit unangenehmen Wahrheiten. Mit ihren Fragen versuchen sie mehr oder weniger erfolgreich, die Tabuisierung des Themas aufzubrechen und die politisch Verantwortlichen zur Stellungnahme zu zwingen. ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH schließt den Band ab mit einem Beitrag zum Thema “Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers”, in dem er im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingskrise die sog. ‘Burka-Debatte’ des Sommers 2016 zum Anlass nimmt, Rituale und Tabus religiöser Gemeinschaften in einer säkularen Gesellschaft zu reflektieren und daraus Konsequenzen zu ziehen für die Konzeption von Lehrmaterial für die sprachliche Integration der Flüchtlinge vornehmlich aus dem islamischen Raum. Ausgehend von kultursoziologischen Bestimmungen rituellen Handelns bietet der Beitrag eine begriffssystematische Einordnung des Tabus und verbindet die kritische Diskussion stereotyper Vorannahmen interkulturelle Kommunikation exemplarisch mit einem Blick auf die in den Medien mehrerer europäischer Länder geführte Debatte über Formen und Funktionen der (Voll-) Verschleierung als politisches Zeichen religiösen Bekenntnisses. Grenze und Tabu 185 Mit diesen Beiträgen repräsentiert der hier vorgelegte Band eine Pluralität von theoretisch, historisch und empirisch motivierten Perspektiven auf ein aktuelles Forschungsfeld der Semiotik: Grenzziehung und Tabu. Wir verstehen, wie Grenzziehungen semiotisch funktionieren, wir lernen, wie Tabus unterlaufen und gebrochen werden und welche Zeichenarsenale dabei zum Einsatz kommen. Bibliographie Allan, Keith & Kate Burridge 2008: Forbidden Words. Taboo and the Censoring of Language, Cambridge: Cambridge University Press Benthien, Claudia & Ortrud Gutjahr (eds.) 2008: Tabu. Interkulturalität und Gender, München: Fink Bouchara, Abdelaziz 2009: “Missverständnisse und Tabus als Beispiel für interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Arabern”, in: Lebende Sprachen 54.3 (2009): 113-121 Brod, Max 2014: Über die Schönheit hässlicher Bilder. Essays zu Kunst und Ästhetik, Göttingen: Wallstein Camille, Michael 1992: Image on the Edge: The Margins of Medieval Art, London: Reaktion Books Cook, James 1821: The Three Voyages of Captain James Cook Round the World, vol. V: Being the First of the Third Voyage, London: Longman, Hurst, Rees, Orme, and Brown Cook, James 1967: The Journals of Captain James Cook on His Voyages of Discovery: The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776-1780. Pt. 1-2, Cambridge: The Hakluyt Society De Certeau, Michel 1984: The Practice of Everyday Life, Berkeley: University of California Press Dorst, Doug & J. J. [Jeffrey Jacob] Abrams 2013: S - Ship of Theseus, New York: Mulholland Books; dt. 2015: S - Das Schiff des Theseus, übers. v. Tobias Schnettler & Bert Schröder, Köln: Kiepenheuer & Witsch Ekman, Paul & Wallace Friesen 1969: “The Repertoire of Nonverbal Behavior. Catagories, Origin, Usage and Coding”, in: Semiotica 1 (1969): 49-98 Gutjahr, Ortrud 2008: “Tabus als Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds Totem und Tabu und die Wende in der Tabuforschung”, in: Benthien und Gutjahr (eds.) 2008: 19-50 Müller, Stefan & Katja Gelbrich 2013: Interkulturelle Kommunikation, München: Franz Vahlen Schröder, Hartmut 2008: “Zur Kulturspezifik von Tabus. Tabus und Euphemismen in interkultureller Kontaktsituation”, in: Benthien & Gutjahr (eds.) 2008: 51-70 Smith, Keri 2013: Mach dieses Buch fertig, München: Antje Kunstmann 186 Ellen Fricke, Ernest W. B. Hess-Lüttich & Daniel H. Rellstab K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Listening to the Unsaid Pacific Shades of Taboo Sabine Krajewski (Sydney) Early taboo research concentrated on studying underlying social structures of Polynesian societies in the Pacific Islands where the term tapu was first encountered by 18 th century European explorers. The focus soon shifted to the ancient aboriginal peoples on the Australian continent and their use of taboo. What is left of the original culture-specific taboo system that kept indigenous societies in order? How did the social and spiritual concept that was handed down from one generation to another change under the influence of colonisation and missionaries? In comparison to the original taboo, our understanding and use of it reflects a rather vague collection of social conventions. In this article, I argue that though the term taboo along with its original meaning have been hijacked, it still functions as a protection and order system for modern societies across the world, including the Pacific regions. Taboos are becoming more important in times of accelerated globalisation because they are a vital part in intercultural communication and, once broken, cannot really be repaired. In Polynesian Tonga, Melanesian Fiji, and indigenous Australia, traditional and modern taboo have become intertwined and recreated through intercultural communication. The indigenous voices cited in this article stem from a collection of 24 semi-structured interviews that were conducted between January and October 2014 as part of a larger, ongoing project about taboo. All interviewees are at home in at least two cultures and in at least two languages: only living in another culture enables people to truly focus on their own. 1 Introduction: A modern taboo breach As long as we are within the cultural space we grew up in, interacting with others who share our cultural values and beliefs, we sort of know how to behave, what to say and what not. British physician and psychologist Havelock Ellis reassuringly summarised this internalised knowledge: “Life is liveable because we know that wherever we go, most of the people we meet will be restrained in their actions towards us by an almost instinctive network of taboos” (Ellis 1948: 193). In a world marked by accelerating globalisation and changing communication technology, taboos need to change as well. What are we to do when our network of taboos is not functional in a different society? If taboos limit our behaviour towards others instinctively and thereby protect our fellow citizens, we should probably hold on to them. But how do we decide which ones to keep and which to break and get rid of? How does taboo breach and elimination actually work? Emma Louisa is one of many Tongans who left the islands and moved to Australia, where she is trying to preserve and hand down to her children some of the Tongan traditions. The following anecdote was, strictly speaking, not part of our interview about taboo. It is a piece of personal information she shared after the interview, when she allowed herself to veer away from the traditional and the questions she had been sent before the interview: When I first came to Australia, one of my brothers got married to an Australian, and she is fat. So I say oh, look at you, you are fat! My brother took me out of the room and explained to me that I cannot say that here, I was supposed to apologize. I said I am so sorry, and she was so distraught and she cried, she was very hurt and then I cried too and she did not want to see me anymore. Then my brother explained to her that I was new here and that in Tonga it is not an insult. In Tonga you can say, you are fat, that is okay, one would just answer, yes, my husband spoils me, or something like that. It was very embarrassing and it took a while to build our relationship but now I am her favourite sister in law, she knows me now (interview with Emma Louisa, 2014). This example shows how important it can be to know about cultural differences in other parts of the world and at the same time how difficult it is to know these things: Weight is not an issue in Tonga and to mention it is not taboo. It would not occur to Luisa to question her approach, her comment was spontaneous. Her brother, who apparently knew how the statement would affect his bride, could have warned Emma Louisa - or his bride. Apart from being a good example for unintentional taboo breach in intercultural communication, it is also very much an example of a modern taboo, it is a taboo in the sense that we use it today across the world. In many parts of the world being overweight is not seen as a good thing. Negative connotations about health and beauty are attached to weight and health-threatening obesity and there are even stories of fat-shaming online. Most languages have euphemisms for overweight people, such as ‘chubby’, ‘well-built’, or ‘real women’ in an attempt to make being overweight acceptable. There have been court cases about discrimination in the work place because of perceived weight issues, and to call someone fat, obese or just overweight is seen as an insult in most parts of the Western world. There are, however, places where big bodies and fat men and women are not discriminated against because their bodies are seen as proof that they are well off, able to live a good life with an abundance of food. In Tonga, around 90 % of the population is overweight in terms of Western standards, followed by Samoa (Tonga Daily News 2014). If a Tongan is called fat, there is no negative connotation attached and the person would certainly not be offended or feel ashamed. It is this modern reaction to a word, a concept, an action, that characterises taboo as we interpret it today. Apart from the different ideas about body fat, an issue like this does not qualify as a taboo in the original sense, the way it was understood and practised in the Pacific Islands over 250 years ago, because it is not something that has to do with hierarchy, power, danger, or uncleanliness, and it is not something that would be punishable by a supernatural force. Steiner (1956: 20 f.) defines taboo as [. . .] concerned (1) with all the social mechanisms of obedience which have ritual significance; (2) with specific and restrictive behaviour in dangerous situations. One might say that taboo deals with the sociology of danger itself, for it is also concerned (3) with the protection of individuals who are in danger, and (4) with the protection of society from those endangered - and therefore dangerous - persons. In “Franz Steiner: A Memoir”, Douglas (1999: 10) pays tribute to his assertion that “meanings come out of social life”. In turn, her own essay, Purity and Danger, which she based on Steiner’s Taboo (1956) was “a sociological approach to the question of belief.” In Purity and 188 Sabine Krajewski (Sydney) Danger Douglas (1966: 73) makes a clear cultural distinction between Anglo-Saxons and primitive peoples by outlining the consequences of pollution as a matter of “aesthetics, hygiene or etiquette” which may “create social embarrassment” for the former and ritual pollution as “a religious offence” for the latter, with far-reaching consequences such as death. The “protection mechanism” Steiner refers to therefore seems to have been misunderstood as well as dismantled by the missionaries who came to the islands in the 19 th century. In Hawaii, just like elsewhere in Polynesia and Melanesia, they brought some improvements, such as hospitals and schools, the eradication of cannibalism and, of course, Christianity. One could argue that Christianity was not an improvement if only because it destroyed social cohesion and traditions; Christians just brought other taboos. They were known for educating against the existing taboo system: throughout the pacific region, taboo-based rituals became forbidden or were replaced with others, which made more sense to the Western missionaries. A 19th century Brockhaus entry creates a scary version of what taboo actually meant for the islanders and how they were ‘saved’ by the missionaries: On most of the South Sea islands, taboo (tapu) designates in part the rules regarding the sanctity and inviolability of divine objects, persons or places, in part the sanctity and inviolability of the same, and in part also the undertakings that are supported by the advantages conferred by this sanctity. Before the arrival of the Europeans, the islanders, specifically the inhabitants of the Society Archipelago and the Sandwich Islands, were enslaved by this terrible superstition of taboo, which imposed a good many privations and cost the lives of many thousands of innocent people. The king was taboo, divine and invulnerable, likewise everything he touched: for this reason he did not enter any house other than his own, as then nobody else would have been able to use it again. Even the cup he drank from would be destroyed immediately afterwards. But the priests would also pronounce a taboo on objects and places that nobody could then touch or access, and even on certain food from which one then had to abstain This superstition has been increasingly disappearing since the European and American missionaries succeeded in opening the doors to Christianity (Brockhaus 1886: 439, transl. Maria Veber cited in Bandhauer and Veber: 24). At least regarding such concepts as taboo and mana (the latter was not recognised by the 18 th century seafarers but became known much later), the missionaries and colonizers lacked an understanding of ancient traditions and order systems that helped pacific peoples survive over thousands of years. 2 Taboo, Mana and the Sacred Most writing about taboo mentions the origin of the word and how tapu was introduced to Europe via Captain James Cook’s journal entries from his third voyage in the Pacific in 1777. He describes peculiar behaviour of the people in Tonga: Not one of them would sit down, or eat a bit of any thing . . . On expressing my surprise at this, they were all taboo, as they said; which word has a very comprehensive meaning; but, in general, signifies that a thing is forbidden (Cook and King 1793: 348). In Tonga, the answer to if something is taboo or not would be a clear yes or no. In a more complex, larger and more heterogeneous society, one will get various answers. In Polynesia it was clear who was able to place or lift a taboo and who was not. This was done by chiefs and Listening to the Unsaid 189 those on top of the hierarchy. A taboo breach could be followed by drastic punishment, including death, and/ or with a punishment by the Gods, through the spirit of the ancestors. Taboos were the unwritten laws in a society that did not have a written language, because that was only introduced by the missionaries in the 19th century. Taboo can be seen as the very essence of society: It consists of rules of behaviour, actions and expectations which constitute society itself. The rules which generate and sustain society allow meanings to be realised which otherwise would be undefined and ungraspable . . . As in any social system, these rules are specifications which draw analogies between states. The cumulative power of the analogies enable one situation to be matched to another, related by equivalence, negation, hierarchy and inclusion. We discover their interrelatedness because of the repetitive formulas on which they are constructed, the economy and internal consistency of the patterns. The purity rules of the Bible . . . set up the great inclusive categories in which the whole universe is hierarchised and structured (Douglas in Neusner, [1979] 2006: 138). All Pacific regions are familiar with the taboo concept and, though there are differences in what is and what is not taboo, they all have one thing in common: when a taboo is broken, punishment from a supernatural source is to be expected. Although tapu was “discovered” and imported to England and Europe in the 18 th century, the power connected to tapu was not connected and studied until the missionaries wrote about this spiritual component in the 19 th century. It is the idea of mana, a sacred, impersonal force that exists in the universe, that the rest of the world has difficulty to grasp and place. Mana is a power essentially inherent in all living beings, trees and plants, but also in institutions, places and stones, and to possess it means to have authority. Mana transcends this world as well as the afterworld, it embeds the spirit of the atua and the ancestors, and it is fluid and changeable. The role of mana, as different from noa which describes the normal, not taboo, is the realm of complexity of the taboo concept in the Pacific. It is, however, not a universal concept that is found elsewhere in the world. In his iconic Elementary Forms of Religious Life ([1912] 1968: 197) Durkheim explains the complex notion of power that is outside of physical power from a North American Indian and a Melanesian Islands perspective, and relates it to the belief in the supernatural in Australian indigenous societies. The wakan of the Sioux and the orenda of the Iroquois are the direct equivalent to the mana in Melanesia, he concludes, so the “diffuse and anonymous force” in Australian totemism must be similar (Durkheim: 197). This may have been wishful thinking, as Smith (2004: 130) points out: I am tempted to suggest that Durkheim’s entire proposal to “supplement” Australian data with Native American was made so that this one interference could be legitimized, thereby enabling Durkheim to “depart” from his precisely stipulated domain, the “circle of facts” (138,n.3/ 95.n.1) limited to Australia as his primary resource, with America as his secondary support, and to import the Oceanic word/ concept mana as the chief guarantor of his interpretation of his central second-order category, the sacred. Anthropologists, ethnologists and psychologists are less divided about the strong similarities between taboo concepts in the Pacific Islands and Aboriginal Australia. Freud (1913), Durkheim (1968), Lévy-Strauss (1969), and others focused on the oldest continent to explore religious beliefs, taboo systems and their functions, so that they could draw their conclusions about how societies work on the whole. Durkheim owes most of his ethnographical knowledge of Australia to the work of Spencer and Gillen who systematically collected data 190 Sabine Krajewski (Sydney) that Durkheim then “interpreted according to his sociological method” (Morphy 1998: 13). Durkheim himself never set foot on Australia. In the following paragraphs I will use examples from the archipelagos of Tonga and Fiji, as well as from Australia arguing that taboo has not lost any of its importance or impact on societies. It has become more vague and complex than in pre-contact Polynesia or in the Pacific Islands in general because international and intercultural contact has increased. At the beginning of the 21 st century, indigenous people in Tonga, Fiji and also in Australia are constantly in intercultural discourse within their own physical space negotiating old traditions and modern influence. The discussion will also show how indigenous people view taboo as essentially positive and protective of identity and social structure, while other societies associate them as negative conventions that are basically restricting freedom and social development. Each taboo example will be supported by interview excerpts with indigenous people which are taken from a collection of 24 semistructured interviews that have been conducted as part of a larger project on taboo in intercultural communication between January and October 2014. They represent a collection of personal, subjective insights of men and women who are at home in at least two cultures and two languages and this provides valuable insights because distance from our own culture gives us a better understanding of self and other. 3 The incest taboo in Tonga In Polynesia, Tonga is the only archipelago that has never been officially colonised, though it has been influenced by missionaries, beachcombers and small traders. It became a modern chiefdom state with a king in the 19 th century (van der Grijp: 215) and is the only monarchy left in the Pacific. Like all other Polynesian nations, Tonga did not have a written language before the missionaries arrived. By 1852, “the traditional chiefly system based on mana and tapu” had transitioned to “a new system of power and authority reflecting missionary influence” (van der Grijp: 215). The system of tabu is abolished. [. . .]All persons are to dress modestly and becomingly. All crime will be punished, and the laws already printed are to be enforced throughout the land. All Chiefs and notables are to be respected. All children are to be sent to school. . .for on this depends the future welfare of our Nation (WMMS: 38, cited in van der Grijp: 215). The missionaries, who had introduced the writing system, were in charge of the school system and therefore had ideological influence. Today, half of the Tongan people do not live on the islands but in one of the classic migration countries, New Zealand, Australia, United States of America. Nevertheless, Tonga has held on to traditions like no other pacific island group. Because many of its citizens are living abroad, the country has become richer; the loyal expats send money and visit their country regularly. Of the around 106.000 people who live in Tonga, 98 % are Tongan while the rest are European and Chinese. Most of the population lives on the main island Tongatapu and a quarter of those in the largest town, Nuku’alofa, around 6 hours flight away from Australia. Tonga has been part of the British Commonwealth since 1970, but it is still a society characterised by an indigenous culture relying on farming and fishing. The survival of the current system is threatened by corruption scandals, limited freedom of the press and scandals such as the issuing of Tongan passports to Hong Kong Chinese for large amounts of money in the 1990’s (van der Grijp 2014: 260 f.). Listening to the Unsaid 191 Like most Tongans who appreciate their country as “the only remaining Polynesian kingdomwith continuity between the ancient chieftaincy [. . .] and the present head of state (van der Grijp 2014: 254), interviewee Emma Louisa who migrated to Australia many years ago proudly speaks about her country of origin. But the protected days of the kingdom seem to be weakening. While she was born and raised in Tonga, her children are already more connected to Australian culture. The next generations that grow up abroad will not see Tonga as their home anymore and support the country in the same way like their parents. They will also decide which taboos they will recognise and observe as their own and which they will not accept. For Emma Louisa, traditions and taboos are relevant: All taboos are important because they are the guidelines for the forbidden in a culture. It is inappropriate to speak of getting rid of a taboo as it is cultural practice, its significance in that culture cannot be denied (interview: 2014). In her opinion, the most important culturally prescribed issue relates to incestuous relations. The incest taboo has been researched in abundance, Freud defined it as one of the two major taboos (the other being murder) relating strong, unconscious desire with the awareness of the forbidden. The incest taboo presents a problem to the very essence of structuralism because it is a norm that disturbs the divide between nature and culture. Lévi-Strauss (1969) does not assume that cultural behaviour has a natural basis but he separates nature and culture, only to stumble over the incest taboo. It is a culture crossing taboo and part of the cultural norm of all cultures. Freud expresses his astonishment in Totem and Taboo (1913: 54) that “the naked, wild cannibals of original Australia” are painfully aware of and meticulously trying to avoid incest at all costs, though “one would not think of them as being able to morally deny themselves something, to learn a cultural norm”. Lévi-Strauss argues that the savage mind is no different from the civilised, but the status of the incest taboo as at the same time natural and culturally induced is scandalous because it questions the nature/ culture divide and therefore an important pillar of structuralism. This position keeps the source of the incest taboo in the unthinkable and at the same time enables the conceptualization of the dichotomy nature-culture. For Lévi-Strauss (1969: 12) the incest taboo presents a methodological problem. He solved it with his theory that the very essence of society depends on exogamous relationships. Exchange is the basis of all social structures, so the exchange of women has evolved as an important part of marriage rules that keep groups interconnected and makes them stronger. Across the world, incest would be seen as taboo today, though the ideas about what actually constitutes incest are different from one part of the world to another, and they are changing over time. In Europe in particular, there seems to be less inhibition to accept sexual relations even between brothers and sisters. A recent case in Germany prompted the German Ethics Council to state “Criminal law is not the appropriate means to preserve a social taboo” (Huggler 2014). This overlap of taboo and law reminds of Frazer’s distinction between civil and religious sanctions (1875) when he refers to Hawaiian police employed by the king to enforce the observation of kapu (name for taboo in Hawaii). Offenders were killed, so the punishment was very “real”. He uses Fiji as a second example, where taboo breaches would lead to the offender being robbed and his gardens despoiled. In the case of incest, it depends very much on the circumstances how it will be treated. In his chapter on the work of van Gennep and Radcliffe Brown, Steiner (1956: 120 f.) cites the following passage by Radcliffe-Brown on incest in Hawaii: 192 Sabine Krajewski (Sydney) There, in former ties, if a commoner committed incest with his sister he became kapu (the Hawaiian form of tabu) His presence was dangerous in the extreme for the whole community, and since he could not be purified he was put to death. But if a chief of high rank, who, by reason of his rank was, of course, sacred (kapu), married his sister he became still more so. An extreme sanctity or untouchability attached to a chief born of a brother and sister who were themselves the children of a brother and sister. The sanctity of such a chief and the uncleanness of the person put to death for incest have the same source and are the same thing. In modern Europe there is no such distinction between the holy and the sacred, incest is socially taboo and there are laws regulating incest in the UK and many European countries, but it is legal in France, Spain and Portugal. In Tongan Culture the taboo seems to still be intact: In Tongan Culture it is a big taboo for cousins to get married, even right through to the tenth cousin. It brings shame upon the family and often severs kinship ties. In some other parts of the world they tolerate first and second cousins getting married. [. . .] “FAKA’APA’APA” expresses the respect between brother and sister, and that extends to all cousins in the family tree. Family gatherings are very important so that one knows who is relative and who is not (Emma Louisa 2014). After reflecting on this for a while, Emma Louisa modifies her argument: “The royal family is allowed to marry each other. It is very complicated, but it is in the constitution. I think by now relatives up to 6 degree are allowed to marry.” She explains how in particular living abroad makes it difficult to stick to even the most important traditions and how she struggles to keep the traditions alive, but at times breaks the strict rules herself: In my family it is still very important, but here in Australia I have to combine the two cultures. My children are Australian, they respect Tongan culture, but they are more at home in the Australian culture. I explain our culture to them, I am very much involved in our Tongan community here and so they learn, but they go to school here and they are different personalities. I explained to my daughter, when you have a girlfriend over, you need to explain our culture to her. She needs to respect it. When they watch television together, my daughter has to say, sorry but this program we cannot watch together with my brother. They watch cartoons and the news, but no love stories. The brother may not enter the room of his sister, it is part of the incest taboo. When they are small there is no problem, they bathe together and all, but when they are 10 and older, then not any more. The parents want to hand down the taboos to their children, but it is becoming more and more difficult. [. . .] I go and talk to my brother with a glass of wine in my hand when he has a beer, that is actually taboo. But it brings us closer together, I respect Tongan culture, but like this we share more, we are closer, but we would not talk about sexuality and things like that. Taboo has changed on its journey across cultures and through time. In semiotic terms, taboos mark things that should not be communicated within a society and they often become visible only when they are broken (Schröder 2013). Of course, the concept of the forbidden, the idea that some objects, topics, people or words are better not discussed but left in visual and audible silence was not really new in 18 th century Europe but it thrived in 19 th century British society where everything to do with sexuality was taboo, e. g. homosexuals would be referred to as ‘confirmed bachelors’, divorced women were outcasts and children born out of wedlock scandalous. The word taboo quickly filled the existing vocabulary gap (Betz, 1981, Kraft 2004). Initially associated with “primitive people”, it was soon applied to “civilized people” as Listening to the Unsaid 193 well and by the end of the 19 th century was widely known (Schröder 2013 b: 7). Cook could have brought the word from other parts of Polynesia, from the Maori in New Zealand, or from the Sandwich Islands (Hawaii), where it is called kapu and where Cook lost his life in 1779 in a dispute with the locals. Or, he could have brought it from Fiji, where it is spelled tabu. 4 Power and Respect: An example from Fiji The concept of taboo is known everywhere in the Pacific and of great importance for social order. The archipelago of Fiji is 500 miles (805km) away from the Polynesian kingdom of Tonga. Fiji is usually seen as part of Melanesia, geographically and in terms of its population but it has strong Polynesian cultural influences. Melanesia means “the black islands” which means that compared to Polynesia (many islands) and Micronesia (small islands), it is categorized not purely by size and geographically but racially. Fiji has a different history as well as population structure compared to Tonga, but in terms of politics, the Eastern regions in particular have similar chiefly structure. In her article “The Myth of Cultural Homogeneity and Its Implications for Chiefly Power and Politics in Fiji”, Lawson (1990) examines how and in whose interest the chiefly system was kept in place and how superstition and Christian religion were combined. The fact that a large part of the population in Fiji is Indian has been used to argue in favour of the “traditional” structure in which the indigenous population was organised, though this structure had already changed under missionary influence. In particular Chiefly traditions in the Eastern regions have been promoted as protecting traditional culture. [. . .] much of the absolutist nature of chiefly rule persisting into modern times has been reinforced on the one hand by the early policy of indirect rule based on eastern structures requiring a strong chiefly system and, on the other, by lingering superstitious fears, which have been melded effectively with Christian beliefs (Lawson 1990: 808). In his ground-breaking anthropological work The Golden Bough (1894: 180), in the section about tabooed persons, Frazer writes about kana lama which is the Fijian name for a disease “supposed to be caused by eating out of a chief ’s dishes or wearing his clothes.” The offender would die from a swelling of their throat and body. Frazer concludes that a Fijian chief is therefore “a source of danger as well as of blessing” (p. 181). An Australian diplomat who attended a dinner in honour of the visiting Governor General at the Fijian Mission to the UN in New York in 1986 witnessed this juxtaposition first hand: The Governor General was a traditional Chief and sat at a separate table to eat. The seating arrangement honours the Chief and protects the attendees from possible danger (personal conversation with Cavan Hogue, 2015). Interviewee Eta was born and raised in Fiji, she belongs to the 57 % indigenous population. 37 % of people living in Fiji are Indians, the remainder is of European, Polynesian or Asian origin. For Eta, the main taboo area in indigenous Fiji has to do with hierarchy and power relations within Fiji’s chiefly societies: Most of the taboos are based on restrictions on what you say or how you behave towards those who are older than you and most particularly to the chiefs, because it is a chiefly society. So I find most of the things you should or shouldn’t do is based on that you should show your respect by behaving or not behaving towards those who are older than you or to the chiefs particularly. 194 Sabine Krajewski (Sydney) [. . .] there are a lot of taboos [about] what you cannot do or can do, and a lot of them are what not to do when the elders or chiefs are there. That shows how much you respect the chiefs and the elders. One of the things you are not supposed to do is to speak with the chiefs like we do right now, eye contact, particularly if you speak to the chiefs or the elder. If you are responding to what he says, you keep your eyes on the floor, (. . .) and you keep your distance. I cannot come really close if you are a chief, you keep your distance to show respect, so it’s actually showing deference. And that’s quite different from the meaning of respect in the modern sense. (Eta 2014) She draws a clear line between mutual respect between strangers or friends and family, and deference, which she describes as submissive behaviour. Communication between chiefs and ordinary people is always expressed as a power relation, and the positions of power are reached by birth, not merit, achievement or election. There are similar expressions of this type of power distance and deference in modern societies, there are rituals of respect in armies towards those in higher rank, people used to have to take their hats off when passing those wearing top hats, indicating their higher rank. Modern court rooms are semiotic treasure-chests of rituals expressing deference before the court, such as bowing in and out of the room, keeping a certain distance and addressing the judge in a certain way, all measurements that ensure submissive behaviour imposed on the defendants while the judge will be in an elevated position holding all the power. Like other Pacific nations, Fiji claims to be a democracy. Lawson (1996: 35) describes the minimal attributions of democracies as “a system in which no person can arrogate to him or herself unconditional or unlimited power”. Fiji has undergone many social changes, military coups and constitutional changes. It is part of a modern world with a tourist industry and a more mixed population, but it still carries the features of a traditional chiefly society. Holding on to the traditional power structures and their expression is, in Eta’s eyes [. . .] not good because our societies are more and more multiracial, and that kind of modern respect is very different; [. . .] They don’t know how to relate to others, to respect them and to respect them in the modern way. They cannot relate the respect in the traditional sense to those who are outsiders. So the only thing that’s left there is something that is quite negative, see what I mean? Two different sets of rules. What she describes here is a problem of globalization. The young generation in Fiji is using social media, travels and is less inclined to keep old traditions alive. People like Eta who live in Fiji as well as in Australia import and export values and knowledge, they are messengers who relate back what they discover. 4.1 Lesbianism must be a Western Thing Apart from focusing on old hierarchical patterns that create problems and culture clashes within and outside of the Islands, Eta identifies homosexuality as an important taboo in modern Fiji. Homosexuality has not been a taboo in traditional Polynesian societies such as the Sandwich Islands (Hawaii), and many pacific islands such as Samoa and Tahiti are known for accepting a third gender as normal and legitimate; traditional Fiji also was not really worried about homosexual relationships, which Eta confirms when she thinks back about how she grew up in the village. Homosexual relationships are not against the law in Fiji, but same sex marriage is, for religious reasons. Interestingly, the taboos that were introduced by Listening to the Unsaid 195 the Christian missionaries proved to be stronger than the ones they came to abolish. Eta explains: I suppose homosexuality is one of the last taboos. And funny enough, in Fiji it is sort of included, it is part of the constitution, but society has not accepted it yet. What is happening here is there is always a clash between the liberal and the religious belief. Fiji is very religious, so it is also a sin. That is the basis: no, it is a sin, you are not going to entertain that. It has been on TV too, no, we are not going to accept it. It’s a taboo that is going to be hanging around for a long time. [. . .] The village is tolerant but [that] does not mean that they accept it. They often would have snide remarks whereas in urban areas they would just campaign against [homosexuals]. In urban areas the religion is stronger, it’s not so tolerant. In the villages they are religious but it is more the old, traditional way. Fundamentalism has not got there and therefore [they are] more tolerant. The Church is Catholic or Methodist and Anglican, they all come with anti-homosexuality. It is kind of softening, but there is the fundamentalism that comes from America and the religious influence from America is very, very strong. If you do your homework and read articles you find the media is quite forceful, they are trying to inform. They are walking a fine line, they don’t want to push this tolerance because there might be action from the public, so they do it slowly. Having distinguished between traditional disregard and Christian prohibition in terms of homosexuality, Eta describes an encounter that made her question her own reaction, which is a classic reaction to something that is perceived as out of the norm and possibly should not happen at all. In the village she grew up in, a few of her relatives were “effeminate” and “came out as gay later in life”. Because of this experience, she saw it as natural and did not question it. But, when I went to Suva I didn’t know lesbians existed. I grew up thinking lesbianism must be a Western thing! If it is that, it has nothing to do with me. And I didn’t see the two to be the same, that they are both homosexual. I did not know about it, until I came [to Australia] to study. It was my first experience when I saw 2 lesbians. Actually, they were sitting there smooching. I came out of the door and I saw that, and turned around, and it was an embarrassment and I looked away. I walked up the stairs and I stood there and thought, my God, it’s the first time I have seen two women kissing each other. Why did I react like that, I had to ask myself, because I did know that in Fiji but not too much, why did I react like that? I’ve never seen any lesbian so that was a real challenge for me. Eta is an academic who studied in Fiji as well as in Australia, and she has university teaching experience in both countries. Her research focuses on how to avoid the constant clashes in Fijian society. This may explain her extraordinary reaction to the perceived taboo breaches she encountered in Australia: she did not question the two women kissing, but her embarrassed reaction to the scene. In turn, she went to the library and educated herself on the topic. She did the same with other issues such as mental illness and depression, for which there is no word in the Fijian language. Though she comes to the conclusion that traditional taboos are still alive in modern Fiji, and have been added to by the missionaries, the role of the spiritual power has become blurred. [Taboo] has a spiritual dimension to it, but I have to say that that spiritual connection in Fiji is more and more fading. That connection means it has to do with our ancestors and ancestry and the enforcement of the missionaries to my country is over 200 years ago now. The missionaries had to suppress this, so in the place of the spirit of our ancestors, there is the Holy Spirit. So that has replaced the spirit. Once, when I took some students to Fiji on a research project, one of the students asked me about my ancestral spirits and I couldn’t answer it because I am so far removed 196 Sabine Krajewski (Sydney) from all that. It made me think about who my ancestors are and who I worship. Obviously it was an important part of it, who are my ancestors. But in my generation, it is no longer present. Some twenty years after her article on Power and Politics in Fiji, Lawson (2013: 16) claims that Christianity and the “Pacific Way” have found common grounds and Christianity is no longer seen as a negative Western imprint on customs in the Pacific but has become indigenised. At the same time, chiefly power and political order persist: In Fiji, Tonga and Samoa, however, despite the essential Christian message of equality, there remain strong associations between divine power and chiefly power in the reinterpretation of an indigenised Christianity, which in turn have tended to support a socially and politically conservative order (Lawson 2013: 15). 5 Aboriginal Australia: The importance of earth and the dead body The colonialization of Australia has been marked by land-taking and the history of the Stolen Generations, where mixed race indigenous children were taken away from their families and sent to Christian homes or families so they would have a chance to be “integrated” into white Australia. The uprooting and displacement of Aboriginal Australians happened to a degree that often makes them feel like strangers in their own country today. The meaning Aboriginal people attach to land and earth is hard to understand for modern Australian society. Ethnologist W. E. H. Stanner (1968) wrote about the total silence regarding the colonial past of Australia in history books and called it The Great Australian Silence. In the Boyer Lectures (aired on ABC Radio National) of 1968 titled “After the Dreaming”, he describes the symbolic and enigmatic meaning of land like this: No English words are good enough to give a sense of the links between an Aboriginal group and its homeland. Our word “home”, warm and suggestive though it be, does not match the Aboriginal word that may mean “camp”, “heart”, “country”, “everlasting home”, “totem place”, “life source”, “spirit centre”, and much else all in one. Our word “land” is too spare and meagre. We can now scarcely use it except with economic overtones unless we happen to be poets. The Aboriginal would speak of “earth” and use the word in a richly symbolic way to mean his “shoulder” or his “side”. I have seen an Aboriginal embrace the earth he walked on. To put our words “home” and “land” together into “homeland” is a little better but not much. A different tradition leaves us tongueless and earless towards this other world of meaning and significance. When we took what we call “land” we took what to them meant home, the source and locus of life, and everlastingness of spirit (Stanner 1991 [1968]: 44). Only in 2008 the then Prime Minister of Australia, Kevin Rudd, broke this silence and symbolically acknowledged the rights of Aboriginal People by officially apologizing for the wrongdoings of the colonizers. My interviewee identifies as a Yaegl man, though his father is Dutch, his mother Aboriginal. Clarence has fair skin and is constantly negotiating between modern, multicultural Australia and his aboriginal roots and the traditions of the first peoples of Australia. When he travels to the Northern Territories, he feels “like a fake Aboriginal” (Clarence 2014), they call him Gabbariginal, because Gabba means white. His tribe is the Yaegl and his nation is Bundjalung country in the north of New South Wales. There are about 700 nations and each has different tribes. For some time, Clarence explains, he has been having problems and pain Listening to the Unsaid 197 in the left side of his body, especially in his leg. His Australian GP could not find anything physically wrong with him, but prescribed physiotherapy, which has not helped so far. We have men’s places and women’s places. In aboriginal culture women had their own burial grounds and men could not walk on those. There are also sacred places for men where they do their business and women are not allowed. There are places where you could not walk around and if you were there were still adverse effects that could happen to you. My mum told me that I have walked upon certain ground that I shouldn’t have and thereby I have a certain injury in one leg and she said I need to see a witch doctor. Who will take that away from me? However, witch doctors today are a bit harder to find and also, would I believe in that? I guess I am more and more inclined to do it though, because I am having problems. [. . .] the doctors have their beliefs. My mum believes that what I trod on was a sacred place, so I shouldn’t be walking there. I guess things are highly influenced by modern society, so at times I get a little bit confused but I do respect not going to women’s places. If I was given the opportunity I would probably go and see a witch doctor. We have spoken where I could find a witch doctor, it is just a bit of searching. They used to travel around as they still would today but it is crazy. Taboo has become more complex and because of intercultural communication, it does not seem to be viable in the form in which taboo used to structure and protect indigenous Australia. Influence and change is also induced by the media, old rituals are inevitably questioned with more interaction and information from outside. Facebook, for example, is seen as a positive tool for young Aboriginal people because they like to keep in touch. They use new media just like other young people, but at the same time their elders wish for taboos to remain unchanged and intact. A change in the old structures and taboos are a threat to identity, but some de-tabooization is seen as good and just a part of modern life. Hartmut Kraft (2004: 118) views taboo breeches as attacks on the identity of a community, but also as a prerequisite for development. As in the Tongan example, traditional taboos are handed down from one generation to the next, and some of the customs may be difficult to follow: My mother is the big influence there, she is aboriginal my father is Dutch, so a lot of the taboos are from my mother and some from my brothers, my cousins, my uncles, my grandfather. I have been taught some from my aunties and uncles etc, mostly they are spoken and taught. I have been overwhelmed by the spiritual [. . .] that I must talk to the elders of the past and speak to them because I have done something wrong and ask for forgiveness. As in the pacific islands, a taboo breach in aboriginal Australia will be subject to punishment within the tribe and there may be additional punishment by a supernatural power. The degree of the perpetrator’s guilt may also be determined by the punishment: An aboriginal Australian accused of stealing, would be positioned a few meters across from other men of the tribe who throw spears at him. If he is hit, that is his punishment, if he gets away unscathed, it may mean that he was not that guilty and that the spirits have forgiven him. (from a conversation with Clarence Bruinsma, 2014) The key taboo areas Clarence is talking about have to do with land and death. In paying respect to the people who first owned the land, official speeches, meetings and conferences in modern Australia are preceded with either a welcome to country by an aboriginal elder, or by an acknowledgement of the land and the original owners past and present. This is based on old traditions of nomadic tribes: The welcome to country has to be done by an elder and you acknowledge the land. When aboriginals walk across land, they light fire at the borders which is saying that they wish to come 198 Sabine Krajewski (Sydney) in. Then people would come over and say OK, come in! Rather than just walking in, it is like walking in to someone’s home without knocking first, you make sure that you are invited to be there. They guide you through and make sure you don’t walk across sacred areas. If you touched a taboo, you may not know that you have done that at the time, but there will be illnesses or injuries from doing that. You’d have to seek the help of elders and witchdoctors who would then run ceremonies, similar to a priest and masses or exorcism, they would take the spirit out of you that punishes what you have done. Still works and is going on today (Clarence: 2014). When I walk upon land I ask for permission [. . .], there are people who have died on that land and that is why it is protected. It is an overwhelming sensation and I guess in our modern society we don’t listen to what our bodies say, or what the land is saying to you, so I just stop and think and move myself away. What I will do is go and talk to someone who knows the area and ask what is special about this place. So if you are not from that country you acknowledge the earth you walk on, if you find someone who knows the land to welcome you into the country. Then you are given the right to enter the place and they will ask their elders to look after me while I was there, travelling. Taboo is often connected to irrational assumptions about death and dead people. In their article “Tapu and the invention of the ”death taboo“: An analysis of the transformation of a Polynesian cultural concept”, New Zealand researchers Gilmore, Schafer, and Halcrow (2010) compare the tapu of death with the taboo around death in the modern world. They come to the conclusion, that death in Polynesia was not repressed and tabooised, but that the rituals were more about worship and respect of the deceased. The tapu of death and the dead extended to places that are connected to death. Cemeteries are still tabooised in Polynesia today and they are forbidden places, if the graves are those of important people. Eta from Fiji remembers how respect was shown to the chiefs and their spirits after death: I remember when I was a little girl, each time as kids when we went past a graveyard, because there is a graveyard for commons and there is a graveyard for chiefs. It’s taboo to go past the graveyard, we were not allowed to talk and we have to tiptoe and also you are not even allowed to point at the graveyard. That’s showing your respect to the chiefs or to the spirits of the chiefs but that’s all I can remember about the spiritual essence of respect. The reason for this is the connection of the dead ancestors with the spiritual environment of the atua (gods and spirits in Polynesia, equivalent for Mana). Tapu recognises the extent and importance of death and the recognition of the tapu paves the way to a new understanding about how to deal with death. A deeper understanding and mutual respect for the different world visions of indigenous and western researchers will make it possible to explain the death taboo in different societies (Gilmore et al 2013: 331). Captain Cook observed in A Voyage to the Pacific Ocean (vol 3: 333): Women, it has been observed, are always tabooed, or forbidden to eat certain articles of food. We have seen many of them, at their meals, have their meat put into their mouths by others; and, on our requesting to know the reason of it, we were informed, that they were tabooed, and not permitted to feed themselves. This prohibition was always the consequence of assisting at any funeral, touching a dead body and many other occasions. Clarence points out that he is not sure if he could even do it, touch a dead body. He explains that in aboriginal Australia, traditionally the males look after the males and the females after the females in death. Listening to the Unsaid 199 My uncles would be the ones who would put me in the ground and who would handle my body. They would do the ceremonies in looking after my body and it would then be the responsibility of the females to mourn. There is no set time for mourning periods. If it is a female dies, the aunties would look after the body and they would put her in the ground and do the ceremonies. You do not just touch a body. If you must, there are ceremonies to do. You did not use to have burial grounds, but today, what if someone wants to develop on the land where someone is buried? So if there is a body there, a ceremony will be held to move the body to another place. To make sure that the people who are touching the body would not be affected negatively spiritually later on. Touching of a body, especially by a witch doctor is a very bad thing and could lead to sickness and death. Some people were buried in special sites, but some may be buried near where they actually lived so that way they would be kept close to the family and you were still looked after after you passed away so they might be right next to where people were camping. There are ceremonies and rituals for the people depending on seniority and who they were in the family. People who have visited Australia or know something about aboriginal culture may have heard that they observe a picture taboo of their dead. This means, that the name of a deceased person is taboo and a picture of the person should not be shown. TV programs usually run a statement of caution, that there are images of people who are now deceased, to observe this taboo. This general warning is, however, a bit too ambitious, because not all tribes observe the taboo and, those who do, the name and image is not taboo forever but only for a certain amount of time. The extent of time depends on the age and importance of the deceased (Stewart 2013). In the face of Facebook and other social media, these rules cannot really be upheld any more and even those who would like to practise the picture and name taboo surrender to the new media (Steward 2013). Clarence knows about the original custom, he heard of it when he was very young: Once someone has passed away, traditionally you wouldn’t speak about that person and you wouldn’t use the name and that is showing the respect that they have passed and you are not bringing them back to this world because they part from this world and go to the next world, pass on. Now society has changed, people talk about death now and talk about those people, there has been that change from the western world influence on Australian aboriginal people. The community will decide when you can start talking about that person or about the event. I have been to the northern territory last year, and it is still very strong. In Polynesia, the burial places of higher members of society are taboo, but talking about funerals or what is to happen after death are not. In Fiji, the mourning relatives often decide not to smoke for a year or not to fish in a certain area, out of respect for the deceased. These self-imposed taboos can have positive effects for the community. Today, the Pacific is being exploited by many countries using modern fishing techniques, so some species are endangered. The Locally Managed Marine Area Network is now trying to use the deeply embedded understanding of taboo to conserve the fishing grounds. Chiefs and commoners are supposed to agree on imposing a taboo on fishing in a certain area, rather than waiting for a Chief to die and then imposing the taboo as an expression of respect and mourning. (Our Pacific Ways 2012). It is questionable if this works and if it has any effect in light of who is really responsible for the exploitation of the Pacific fishing grounds. 200 Sabine Krajewski (Sydney) 6 Conclusions The taboo-landscape in Polynesia has changed: some of the original meaning of tapu has been lost, the spiritual dimension is all but forgotten. In this article, in particular in the part about taboos in Fiji, I have shown that it is possible to replace one set of taboos with another. Some taboos are stronger than others and resist elimination, but the influences of colonialization and missionaries and also globalization in general are undeniably strong. However, in light of the Chiefly system in the Pacific islands, paired with the concept of mana, taboo will remain very different from the Western version. As the examples show, the importance of the spiritual seems to be fading and sacredness may be losing a dimension. The system becomes impaired for those who are exposed to other cultural customs for too long. In all three spaces examined, it seems to become more and more difficult to hand traditions and beliefs to new generations, which is partly due to globalisation processes and the use of social media. This does not mean that there are fewer taboos, or that they have completely different functions. Taboos can still be protective, they can protect identities, individuals and whole societies from different types of danger. They also protect power structures and are at times more powerful than written laws and rational thought alone. The “modern version” of taboo, without the notion of mana in the Pacific or the spiritual powers of aboriginal Australia, still protects the individual or groups within a society, such as families or communities, from hurtful experiences or the development of shame and isolation. At the same time, there are also modern taboos that serve the power needs of certain groups but not society. The question is how to distinguish the one from the other and how to assess the influence globalisation and new media have on taboos as this is a vital part of intercultural communication and crosscultural understanding. 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Discourses are sign practices that encompass patterns on three levels - textual, mental, and social patterns - corresponding to the three areas of culture, as well as causal and semiotic connections between these levels. A fourth level is included to delimitate discourses from each other, using constraints on topic, time, and place. The semiotic model of discourse allows us to reconstruct taboos and exclusions as semiotic phenomena that can occur in, or have consequences in, all three areas of culture. Importantly, discursive taboos can now be understood in their connection to mental schemata of delimitation and categorization, and to social processes such as inclusion or exclusion of individuals and groups. 1 Kulturen als Bereiche geteilter Zeichensysteme 1.1 Kultur als Semiosphäre(n) Juri Lotman, der berühmte Semiotiker aus Tartu, hat die Kultur als Semiosphäre beschrieben, als Welt der Zeichen. Auf Deutsch ist sein im russischen Original “Внутри мыслящих миров” (ungefähr “Innerhalb der denkenden Welten”) betiteltes Buch unter dem etwas unglücklichen Titel “Die Innenwelt des Denkens” (Lotman 2010) erschienen, was nach einer kognitiven oder psychologischen Kulturtheorie klingt. Tatsächlich ist Lotman jedoch bei der Begriffsbildung für seine “semiotische Theorie der Kultur” - so der Untertitel - zunächst vom Konzept der Biosphäre ausgegangen, womit jener Teil der Erde bezeichnet wird, in dem Leben vorkommt, und hat sich insbesondere an Vernadskys Konzept der Noosphäre orientiert, welches Geist und Denken als einen Teil der Biosphäre auffasst (vgl. Vernadsky 1998). Lotman stellt allerdings nicht wie Vernadsky das denkende Individuum, sondern vielmehr den Zeichengebrauch, der Individuen miteinander verbindet und zu gesellschaftlichen Wesen macht, in den Mittelpunkt seiner kultursemiotischen Überlegungen. Lotman erklärt zunächst den Bezug von Biosphäre und Noosphäre wie folgt: Such a continuum we, by analogy with the concept of “biosphere” introduced by V. I. Vernadsky, will call the “semiosphere”. We must, however, warn against any confusion between the term “noosphere” used by V. I. Vernadsky and the concept of “semiosphere” here introduced. The noosphere is a specific stage in the development of the biosphere, a stage connected with human rational activity. Vernadsky’s biosphere is a cosmic mechanism, which occupies a specific structural place in planetary unity. Situated on the surface of our planet and including within itself the totality of living things, the biosphere transforms the radiated energy of the sun into the chemical and physical, and is concerned with the transformation of the inert inanimate materials of our planet; the noosphere occurs when human rational activity acquires a dominant role in this process. (Lotman 2005: 206 f.) Lotman grenzt somit seine Vorstellung einer Semiosphäre explizit von Vernadskys Noosphäre ab. Dafür gibt es gute Gründe: Das Konzept der Noosphäre ermöglicht für sich genommen noch keine überzeugende Lösung für den Materie-Geist-Dualismus, jenes Problem der europäischen Philosophie der Neuzeit, die keine Verbindung zwischen der naturwissenschaftlich beschreibbaren Welt physikalischer Prozesse und dem Bereich des menschlichen Denkens, Verstehens und Kommunizierens herstellen konnte. Vernadsky beschreibt zwar die geistige Welt als emergenten Bestandteil der materiellen Welt, aber wie die gegenseitige Interaktion von Geist und Materie möglich ist, bleibt unklar. Auf der Grundlage eines semiotischen Verständnisses des menschlichen Denkens wird es dagegen erstmals möglich, Zusammenhänge zwischen Zuständen und Eigenschaften der materiellen Welt und mentalen Zuständen und Ereignissen genau zu erfassen. Die Rolle der Semiotik bei der Auflösung dieses jahrhundertealten philosophischen Problems ist bisher nicht ausreichend gewürdigt worden: Die Semiotik war es, die die Relation von Materie und Geist, von materieller Grundlage und immateriellem Gehalt unserer Kultur nach Jahrhunderten der Verwirrung fassbar und erklärbar machte. Nur durch differenzierte, analytisch genaue und empirisch überprüfbare Zeichentheorien können irreführende Dichotomien wie “Körper vs. Geist” oder “Materie vs. Ideen”, die das europäische Denken über Jahrhunderte bestimmten, überwunden werden. (Siefkes 2015: 34 f.) Lotmans Überlegungen zur Semiosphäre lassen erkennen, dass ihm die bloße Abgrenzung eines Bereichs des Denkens, wie ihn Vernadskys “Noosphäre” darstellt, nicht ausreicht. Er will vielmehr zeigen, wie dieser Bereich systematisch sowohl mit der physikalischen Welt als auch mit den Menschen, die als Lebewesen Teil dieser Welt sind, in Verbindung steht. In seinem Konzept der “Semiosphäre” ist diese Verbindung enthalten, da er die Semiosphäre als Bereich miteinander interagierender Kodes bzw. Zeichensysteme beschreibt. 1 Diese ermöglichen Objektbezug und Referenz mit Hilfe von Zeichen und setzen somit die Konzepte und Ideen, die unser Denken bestimmen, in Verbindung zur uns umgebenden Welt. Zugleich 1 Die Termini “Kode” und “Zeichensystem” werden in diesem Beitrag nicht weiter differenziert. Ich neige im Rahmen einer allgemeinen Kulturtheorie dazu, den Terminus “Zeichensystem” zu präferieren, da “Kode” teilweise recht eng definiert wurde (vgl. etwa Eco 1976: 36-37; Watt/ Watt 1997; vgl. zu den Schwierigkeiten des Begriffs auch Eco 1984: 164-165), was die Einbeziehung von nicht-symbolischen Zeichensystemen wie Bildern und Filmen schwierig macht. Allerdings ist die Verwendung von “Kode” in der Kultursemiotik durch wichtige Grundlagentexte (neben den genannten Werken von Eco etwa auch Posner 2003) etabliert, wo teils auch bereits eine weiter gefasste Verwendungsweise vorgeschlagen wird oder impliziert ist. 204 Martin Siefkes (Chemnitz) sind die Menschen als Zeichenbenutzer in beiden Welten verortet: Sie sind als Lebewesen Teil der Biosphäre und damit der materiellen Welt; zugleich gehören sie als Zeichenbenutzer zur Semiosphäre, die wiederum in Gemeinschaften von Menschen untergliedert werden kann, die Zeichensysteme teilen und diese zur Kommunikation verwenden. Als solche Gemeinschaften geteilter Zeichensysteme expliziert Lotman die menschlichen Kulturen. 1.2 Kulturelle Grenzen Für unsere Fragestellung ist wichtig, dass Lotman die Semiosphäre nicht bloß als Metapher versteht, etwa für den “Bereich des Zeichenhaften” innerhalb einer Ontologie. Vielmehr möchte er die Semiosphäre als abstrakten, aber nicht metaphorischen Raum verstanden wissen: If the noosphere represents the three-dimensional material space that covers a part of our planet, then the space of the semiosphere carries an abstract character. This, however, is by no means to suggest that the concept of space is used, here, in a metaphorical sense. We have in mind a specific sphere, possessing signs, which are assigned to the enclosed space. Only within such a space is it possible for communicative processes and the creation of new information to be realised. (Lotman 2005: 207) Das Zitat macht deutlich, dass Lotman unter Semiosphäre einen begrenzten abstrakten Raum versteht, der mit Zeichen gekennzeichnet wird. Es bleibt unklar, was man sich unter der räumlichen Dimension hier vorzustellen hat, und wie dieser Raum abgegrenzt ist. An anderer Stelle wird jedoch deutlich, dass Lotman sowohl den gesamten Raum alles Zeichenhaften als auch einen spezifischen Kulturraum, der sich über geteilte Zeichensysteme und mit ihrer Hilfe produzierte Texte definiert, als Semiosphären ansieht (vgl. etwa Lotman 2005: 205 [Abstract]). Dabei ist wichtig, dass Lotman (2010: 164) anders als die strukturalistische Schule und auch als Umberto Eco (1976: 48-50; vgl. auch Proni 1998: 2314-2316) betont, dass Zeichensysteme (Kodes) nur in der “grammatischen Selbstbeschreibung” klar voneinander getrennt erscheinen, tatsächlich aber ineinander übergehen. Roland Posner hat die von Lotman vorgeschlagene Gliederung und Abgrenzung von Kulturen aufgegriffen und präzisiert (2003: 36). Posner zufolge kann zudem unterschieden werden zwischen dem Außerkulturellen, das den Mitgliedern einer Gesellschaft völlig unbekannt ist, und dem Nichtkulturellen, das ihnen bekannt ist, aber als gegensätzlich zur eigenen Kultur empfunden wird. Eine Kultur im Sinne Lotmans definiert sich nach außen hin über die Abgrenzung zum Nichtkulturellen, das als Gegenteil dessen aufgefasst wird, was die Kultur sich selbst zuschreibt: “Der Raum innerhalb dieser Grenze wird als ‘unser eigener’, als ‘vertraut’, ‘kultiviert’, ‘sicher’, ‘harmonisch organisiert’ usw. erklärt. Ihm steht der Raum ‘der anderen’ gegenüber, der als ‘fremd’, ‘feindlich’, ‘gefährlich’ und ‘chaotisch’ gilt” (Lotman 2010: 174). Die von Lotman zum Beleg dieser These angeführten Beispiele (ebd. 174-176) zeigen jedoch, dass er mit der Verallgemeinerung dieser Auffassung auf alle Kulturen vermutlich voreilig war: Er zitiert verschiedene christliche Chronisten, die jeweils einen heidnischen Stamm in simpler und abwertender Weise charakterisieren und in Gegensatz zur eigenen Religion und Lebensweise bringen. Aus diesen sehr spezifischen Beispielen lässt sich sicherlich nicht schließen, dass jede Kultur sich im Gegensatz zum außerhalb der Kultur Liegenden definieren würde. Lotman gibt auch keine Argumentation dafür an, dass es sich Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 205 um einen universellen Mechanismus und somit um eine Eigenschaft aller menschlichen Kulturen handelt. Historisch beobachtbare Kulturen zeigen in sehr unterschiedlichem Maß die Tendenz, sich von anderen Kulturen abzugrenzen. Wichtig ist zudem, dass eine explizite Ablehnung, wie sie etwa im christlichen Europa während des Mittelalters gegenüber dem islamischen “Orient” üblich war, oft von bestimmten sozialen Gruppen, Diskursen und Kontexten ausging, etwa der Selbstreflexion politischer und religiöser Kräfte, die keineswegs mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmen muss. In den meisten Fällen schlossen solche ablehnenden Positionen die Übernahme bestimmter Artefakte, Texte und Zeichensysteme aus anderen Kulturen keineswegs aus. Heute haben sich zudem die Funktionsweise von Kulturen und die Rolle von Abgrenzungen durch die zunehmende Globalisierung grundlegend verändert; es kann von einer allmählichen weltweiten Hybridisierung der Kulturen ausgegangen werden. Während etwa um 1600 die Kulturräume Chinas, Japans, Europas und des subsaharischen Afrikas trotz punktueller Kulturkontakte in Bezug auf die ihnen angehörigen Menschen, Zeichensysteme sowie Artefakte und Texte klar unterscheidbar waren, kann dies heute nicht mehr generell angenommen werden. Andererseits gliedern sich klassisch durch Raum- und Zeitgrenzen definierte Kulturen intern immer weiter auf. Es entstehen Subkulturen, die sich als raumzeitlich kongruente Differenzierungen im Bereich der Lebensweisen, der Kleidung, Musik, Wohneinrichtungen und auch eines Teilvokabulars der Sprache (vom Slang einer Jugendkultur bis zum Soziolekt) beschreiben lassen. 2. Von der Kultur zum Diskurs Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Kulturen ausgehend von Lotman als Semiosphären (Räume geteilter Zeichensysteme) rekonstruiert werden können. Kenntnis und Gebrauch von Zeichensystemen bestimmen dabei zu einem gewissen Grad über In- oder Exklusion von Individuen und Gruppen in einer Kultur, wobei heute nicht mehr von homogenen Kulturräumen mit deckungsgleich verbreiteten Zeichensystemen (Sprache, Gebräuche, Architektur, Techniken, Kleidung, Küche usw.) ausgegangen werden kann. Vielversprechender ist die kultursemiotische Untersuchung einzelner Zeichensysteme in Bezug auf ihre Verbreitung und auf ihre Verwendungsweisen einschließlich von Tabus und Verboten, die bezüglich Kontext, Ausdruck und Inhalt des Zeichengebrauchs feststellbar sind. Um das bisher allgemein Formulierte genauer untersuchen zu können, wird in diesem Abschnitt zunächst das semiotische Kulturmodell von Roland Posner sowie das darauf aufbauende 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse (vgl. Siefkes 2013) vorgestellt. In Abschnitt 3 wird dann beispielhaft verdeutlicht, wie auf dieser Grundlage eine semiotische Explikation von Grenzziehungen und Tabus in Kulturen erfolgen kann. 2.1 Materiale Kultur, Mentalität und Gesellschaft Roland Posner unterscheidet in seinem Aufsatz “Was ist Kultur? ” drei Bereiche von Kulturen (Posner 1992: 33, vgl. auch Posner 2003: 47 f; 2004: 65), die hier leicht verändert übernommen werden: 206 Martin Siefkes (Chemnitz) (1) Die materiale Kultur (Zivilisation) besteht aus den Artefakten einer Kultur, physikalisch messbaren Ergebnissen menschlichen Handelns. Semiotische Gegenstände in diesem Bereich sind die Texte. (2) Die mentale Kultur (Mentalität) besteht aus den Mentefakten einer Kultur, geteilten geistigen Erzeugnissen des menschlichen Denkens und Handelns. Semiotische Gegenstände in diesem Bereich sind die Kodes (= Zeichensysteme) sowie das in einer Gesellschaft geteilte Wissen. (3) Die soziale Kultur (Gesellschaft) besteht aus den Menschen einer Kultur, den von ihnen gebildeten Institutionen sowie den Verhältnissen und Beziehungen, in denen Individuen und Institutionen zueinander stehen. Semiotische Gegenstände in diesem Kulturbereich sind die Zeichenbenutzer (Individuen und Institutionen). Bei diesen Definitionen wird ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt, der unter anderem die Gesellschaft mit einschließt. Allerdings wird “Kultur” in der Anthropologie häufig auch in einem engeren Sinn gebraucht, der nur den Bereich (2) umfasst (Posner 1992: 31 f.). Wenn einem der weite Kulturbegriff nicht behagt, kann man daher auch den Bereich (1) als “Zivilisation” (Posner 1992: 13), den Bereich (2) als “Kultur [im engeren Sinn]” oder als “Mentalität” und den Bereich (3) als “Gesellschaft” bezeichnen. 2.2 Diskurse als Muster zwischen den Kulturbereichen Um die Rolle von Tabus genauer untersuchen zu können, ist es zudem nötig, die Interaktion von sozialen Strukturen, Mentalitäten und Texten in ihren verschiedenen Aspekten erfassen und analysieren zu können. Andernorts wurde verdeutlicht, dass dies mit Hilfe einer semiotischen Modellierung möglich wird (siehe Siefkes 2013): Der von Foucault eingeführte Begriff des Diskurses beruht auf der Annahme, dass der Gebrauch von Sprache (und aus semiotischer Perspektive auch von anderen Zeichensystemen) mit den Denkweisen einer Kultur sowie den Strukturen der jeweiligen Gesellschaft in Zusammenhang steht. Diese Annahme ist tatsächlich der entscheidende Vorteil des Diskursbegriffs gegenüber rein auf Sprachbzw. Zeichenverwendung abzielenden pragmatischen Sprach- und Textbegriffen, bei denen die Zusammenhänge zu anderen Aspekten von Kulturen unberücksichtigt bleiben. Allerdings erscheint der Diskursbegriff im ursprünglichen Sinn von Foucault zunächst als wenig geeignet, um in semiotische Kulturtheorien einbezogen zu werden. Er lässt sich jedoch mit semiotischen Mitteln in einem semiotischen Kulturmodell explizieren. Dafür greifen wir auf die Hypothese zurück, dass Diskurse den Zusammenhang zwischen Texten, Mentalität und Gesellschaft herstellen (vgl. Siefkes 2013: 361 [These 5]). Die Darstellung in Abb. 1 stellt eine erste Annäherung an diese Hypothese dar, indem sie Diskurse als übergreifenden Bereich visualisiert, der sich aus Teilen der drei Kulturbereiche zusammensetzt. Abb. 1: Diskurse als Vereinigungsmenge aus Teilmengen der drei Kulturbereiche. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 207 Diese Darstellung ist jedoch insofern unzureichend, als sie nicht verdeutlicht, wie die (disjunkten) Kulturbereiche im Diskurs zusammenhängen. Es wird nicht erkennbar, wie das Verhältnis der jeweils beteiligten Aspekte aufzufassen ist. Die drei von Roland Posner postulierten Kulturbereiche sind disjunkt (dies ergibt sich aus ihren Definitionen, die keine Überschneidungen zulassen; vgl. auch Posner 1992: 12, 31). Die Vorstellung, Diskurse setzten sich aus drei disjunkten Teilmengen zusammen, ist wenig überzeugend, solange die Zusammenhänge zwischen den Kulturbereichen nicht geklärt werden. Als Lösung dieses Problems bietet es sich an, eine zusätzliche Abstraktionsebene in die Betrachtung einzubeziehen, um die Beziehungen der drei Kulturbereiche innerhalb eines Diskurses genauer explizieren zu können. Diskurse sollen dabei mit Hilfe von Mustern beschrieben werden, die in den verschiedenen Kulturbereichen feststellbar sind und die in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Der Begriff Muster bietet sich an, weil Muster als Abstraktionen von Strukturen aufgefasst werden können, die bei konkreten Gegenständen oder Sachverhalten feststellbar sind. Für ein Muster gilt es als wesentlich, dass es sich in konkreten Instanzen an die Eigenschaften des Gegenstands oder Sachverhalts, worin es sich manifestiert, anpasst (vgl. Alexander u. a. 1977). Wir verstehen somit unter einem “Muster” nicht einen spezifischen Sachverhalt, sondern eine Struktur, die von den konkreten Bedingungen abstrahiert ist und daher auch unter anderen Bedingungen und bei anderen Gegenständen und Sachverhalten wiederkehren kann. Wir gehen davon aus, dass es solche Muster in allen Bereichen der Kultur gibt, und die Abstraktionsebene der Muster dazu geeignet ist, eine Verbindung zwischen den drei verschiedenen Kulturbereichen herzustellen. Für die hier vorgestellte Diskurstheorie werden vier verschiedene Typen von Mustern angenommen: Muster im Bereich der Texte (also einem Unterbereich der materialen Kultur), der mentalen Kultur und der sozialen Kultur werden als Textmuster, Mentale Muster und Soziale Muster bezeichnet. Ein Textmuster könnte etwa in der Betonung oder Meidung eines bestimmten Themas bestehen, ein mentales Muster in der Wahrnehmung und Einordnung von Ereignissen als mehr oder weniger wichtig, und ein soziales Muster in der Adressierung eines Mediums (etwa einer Zeitung) an bestimmte soziale Gruppen. Es ist offensichtlich, dass solche Muster manchmal miteinander zusammenhängen: Wird etwa einem bestimmten Thema in einem Medium besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet, so kann dies daran liegen, dass sich das Medium an bestimmte soziale Gruppen richtet, die aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer alltäglichen Lebenswelt dazu tendieren, bestimmte Themen für wichtig und andere für unwichtig zu halten. Solche Zusammenhänge sind wiederum mit einem gewissen Abstraktionsgrad beschreibbar, da sie für verschiedene Themen, Medien und soziale Gruppen auftreten, und können daher als Muster aufgefasst werden. Es wird daher eine weitere Kategorie von Mustern eingeführt, nämlich Diskursmuster, die in einem bestimmten Zusammenhang zwischen Mustern mehrerer Kulturbereiche bestehen. Diskursmuster: Ein Diskursmuster beschreibt Kausal- und Zeichenprozesse, die die Verbindung zwischen Textmustern (und damit dem Bereich der materialen Kultur oder Zivilisation), mentalen Mustern (und damit der mentalen Kultur oder Mentalität) und/ oder sozialen Mustern (und damit der sozialen Kultur oder Gesellschaft) herstellen. Diskursmuster können somit als “Muster zweiter Ordnung” betrachtet werden, die Muster in den drei Kulturbereichen in Zusammenhang bringen. 208 Martin Siefkes (Chemnitz) Abb. 2 gibt einen Überblick über die drei Kulturbereiche (die für sie zuständigen Wissenschaften werden jeweils in Kapitälchen angegeben) und ihre Zusammenhänge, die in Diskursmustern beschrieben werden können. Abb. 2: Diskursmuster bestehen aus Mustern in den drei Kulturbereichen, die durch Kausal- und Anzeichenprozesse verbunden sind. Die Pfeile bezeichnen die Zusammenhänge zwischen den Bereichen. Prinzipiell lassen sich Muster in allen drei Bereichen als Anzeichen für Muster in anderen Bereichen interpretieren. In der Diskursanalyse erfolgt die Interpretation jedoch ausgehend von Texten, daher sind nur die entsprechenden beiden Pfeile eingezeichnet. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 209 2.3 Das 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse Im Folgenden wird ein Mehrebenen-Modell des Diskurses, das den Fokus auf die Kausalverhältnisse und Zeichenprozesse zwischen den verschiedenen Ebenen legt, vorgestellt (vgl. ausführlicher Siefkes 2013). In der Literatur gibt es bereits eine Reihe von Ansätzen, Diskurse auf mehreren Ebenen zu beschreiben; genannt seien DIMEAN (Diskurslinguistische Mehr- Ebenen-Analyse; vgl. Warnke/ Spitzmüller 2008 a: 23-45) sowie die Konzeption von Constanze Spieß (2008). Offensichtlich teilen viele gegenwärtige Diskurstheoretiker die Intuition, dass Diskurse nicht auf einer Ebene allein beschreibbar sind, ohne sie unzulässig zu reduzieren und damit den analytischen Mehrwert gegenüber bereits etablierten Begriffen und Untersuchungsmethoden zu verlieren. Wer sich heute auf den schwierigen Begriff ‘Diskurs’ mit seinen noch immer vorhandenen theoretischen Unsicherheiten einlässt - so könnte man vermuten -, tut dies häufig gerade mit der Absicht, damit Brücken zwischen verschiedenen Bereichen und den für sie zuständigen Disziplinen zu schlagen. Nun ist es keineswegs etwas Neues, dass Zeichenpraktiken mit materialen, mentalen und sozialen Bedingungen zusammenhängen; entsprechende Überlegungen können vielmehr (zunächst ausschließlich bezogen auf die Sprache) bis in die Anfänge der kulturbezogenen Reflexion etwa bei Herder oder Hegel zurückverfolgt werden. Das spezifische Versprechen der Diskurstheorie liegt jedoch darin, eine systematische Beschreibung solcher Bezüge zu ermöglichen. Denn so oft auch betont wurde, dass unser Sprechen durch die uns umgebende Zivilisation, Mentalität und Gesellschaft bestimmt ist, so selten traute man sich, konkrete Prinzipien dafür anzugeben, welche Bedingungen zu welchen Äußerungen führen. Indem Diskursanalysen zeigen wollen, dass bestimmte Zeichenpraktiken auf bestimmte Gegebenheiten verweisen, stellen sie zugleich den Anspruch auf, dass Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen bestehen und systematisch beschrieben werden können. Bereits in ihrer Fragestellung ist die Diskursanalyse daher grundlegend interdisziplinär. Die Diskursanalyse erweitert damit auch die traditionelle Frage der Pragmatik nach der Kontextabhängigkeit von Äußerungsbedeutungen zu der weit umfassenderen Überlegung, welchen Beitrag materiale, mentale und soziale Rahmenbedingungen zu tatsächlichen Zeichenpraktiken geleistet haben. Dabei ist sie jedoch realistisch und strebt nur partielle Erklärungen an, schließlich besteht kein deterministischer Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Denkweisen und Zeichengebrauch. So wird jeder konkrete Diskurs durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst, die in unterschiedlicher Weise zusammenwirken können; daher sind keine deterministischen Kausalrelationen (“die Bedingungen x führen zu Texten mit den Eigenschaften y” oder “Texte mit den Eigenschaften y werden durch die Bedingungen x erzeugt”) zu erwarten. Überdies besteht individueller Spielraum im Zeichengebrauch: Persönlichkeit, Erfahrungen und Willen der Zeichenbenutzer können unter denselben Bedingungen zu unterschiedlichen Zeichenhandlungen führen. Daher sind alle in einem Diskurs festgestellten Bezüge zwischen den Ebenen, ebenso wie allgemeine Aussagen über das Verhältnis der Ebenen zueinander, immer mit der Unsicherheit behaftet, dass möglicherweise nicht alle relevanten Faktoren einbezogen wurden. Im Folgenden werden die vier Ebenen des Modells genauer dargestellt und dabei zugleich die in einer Diskursanalyse stattfindenden Prozesse erläutert. 210 Martin Siefkes (Chemnitz) 2.3.1 Ebene 1: Themen, räumliche und zeitliche Eingrenzungen Diese Ebene dient im Modell dazu, einen Diskurs durch Angabe von thematischen, zeitlichen und räumlichen Bedingungen abzugrenzen. Alle innerhalb der Zeit- und Ortsgrenzen vollzogenen Zeichenhandlungen mit Bezug zu dem entsprechenden Thema bilden die Menge der diskurskonstituierenden Zeichenhandlungen; alle dabei erzeugten Texte bilden die Menge der diskurskonstituierenden Texte. Es ist dabei zu beachten, dass Texte zwar unmittelbar das Ergebnis produktiver Zeichenhandlungen sind, aber auch durch rezeptive Zeichenhandlungen beeinflusst werden. So kann man etwa aus den diskurskonstituierenden Texten häufig auch erkennen, welchen Produzentengruppen durch die Rezipienten mehr oder weniger Aufmerksamkeit gewidmet und wie ernst ihre Beiträge genommen wurden. In manchen Diskurstheorien wird keine gegenseitige Abgrenzung von Diskursen gefordert. Tatsächlich ergibt sich dies nicht notwendig aus der bislang skizzierten Auffassung von Diskursen als Mustern in den drei Bereichen einer Kultur, sondern wird als weitere Ebene hinzugefügt. Im Prinzip könnten Diskurse ohne Angabe von Grenzen untersucht werden. Es gibt aber sowohl empirische als auch theoretische Gründe für die Einführung dieser Ebene. In empirischer Perspektive zeigt sich, dass beim Sprechen über Diskurse in wissenschaftlichen oder alltäglichen Kontexten fast immer ein (unterschiedlich weit gefasster) Themenbereich benannt wird: etwa der “Diskurs zur Rasterfahndung” oder der “Drogendiskurs”. Ebenso wird in Aussagen über Diskurse oft eine Abgrenzung nach Ort und Zeit vorgenommen, die entweder explizit benannt oder implizit vorausgesetzt werden (wobei sie aus der Beschreibung zeitlicher Entwicklungen und örtlicher Differenzierungen oder an den genannten Beispielen erschlossen werden können). Außerhalb wissenschaftlicher Kontexte werden diese Grenzen jedoch meist nicht scharf gezogen: Es wird vielleicht vom “Universitätsreform-Diskurs der letzten Jahrzehnte” gesprochen und die gewählten Beispiele lassen erkennen, dass eine implizite Eingrenzung auf Deutschland und Frankreich vorgenommen wurde. Räumliche Abgrenzungen ergeben sich häufig auch über den Kontext des Texts (etwa das “Deutschland”-Ressort einer Tageszeitung), oder das übergeordnete Thema (etwa wenn ein Text in einer “Europa”- Kolumne erscheint). Es ist nicht immer offensichtlich, wie sich das Thema einer diskurskonstituierenden Textmenge zu ihrem Inhalt verhält, wobei unter dem Inhalt eines Diskurses der vollständige semantische Gehalt der diskurskonstituierenden Texte verstanden werden soll. Das Thema eines Diskurses wird stets eine wichtige Rolle im Inhalt der ihn konstituierenden Texte spielen, aber der Inhalt der Texte muss sich nicht auf das Diskursthema beschränken. Bei einem einzelnen Text ist das Thema als jener Aspekt definierbar, auf den die Darstellung und/ oder Argumentation hauptsächlich fokussieren. Bei Diskursen ist das Diskursthema nicht immer auch Thema jedes einzelnen Texts, der zum Diskurs gehört. Im Regelfall ist der Inhalt eines Diskurses damit heterogener als derjenige eines Einzeltexts und beinhaltet einen größeren Anteil an Aussagen, die sich nicht unmittelbar auf das Diskursthema beziehen. Auch wenn man den betrachteten Inhalt eines Diskurses auf jene Aussagen innerhalb der diskurskonstituierenden Texte einschränkt, die sich direkt auf das Diskursthema beziehen, ist immer noch mit einer größeren inhaltlichen Variation zu rechnen als bei einem einzelnen Text: In einem Diskurs werden mehr Aspekte eines Themas diskutiert und die darüber getroffenen Aussagen sind deutlich heterogener als bei einem durchschnittlichen Einzeltext. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 211 In einer semiotischen Diskurstheorie, die Zeichenpraktiken in unterschiedlichen Kodes einbezieht, ist die Annahme eines Diskursthemas nicht offensichtlich: Bei manchen Kodes ist es im Vergleich zur Sprache schwerer herauszufinden, worin das Diskursthema besteht. Betrachtet man allerdings Zeichenpraktiken im Bereich der Bilder, des Films oder der Architektur, dann kann man auch hier durchaus von thematischen Festlegungen ausgehen: Beispielsweise kann man die Darstellung von Vampiren in Bildern und Filmen als visuellen Vampir-Diskurs betrachten, den Ausdruck von Repräsentation in der Architektur als architektonischen Repräsentations-Diskurs, oder die Verhandlung von Angst in Kinesik (Mimik, Gestik und Körperhaltung) als kinesischen Angst-Diskurs. Alle diese Zeichenpraktiken hängen mit materialen, mentalen und gesellschaftlichen Bedingungen zusammen und bilden daher Diskurse. Die Beispiele zeigen, dass es auch außerhalb der Sprache sinnvoll ist, eine thematische Einteilung von Diskursen anzunehmen, die die Komplexität und Vielfalt der Zeichenhandlungen in inhaltlich bestimmbare (und meist auch durch interne Bezugnahmen verbundene) Bereiche untergliedern. 2.3.2 Ebene 2: Texte Ein Diskurs besteht aus einer Menge von Zeichenhandlungen, deren Ergebnisse Texte (Artefakte mit kodierter Bedeutung) sind. In unserem Modell der Diskursanalyse gehen wir davon aus, dass die eine Zeichenpraktik konstituierenden Zeichenhandlungen nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern nur ihre Ergebnisse, also eine Menge von Texten. Diese bilden in der Praxis den Ausgangspunkt von Diskursanalysen, wobei allerdings ergänzend ihre zeitliche Abfolge, ihre Funktion, ihr thematischer Zusammenhang sowie Informationen über ihre Produzenten und Adressaten und die Umstände ihrer Erzeugung und Rezeption herangezogen werden, also all jene Aspekte, die eine Zeichenpraktik kennzeichnen. Viele Diskurstheorien und alltagssprachliche Verwendungsweisen des Begriffs gehen daher davon aus, dass Diskurse sich auf der Ebene der Texte befinden: “Im Anschluss an Foucault wird in einer sprachwissenschaftlichen Perspektivierung unter Diskurs eine Ansammlung von Texten verstanden, die einer gemeinsamen Wissensformation angehören [. . .]. Diskurse sind in linguistischer Perspektivierung [. . .] in erster Linie konstituiert durch die serielle Streuung von Texten, die durch den Forscher zu einem Textkorpus selegiert werden” (Spieß 2008: 246). Insbesondere in quantitativen korpusanalytischen Ansätzen wird oft vorausgesetzt, dass eine auf angemessene Weise eingegrenzte Menge von Texten mit einem Diskurs gleichgesetzt werden kann. In diesem Fall würde es ausreichen, die zu einem Diskurs gehörenden Texte zu kennen, um alles Wesentliche über den Diskurs zu wissen. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass eine Diskursanalyse dann gar nicht nötig wäre; eine Zusammenfassung der Texte, eventuell verbunden mit einer Textanalyse, würde genügen, um den Diskurs vollständig zu erfassen. Der philosophischen Tradition des Diskursbegriffs würde eine solche Auffassung sicherlich nicht gerecht: Die Überlegungen, die Jacques Lacan, Jean-François Lyotard, Michel Foucault oder Jürgen Habermas angestellt haben, haben bei allen Differenzen gemeinsam, dass ihnen Diskurse als lohnender Ausgangspunkt kulturgeschichtlicher und gesellschaftspolitischer Reflexion gelten. Aber auch aus linguistischer Sicht hätte eine solche Diskursauffassung einen geringen Erkenntniswert; schließlich hat die seit den 1960er Jahren 212 Martin Siefkes (Chemnitz) etablierte Textlinguistik ein umfassendes Repertoire textanalytischer Verfahren vorzuweisen, und auch für die Untersuchung der Verbindungen zwischen Texten stehen Verfahren bereit (von der Untersuchung direkter und indirekter Zitate und thematischer Bezugnahmen bis hin zu Stilvergleichen). Aufgrund dieser Überlegungen halten wir fest: (a) Eine Menge von produktiven und rezeptiven Zeichenhandlungen (die anhand ihres Ergebnisses, einer Menge von Texten, untersucht werden kann) bildet den Kernbereich eines Diskurses, in dem dieser sich sinnlich wahrnehmbar niederschlägt (dazu gehören natürlich auch nicht permanente Texte wie mündliche Äußerungen, diese sind ebenfalls physikalisch messbare Ereignisse, die von uns akustisch wahrgenommen werden). (b) Diskurse sind jedoch Zeichenpraktiken (vgl. die Definition in Abschnitt 3) und können nicht auf eine (beliebig zusammengestellte) Menge von Zeichenhandlungen reduziert werden. Erst in den Bezügen zur mentalen Kultur (Mentalität) und zur sozialen Kultur (Gesellschaft) bilden Zeichenhandlungen/ Texte einen Diskurs, denn genau diese Bezüge unterscheiden eine Zeichenpraktik von einer beliebigen Menge von Zeichenhandlungen. (c) Dabei sind nicht alle Aspekte der auf Ebene 2 gefundenen Texte gleichermaßen relevant (beispielsweise wird eine Stilinterpretation typischerweise nicht Teil einer Diskursanalyse sein); vielmehr sind nur solche Textmuster diskursiv relevant, die auf Aspekte der Zeichenpraktiken, also des realen Zeichengebrauchs durch bestimmte Personen unter bestimmten Bedingungen, zurückgehen und daher in einer Verbindung mit mentalen und sozialen Verhältnissen stehen. 2 Daraus ergibt sich auch, dass Diskursanalysen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Beschreibung von Diskursen werden. Anders als beispielsweise die Stilinterpretation (vgl. Siefkes 2011: 20-23, 2012: 91-93), die ein nicht notwendiger Bestandteil der Wahrnehmung eines Stils ist, 3 kann ein Diskurs ohne eine Diskursanalyse, die zunächst Muster auf Ebene 2 isoliert und davon ausgehend nach relevanten Mustern auf den Ebenen 3 und 4 sucht, nicht angemessen beschrieben werden. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Zeichenhandlungen auch auf jene Muster innerhalb der materialen Kultur bezogen werden können, die keine Textmuster sind, also auf Muster im Bereich der Zivilisation (= der Artefakte), die sich außerhalb des Teilbereichs der Texte befinden. Verändern sich etwa die technischen Medien (Artefakte, mit denen Zeichen produziert oder empfangen werden), so verändert dies häufig auch die Zeichenhandlungen, die mit ihrer Hilfe ausgeführt werden, und die dabei produzierten Texte. Dies geht aber in der Regel mit gesellschaftlichen Veränderungen einher und kann daher meist auch über Bezüge zur Ebene 4 erfasst werden. Aus Gründen der Einfachheit wird im vorliegenden Modell auf eine explizite Berücksichtigung des Bezugs von Zeichenhandlungen auf materiale Muster außerhalb des Bereichs der Texte verzichtet (= kodierten Artefakte). 2 Dass Diskursanalysen von Mustern in Texten ausgehen, verdeutlicht Bubenhofer (2009), indem er die Methodik korpuslinguistischer Diskursanalysen ausgehend von “Sprachgebrauchsmustern” erklärt. 3 Das Wahrnehmen eines Stils kann sich auch auf die Feststellung stilistischer Merkmale ohne weitere Interpretation beschränken (Siefkes 2012: 234). Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 213 2.3.3 Ebene 3: Kodes und Wissen Diskurse werden durch die Bedingungen bestimmt, unter denen sie von den Diskursteilnehmern vollzogen werden. Dazu gehören nicht nur äußerlich erkennbare Eigenschaften und Strukturen der Gesellschaft, in der sie sich abspielen (Ebene 4). So zeigen Vergleiche von Gesellschaften, die in den diskursrelevanten Eigenschaften ähnlich sind, dass mentale Bedingungen einen erheblichen Einfluss auf Diskurse haben, etwa auf ihre Inhalte und Argumentationen, auf ihren Verlauf und auch darauf, ob es zu einem bestimmten Thema überhaupt einen Diskurs gibt. Betrachtet man etwa die diskursive Verhandlung von Migration oder Homosexualität in verschiedenen Ländern, dann wird deutlich, dass manche Unterschiede weder durch unterschiedliche Auswirkungen dieser Phänomene noch durch Unterschiede in der Sozialstruktur, den Machtverhältnissen, den Medienstrukturen oder anderen Faktoren, die diese Diskurse beeinflussen könnten, erklärbar sind. Dies spricht dafür, eine eigene Ebene in unser Diskursmodell aufzunehmen, die den Bereich umfasst, den wir vortheoretisch als “Denkweisen”, “Annahmen”, “Voreinstellungen”, “Ideen”, “Hintergrundwissen” usw. charakterisieren. Die Ebene 3 umfasst den von Roland Posner definierten Bereich der “mentalen Kultur” (Posner 1992: 31 f; Posner 2003: 53), mit einer leicht abgewandelten Definition. Dieser Bereich umfasst die “Mentefakte”, eine Parallelbildung zu “Artefakt”, die jene menschlichen Hervorbringungen bezeichnet, die primär mental repräsentiert werden und typischerweise nicht als das Ergebnis einzelner Handlungen angesehen werden können, sondern sich durch Konventionalisierungsprozesse (vgl. Lewis 1969) in einer Kultur herausbilden. “Die mentale Kultur einer Gesellschaft besteht aus Mentefakten (d. h. Systemen von Ideen und Werten) und den Konventionen, die ihre Verwendung und Darstellung bestimmen.” (Posner 1992: 13) “Doch wie lassen sich Mentefakte semiotisch charakterisieren? Diese Frage ist in unserem theoretischen Rahmen leicht zu beantworten. Ein Mentefakt kann in einer Gesellschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn diese über ein Substrat verfügt, das eine Mitteilbarkeit gewährleistet, d. h. wenn es einen Signifikanten gibt, dessen Signifikat das Mentefakt ist. Außerdem treten Paare von Signifikanten und Signifikaten immer nur im Systemzusammenhang auf. Da Systeme von Signifikant-Signifikat-Paaren als Kodes bezeichnet werden, führt diese Überlegung zu dem Resultat, daß sich jede mentale Kultur als Menge von Kodes auffassen läßt.” (ebd.: 32) Aus dieser Überlegung ergibt sich, dass jedes Mentefakt ein Kode oder Teil eines Kodes ist. Die Argumentation beruht dabei allerdings auf der Voraussetzung, dass die entsprechenden Mentefakte “in einer Gesellschaft [. . .] eine Rolle spielen”, also konventionalisiert sind. Individuelle Vorstellungen und persönliche Gedanken, die nicht zumindest mit einem Teil der Menschen einer Gesellschaft geteilt werden, sind damit in der mentalen Kultur nicht enthalten. Zusätzlich zu den Kodes wollen wir aber auch das konventionalisierte, also kulturell geteilte Wissen in die mentale Kultur einbeziehen. Sprachlich formulierte Aussagen und Argumentationen, Diagramme, Grafiken, Visualisierungen von Sachverhalten usw. werden zum Wissen gezählt; es wird in der Regel in Kodes ausgedrückt und gespeichert. In nichtkodierten Zeichen ist das zwar auch möglich, aber da deren Zeicheninhalt kontextabhängig ist, ist eine stabile Weitergabe und dauerhafte Speicherung dann kaum möglich. Relevante Mentefakte können auf verschiedene Weise auf die Diskursteilnehmer wirken: Sie können unmittelbar für das Diskursthema relevant werden, etwa wenn Vorstellungen 214 Martin Siefkes (Chemnitz) über bestimmte Länder den Migrationsdiskurs bestimmen, aber sie können sich auch in grundlegender Weise auswirken, etwa wenn in einer Kultur eine Tradition der Toleranz besteht und den Umgang mit Migration beeinflusst, indem sie einen pauschalen Ausschluss einer gesellschaftlichen Gruppe geradezu undenkbar werden lässt, oder eine umgekehrte Tradition solche Ausschlüsse (etwa gegen politisch andersdenkende Gruppen) bereits etabliert hat und sie daher auch bei Migranten naheliegend erscheinen. Die Muster auf dieser Ebene können auf verschiedene Weise beschrieben werden. In den letzten Jahrzehnten hat die kognitive Semantik umfangreiche Darstellungsmittel bereitgestellt, die geeignet zur Beschreibung mentaler Muster sind. Strukturalistische Analysen ermöglichen es, semantische Oppositionen zu finden, Kategorien mittels semantischer Merkmale voneinander abzugrenzen und damit Bezüge innerhalb von Begriffssystemen und anderen Kodes zu klären. Auch das Konzept der Tiefensemantik von Paul Ricœur (1972) kann fruchtbar gemacht werden. Häufig wird in Diskursanalysen auch einfach auf natürlichsprachliche Beschreibungen von mentalen Mustern zurückgegriffen. 2.3.4 Ebene 4: Individuen und Institutionen Jeder Diskurs findet in einer Gesellschaft statt, die aus Individuen, aus sozialen Gruppen (durch bestimmte Eigenschaften abgrenzbaren Mengen von Individuen) und aus Institutionen, sowie aus Relationen zwischen Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen besteht. 4 Als Institution gilt in semiotischer Perspektive jede Gruppe von Zeichenbenutzern, die regelmäßig durch Zeichenprozesse miteinander verbunden sind, sofern sie auch nach außen als Zeichenbenutzer auftreten kann (Posner 2003: 49). Dazu gehören Behörden, Universitäten und Unternehmen, die einen Briefkopf besitzen und bei denen einzelne Mitglieder im Namen der Institution kommunizieren, aber auch Vereine, Clubs, Theater und Bands, die Logos und Webseiten besitzen, und sogar Jugendgruppen und Gangs, die Symbole haben und bei denen einzelne für die Gruppe sprechen können. Die Ebene 4 entspricht damit dem von Roland Posner definierten Bereich der “sozialen Kultur” (Posner 1992: 16-18; Posner 2003: 49 f.). Zu den Relationen zwischen sozialen Gruppen und Institutionen gehören soziale Verhaltens- und Interaktionsmuster, etablierte Wirtschafts- und Kommunikationsstrukturen, Gruppen- und Netzwerkbildung, ökonomische Unterschiede, Machtverhältnisse, soziale Stratifizierung (Klassenbildung), Ein- und Ausschlüsse in bestimmten Kontexten und vieles mehr. Wichtig ist für unsere Zwecke, dass diese Relationen ihre Spuren im Zeichengebrauch der Individuen und Institutionen hinterlassen. Wir wollen alle spezifischen Ausprägungen von Relationen zwischen Individuen oder Institutionen einer Gesellschaft als soziale Muster bezeichnen. Ein soziales Muster liegt also beispielsweise vor, wenn eine Gesellschaft in mehrere Klassen (Schichten) getrennt ist, die sich durch unterschiedliche soziale und ökonomische Teilhabe unterscheiden; wenn Institutionen oder Gruppen unterschiedliche wirtschaftliche Interessen haben oder unterschiedlich arm bzw. reich sind; wenn unterschiedliche Medien von unterschiedlichen 4 Relationen zwischen Individuen werden gewöhnlich nicht als gesellschaftlich angesehen; so ist beispielsweise die Freundschaft zwischen zwei Menschen eine private Angelegenheit, die jedoch dann gesellschaftlich relevant wird, wenn die beiden Menschen unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 215 sozialen Gruppen kontrolliert werden; wenn in einer Auseinandersetzung zwischen zwei sozialen Gruppen die eine den Ton angibt, während über die andere nur gesprochen wird; wenn Individuen oder Gruppen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position von einem Problem unterschiedlich stark betroffen sind; wenn Gruppen größeren Zugang zu oder größeren Nutzen von einer Technologie haben; wenn sich Institutionen oder Gruppen in ihren Verhaltens- und Interaktionsmustern erkennbar unterscheiden; wenn Institutionen oder Gruppen einen unterschiedlichen Umgang mit einer bestimmten anderen Institution oder Gruppe oder mit der natürlichen Umwelt pflegen; usw. Alle diese Muster können auf verschiedene Weise Diskurse beeinflussen, etwa indem sie zu Untersträngen, Abgrenzungen und Gegensätzen innerhalb des Diskurses führen, indem sie unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zum Diskurs erzeugen, indem gesellschaftliche Interessengegensätze zu gegensätzlichen Diskurspositionen führen, indem der Grad der wirtschaftlichen Verbindung zwischen Institutionen sich in diskursiver Nähe oder Ferne ausdrückt, indem Interessen bestimmter Diskursteilnehmer den anderen bekannt sind oder verborgen bleiben, indem Macht- oder Reichtumsunterschiede unterschiedliche Haltungen zu den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen bedingen, indem mangelnde gesellschaftliche Teilhabe an bestimmten Tätigkeitsfeldern (etwa Politik, Kunst oder Wissenschaft) sich in diskursiver Gleichgültigkeit gegenüber diesen Feldern auswirkt, usw. Dabei ist jeweils auch die umgekehrte Beeinflussung möglich, da Zeichenpraktiken eine wirklichkeitskonstituierende Funktion besitzen: Entsprechende Muster in Diskursen wirken auf die Gesellschaft zurück, indem sie dort entsprechende Muster schaffen, verfestigen und/ oder verschleiern. In Diskursanalysen können unterschiedliche Verfahren angewandt werden, um Zusammenhänge zwischen sozialen Mustern und Textmustern zu analysieren. An wissenschaftliche Diskursanalysen ist der Anspruch zu stellen, dass die zugrunde gelegten soziologischen Theorien und Hypothesen über die Auswirkung sozialer Unterschiede in bestimmten Textmustern offengelegt und reflektiert werden. 2.4 Überblick über das Modell Jeder Diskurs zeichnet sich dadurch aus, dass sich auf jeder der vier Ebenen bestimmte Strukturen feststellen lassen, die ihn kennzeichnen. Dies heißt allerdings nicht, dass alle vier Ebenen gleichermaßen konstitutiv für einen Diskurs sind. Bei Diskursen handelt es sich um Praktiken des Zeichengebrauchs: Im engeren Sinn befindet sich jeder Diskurs somit auf Ebene 2. Allerdings sprechen wir bei Zeichengebrauch gewöhnlich nur dann von Diskursen, wenn die Muster auf der Ebene 2 mit Mustern auf den Ebenen 3 und 4 in Verbindung stehen; in der Regel erfolgt zudem auch eine Abgrenzung auf Ebene 1. Die Tatsache, dass Diskurse überhaupt durch Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen charakterisiert werden können, lässt sich aus der Auffassung von Diskursen als Zeichenpraktiken erklären, die in Abschnitt 3 eingeführt wurde. Zeichenpraktiken hängen (wie alle Praktiken) thematisch, räumlich und zeitlich miteinander zusammen; daraus ergibt sich auch, dass sie in einer bestimmten Gesellschaft und kulturellen Umgebung stattfinden, die durch bestimmte soziale Strukturen und Denkweisen gekennzeichnet ist. Abb. 3 stellt das semiotische 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse dar. Die Darstellung basiert weitgehend auf Abb. 2. Die Diskursmuster eines Diskurses (gestrichelt umgrenzt) bestehen in allen feststellbaren Zusammenhängen zwischen Mustern auf den Ebenen 2 bis 4, die innerhalb eines auf Ebene 1 eingegrenzten Diskurses zu finden sind. Jede Diskursanalyse 216 Martin Siefkes (Chemnitz) untersucht einen solchen Bereich. Allerdings werden die in einer konkreten Diskursanalyse gefundenen Muster zusätzlich durch die gewählte Methode (z. B. quantitative vs. qualitative Analyse) eingeschränkt, da jede Methode nur bestimmte Mustertypen findet. Abb. 3: Semiotisches 4-Ebenen-Modell der Diskursanalyse. Jede Diskursanalyse beruht auf der Suche nach Diskursmustern innerhalb einer bestimmten auf Ebene 1 eingegrenzten Textmenge (einem Diskurs im engeren Sinn). Ein Diskursmuster besteht aus Kausalverhältnissen, die es ermöglichen, bestimmte Textmuster als Anzeichen für bestimmte mentale oder soziale Muster zu interpretieren. Diskursmuster sind regelhafte Zusammenhänge zwischen Textmustern, mentalen und sozialen Mustern. In einem konkreten Diskurs können gar keine, wenige oder viele Diskursmuster vorliegen. Da es viele Einflussfaktoren gibt, führt ein bestimmtes mentales oder soziales Muster nicht notwendigerweise zu einem bestimmten Textmuster, und in umgekehrter Richtung sind keine eindeutigen Schlüsse möglich. Ausgehend von einem Textmuster muss daher immer zunächst postuliert werden, dass ein bestimmtes Diskursmuster im untersuchten Diskurs wirksam geworden ist, bevor auf Aspekte der Mentalität und Gesellschaft geschlossen werden kann. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 217 Jede Diskursanalyse kann daher als eine Menge von Abduktionen beschrieben werden. Die Abduktion wurde von Charles S. Peirce als drittes logisches Schlussverfahren zusätzlich zur Deduktion und Induktion eingeführt (Peirce 1931-1958, 5.171; vgl. auch Pape 1998: 2034); er betrachtete sie als das einzige kenntniserweiternde Schlussverfahren. Bei der Abduktion wird aufgrund einer beobachtbaren Einzeltatsache eine Regel angenommen, zu der die Einzeltatsache einen Fall darstellt. Bei einer Abduktion werden somit zwei Annahmen getroffen: Es wird (a) eine Hypothese aufgestellt, die eine Regel postuliert, und es wird (b) ein konkreter Sachverhalt als Fall der postulierten Regel eingestuft. Aufgrund dieser Überlegungen können wir nun eine weitere Definition einführen: Diskursanalyse: Eine Diskursanalyse ist ein Interpretationsprozess, bei dem innerhalb einer (meist thematisch sowie nach Ort und Zeit eingegrenzten) Textmenge nach Textmustern gesucht und diese als Anzeichen für mentale und/ oder soziale Muster interpretiert werden. Diskursanalysen beruhen auf Hypothesen über das Vorliegen bestimmter Zusammenhänge zwischen den Ebenen, die als “Diskursmuster” bezeichnet werden können, in dem untersuchten Diskurs. Diskursanalysen kommen in Form wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch in Medienberichten oder in alltäglichen Gesprächen vor. 3. Grenzen und Tabus aus kultursemiotischer Perspektive Mit dem vorgestellten Beschreibungsapparat lassen sich nun verschiedene Fälle von Grenzziehungen und Tabus in Kulturen untersuchen. 3.1 Diskriminierung und Ausgrenzung Beginnen wir mit dem Fall der Ausgrenzung oder Exklusion (vgl. Bude 2004; einen Überblick gibt Bude/ Willisch 2006). In diesem Fall wird eine Gruppe nicht als Teil einer Kultur akzeptiert. Von Ausgrenzung waren traditionell oft religiöse Minderheiten (etwa die Juden in Europa) betroffen, heute sind Migranten, ökonomisch Benachteiligte, Menschen mit bestimmten sexuellen Präferenzen und manchmal auch Alte und Kranke von Ausgrenzung betroffen (vgl. Beck-Gernsheim 2004). Dabei sind unterschiedliche Grade der Ausgrenzung möglich, von der Geringschätzung einer Gruppe, die nicht als “vollwertiger” Bestandteil einer Kultur gilt, aber zweifellos irgendwie dazu gehört (etwa Prostituierte oder Sozialhilfeempfänger) bis hin zur vollständigen Ausgrenzung, wie sie etwa Juden über lange Zeiträume der europäischen Geschichte widerfuhr, in denen sie weitgehend rechtlos waren. Heute wird häufig von Migranten gefordert, dass sie sich in eine Kultur integrieren sollen. Dies kann so weit gehen, dass de facto das Verschwinden der Migranten als erkennbarer Gruppe innerhalb einer Kultur gefordert wird; in diesem Fall handelt es sich um vollständige Ausgrenzung. Was wird hier jedoch ausgegrenzt? Auf den ersten Blick ist die Antwort: “Menschen”. Doch tatsächlich ist die Lage komplizierter. So wie Migranten meist akzeptiert werden, wenn sie sich vollständig integrieren, wurden auch Juden in der europäischen Geschichte oft nicht 218 Martin Siefkes (Chemnitz) mehr verfolgt, sobald sie zum Christentum konvertierten. Dies deutet darauf hin, dass Ausgrenzung primär in der Mentalität oder mentalen Kultur stattfindet, und von dort aus auf andere Kulturbereiche ausstrahlt: Es sind die Zeichensysteme (Sprache, Religion, Verhaltensweisen, Wertesysteme, Bildung, bis hin zu kinesischem Verhalten wie Gesten- und Körperhaltungsrepertoires), die nicht als Teil einer Kultur akzeptiert werden und deren Träger daher ausgegrenzt werden. Die Ausgrenzung von Zeichensystemen überträgt sich auf die Ebene der Zeichenbenutzer, also die soziale Kultur. Der in Abschnitt 1 besprochene kultursemiotische Ansatz von Juri Lotman (2010: 174- 190) ist von Roland Posner (1992: 36) als ein “konzentrische[s] System semiotischer Sphären” expliziert worden. Dabei lassen sich (von Innen nach Außen) die Zonen des kulturell Zentralen, des kulturell Peripheren, des Nichtkulturellen und des Außerkulturellen unterscheiden. Ausgrenzung kann nun rekonstruiert werden als der Prozess, in dem Zeichensysteme und/ oder ihre Benutzer entweder aus einem inneren Bereich in einen äußeren gedrängt werden, oder aus einem inneren Bereich aktiv herausgehalten werden, in den sie aufgrund anderer Prozesse sonst hineinkommen würden. Ein solcher Mechanismus findet beispielsweise statt, indem bestimmte Aspekte einer Kultur als peripher markiert werden. Kriminalität, Prostitution oder auch Polizeigewalt sind zweifellos Aspekte unserer Kultur, aber es gibt Mechanismen, die sie immer wieder als peripher markieren und dafür sorgen, dass sie in der Selbstwahrnehmung unserer Kultur zwar vorkommen, aber eher als “Schönheitsfehler” angesehen werden. Dabei sind Prostitution und Polizeigewalt sicherlich sehr unterschiedliche Phänomene, beide haben jedoch gemeinsam, dass unsere Gesellschaft nicht wissen möchte, inwieweit diese Aspekte konstitutiv für ihre Organisationsweise sind. Anders liegt der Fall etwa bei den Ausbildungslosen. In den letzten Jahrzehnten ging die Anzahl derer, die weder Ausbildung noch Studium abschließen, stark zurück, zugleich steigt jedoch unter den Ausbildungslosen die Arbeitslosigkeit dramatisch an, und fast 50 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben heute keine Berufsausbildung (vgl. Solga 2006: 121). Selbst wenn sie eine Beschäftigung finden, findet sich fast ein Viertel der Ausbildungslosen in unsicheren und prekären Arbeitsverhältnissen wieder (Schreyer 2000: 2). Für diese Entwicklungen werden in der Regel ökonomische Gründe angegeben, insbesondere die Ablösung des sogenannten Fordismus durch den Postfordismus (Hirsch/ Roth 1986), die durch weitgehende Automatisierung einfacher Tätigkeiten und eine Erhöhung des durchschnittlich geforderten Qualifikationsniveaus gekennzeichnet ist. Falls dies zutrifft, liegt die Ursache der Ausgrenzung hier nicht im Bereich der mentalen Kultur, also der Denkweisen und Vorstellungen, sondern setzt sich in der Gesellschaft aufgrund ökonomischer Entwicklungen durch. Mentale Modelle und Kodierungen passen sich dann allerdings diesen Entwicklungen an und bilden ein Leistungsdenken aus, das Fähigkeiten und Erfolg primär an äußerlichen Faktoren wie dem Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums misst und die soziale Ausgrenzung der Ausbildungslosen daher rechtfertigt. Während die Situation der Ausbildungslosen sich in letzter Zeit verschärft hat, sind Arbeitslose schon seit Jahrhunderten dem Verdacht ausgesetzt, selbst an ihrem Schicksal schuld zu sein. Dagegen erklärte Karl Marx das Auftreten eines gewissen Anteils an Arbeitslosen aus der Notwendigkeit einer “industriellen Reservearmee” (Marx, MEW 23: 664), die es den Unternehmen ermöglicht, flexibel auf Veränderungen des Markts zu reagieren; sind ausreichend Arbeitsplätze vorhanden, steigen zudem die Löhne und damit der Anreiz für Rationalisierung und Automatisierung der Produktion. Die strukturelle Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 219 Bedingtheit der Arbeitslosigkeit zeigt sich auch empirisch darin, dass Vollbeschäftigung kaum einmal für längere Zeit erreicht wurde. Die Tatsache, dass unser Wirtschaftssystem seiner Funktionsweise nach nicht allen die Lebensgrundlagen sichern kann, wird jedoch übertüncht durch die in vielen Schattierungen anzutreffende Interpretation von Arbeitslosen als “Versagern”, die nicht den geforderten Standards entsprechen. Diese Mechanismen sind vermutlich deshalb so wirkmächtig, weil die grundlegende Funktionstüchtigkeit des Kapitalismus viel schwerer in Frage zu stellen ist, als einigen Menschen die Schuld an offensichtlichen Missständen zuzuweisen. Leider ist es einfacher, einige Menschen als zu langsam abzustempeln, als anzuerkennen, dass wir alle um unsere Lebensgrundlagen eine “Reise nach Jerusalem” spielen, bei der nicht genug Stühle für alle da sind. Soziale Exklusion und Marginalisierung kann mit Tabus in Verhalten und Äußerungen in Zusammenhang stehen. So gibt es Hinweise, dass die Marginalisierung den in manchen Migrantenkulturen beobachtbaren partiellen Rückzug auf konventionelle patriarchale Denkstrukturen und chauvinistische Männlichkeitsbilder fördert. Diese Denk- und Verhaltensweisen werden zwar von einigen Migranten unter Berufung auf Traditionen und Werte der Herkunftsländer vertreten, können aber auch als Abwehr der Opferrolle in einer Situation der sozialen Ausgrenzung verstanden werden (vgl. Neuber 2009): Werden Menschen regelmäßig angefeindet und zum Opfer von Vorurteilen und Intoleranz, kann das Eingeständnis von Schwäche zum Tabu und das Wort “Opfer” zum Schimpfwort unter ihnen werden. Ernest W. B. Hess-Lüttich hat dies am Beispiel des Films Lola und Bilidikid (1999, Regie: Kutluğ Ataman) nachgewiesen, wo das Tabu der Homosexualität dazu führt, dass ein schwuler Mann seinen Partner als “seine Frau” bezeichnet (Hess-Lüttich 2013: 365). Noch stärker als die Sexualität mit Männern an und für sich ist die vermeintlich passive Rolle des Sich-Penetrieren-Lassens mit einem absoluten Tabu belegt (ebd.: 368). So orientiert sich der Stricher Bilidikid nicht nur in seinem Künstlernamen (“Billy the Kid”) an altmodischen Machofiguren, sondern posiert selbst in einer Schwulenbar mit einer an James Dean orientierten Körperhaltung (ebd.: 362). Wie das letzte Beispiel gezeigt hat, drücken sich Exklusion und Selbstdefinition einer Kultur nicht nur in der Sprache aus. So hat Silke Betscher (2013 a; 2013 b) aufgezeigt, wie der beginnende Kalte Kriegs-Diskurs in ost- und westdeutschen Nachkriegsmagazinen seinen Niederschlag in Bildern der USA und der Sowjetunion fand, die bildlich Gegensätze konstruierten. Teilweise wurden dabei die Gegensätze multimodal hergestellt, indem das nun als Feind betrachtete Land mit sehr ähnlichen Bildern wie zuvor illustriert wird, die jedoch durch negative Bilduntertitel neu interpretiert werden (Betscher 2013 b: 298). Für den Bereich der Körperhaltungen hat Doris Schöps (2013 a; 2013 b) vergleichbare Muster für den DEFA-Film nachgewiesen: Schöps konstruiert eine Skala der Inklusion für die filmischen Rollen in der staatlich kontrollierten Filmproduktion der DDR, die vom “Held” und “Systemvertreter” über den “Neutralen” und den “Außenseiter” bis hin zum “Feind” reicht (Schöps 2013 b: 331-333), und weist statistisch nach, dass die zentraleren Rollen teilweise mit anderen Körperhaltungen gekennzeichnet werden als die peripheren Rollen. Die bisherigen Beispiele sollten zeigen, dass Ausgrenzung sowohl von der Ebene der sozialen als auch der mentalen Kultur ausgehen kann, sich dann jedoch auf die jeweils andere Ebene auswirkt, indem auf dieser entsprechende Strukturen geschaffen werden: Gelten bestimmte Kodes als unerwünscht, wie etwa eine marginalisierte Religion (Judentum) oder die Verhaltens- und Lebensweisen von Einwanderern, so kommt es oft zu sozialen 220 Martin Siefkes (Chemnitz) Ausgrenzungen, etwa der Verdrängung in bestimmte Stadtteile (“Ghettos”) oder dem Ausschluss, de jure oder de facto, von prestigeträchtigen Ämtern und Berufen. Umgekehrt führt die faktische Überflüssigkeit der Ausbildungs- und Arbeitslosen im Kapitalismus zu abwertenden Vorstellungen und Stereotypen, die ihre wirtschaftliche Diskriminierung ideologisch untermauern und plausibilisieren. Allerdings handelt es sich um eine Vereinfachung, wenn die Exklusion bzw. Abwertung einer Gruppe nur auf die eine oder andere Ebene zurückgeführt wird, denn tatsächlich greifen in den meisten Fällen Effekte auf verschiedenen Ebenen ineinander. Gleich ob sie primär durch Strukturen der sozialen oder der mentalen Kultur bedingt sind, drücken sich Exklusionen auch im Bereich der materialen Kultur aus: Dies ist der Bereich der Artefakte und der Texte, die mit den zur Verfügung stehenden Kodes erzeugt werden. Texte drücken die in Kulturen vorherrschenden Denkmuster aus, die wiederum auf den gesellschaftlichen Strukturen und Vorstellungen basieren. Daher finden sich Ausgrenzungen auf verschiedene Weise in den Texten (im weiten Sinn, also einschließlich aller Äußerungen und Zeichenvorkommnisse) einer Kultur wieder. Diskursanalysen machen es sich zum Ziel, von den in Texten feststellbaren Mustern auf mentale Muster und soziale Bedingungen zu schließen, die diese verursacht haben könnten (Siefkes 2013: 377). 3.2 Rede- und Handlungstabus Der Ausdruck “Tabu” stammt ursprünglich von den polynesischen Tonga-Inseln, wo “tapu” für heilige, aber auch für verbotene und zu meidende Orte und Verhaltensweisen verwendet wird. Er wurde Ende des 18. Jahrhunderts von dem berühmten Weltreisenden James Cook und dessen Reisebegleiter Georg Forster nach Europa gebracht. Bei “Tabu” und “Tabuisierung” ist zu beachten, dass darunter verschiedene Phänomene gefasst werden: Die Unterscheidung beispielsweise zwischen Sprachtabus (man verwendet bestimmte Worte nicht bzw. spricht über bestimmte Themen nur in bestimmter Weise), Kommunikationstabus (man vermeidet ein Thema überhaupt), Handlungstabus etc. sowie die Untersuchung ihrer Wechselbeziehungen [. . .] öffnen unter anderem erst den Blick für die enorme Kontextsensibilität von Tabus. Der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Handlung, einem bestimmten Wort oder Objekt und der Tabu-Erfahrung oder Tabuverletzung erscheint dann als ein nicht ein für allemal programmierter. (Rothe/ Schröder 2005: 9) Die drei in diesem Zitat benannten Arten von Tabus lassen sich den verschiedenen Kulturbereichen des Posner’schen Modells zuordnen (vgl. Abschnitt 2.1). Sprach- und Kommunikationstabus betreffen den Bereich der Texte (semiotischen Artefakte), also einen Unterbereich innerhalb der materialen Kultur. Die von Rothe/ Schröder so bezeichneten Sprachtabus bestehen in der Tabuisierung bestimmter Worte und Ausdrücke, man denke etwa an Lexeme für Körperliches (insbesondere sexuelle Handlungen sowie Fäkalien und Körperausscheidungen; vgl. Panasiuk/ Schröder 2005), die als Themen nicht grundsätzlich tabu sind, aber traditionell mit indirekten, euphemistischen oder fachsprachlichen Ausdrucksweisen besprochen werden sollen. Solche Tabus gelten allerdings nur in bestimmten sozialen Kontexten oder sind - etwa im Fall von Schimpfwörtern - zwar allgemein gültig, werden aber in manchen Kontexten und Soziolekten so regelmäßig gebrochen, dass von einer ritualisierten Tabuverletzung gesprochen werden kann (vgl. Bothe/ Schröter 2002). Dies gilt etwa für Teile der Jugendsprache (vgl. Neuland 2003) oder für Witze (vgl. Dimova 2009). Die Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 221 Dialektik zwischen der Festigung von Tabus und ihrer systematischen Verletzung, die in bestimmten Kontexten von bestimmten sozialen Gruppen vollzogen wird, ist ein wesentlicher Aspekt der sozialen Funktionalität von Tabus; Christel Balle spricht in diesem Zusammenhang von “Ventilsitten” (Balle 1990: 46-47, 62-63). Die im Zitat von Rothe/ Schröder erwähnten “Kommunikationstabus” sind semiotisch als Tabuisierung bestimmter Inhalte und Themen rekonstruierbar, hierher gehört etwa die systematische Polizeigewalt, die lange Zeit in Deutschland als praktisch undenkbar galt, so dass jede Eskalation einer Demonstration ohne genauere Nachprüfung den Demonstranten zugeschrieben wurde. Diese beiden Kategorien lassen sich als “semiotische Tabus” zusammenfassen, die sich auf die Verwendung von Zeichen und Zeichensystemen beziehen und die bestimmte Ausdrücke oder bestimmte Inhalte der Verwendung entziehen, wobei diese Einschränkungen allgemein gültig oder auf bestimmte Soziolekte und Kontexte beschränkt sein können. Als dritte im obenstehenden Zitat genannte Kategorie gehören die “Handlungstabus” nicht zum primär semiotischen Bereich der Zeichen und Zeichensysteme, die die mentale Kultur bilden. Während Handlungen selbst nicht primär semiotisch sind (sondern nur der Unterbereich der Zeichenhandlungen), können Handlungstabus als semiotische Kodierungen rekonstruiert werden, die bestimmte Handlungen durch juristische und/ oder ethische Prinzipien verbieten oder sie schlicht aus dem Bereich der Verhaltens- und Handlungsschemata ausschließen (vgl. Siefkes 2012: 136-143), so dass sie gewissermaßen undenkbar und damit auch undurchführbar sind. Tabus treten also im Spannungsfeld zwischen dem Gebrauch von Zeichensystemen (einschließlich der Sprache) und Verhaltensweisen auf (vgl. hierzu auch die Beiträge in Hess-Lüttich u. a. 2013). Aus diskursanalytischer Perspektive können die ersten beiden Formen von Tabus als Leerstellen auf der textuellen Ebene erkannt werden. Wenn etwa über bestimmte Aspekte von Ereignissen nicht gesprochen wird, dann kann dies mit inhaltsbezogenen Tabus zusammenhängen. Ein aktuelles Beispiel aus dem Bereich der Polizeigewalt ist im Zusammenhang mit dem Flüchtling Oury Jalloh festzustellen, der am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte, während er an sein Bett gefesselt war. Es folgte ein Prozess, der ein umfangreiches Medienecho hervorrief. Dabei wurde allerdings weder in der Berichterstattung noch vor Gericht die Möglichkeit, dass der Brand von Polizisten gezielt gelegt oder bewusst ignoriert sein könnte, ernsthaft erwogen - sei es auch nur, um diese These abzustreiten. Stattdessen wurde in Medien und beim Prozess nur die Frage verhandelt, ob die Aufsichtsbeamten, die den Feueralarm mehrfach ignorierten, der unterlassenen Hilfeleistung schuldig sind, was voraussetzt, dass der gefesselte Jalloh ein Feuerzeug aus der Tasche ziehen und seine Matratze selbst angezündet haben müsste. Zwar gibt es durchaus Berichte darüber, dass Beweise verschwanden und Polizisten sich gegenseitig deckten - die Möglichkeit eines Mords wird jedoch kaum einmal ausgesprochen und wird damit zu einer merkwürdigen Leerstelle, um die die umfangreiche Berichterstattung über den Fall kreist, während sie nach einer überzeugenden Erklärung sucht, die ohne diese Undenkbarkeit auskommt. Ein Indiz für diese Leerstelle ist beispielsweise die Bezeichnung der Ereignisse als “rätselhaft” (Rietzschel 2015), die darauf hinweist, dass die nicht tabuisierten Versionen der Geschichte auch für die Berichtenden keinen Sinn machen. 5 5 Dies gilt für die große Mehrheit der Medienberichte; die Flüchtlingsorganisation The Voice spricht dagegen explizit von einem Mordfall (The Voice 2015), worüber auch die sich als linksradikal verstehende Zeitung Jungle 222 Martin Siefkes (Chemnitz) Auf Grundlage des hier vorgestellten Mehrebenen-Diskursmodells können wir solche Tabus als Diskursmuster rekonstruieren. Wir gehen dabei somit davon aus, dass es Muster auf verschiedenen Ebenen einer Kultur gibt, die miteinander zusammenhängen, und suchen daher nach Mustern in der sozialen und mentalen Kultur, die die Textmuster bedingen und/ oder durch diese wiederum bedingt sein könnten. Im Fall der Polizeigewalt ist es etwa naheliegend, die spezifische gesellschaftliche Rolle der Polizei in modernen Nationalstaaten zu berücksichtigen, deren offizielle Funktion in der Sicherung der Ordnung und Ausübung des exekutiven Gewaltmonopols besteht. Da die Polizei gerade dazu da ist, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, gibt es bis heute ein weitgehendes Tabu, der Polizei schwere Verbrechen oder systematisches Fehlverhalten anzulasten, sondern es werden regelmäßig nur “Fehler” oder maximal ein “Versagen” für möglich gehalten. Möglicherweise würde allein die Erwägung entsprechender Optionen die Gefahr beinhalten, die tragende Funktion der Polizei in unserer Gesellschaft fragwürdig erscheinen zu lassen, was wiederum zu einer Destabilisierung des gesamten staatlichen und wirtschaftlichen Systems führen könnte. Somit stehen hinter den Denkmustern die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf der Ebene der mentalen Kultur keine Denkmuster zulassen, die den Grundannahmen der gesellschaftlichen Ordnung widersprechen könnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Diskursanalyse im Fall von Tabus von den Leerstellen im Diskurs ausgehen wird, wobei es oft der schwierigste Teil der Analyse ist, diese überhaupt zu finden. Schließlich formen Diskurse, an denen wir teilhaben, unsere Wahrnehmung nachhaltig. Dennoch ist es möglich, Tabus als Leerstellen im Diskurs auszumachen, wobei eine Reihe von Analysetechniken wie etwa Vergleiche zwischen verschiedenen Situationen oder Gruppierungen von Menschen helfen können. Vergleicht man zum Beispiel den Umgang mit verschiedenen weltweit auftretenden Konflikten, kann man rasch feststellen, dass es wichtige und weniger wichtige Kriege gibt. Edward S. Herman und Noam Chomsky (Herman/ Chomsky 2002: 37-86 [Kap. 2]) haben herausgearbeitet, dass es in der Berichterstattung über Massaker und Kriegsverbrechen mehr oder weniger wichtige Opfer gibt, und dies durch quantitative Vergleiche der Anzahl, des Umfangs und der Darstellungsprinzipien von Zeitungsberichten über die jeweiligen Ereignisse nachgewiesen. 4. Ausblick In diesem Artikel wurde gezeigt, wie Kultursemiotik und Diskurstheorie miteinander verbunden werden können. Kulturen sind aus semiotischer Perspektive in drei Bereiche unterteilbar; auf dieser Grundlage können Diskurse als Muster oder Strukturen in den verschiedenen Kulturbereichen beschrieben werden, die durch Zeichensowie Kausalprozesse miteinander verbunden sind. Innerhalb des Bereichs der Texte (im allgemeinen Sinn von semiotischen Artefakten) finden wir Äußerungstabus, die bestimmte Ausdrücke oder - aus diskursanalytischer Perspektive meist interessanter - bestimmte Inhalte bzw. Themen betreffen. Es kann nun World berichtet (Steinitz 2008). Dies sind jedoch marginalisierte Gruppierungen, deren Aussagen von den anderen Medien nicht aufgenommen werden, so dass es plausibel ist, hier von einem Tabubruch mit begrenzter Reichweite zu sprechen, der nicht zu einer Diskursänderung führt. Tabus in Diskursen aus kultursemiotischer Perspektive 223 nach den Mustern in der mentalen Kultur gefragt werden, die diese in Texten feststellbaren Muster verursachen, wobei die Textmuster die mentalen Muster umgekehrt auch aufrechterhalten, weitergeben und verstärken. So können Grenzziehungen und Tabus bereits in Zeichensystemen und den in ihnen enthaltenen Konzeptualisierungen und Strukturierungen der Wirklichkeit enthalten sein. Dies wiederum steht oft in Verbindung mit gesellschaftlichen Strukturen, wie etwa den Privilegien bestimmter Gruppen gegenüber anderen oder der Notwendigkeit, Institutionen oder Personen in bestimmter Weise zu konzeptualisieren, was sie mit bestimmten Eigenschaften und Verhaltensweisen in Verbindung bringt oder inkompatibel macht. Ähnlich wie Grenzziehungen diskursanalytisch als Unterscheidungen rekonstruiert werden können, die in den drei Bereichen der Kultur wirksam werden, sind Tabus als Leerstellen in Texten, als Denkblockaden gegenüber Ereignissen und Themen und/ oder als vollständiger Ausschluss von Menschen rekonstruierbar, wobei sich wiederum Korrespondenzen zwischen den drei Kulturbereichen finden lassen. Dabei darf allerdings nicht mit simplen Entsprechungen zwischen den drei Ebenen von Diskursen, die jeweils Mustern in den drei verschiedenen Kulturbereichen entsprechen (vgl. Abb. 3), gerechnet werden: Tatsächlich gestalten sich die Korrespondenzen, die zwischen der materialen, mentalen und sozialen Kultur feststellbar sind, immer wieder anders. Postulierte Diskursmuster, im Sinne von Zusammenhängen zwischen Mustern in mehreren Bereichen der Kultur, sind als Hypothesen zu betrachten, die durch weitere Diskursanalysen und anderweitige Untersuchungen zu überprüfen sind. Dabei können vermutete Muster auf anderen Ebenen - etwa postulierte Denkmuster oder soziale Strukturen, die man als Auslöser für gefundene Textmuster im Verdacht hat - separat nachgewiesen werden. In einem zweiten Schritt wird dann überprüft, ob sich eine Korrelation zwischen dem Auftreten der Muster auf verschiedenen Ebenen finden lassen, etwa zwischen einem Textmuster und einer bestimmten sozialen Struktur, die möglicherweise etwas damit zu tun hat. Um ein Beispiel zu nennen: Wird festgestellt, dass negative Charakterisierungen einer religiösen Minderheit in öffentlichen Debatten abnehmen, und in denselben Zeitraum einerseits ein sozialer Aufstieg der Minderheit erfolgte, andererseits aber auch eine Kampagne gegen entsprechende Vorurteile in den Schulen stattgefunden hat, so hat man ein Muster in der sozialen Kultur (sozialer Aufstieg) und eines in der mentalen Kultur (Abbau von Vorurteilen) gefunden, die relevant sein könnten. Um zu entscheiden, ob eines oder auch beide von ihnen das Textmuster verursachen, kann man etwa die zeitliche Kongruenz der Muster prüfen oder einen Vergleich mit Entwicklungen für andere Gruppen (oder für dieselbe Gruppe zu anderen Zeiten oder in anderen Regionen) vornehmen. Auf diese Weise kann die semiotische Diskursanalyse dazu dienen, empirische Forschung im Bereich der materiellen Kultur (etwa Korpusanalysen), im Bereich der mentalen Kultur (etwa psycholinguistische Studien) und im Bereich der sozialen Kultur (etwa soziologische Untersuchungen) auf theoretischer Grundlage miteinander in Zusammenhang zu bringen. 224 Martin Siefkes (Chemnitz) Bibliographie Alexander, Christopher, Sara Ishikawa & Murray Silverstein 1977: A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, New York: Oxford University Press. Beck-Gernsheim, Elisabeth 2004: Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Betscher, Silke 2013 a: Von großen Brüdern und falschen Freunden. Visuelle Kalte-Kriegs-Diskurse in ost- und westdeutschen Nachkriegsillustrierten 1945-49, Essen: Klartext. 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Each body becomes a carrier of signs and an intermediary for the messages being sent. According to Posner (2002), rituals are actions in concert with others that follow strict rules and simultaneously highlight the symbolic character of the behaviour in question. Ritualized actions are specific to a culture and shaped by conventionalized movements. Examples of such actions are simple greeting gestures or institutionalized procedures with legally binding effects. Owing to their conventionality, some ritualized actions can be considered emblematic gestures among which conventionalized contact plays an important role in physical communication. The symbolic nature of the contact can not only be observed in everyday use but also, or even especially, in the forms of contact considered taboo. Not only the physical contact gestures themselves are conventionalized but also their absence can occasionally be understood as a ritualized action. That means that not only the contact in its gestural function is of interest, but also the physical contact taboos of a culture or society because they possess a strong communicative character both in their conventionalized existence and their possibility of breaking taboos. “Es ist, als ob es in der vielschichtigen Sprache der Liebe ein Wort gäbe, das nur von Lippen ausgedrückt werden kann, die von anderen Lippen berührt werden, ein stillschweigender Vertrag, der mit einem Kuss besiegelt wird.” (Ackermann 1991: 142) 1 Einleitung Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest. (Douglas 1974: 99) Die Auswirkung und Bedeutung von Berührungen und physischem Körperkontakt sind für viele Fachbereiche, besonders aber auch für die Sprachwissenschaft zur Analyse kommunikativer Strukturen und Inhalte von großer Bedeutung. Dieser Artikel widmet sich der zwischenmenschlichen Berührung und den kommunikativen Aspekten von Körperkontakt. Hierbei sollen Gesten untersucht werden, die sich durch die Berührung zwischen zwei oder mehr Menschen definieren und kulturspezifisch auf eine solche Art konventionalisiert sind, dass sie als Embleme fungieren. Solche emblematischen Berührungsgesten wurden von Lynn (2011) in einem Lexikon der Fremdberührung gesammelt und dokumentiert, wobei sich diese ritualisierten Handlungsabläufe auf den Mittelatlantikraum der USA beziehen. Das Ziel des Artikels ist es, davon ausgehend Berührungstabus zu thematisieren und zu diskutieren, ob solche Berührungstabus, ebenso wie emblematische Berührungsgesten, klar beschrieben und abgegrenzt werden können. Um von Gesten als ritualisierten Handlungen sprechen zu können, muss die Bezeichnung des Rituals definiert und für den Zweck einer Untersuchung kommunikativen Berührverhaltens im Sinne der Tabuforschung umrissen werden. Von einem allgemeinen Tabubegriff ausgehend, kann auf das ebenso konventionalisierte ‘Berührverbot’ näher eingegangen werden, um es am Ende anhand einiger aufkommenden Fragen zur Diskussion zu stellen. 2 Berührungen im Kontext der Kommunikationsforschung Was die Rolle von Berührungen im zwischenmenschlichen Alltagsgeschehen betrifft, gibt es bereits verschiedene psychologische und medizinische Untersuchungen, die sich dabei auf wichtige Themenschwerpunkte beziehen. Die Sozialpsychologie beleuchtet beispielsweise kulturspezifische Berührungen im Alltag, aber auch Berührungen in unterschiedlichen Kulturen, geschlechtsspezifische Unterschiede, Arten und Wirkungen von Berührungen in zwischenmenschlichen (Liebes-)Beziehungen 1 . Im Bereich der Persönlichkeitspsychologie wird unter anderem den Fragen nachgegangen, wie sich Menschen in ihrem Körperkontakt- oder Berührungsverhalten unterscheiden, welche Eigenschaften Menschen zeigen, die nicht oder sehr gerne berührt werden wollen, und wie Berührungen individuell erlebt werden 2 . Entwicklungspsychologen untersuchen, welche Bedeutung Berührungen innerhalb einer Eltern-Kind-Beziehung haben oder wie sich (mangelnder) Körperkontakt auf die emotionale, geistige und körperliche Entwicklung eines Kindes auswirkt 3 . In der klinischen Psychologie und in der Medizin liegt der Fokus auf den körperlichen Auswirkungen von Berührungen, beispielsweise von Massagen, und es wird untersucht, welche Bedeutungen Berührungen haben können in Kontexten von (Schmerz-)Behandlungen und (Psycho-) Therapien 4 . Und nicht zuletzt werden im Bereich der Kognitionspsychologie Fragen beleuchtet, in denen es darum geht, wie Menschen Berührungen wahrnehmen und verarbeiten und wie sie sich auf die Entwicklung von Denk-, Gedächtnis- und Erkenntnisfunktionen auswirken 5 . Diese verschiedenen Disziplinen sind natürlich nicht immer klar voneinander abzugrenzen und es gibt unter anderem diverse andere Fachbereiche, wie zum Beispiel die Ethnologie oder Geschichte oder auch die Pädagogik, die damit einhergehen und Berührungen unter anderen Auswertungskriterien analysieren. 1 Siehe hierzu Henley (1988), Herold (1992), Thayer (1988), Jourard (1966), Morris (1972). 2 Siehe hierzu Thayer (1988), Montagu (1974). 3 Siehe hierzu Bowlby (1975), Harlow (1958), Montagu (1974), Herold (1992), Thayer (1988). 4 Siehe hierzu Crenshaw (1997), Herold (1992), Montagu (1974). 5 Siehe hierzu Johnson (1987), Piaget und Inhelder (1986). 228 Ulrike Lynn (Chemnitz) Semiotische oder sprachwissenschaftliche Betrachtungen über den zwischenmenschlichen Körperkontakt als intentionales Kommunikationsmittel sind noch nicht hinreichend publiziert worden, obwohl Berührungen gerade für die Gestenforschung sehr relevant sind. Möchte man Berührung im Kontext zwischenmenschlicher Kommunikationsstrukturen analysieren, ist es wichtig, dass man unterscheidet zwischen Berührungen, die unbeabsichtigt und ohne kommunikativen Inhalt geschehen (wie beispielsweise ein versehentliches Streifen am Arm) und jenen, die bewußt eingesetzt wurden, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Im Folgenden soll nur von den Berührungen die Rede sein, die als Gesten klassifiziert werden können. Somit fällt jegliche Art des versehentlichen oder zufälligen Körperkontaktes aus der Betrachtung heraus, ebenso wie all jene Berührungen, die einer Gebrauchsbewegung unterliegen, d. h. die angewendet werden, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, welcher nicht ausschließlich kommunikativ ist. Als Beispiele für berührende Gebrauchsbewegungen seien hier das Haareschneiden, eine ärztliche Untersuchung oder eine Wiederbelebung aufgeführt. Des Weiteren sollen in diesem Artikel nur die Berührungen ausschlaggebend sein, die zwischenmenschlich stattfinden, also in der Kommunikation von zwei oder mehr Menschen. Ekman und Friesen (1969) unterteilen nonverbales Verhalten in fünf Kategorien: Emblems, Illustrators, Regulators, Affect Displays und Adaptors. Letzteres sind erlernte Bewegungen, um eigene und körperliche Bedürfnisse zu befriedigen, und sie werden noch einmal unterteilt in Self-adaptors (Berührungen, die an den eigenen Körper gerichtet sind), Alter-adaptors (Berührungen, die einer anderen Person gelten) und Object-adaptors (Berührungen, die sich auf ein Objekt richten). Man könnte also meinen, die in diesem Artikel untersuchten Berührungen seien Alter-adaptors, aber dies stimmt nur in Bezug auf die Gerichtetheit der Berührung, nicht aber in Bezug auf die Intention. Nach Ekman und Friesen werden Adaptoren typischerweise unbewußt angewendet und daher kaum zum Kommunizieren eingesetzt: “[. . .] adaptors, when emitted by the adult are habitual, not intended to transmit a message, and usually without awareness” (Ekman und Friesen 1969: 85). Da Gesten aber unter anderem durch eine kommunikative Absicht definiert sind, werden im Folgenden ausschließlich Embleme beleuchtet, denn sie zeichnen sich durch einen bewussten und intentionalen Gebrauch aus, sind erlernt, meist kulturspezifisch und stark konventionalisiert. Emblematische Gesten können sprachbegleitend oder sprachersetzend gebraucht werden und sie unterliegen einem gesellschaftlichen Kodex, der ihren Gebrauch und ihre Anwendung vorgibt. Ekman und Friesen schreiben Emblemen folgende Eigenschaften zu: Emblems are those nonverbal acts (a) which have a direct verbal translation usually consisting of a word or two, or a phrase, (b) for which this precise meaning is known by most or all members of a group, class, subculture or culture, (c) which are most often deliberately used with the conscious intent to send a particular message to other person, (d) for which the persons who sees the emblem usually not only knows the emblem’s message, but also knows that it was deliberately sent to him, and (e) for which the sender usually takes responsibility for having made that communication. A further touchstone of an emblem is whether it can be replaced by a word or two, its message verbalized without substantially modifying the conversation. (Ekman, Friesen und Johnson 1975: 405) Obwohl emblematische Gesten nicht unbedingt mit zwischenmenschlichem Körperkontakt einhergehen müssen, gibt es doch eine Vielzahl an Berührungen mit emblematischem Berührungstabus 229 Charakter; Berührungsgesten also, die auf andere Menschen gerichtet sind, unabhängig von Sprache existieren können und kulturspezifisch so konventionalisiert sind, dass ihre kommunikative Botschaft, trotz ihrer Polysemie, situationsgebunden eindeutig ist. Man kann also die Ausführung einer solchen emblematischen Berührungsgeste als ritualisierte Handlung verstehen, bei welcher der kommunikative Aspekt im Mittelpunkt steht. In diesem Zusammenhang scheint auch der Aspekt der Grenzziehung von großer Relevanz zu sein. Anders als bei verbalen Kommunikationssituationen, finden Berührungen auf der Haut und damit an der körperlichen Grenze des Menschen statt. Auf verschiedenen Ebenen wird in der Berührung die Grenze zum Thema: Die Haut umhüllt unseren Körper und grenzt uns als Lebewesen gegenüber allem, was uns umgibt, ab: ob das die unsichtbare Luft ist, Sonnenstrahlen oder Regentropfen, ob Teppich oder Holzdielen unter unseren Füßen, die Decke, die wir im Bett über unsere Schultern hochziehen, oder all die vielen Dinge, die wir mit den Händen anfassen und benutzen. Das Spüren dieses ‘Anderen’ erst vermittelt uns das Gefühl, dass es das Ich und das Nicht-Ich gibt, nämlich einen fest umschlossenen Bereich unseres Körpers als ureigenen Sitz und Ausgangspunkt aller Empfindungen, der grundlegend und selbstverständlich mit unserem inneren Selbst untrennbar verbunden ist, und ein ‘Außerhalb’, in dem alle anderen Menschen und Dinge existieren (Herold 1992: 243 f.). In der Berührung nehmen wir unsere eigene Grenze und damit unseren Körper insgesamt wahr. In unserer Wahrnehmung sind sowohl die eigenen Grenzen als auch die Grenzen von anderen Menschen spürbar; es geht um die tatsächlichen körperlichen Grenzen, es gibt aber auch Entsprechungen zu den emotionalen und psychischen Grenzen, die wir spüren, anderen setzen oder die wir gesetzt bekommen. 3 Ritualisierte Handlungen Wenn von zwischenmenschlichen Berührungsgesten die Rede ist, muss in erster Linie auch der Körper als Medium für symbolische Handlungen, in diesem Fall ritualisierte Berührungen, beleuchtet werden. Aus dem Grund soll an dieser Stelle genauer auf die Symbolhaftigkeit von Ritualen eingegangen werden. Birnbaum beispielsweise definiert symbolische Handlungen als [. . .] stets institutionell anerkannte Handlungen, welche dazu dienen, den Bestand der jeweiligen Institutionen (z. B. Gruppe, Familie, Paar) durch die Aufrechterhaltung bestimmter Ordnungsstrukturen zu sichern. Sie erleichtern die Abläufe im Zusammenleben von Menschen, da sie in den jeweiligen Situationen verbindliche Handlungsmuster bereitstellen und auf diese Art und Weise die Handlungsoptionen einschränken. Die am Ritual beteiligten Personen kennen die bestimmten Abläufe und können potentielle Wirkungen des Rituals einschätzen. (Birnbaum 2012: 135) Posner dagegen formuliert die Definition für Rituale etwas differenzierter, indem er zwei besondere Merkmale in den Vordergrund stellt: Maßgeblich dafür, dass es sich um ein Ritual handelt, ist einerseits die Tatsache, dass die Handlung in Gemeinschaft mit anderen und unter Einhaltung strenger Regeln erfolgt, andererseits der Zeichencharakter des betreffenden Verhaltens. (Posner 2002: 6) 230 Ulrike Lynn (Chemnitz) Der kommunikative Aspekt ist bei Leach (1968) der bestimmende Faktor eines Rituals, “wobei die kommunikative Funktion darin besteht, den Status der Interagierenden auszudrücken oder zu verändern” (Werlen 1984: 28). Als Beispiele für Letzteres seien hier Amtseinsetzungen, Taufen oder Hochzeiten erwähnt. Die Symbolhaftigkeit der Rituale drückt sich aber nicht nur in den sie definierenden Attributen aus, sondern auch in den kognitiven Prozessen, welche in Gang gesetzt werden, wenn es um die Erlernung von ritualisierten Handlungen geht, denn das Gelingen von Ritualen setzt ein dieses Handeln ermöglichendes rituelles Wissen voraus. Dieses Wissen ist nach Wulf (2001 b) ein praktisches Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben wird. Tomasello (2002) postuliert, dass dieser mimetische Charakter kultureller Lernprozesse sicherstellt, dass in ihnen nicht nur eine bloße Kopie ritueller Handlungen erzeugt wird, sondern dass es sich stets auch um die kreative Wiedererzeugung ritueller Interaktionen handelt. Tomasello nennt diesen Vorgang “ontogenetische Ritualisierung” (Tomasello 2002: 43) und setzt diesen Prozeß dem Imitationslernen entgegen. Diese Praxis hat nach Wulf einen historischen und kulturellen Charakter und ist somit auch für zukünftige Veränderungen offen: Rituale enthalten insofern immer auch eine innovative Komponente, die dazu beiträgt, dass das rituell Erlernte nicht nur auf soziale Dynamiken und Transformationen angemessen reagieren kann, sondern es kann selbst weitere kontingente soziale Formen und Gemeinschaften erzeugen. (Audehm/ Wulf/ Zirfas 2007: 427) 3.1 Die Funktion des Körpers als Zeichen Nicht weniger wichtig für die Betrachtung von bestimmten Handlungen als ritualisierte Berührungen - und hier ist die von Posner vorausgesetzte Gemeinschaft bereits in der zwischenmenschlichen Berührung integriert - ist die Funktion des Körpers als Zeichen, sowohl durch sein Verhalten, als auch durch seine Möglichkeit, als rituelles Medium zu dienen. So kann die rituelle Organisation des Körpers z. B. durch Kleidung und Mode erfolgen, aber auch durch Bemalung und Maskierung, Piercing und Tattoo, Stimme und Sprechform, Sprechen und Singen, durch Atemtechnik und Körpersprache, durch Musik, Rhythmus, Tanz und Ekstase, die Aufhebung von Affektkontrolle und Disziplinierung der Bewegungen. (Dücker 2007: 60) Körper können darüberhinaus auch im Ruhezustand inszeniert werden (beispielsweise im meditativen Gestus oder für die Aufbahrung eines Verstorbenen), oder sie können miteinander interagieren und taktile Praktiken anwenden. Die Auffassung vom menschlichen Körper hat sich analog zu den Veränderungen der Gesellschaft und Kultur entwickelt. Wie Symbolsysteme sind auch Menschen einem stetigen Wandlungsprozeß unterworfen. Körper und Körpererfahrung des Menschen sind integrierter Teil eines umfassenden dynamischen Prozesses. Aber nicht nur der Körper als Medium und seine Positionierung im gesellschaftlichen Kontext unterliegt zeitlichen Veränderungen, sondern auch der Umgang der Körper miteinander, die soziale Interaktion. Mit dem jeweiligen Körperverständnis einer Kultur gehen auch verschiedene Berührungsweisen einher. Hall (1966) unterscheidet zwischen Kontaktkulturen (Araber, Lateinamerikaner und Südeuropäer) und Nicht-Kontaktkulturen (Asiaten, Nordeuropäer, Amerikaner, Australier, Inder und Pakistani). Beide Kultur-Kategorien unterscheiden sich in der Intensität Berührungstabus 231 von Blickkontakt, Berührungen und Körperorientierung während der sozialen Interaktion. So sind für die ersteren Berührungen als Kommunikationsmittel deutlich präsenter als für die Kulturen mit weniger Körperkontakt und weisen sich nicht zuletzt auch durch geringere Distanzzonen aus. Nach Hall (1966: 126 f) gelten beispielsweise für US-Amerikaner folgende Konventionen: l Intime Distanz (nah 0-15 cm, weit 15-45 cm) l Persönliche Distanz (nah 45-75 cm, weit 75-120 cm) l Soziale Distanz (nah 120-200 cm, weit 200-360 cm) l Öffentliche Distanz (nah 360-700 cm, weit über 700 cm) Hall postuliert, dass diese von ihm beschriebenen vier Distanzzonen zwar für alle Kulturen gültig sind, aber die Distanzzonen kulturspezifisch unterschiedliche Abmessungen aufweisen. Tab. 1: Tabelle der Distanzzonen und deren Kommunikationsbedingungen (nach Hall 1966: 126 f.) 4 Symbolträchtige Berührungen Abb. 1: Die Erschaffung Adams, Michelangelo Abb. 2: Detail aus Die Erschaffung Adams 232 Ulrike Lynn (Chemnitz) Ein Ausschnitt aus dem großen Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan zu Rom zeigt die von Michelangelo zwischen 1508 und 1512 gemalte Darstellung des biblischen Geschehens “Die Erschaffung Adams” “Die Magie einer Berührung teilt sich uns so selbstverständlich mit, dass man meint, den Lebensfunken förmlich die Kluft zwischen zwei ausgestreckten Händen überspringen zu sehen”. (Henley 1988: 141) 4.1 Allgemeine Betrachtungen über Berührung Berührungen und Körperkontakt sind Aspekte des alltäglichen Lebens, die uns mehr oder weniger regelmäßig begegnen und auf die wir in unterschiedlichem Maße sowohl emotional als auch physisch reagieren. Nach Riedel (2008) werden Berührungen und Körperkontakt traditionellerweise als Leistungen des menschlichen Tastsinnes aufgefasst, was ein weites Feld von Definitionen eröffnet, welches vom antiken philosophischen Diskurs über die Sinne bis hin zur aktuellen Medizin, Psychologie, Physiologie, Hirnforschung etc. reicht. (Riedel 2008: 148) 6 Der semiotischen Intention des vorliegenden Beitrags entsprechend, kann sich die begriffliche Präzisierung von Berührungen in diesem Artikel auf Merkmale konzentrieren, die den gesell-schaftlichen bzw. gemeinschaftsstiftenden und kulturspezifischen Gebrauch des Tastsinnes betreffen. Hierbei muss nach Gibson (1962: 477) in aktives und passives Tasten unterschieden werden, was sich gleichzeitig mit den Termini haptisch und taktil in Verbindung bringen läßt: “Die haptische Wahrnehmung (das aktive Tasten) ist dabei gleichbedeutend mit berühren und die taktile Wahrnehmung (das passive Tasten) mit dem berührt werden.” (Riedel 2008: 24) In diesem Zusammenhang weist Wagener (2000) darauf hin, dass die analytische Unterscheidung von aktiv berühren und passiv berührt werden auf zwei Handlungsbzw. Wahrnehmungstypen referiert: Bei aktiver Berührung ist zwar die Wahnehmung des Ertasteten im Zentrum der Aufmerksamkeit, wohingegen bei passiver Berührung, beispielsweise bei einer Massage, das eigene Körperempfinden im Vordergrund steht, aber dennoch wird immer das ‘Eigene’ und das ‘Andere’ wahrgenommen (Wagener 2000: 87). Diese Eigenschaft unterscheidet den Tastsinn in besonderer Weise von den anderen menschlichen Sinnen, denn wenn man beispielsweise etwas mit den Augen wahrnimmt, nimmt man visuell nicht gleichzeitig auch die eigenen Augen als aufnehmende Sinnesorgane wahr, dasselbe gilt für die Nase oder die Ohren, es sei denn, man steht vor einem Spiegel. Bei der Ausführung von Berührungsgesten, die emblematischen Charakter haben, ist diese Unterscheidung besonders interessant, da sowohl das haptische als auch das taktile Körperempfinden stimuliert wird und somit aktives Berühren und passives Berührtwerden gleichzeitig wahrgenommen werden können. So steht bei einem Handschlag beispielsweise nicht unmittelbar die haptische Erfahrung der anderen Hand im Vordergrund, genauso wenig allerdings kommt es auf das eigene taktile Empfinden der anderen Hand an. Dies trifft auf alle fremdberührenden Gesten zu, die simultan und symmetrisch ausgeführt werden. 6 Siehe Grunwald (2008) für einen ausführlicheren Überblick. Berührungstabus 233 4.2 Konventionen und Kontexte Viele Aspekte von Berührung sind durch Konventionen geregelt. Durch die Anwendung gelernter Regeln erkennen wir, welche Bedeutung eine Berührung hat und was sie als Geste kommuniziert. Es gibt gesellschaftliche Regeln für verschiedene Kontexte von Berührungen und für verschiedene Beziehungen, in denen es zu Berührungen kommen kann. In manchen Situationen sind Berührungen erlaubt, geboten, vorgeschrieben, in anderen unerwünscht, verboten, tabu. So gelten beispielsweise bestimmte Normen für den Körperkontakt zwischen Eltern und Kindern, welche sich, je älter die Kinder werden, wieder verändern. Es gibt Konventionen für freundschaftliche Berührungen und für solche unter Kolleginnen und Kollegen oder gegenüber Vorgesetzten. Diese “Berührungsregeln” sind nur in Ausnahmefällen schriftlich fixiert (beispielsweise im Pflege- oder Therapiebereich) und dennoch haben die meisten Menschen ein feines Gespür dafür, was in bestimmten Situaltionen angemessen ist. Konventionen sind in verschiedenen Kulturen, Subkulturen und Gruppen unterschiedlich, also gesellschaftspezifisch, und lassen selbst innerhalb der kulturellen Kontexte immer einen gewissen individuellen Handlungs- oder Berührungsspielraum. Die geltenden Konventionen sind nicht nur abhängig von der Beziehung der Berührenden, sondern auch von der Situation, in der die Berührung stattfindet. Die gleiche Berührung kann in der einen Situation freundlich und aufmunternd sein, zum Beispiel ein leichtes Schubsen mit dem Arm, der Schulter oder sogar der Hüfte beim Sport, und in einer anderen Situation wäre sie sehr unpassend, zum Beispiel bei einem romantischen Essen zu zweit oder während eines Einstellungsgespräches. Vor allem im Bereich des Sports werden Verhaltensweisen möglich, die sonst tabuisiert sind. Denn gerade die Berührungen in der Öffentlichkeit sind stark reglementiert: Die “Gesellschaft”, also die gesellschaftliche Welt, umfasst Regeln über Nähe und Distanz zu den anderen Angehörigen derselben Kultur oder Gesellschaft. Dabei ist der Körperkontakt, die körperliche Berührung, kulturell normiert. Die Normen, die unsere körperlichen Berührungen - in der Öffentlichkeit, im Privaten - regeln, können weit gefasst sein und dabei eine gewisse Toleranz für Individualität erlauben. Oder diese Normen können relativ streng vorgeben, was erlaubt oder verboten ist. Die Spielbreite und die Strenge der entsprechenden Normen kann sich zudem im Laufe der Zeit wandeln. (Gerhardt 2007: 198) Das Handlungspotential für Berührungen ist also gewissermaßen beschränkt. Manche Berührungen, beispielsweise jene mit sexueller Motivation, unterliegen nicht selten einem Berührtabu, während andere Situationen regelrechten Erwartungshaltungen zu bestimmten Berührungen unterliegen. Konventionalisierten Körperkontakt gibt es in den west-europäischen Ländern bei Begrüßungen, Gratulationen oder Kondolenzbekundungen, die durchaus kulturspezifische Unterschiede aufweisen. 7 Gleichzeitig kann ein und dieselbe Berührung in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Funktionen erfüllen. So kann beispielsweise ein aufmunternd gemeinter Schulterstups in einem anderen Kontext als aggressiv interpretiert werden. Dass ein und dieselbe emblematische Geste verschiedene Bedeutungsvarianten haben kann wird auch im Lexikon der Fremdberührung (Lynn 2011) deutlich. Da die Gesten meist 7 Zu den kulturellen Varianten von Begrüßungssituationen siehe auch Argyle (1979: 81) und Eibl-Eibesfeld (1976: 193 ff.). 234 Ulrike Lynn (Chemnitz) polysem und kontextabhängig sind, gibt es nicht wenige Einträge, in denen eine Berührung je nach Situation und Interpretation verschiedene Botschaften kommuniziert. Diese Ambivalenz von Berührungen und die Doppeldeutigkeit der Gesten zeigt sich in ihrer extremsten Form, wenn Berührungen in affiliativen Zusammenhängen mit Berührungen in aggressiven Zusammenhängen verglichen werden. Berührungen maximaler Intensität sind sowohl entscheidender Faktor von Liebesbeziehungen als auch von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Form und die Intensität des Körperkontakts ist also in hohem Maße abhängig sowohl vom Verhältnis der Agierenden zueinander als auch vom situativen Kontext, in dem die Berührung stattfindet. So wird beispielsweise das kulturspezifische Ritual des ‘Brüderschaft-Trinkens’ mit besonderen Berührungen, nämlich dem Verketten der Arme als Zeichen von Untrennbarkeit und einem anschließenden Lippenkuss, eingeleitet. Ebenso gibt der Kontext des Miteinander-Tanzens eigene Regeln vor bzw. hebt die Alltagskonventionen auf und ermöglicht somit Menschen, die unter anderen Umständen viel distanzierter miteinander umgehen würden, eine intime Nähe, die - gerade beim argentinischen Tango - stark von Berührungen geprägt ist. Es kann hier, nach Posner 2002, von einem ritualisierten Tabubruch gesprochen werden. 4.3 Die Zeichenhaftigkeit von Berührungen Komplexität und Ambivalenz von Berührungen zeigen sich deutlich in den verschiedenen Verwendungskontexten. Im Mittelalter hatten Berührungen vorwiegend rechtskonstitutiven Charakter, beispielsweise bei der Besiegelung von Verträgen oder Amtseinsetzungen. Die symbolische Verdeutlichung rechtlicher Tatbestände ist ein konstitutives Element mittelalterlicher Rechtsauffassung. Der Grundsatz der Offenkundigkeit verlangte nach Sichtbarmachung von Rechtsverhältnissen mit Hilfe von Zeichen, über deren Bedeutung Konsens bestand. (Schreiner 1990: 114) Berührungen mit rechtskonstitutiver Funktion traten in der Regel in den Formen Handschlag, Handauflegung, Kuß oder Salbung auf und finden sich auch heute noch sowohl in weltlichen 8 als auch in kirchlichen Zusammenhängen. 9 Politiker schütteln sich beispielsweise in aller Öffentlichkeit die Hände, um ihr gutes Verhältnis oder den Abschluss eines Vertrages zu demonstrieren und auch das Handauflegen beispielsweise ist noch immer ein für verschiedene Zwecke eingesetztes religiöses Ritual. Die aus dem Neuen Testament übernommene Handlung ist eine zentrale Geste in sakramentalen Feiern, beispielsweise bei der Taufe, dem Bußsakrament, der Firmung und bei der Ordination. Berührungen spielen also auch im heutigen Gottesdienst eine wichtige Rolle, wobei die Häufigkeit ihres Einsatzes von der liturgischen Ordnung abhängig ist. Im katholischen Gottesdienst hat sich unter anderem der Friedensgruß erhalten, bei dem sich die Gemeindemitglieder während des Gottesdienstes die Hände schütteln und sich gegenseitig Frieden wünschen 10 . In der Bibel werden Berührungen meist als Übertragung von Kräften geschildert, wobei sowohl das Böse als auch das Gute durch eine Berührung übertragen werden kann. Einen Toten zu berühren führt beispielsweise zu Unreinheit (4 Mo 19,16) “und alles, was der 8 Siehe beispielsweise Leupold-Kirschneck 1981. 9 Siehe beispielsweise Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) 2015. 10 Zu Berührungen im Gottesdienst siehe insbesondere Reifenberg (1985) und Wenz (1995). Berührungstabus 235 Unreine berührt, wird unrein werden” (4 Mo 19,21; Hag 2,13). Gott selbst berührt Menschen, entweder um ihr Inneres zu wandeln (1 Sam 10,26) oder um sie mit Krankheit (2 Kön 15,5) oder Elend (Hi 19,21) zu schlagen. Auf der anderen Seite aber überträgt die Berührung das göttliche Heil. Die Serafim berühren die Lippen Jesajas (Jes 6,7), um die Sünde von ihm zu nehmen. Durch Berührung wird jemand lebendig (2 Kö 13,21; Mk 5, 41, 42), Jesus heilt Kranke bereits, wenn allein seine Kleidung berührt wird (Mk 5, 27). Diese Zeichenhaftigkeit der Berührung scheint bis in die heutige Zeit symbolträchtig. Für manche Menschen mag eine segnende Berührung des Papstes eine ähnlich große Bedeutung haben, wie für andere die Berührung des T-Shirts eines Prominenten. Solche spirituell oder religiös bedeutsamen Berührungen können den Berührten segnen, heilen, sie können aber auch verunreinigen und von Übel sein. 4.4 Berührungskategorien Um die kommunikative Botschaft einer bestimmten Art des Körperkontaktes erfassen zu können, sollte man die verschiedenen Arten von Berührungen in ihren Bedeutungsebenen differenzieren. Heslin unterteilt Berührungen in fünf Gruppen (nach Thayer 1988: 21): 1 Funktionale professionelle Berührungen 2 Soziale höfliche Berührungen 3 Freundschaftliche Berührungen 4 Liebes- und Intimitätsberührungen 5 Sexuelle und erregende Berührungen Seiner Meinung nach können alle zwischenmenschlichen Berührungen mindestens einer der fünf Kategorien zugeordnet werden. Wenn wir in diesem Artikel aber konventionalisierte Berührungen in Form von emblematischen Gesten in den Vordergrund stellen, können nur institutionell verankerte Berührungsgesten (wie beispielsweise jemandem die Hand auflegen oder eine jemandem ein Kreuz auf die Stirn zeichnen) in die erste Kategorie der funktionalen professionellen Berührungen eingeordnet werden, denn andere professionelle Berührungen (wie zum Beispiel jemanden waschen oder jemandem die Haare schneiden) werden als Gebrauchshandlungen definiert, da sie keinen intentional kommunikativen Charakter haben und mit der Berührung selbst keine Botschaft senden wollen. Es fällt außerdem auf, dass in Heslins Schema eine Kategorie fehlt, welche Berührungen in hierarchischen Kontexten, sogenannte fremdberührende Machtgesten, einschließt, ebenso wie auch aggressive Berührungen (beispielsweise jemanden ohrfeigen oder jemanden treten) in keine dieser Kategorien eingeordnet werden können. Während mit dieser Kategorisierung überwiegend die Intention von Berührungen innerhalb einer spezifischen sozialen Austauschbeziehung beschrieben wird, kategorisiert auch Argyle (1979) fünf verschiedene Arten von Berührungen und ordnet sie bestimmten Kommuni-kationshandlungen zu: 1 Schlagen des anderen und Aggressionshandlungen 2 Streicheln, Liebkosen und Festhalten als a) elterliches oder allgemein fürsorgliches Verhalten b) sexuelle Handlung 3 Berührungen in Zusammenhang mit Begrüßungs- oder Abschiedszeremonien 236 Ulrike Lynn (Chemnitz) 4 Festhalten als kameradschaftlicher Ausdruck (Dies kann nach Argyle durch unterschiedlich starken Druck und verschiedene Berührungsstellen auch unterschiedliche kommunikative Funktionen erfüllen.) 5 Berührungen, die dazu dienen, die Bewegung des anderen zu beeinflussen, z. B. jemanden an der Hand oder am Arm führen, oder jemandem helfen, schwierige Bewegungen auszuführen. Obwohl einerseits etwas ausführlicher als die Kategorisierung von Heslin, sind Argyles Berührungsbeschreibungen doch noch sehr undifferenziert und allgemeingültig. Im bereits erwähnten Lexikon der Fremdberührung (Lynn 2011) werden die emblematischen Berührungsgesten sowohl auf ihrer Ausdrucksebene als auch auf ihrer Bedeutungsebene klassifiziert. Für letzteres wurden folgende Kategorien erstellt: Begrüßungsgesten, Aufmerksamkeitsgesten, Bestätigungsgesten, Institutionelle Gesten, Trostgesten, Aufforderungsgesten, Zuneigungsgesten, Zärtlichkeitsgesten, Sexuelle Gesten, Unterstützungsgesten, Aggressive Gesten, Spielerische Machtgesten und Indirekte Kontaktgesten. In die letzte Kategorie können Berührungen eingeordnet werden, die keinen direkten zwischenmenschlichen Kontakt bekunden, aber dennoch durch eine Berührung als kommunikative Aussage definiert sind. Beispiele hierfür wären jemandem in die Jacke helfen, jemandem einen Ring anstecken oder mit jemandem anstoßen. Nicht jede Bedeutungsebene ist grundsätzlich zugänglich in jeder alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikationssituation. Wie schon beschrieben spielen sowohl der Kontext als auch die gesellschaftliche vorgegebenen Konventionen eine große Rolle. Des Weiteren sind aber mit Bezug auf individuelles oder gemeinschaftliches Berührverhalten selbst innerhalb eines bestimmten Kontextes und mit Bezugnahme auf die jeweiligen Konventionen bestimmte Regelfestlegungen zu beobachten, welche emblematische Berührungsgesten insofern beeinflussen, als dass einige von ihnen zwar konventionalsisiert und ihr Gebrauch allgemein bekannt ist, ihre Verwendung sich aber auf ganz bestimmte Empfängergruppen richtet. 4.5 Reglementierungen Die Reglementierung von taktilem Verhalten betrifft unterschiedliche Gruppen unserer Gesellschaft in unterschiedlicher Art und Weise. In Bezug auf alltägliche zwischenmenschliche Berührungen scheint sich, gerade in unserer modernen Gesellschaft, eine hierarchische Struktur etabliert zu haben: Ein Chef fasst seiner Sekretärin lobend oder bittend auf die Schulter, die Lehrerin berührt den Schüler, um ihn zu ermutigen oder zu tadeln, Polizisten gehen dominant mit einem Verdächtigen um, der Priester legt segnend seine Hand auf den Kopf der Gläubigen aber kein Fußballer darf - so der Deutsche Fußballbund - den Schiedsrichter berühren. Auch Kindern, Behinderten und Kranken wird ein anderes Berührverhalten zugestanden als gesunden, erwachsenen Menschen mit demselben kulturellen Hintergrund. Andersherum wird auch gesunden, erwachsenen Menschen in bestimmten Kontexten ein anderer Berührungs-kodex bereitgestellt, der es erlaubt, Kinder, Behinderte, Kranke und Sterbende auf andere Weisen zu berühren als für gewöhnlich akzeptabel. So ist es beispielsweise selbstverständlicher, einem Kind über den Kopf zu streicheln, eine behinderte Person an die Hand zu nehmen, einen kranken Menschen an- und auszuziehen oder jemandem in seiner Todesstunde mit Körperkontakt und Berührungen zur Seite zu stehen. Berührungstabus 237 Morris (1972) führt in seinen Untersuchungen zum menschlichen Sozial- und Intimverhalten die zunehmenden Tabus und Reglementierungen im zwischenmenschlichen Berührungs-verhalten unter anderem auf die Überbevölkerung in heutigen Großstädten zurück. Da es in städtischen Alltagssituationen unmöglich sei, mit allen Menschen, die uns begegnen, in Kontakt zu treten, hätten wir gelernt, diesen Kontakt zu vermeiden. Morris geht davon aus, dass es in unserem Jahrhundert noch schwieriger ist als früher, andere erwachsene Menschen zu berühren, ohne dass sexuelle Motive unterstellt werden. Je älter wir werden, desto mehr verkümmert das ungehemmte Intimverhalten der Kindheit. Was davon noch erhalten bleibt, verfestigt sich zu stilisierten, unzweideutigen Ausdruckshaltungen (Morris 1972: 95). Wie oben bereits erwähnt, können diese Regeln und Formalisierungen, so Morris, in extremen und stark emotionalen Situationen aufgehoben werden, so dass das ursprüngliche Ausdrucksverhalten zu Tage tritt. Bei starker Angst und Bedrohung, bei Freude und Triumph, bei Trauer, Schmerz und Krankheit werden einige Berührungsregeln und -tabus unwichtig, und impulsive, intime Berührungen sind möglich und erlaubt. Im Kontext extremer Gefühle werden diese dann nicht gleich auf sexuelle Motive zurückgeführt. Auch bei Berührungen von Kindern und durch Kinder verwischen sich die Grenzen zwischen sexuellen und nichtsexuellen Berührungen, das Tabu für bestimmte Körperregionen greift hier nicht stringent. 5 Tabu Tabus sind unbewusste soziale Wirkungsmechanismen, die sich im Bewusstsein als das, was man nicht tun, denken oder sagen darf, manifestieren (Webster 1973: 1). Sie stellen sich als Meidungsgebote dar und unterscheiden sich von Verboten, die im Gegensatz zu Tabus explizit formuliert sind. Tabus sind zeit- und ortsspezifisch und damit wandelbar. Sie spielen eine wichtige Rolle im Sozialsystem einer jeden Gesellschaft. Sie stecken Grenzen ab und geben so eine Orientierung, wie weit ein Individuum im sozialen Gefüge gehen darf. Tabus dienen folglich der Verhaltensregulierung und sind ein Mittel der sozialen Kontrolle, da durch institutionalisierte bzw. gesellschaftliche Tabubereiche individuelles Abweichen von vornherein gehemmt werden soll. Obwohl das Wort tabu bereits seit dem 18. Jahrhundert in Europa Verbreitung fand, war seine Bedeutung doch lange auf den magischen und religiösen Kontext beschränkt. In den letzten Jahren erlebte die Tabuforschung jedoch eine deutliche Spezialisierung. Das Wort tabu stammt ursprünglich aus dem Polynesischen und wurde 1777 von James Cook in England verbreitet. Das Wort setzt sich zusammen aus ta ‘kennzeichnen’, ‘markieren’ und pu ‘kräftig’, ‘intensiv’, bedeutete also zunächst “etwas stark Markiertes” (Betz 1978: 141) und diente dann der Beschreibung von etwas Unberührbarem und Heiligem. Das Tabu wirkte als ein Meidungsgebot, z. B. bestimmte, meist geheiligte Gegenstände, Personen oder Orte zu berühren oder zu betreten. Die Verletzung dieser Grenze führt zum Tabubruch. Reimann (1989: 421) definiert Tabus als ein “besonders wirksames Mittel sozialer Kontrolle” die als “Axiome der Kommunikation” verstanden werden können. In modernen Gesell-schaften werden einerseits bestimmte Personen oder Örtlichkeiten sowie andererseits Bereiche wie Sexualität, Sucht, Korruption, Gewalt, Tod und bestimmte Erkrankungen tabuisiert (Reimann 1989: 421). 238 Ulrike Lynn (Chemnitz) Nach Schröder (2002) unterscheidet man auf der Ebene eines deskriptiven Tabubegriffs zwischen nonverbalen und verbalen Tabus. Nonverbale Tabus werden dabei als Teil des sozialen Kodex einer Gemeinschaft verstanden, der festschreibt, welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen. Verbale Tabus hingegen werden verstanden als Themen bzw. Konzeptualisierungen von Sachverhalten, über die nicht oder nur in etikettierter Form kommuniziert werden soll sowie als sprachliche Ausdrücke, die vermieden werden sollen. Reimann (1989) differenziert Tabus noch etwas detaillierter und teilt sie ein in ‘Objekttabus’ (tabuisierte Gegenstände, Institutionen und Personen) und ‘Tattabus’. Zu den Objekttabus zählen tabuisierte Gegenstände, Instituationen und Personen, während Tattabus tabuisierte Handlungen manifestieren. Diese beiden Tabutypen werden darüber hinaus durch ‘Kommunikationstabus’ (tabuisierte Themen), ‘Worttabus’ (tabuisierter Wortschatz) und ‘Bildtabus’ (tabuisierte Abbildungen) begleitet und abgesichert, die ihrerseits wiederum durch Gedankentabus (tabuisierte Vorstellungen) und ‘Emotionstabus’ (tabuisierte Gefühle) gestützt werden. Es kann also von einem Prozeß der Verinnerlichung gesprochen werden, der notwendig ist, damit ein Tabu Bestand hat. Laut Betz beziehen sich Tabus immer auf die zentralen Werte einer Gesellschaft und sind somit kulturspezifisch. Sie regulieren das soziale Handeln und stecken Extreme ab (Betz 1978: 146). Das Tabu ist demnach eine Konvention, die das soziale Zusammenleben ermöglicht. Es gehört von frühester Kindheit an zum Sozialisationsprozeß, zu lernen, was in der jeweiligen Kultur mit einem Tabu belegt ist, damit es später selbstverständlich wird, etwas nicht zu benennen, zu berühren, zu tun oder darüber zu sprechen (Hofstätter 1963: 57 ff.). Ein Tabu dient also dem Schutz von Dingen und Sachverhalten, die für eine Gesellschaft lebenswichtig sind. 5.1 Tabubruch Wird ein Tabu nicht beachtet, so spricht man von einem Tabubruch oder einer Tabuverletzung. Ein Tabubruch verstößt gegen die Grundregeln einer Gesellschaft. Diese sind nicht immer gesetzlich festgelegt, da sie nur latent präsent sind und nicht einmal sprachlichen Ausdruck finden. Rammstedt bemerkt: “Da die Tabus per Definition Selbstverständlichkeiten sind, die man einhält, aber nicht genau kennt, ist es im Grunde unmöglich, sie zu formulieren” (Rammstedt 1964: 40). Während das Tabu in der Gemeinschaft verankert ist, stellt sich der Tabubruch als individuell motiviert dar. Tabubrüche sind ambivalent. Einerseits bedrohen sie die Gesellschaft, andererseits ermöglichen sie sozialen Wandel. Hartmut Kraft bezeichnet Tabubrüche als “Indikatoren für Identitätsveränderungen” (Kraft 2004: 177). In Bezug auf emblematische Berührungsgesten kann sich ein Tabubruch entweder in einer kontextuell absolut unangebrachten Berührung manifestieren, oder aber gerade im Ausbleiben einer Geste, die konventionell erwartet wird. Diese These soll am Ende des Artikels noch einmal zur Diskussion gestellt werden. 5.2 Berührungstabus In verschiedenen Kontexten gibt es Berührungsverbote, zum Teil aktuell in einer bestimmten Situation entstanden, zum Teil als tradierte Regeln und Bräuche. Die Unberührbaren Indiens dürfen Mitglieder einer höheren Kaste nicht berühren, da diese dadurch ‘verunreinigt’ Berührungstabus 239 werden. Bei dieser religiösen Regel ist es wichtig, wer die Berührung initiiert, wer aktiv berührt und wer berührt wird. Eine Person aus einer höheren Kaste darf eine Unberührbare berühren, aber nicht von ihr berührt werden. In vielen Kulturen gibt es heilige Gegenstände oder Orte, die nur nach entsprechender Vorbereitung und Reinigung berührt oder betreten (und damit auch berührt) werden dürfen. Ebenso galt eine menstruierende Frau dem Heiligen Hieronymus als so unrein, dass alles, was diese berührte, dadurch auch verunreinigt war (Walker 1993: 707). Reste solcher Haltungen finden ihren Niederschlag auch heute noch in abergläubischen Überzeugungen, nach denen eine menstruierende Frau beispielsweise keine Sahne schlagen dürfe, da diese sonst schlecht würde, kein Obst und Gemüse einkochen, nicht beim Schlachten helfen, nur mit Haushaltshandschuhen putzen und sich auch keine Wasser- oder Dauerwelle machen lassen. Auch wenn bereits eine persönliche Beziehung besteht, die normalerweise eine Berührung ermöglicht und erlaubt, so kann mitunter die konkrete emotionale und soziale Situation eine Berührung schwierig oder unmöglich machen. Abhängig von gesellschaftlichen Konventionen sind bestimmte Körperteile eher von einem Berührungstabu betroffen als andere. Jedoch scheint es schier unmöglich zu sein, diese Körperteile zu benennen, da die Tabuisierung, sie zu berühren, sehr kontextabhängig ist. Im “Online-Kompaktlexikon Biologie” (1999) findet man unter dem Eintrag Körperkontakt 11 eine Darstellung der Häufigkeit von Körperberührungen gegengeschlechtlicher Personen in der Öffentlichkeit: Körperkontakt Abb. 3: Körperzonen gegengeschlechtlicher Berührungen 11 http: / / www.spektrum.de/ lexikon/ biologie/ koerperkontakt/ 37144 240 Ulrike Lynn (Chemnitz) Was auf den ersten Blick wie ein Körperatlas mit eingezeichneten konventionalisierten Körperzonen scheint, ist bei genauerer Betrachtung jedoch irreführend, da die Abbildung nur körperliche Tabuzonen in der Öffentlichkeit widerspiegelt, und selbst das ohne Angaben zum Hintergrund einer Studie, ohne die in den Kontext mit einzubeziehenden Berührungen von Kindern und ohne Angaben von bestimmten Situationen, in denen die Berührung der angege-benen Körperzonen gesellschaftlich akzeptabel ist. 6 Diskussion Zusammenfassend ist deutlich geworden, dass allgemeines zwischenmenschliches Berührverhalten nicht immer auch Kommunikation intendiert und daher für eine linguistischsemiotische Analyse abzugrenzen ist von intentionalen Berührungen mit konventionalisierten Botschaftsinhalten. Eine Verallgemeinerung der “Tabuzonen” im Hinblick auf zwischenmenschliche Berührung ist darum wohl, wenn überhaupt, nur sehr schwer möglich. In Bezug zu emblematischen Berührungsgesten könnte ein solcher “Körperatlas” vielleicht durchaus erstellt werden, gerade weil die ritualisierten Handlungen einer emblematischen Geste so konventionalisiert sind. Hierbei müssten allerdings die verschiedenen Kontexte und kommunikativen Inhalte der Berührungen an den jeweiligen Körperstellen mit angegeben werden, da der Körperkontakt an manchen Stellen in einer bestimmten Situation vielleicht durchaus angebracht ist, in einem anderen Kontext kann die Berührung desselben Körperteils allerdings tabu sein. Neben Berührungsverboten gibt es auch Berührungsgebote, also Situationen in denen es Regel und Konvention ist, zu berühren und in denen eine Weigerung, dies zu tun, eine Verletzung gesellschaftlicher Regeln darstellt. Um noch einmal die Frage nach der Tabuisierung von Berührungen aufzuwerfen, gibt es meines Erachtens zwei verschiedene Arten von Berührungstabus: Berührungen, die unangebrachterweise vollzogen werden (als übersteigertes Beispiel sei hier das Anfassen des Hinterns einer fremden Person in der Öffentlichkeit genannt), und Berührungen, die gerade dann nicht vollzogen werden, wenn sie in einem ritualisierten Kontext (beispielsweise einer Begrüßungssituation) erwartet werden. Vielleicht wäre es an dieser Stelle angebracht, zwischen “Berührungstabus” und “Nicht-Berührungstabus” zu unterscheiden? Wenn dies nun speziell auf emblematische Berührungsgesten bezogen wird, stellt sich die Frage: Ist das Ausbleiben einer Geste auch eine Geste? Ist es tabu, eine zur Begrüßung ausgestreckte Hand nicht entgegenzunehmen? Ist also die symbolische Handlung, einen Handschlag nicht zu erwidern, zu den Berührungstabus zu zählen, oder ist es eine eigenständige Geste des Widerwillens und hat mit Berührung gar nichts mehr zu tun? Und ein weiterer Aspekt gestaltet sich in diesen Überlegungen als noch nicht eindeutig: Auch wenn Berührungsgebote in Form von emblematischen Gesten festgehalten werden können, wäre es tatsächlich möglich, von diesen auf Berührungstabus zu schließen? Wie könnte man denn solche Tabus überhaupt beschreiben und dokumentieren, wenn sie sich innerhalb der verschiedenen sozialen, gesellschaftlichen und privaten Kontexte so unterschiedlich mani-festieren? Berührungstabus 241 7 Schluss Diese und mehr Fragen kommen auf, wenn man emblematische Berührungsgesten genauer untersucht und analysiert. Fest steht, dass Menschen sich aus verschiedenen Gründen gegenseitig berühren, was manchmal unbeabsichtigt und unbewußt geschieht, manchmal aus einer bestimmten funktionalen Handlung heraus und manchmal aber auch als ein Akt der Kommunikation, um eine intendierte nonverbale Botschaft zu übermitteln. Berührungen können ein starkes gestisches Potential haben und sind nicht nur für die Bereiche der Psychologie, Neurologie und Biologie interessant, sondern besonders relevant auch für die Sprachwissenschaft und Semiotik und öffnen der Gestenforschung ein weiteres weites Feld der Analyse. Bibliographie Argyle, Michael 1979: Körpersprache und Kommunikation, Paderborn: Junfermann Verlag Audehm, Kathrin, Christoph Wulf und Jörg Zirfas 2007: “Rituale”, in: Ecarius (ed.) 2007: 424-440 Austin, John ²1971: How to Do Things with Words, London: Havard University Press Balle, Christel 1990: Tabus in der Sprache, Frankfurt am Main: Peter Lang Bautier, Robert-H. et al. 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But when the topic in question is considered taboo, the discursive practices become more complex, sometimes suspending the expectations of taboo’d speech, sometimes developing ways to retain the authority of taboo while allowing the formerly forbidden topic to become (momentarily) suitable for public discussion. This paper explores some examples of these discursive practices and their effects on taboo’d speech. The analysis shows how discussions of discourse and taboo benefit from an intersectionalities framework, e. g. an analysis that shows how taboo-related discursive practices are reflected and refracted against social and historical inequalities. 1 Introduction Language and sexuality studies cover a broad range of topics and interests, but at some stage of the inquiry, studies of language and sexuality are likely to become studies of language and taboo. The complexities of sexuality itself make this outcome almost inevitable. If we think about gender as the ideological expectations associated with “who men and women are” (and admittedly, defining gender in terms of “men” and “women” is an ideological assumption! ), then sexuality designates those psychological, affective and social formations like desire, imagination, comradery, affection, filiation, transgression, and terror through which people comply with, talk back to, and/ or refuse gender’s ideological demands. More complex than claims to identity (“straight”, “gay”, “queer”) or forms of erotic practice, sexuality identifies a range of practices through which gendered authority becomes validated or contested including practices that are forbidden, foreclosed, or proscribed - practices commonly labeled taboo. 1 My thanks to Mie Hirimoto, Lucy Jones, Helen Sauntson, Denis Provencher, David Peterson, and Brian Adams-Thies for their comments on earlier iterations of this essay. 2 Defining Taboo Fleming and Lempert (2011) suggest that taboo indicates those things that “ought not to be said” or otherwise publically acknowledged, even if those things are very much a part of the speakers’ everyday lives (2011: 5.) But a linguistic analysis of taboo does not end with an inventory of topics or the words and phrases that designate them. Allan and Burridge (2006) explain: [. . .] Taboos arise out of social constraints on the individual’s behavior where it can cause discomfort, harm or injury. [. . .] Even an unintended contravention of taboo risks condemnation and censure; generally, people can and do avoid tabooed behavior unless they intend to violate a taboo (2006: 1.) They continue: Taboo and the consequent censoring of language motivate language change by promoting the creation of highly inventive and often playful new expressions, or new meanings for old expressions [. . .]” (2006: 2.) Irvine (2011) agrees. There may be “topics and words that local conventions brand as unmentionable,” yet “people find ways to communicate [. . .] mentioning or implicating the unmentionable without actually breaching the norms that make that material obnoxious” (2011: 15.) Studies exploring the audience reception of gay pornography demonstrate how sexual subjects engage “the unmentionable” in linguistic practice. (Adams-Thies 2012, 2015, Leap 2010 c, 2015 b, Mercer 2012.) If taboo simply indicated things that “ought not to be said” (in Fleming’s and Lempert’s sense), viewers of gay porn would likely avoid references to “obnoxious” materials (e. g. father/ son incest, male rape, fisting, bondage and torture) when they discuss experiences of audience reception with other viewers or when they post comments about a favorite gay porn scene on-line. And some viewers do avoid mentioning such scenes, while foregrounding other areas of the storyline in their face-to-face or on-line commentaries. But some viewers do include references to scenes with “obnoxious” material in their commentary. Some viewers rewrite the storyline and diffuse the impact of the “obnoxious” material, e. g. father and son incest becomes recast as intergenerational sex or sex between friends. Some viewers submerge the “obnoxious” material beneath more appealing descriptors, e. g. “Incest? That’s hot! ” And some viewers simply refer to such a scene in generic terms, e. g. the two men had sex, while avoiding reference to any forms of irregularity (See discussion in Leap 2010 c: 258-260.). Apparently, references to taboo do more than position unmentionable references within spaces of linguistic creativity. The unmentionable - the obnoxious material - becomes positioned variably, not uniformly in the emerging discourse. And that positioning reflects the intersections between of speaker-centered and contextual features which regularly appear in studies of other forms of gendered/ sexual discourse (Abe 2011, Jones 2010, Motschenbacher 2012, Provencher 2016), e. g. social/ class position, racial/ ethnic background, age, nationality and citizenship, gendered identity, desire and (be)longing. Applied to studies of language, sexuality and taboo, discourses of taboo’d sexuality cease to unfold as a categorical prohibition and become instead a domain where regulatory practices unfold with variable Language, Sexuality and the Suspension of Taboo 247 effects. I explore the social significance of those variable effects in a set of examples from my studies of language and sexuality - same-sex identified women’s narratives of violence and avoidance, specifically - in metropolitan Cape Town’s Black townships in the late 1990s. 3 Background: Intersectionality Interests in intersectionality grew out of concerns of Feminist Scholars of Color (and later, queer scholars of color, as well) that “Women’s Studies” (and Gender/ Sexuality Studies in general) overplayed discussions of gender differences, while ignoring other social components that also impacted the texture of many women’s lives. 2 Crenshaw explains, in a now classic statement: [. . .] many of the experiences Black women face are not subsumed within the traditional boundaries of race or gender discrimination as the boundaries are currently understood, and that the intersection of racism and sexism factors into Black women’s lives in ways that cannot be captured wholly by looking at the race or gender dimensions of those experiences separately (1991, 1244). Yuval-Davis agrees: Being oppressed [. . .] “as a Black person” is always constructed and intermeshed in other social divisions (for example, gender, social class, disability status, sexuality, age, nationality, immigration status, geography, etc.) (Yuval-Davis 2006, 195). Nash adds an important caveat: It is not enough just to inventory the details that constitute the intersection. If intersectionality is solely an anti-exclusion tool designed to describe “the multiplier effect” or “the lifelong spirit injury of black women” then it is incumbent upon both feminist theory and antiracist work to develop a conceptualization of identity that captures the ways in which race, gender, sexuality and class, among other categories are produced through each other, securing both privilege and oppression simultaneously (Nash 2008, 10, citing Wing 1990, 191). Nash’s commentary is especially relevant to a discussion of a regulatory device like taboo, where distinctions between acceptable and forbidden forms of reference have profound implications for enumeration and maintenance of privilege - and oppression. The following sections of this paper discuss a sets of examples where the discursive practices associated with taboo engaged such an enumeration and maintenance of privilege: referencing personal sexual identity in instances where linguistic etiquette treats such identifications as “taboo.” 2 Leap (2015 a) review recent work in intersectionality theory and its relevance for language and sexuality studies and queer sociolinguistics. 248 William L. Leap (Washington D. C.) 4 Black Townships and Xhosa Sexual Discourse in Metropolitan Capetown, 1995-1999 4.1 Location The general context for this discussion is metropolitan Capetown, South Africa; the time frame is the late 1990 s, when the government of reconciliation was replacing years of apartheid rule. 3 The primary location for the events described here is the Black townships, the communities located to the east of Capetown’s City Centre which were “proclaimed” as sites of Black-only residence under apartheid rule. 4 Residents of Black townships are primarily Xhosa identified, tracing family and kin to the homelands in the Elizabethtown area of the Eastern Cape Province. Township residents themselves either relocated, either voluntarily or by force, from the homelands to the Cape Town area (Western Cape Province), or are the children or grandchildren of those who relocated. 4.2 Southern Nguni Sexual Discourse; Taboo The primarily language of the homeland is Xhosa, a member of the Southern Nguni (Bantu) language family. Varieties of Xhosa are widely spoken in Capetown’s Black townships and so several varieties of English. Certain varieties of English are closely associated with the City Centre, the geographic site of power under apartheid rule. Afrikaans, also spoken in the townships and the City Centre, was identified even more closely with the Apartheid regime, and it factors into this discussion in specific ways, as we will see. The taboo’d feature that I want to discuss stems from homeland discursive practice, although it is attested elsewhere in Southern Nguni and is in no sense unique to Xhosa linguistic tradition (Irvine 1992, kendall 1999, Rudwick 2008.) The feature involves obligatory linguistic demonstrations of respect to elders, in-laws and other significant kinspersons. Additionally, certain words and word-references are taboo’d: words that sound like or resemble the meaning of the name of the persons to be respected, for example. In addition, certain topics are taboo’d, especially so, public discussions related to sexual themes, especially in front of those to be treated with respect - or in front of strangers. These restrictions on naming and topic do not inhibit participation in erotic activity or limit the construction of a vibrantly phrased textual practice within the erotic moment. Sexuality is always a system of social action and Southern Nguni people are not prudish when it comes to sexual things. But when asked to comment on discursive practices related to that system, southern Nguni people are as likely to employ forms of indirect referencing (which, to an outsider’s ear, might appear to be acts of avoidance or denial or avoidance) or through one or more of the linguistic formats outlined below. Similarly, southern Nguni people expect the same modes of behavior from others - at least, from those who wish to display the appropriate indications of deference and respect to Nguni tradition and to those who embody those traditions in the current moment. 3 I conducted this research while teaching in the Theory of Rhetoric Programme at the University of Cape Town and under the sponsorship of the Triangle Project, an AIDS activist organization based in Salt River and Guguletu Township. My thanks to the Programme, and especially to my research colleagues at the Triangle Project, for making this project research possible. 4 Some of the Black townships pre-date apartheid. They were labor camps for Black workers brought to the Cape Town area from the homelands under short-term labor contracts. See below. Language, Sexuality and the Suspension of Taboo 249 Adopting these techniques of linguistic avoidance and deferral does more than enable speakers to display the appropriate stance of respect. The language of respect is also a language that avoids inappropriate reference, a language that allows the speaker to avoid becoming the focus of attention in discursive practice, and thereby a language that maintains personal modesty. Language use becomes a power vehicle for demonstrating these commitments to place within southern Nguni tradition and, thereby, for reaffirming cultural and linguistic citizenship. 5 4.3 Appropriate Discursive References Through Linguistic Practice As is true for all Southern Nguni languages, Xhosa provides speakers with a range of linguistic strategies for constructing alternative discursive materials in instances where words or word-references must be avoided, or entire topics are interdicted. They range from rearranging phonological and morphemic details so that otherwise familiar Xhosa terms are rendered unfamiliar and thereby no longer obnoxious, to constructing word substitutions by borrowing vocabulary from adjacent languages -! San, Zulu and more recently, Afrikaans and English. So speakers are not denied access to creativity and the structural/ historical detail of Xhosa bears witness to the cumulative results of those practices (Herbert 1990.) Township Xhosa maintains these practices of linguistic respect/ avoidance “taboo” in various ways, one of which is the insistence that there is no Xhosa term that “names” someone who identifies as a homosexual. Under this respect system, there should not be: the explicitness of sexual identity would not be named, nor would it need to be. When I asked Cape Town area Black township residents about terms for “homosexual” in township based discourse, some respondents volunteered: isi tabane (which the township residents I spoke with consistently agreed was “a Zulu word”, not something indigenous to Xhosa; some cited moffie, an Afrikaans term identifying who was effeminate, unmarried, or in some other sense characteristically not-masculine; and some cited gay and lesbian. Queer was not in circulation in the townships in 1995-1999.) Some respondents alluded to terms that could only be said privately, between close friends or intimates, but were not appropriate for public use especially in the presence of outsiders. And some respondents indicated that sexual identities were not named, but were confirmed through certain forms of action. 5 Intersectionalities of Gay English For township residents to tell me that they could use these terms or purposes of identification - or that they would avoid using terminology when faced with such tasks - was not the same thing as telling when they used these options, or telling me whether (and why) certain township residents preferred certain options over others. Long-standing Nguni practices of appropriate and taboo’d speech were shaping linguistic diversity here, but so do the availability of City Centre-identified, gay-identified varieties of English. 5 The respect and avoidance practices are closely associated with “women’s speech”, but men as well as women are bound by these discursive obligations, even if women may become powerfully disadvantaged by them (Rudwick 2008: 240-243). 250 William L. Leap (Washington D. C.) One set of those varieties of English relevant to this example includes discursive practices that I have elsewhere referred to as“Gay English” (Leap 2008 a), a broadly inclusive designation for certain relationships between language and same-sex desire, identities and practices in English-speaking settings. Particularly important is its ideological potency: people believe Gay English exists, even if there is no agreement regarding the details of the linguistic inventory through which conditions of existence are represented. Indeed, like all forms of linguistic practice, Gay English in the North Atlantic context is an intersectional formation, inflected for gender, age, class division, regional, racial and ethnic difference, and particulars of desire and erotic practice; and increasingly, in the US, Gay English is being inflected against nationality and national language background, as well (Leap 2008 b.) And thanks to various forms of global circulation (including the gay tourism industry, displacement/ diasporic movement, electronic communication/ social media, and world-wide initiatives around sexuality and human rights) Gay English has now taken root in a wide range of sites outside of the US- European domain (Leap 2010 a). Understandably, the intersectional profiles differ in these instances and so do the ideological values associated with Gay English, especially in relation to local forms of discourse that already engage forms of same-sex desire. Perhaps because of its modernist associations, Gay English is now designated the “appropriate” language of same-sex desire in many locations within the global circuit. In cases where existing linguistic/ sexual taboos impose severe restrictions on local social practices, a globally circulating gay English provides especially attractive alternatives to local practice and local restrictions, and sometimes provides discursive materials that would otherwise not be available in the local setting. But this is not the case in every location where gay English is attested (Leap 2010 a.) In contexts as different as contemporary France (Provencher 2007) and contemporary Indonesia (Blackwood 2010, Boellstorff 2002), the “outsider” status of gay English works as a disadvantage rather than as an asset. Already marked as something that has no appropriate place within the local terrain, the expressive potential of gay English is best avoided in favor of forms of linguistic practice more closely tied to particulars of the social and historical context since those linguistic practices confirm a speaker’s claims to place within community, region and/ or nation. North Atlantic-related Gay English circulated in metropolitan Cape Town during the apartheid period, due to such factors as international travel, tourism (including sex tourism), and the distributions of print and visual media (including pornography.) A major point of circulation was the City Centre, Cape Town’s commercial and administrative district (including the Houses of Parliament and government offices), and also the site of most of Cape Town’s gay-identified/ gay-friendly pubs and public cruising areas. However, language use in the gay pubs and clubs during the apartheid period was largely Afrikaans-based. Not until the 1990 s, when apartheid was regulations were beginning to be disbanded, did English began to upstage Afrikaans as the language of public gay identity in these locations. It was also during the 1990 s that same-sex identified residents of the Black townships began to gain access to City Centre gay-identified sites, and with that, access to what was now a City-Center identified gay English. Similar to Afrikaans, and unlike Xhosa, the English used in these locations did not assign negative sanctions to explicit, public discussions of sexuality. But unlike Afrikaans, English did not bring into the conversations any association with apartheid rule (or, and later, invoke references to apartheid legacies.) Moreover, gay English promoted affiliations between Black township residents and the North Atlantic gay metropolis and its sense of gay style, and that helped build forms of gay imaginary within the townships. Language, Sexuality and the Suspension of Taboo 251 While these varieties of gay English offered powerful alternatives to existing linguistic practices, they also indexed an affiliation with Cape Town’s City Centre, an area proclaimed as white-spaces and as spaces of Black exclusion under apartheid, and an area of white privilege during the period of reconciliation, especially so where gay commercial locations were concerned (Leap 2005.) Viewed ideologically, and without taking into account the sexual messages, speaking a gay-identified English asserted affiliations with whiteness/ privilege and thereby a refusal of township/ homeland/ Xhosa traditions. Moreover, the sexual (and other) explicitness of gay English violated Xhosa’s expectations of respectful, restrained speech, identifying the speaker as someone who (at best) was ill-mannered and open to more severe reprimand - and at worst as someone who showing little respect for one area of Xhosa discursive traditions, might be willfully violating other traditions as well. Either way, framed in terms of township discourse, this would be taboo’d (or potentially taboo-able) behavior, indeed. 6 “[. . .] Mentioning [. . .] the Unmentionable without Actually Breaching the Norms” in Relation to Black Township Spatial Practice 6.1 Township Shebeens as Sites of “Humiliation and Harassment” The women and men I worked with during my Black township research (see footnote 3) were residents of Guguletu township, although some of them stayed in apartments or rented rooms in Salt River or one of Cape Town’s other southern suburbs during the work-week, and returned to stay with family or friends in Guguletu on the weekend. Place of residence was often a matter of convenience for those who had secured employment in the City Centre or adjacent areas. By staying in Salt River or other suburban locations during the week, workers avoided a long, tedious daily train ride/ commute from township to City Centre and return. (Such options had been highly restricted, if not impossible, during the apartheid period.) But there were other reasons for moving to the suburbs. Tando and other Black township residents that I interviewed repeatedly agreed that the City Centre offered a way to escape what one same-sex identified Black man termed “[. . .] this situation [in the townships] of humiliation and harassment and all that stuff.” (cited in Leap 2005: 254.) Same sex identified women and men became targets of “humiliation and harassment” any time they moved within the public space of the township. These ever-present threats prompted some of these township residents to seek lodgings elsewhere or encouraged them to travel to City Centre to find sources for socializing in the bars or in other locations if they maintained residence in the townships. There were sites within the townships where same-sex identified women and men could socialize, however. One of the key locations to that end were the shebeens, privately operated taverns, located in a person’s home, offering drinks and snacks at inexpensive prices, and also places for dancing, to play pool and card games, to meet friends and to socialize. More than merely for profit commercial sites, shebeens were locations where people gathered, where social networks were broadened, and were existing ties of friendship and kinship could be acknowledged, reaffirmed and renewed. Tando (and others) admitted that shebeens could also be sites of “humiliation and harassment.” Those who frequented the shebeens did the same, but they also described how 252 William L. Leap (Washington D. C.) they engaged those conditions as part of the shebeen-centered work of friendship and kinship. These descriptions - and the real life experiences they detail - are of particular interest in this paper. While they engage conditions of shebeen-related humiliation and harassment, they do so while engaging practices ordinarily considered to be taboo under southern Nguni linguistic and social etiquette: references to the names of deceased relatives, narrative singularity, and explicit affirmations of personal sexuality and the sexuality of others. That same-sex identified Black township residents might suspend the regulatory expectations of taboo when they describe responses to humiliation and harassment in the shebeen makes an important point: some narrative practices may be able to qualify the potency of taboo, in much the same way that some narrative practices are found to reshape the severity of homophobic violence into speaker affirmations of self-determination, survival and triumph (Leap 2010 b.) More importantly, perhaps, speakers did not suspend the potency of taboo in identical ways, and it is here that the presence of a North Atlantic/ City Centre related Gay English along with other linguistic options becomes especially relevant to the discussion. 6.2 Two Women Address Shebeen-related “Humiliation and Harassment” - and Taboo To develop this argument, I am citing here segments from interviews conducted with samesex identified women who have long-standing family and friendship-based affiliations with Guguletu, a Black township located eighteen miles east of Capetown’s City Centre. Both women were in their mid-twenties at the time of the interviews (1998); the language of the interview in each case was English. Both women are fluent speakers of Xhosa (the language of their childhood home) and Babs chose to answer some questions and to tell some of her personal stories in that language, which we reviewed, transcribed and translated together, at a later time. Theodora, the speaker in Example 1, grew up in Guguletu but now stays 6 in one of the suburbs; she works in the City Centre during the week and returns to Guguletu on the weekends. Babs also grew up in Guguletu and also tried suburban life briefly. But Babs was unable to find stable employment in the City Centre and she also missed the familiar ambiance of the township setting. Two months after moving into the suburbs, she returned to Guguletu. Theodora and Babs offered these comments (Examples 1 and 2, below) as part of a larger discussion of township geography, “safe space” locations and locations associated with threats and violence. Having already explained that the shebeens were unsafe for same-sex identified women and men, now the women told me that the shebeens were important sites for social networking. The shift in evaluation surprised me, and I asked for clarification. Examples 1 and 2 indicate how Theodora and Babs replied to my request. 7 6 “Stays” is the appropriate Township English usage for this reference. “Stays” denotes temporary location; “lives” denotes a permanent place of residence. Someone “stays” in Guguletu or Salt River; whereas they “live” is the ancestral village in the homeland. 7 Leap (2015 b: 673-676) complements the following discussion with a close review of the formal properties of these comments. Language, Sexuality and the Suspension of Taboo 253 Example 1: [. . .] it is just the straight people who have problems with us. 101 Theodora: Like, we go to [names one shebeen] as lesbians or as people. I’ll go with my 102 friends, We go there and we relax. There are those people who are against us, but because 103 the owner knows us we don’t have any funny reactions. We aren’t against the other 104 people who are drinking there. It is just the straight people who have problems with us. 105 And it is a nice, cool, place, positive place, no problem. Then we leave [names shebeen], 106 and go straight through a grave yard we go to Nyanga East. In Nyanga East we go to 107 [name] Tavern. Even at [name] tavern, we have problems. We had problems with those 108 straight people. They are against us lesbians but there is no response that we do to the 109 straight people. We go and report to the owner of the place. If the owner doesn’t like 110 what is happening, the owner will tell the straight people to leave or we lesbians will 111 leave that place. And we leave Nyanga East and we go to Crossroads. Source: (Leap 2015 b: 637.) Example 2: Your safety is in your hands. 201 Babs: OK. There is this one shebeen, it’s not safe because there’s a lot of skolies, 202 gangsters, children you know. But we discovered another one down the road here. And 203 that’s like, you come in you buy your liquor, you sit down, you drink, you jive, and you 204 drink your liquor, finish it and you go home. Every kind of people is there. Your safety is 205 in your hands. It is up to you. Are you going to drink and be rude? Disturb other people’s 206 company? Because once I pinch you then it’s like a heck of an argument. So you buy 207 your liquor and enjoy yourself, don’t disturb other people. That is why I say, your safety 208 is in your hands. Source: (Leap 2015 b: 673-674.) In the first instance, Theodora’s and Babs’ comments reflect two different approaches to what de Certeau termed “walking the city” (1984: 92-93.) These are “travel stories,” in de Certeau’s phrasing (1984: 115), and both travel stories involve township shebeens, sites where, by their description, these women often become the objects of an unnamed (but given the indications of sexual sameness, presumably heteronormative male) gaze. The specifics of what de Certeau terms the “spatial syntax” (1984: 115) in each speaker’s travel story” (1984: 115) indicate how the speaker and her friends construct personal safety in the midst of conditions of risk and danger. Importantly to the interests of this paper, the particulars of spatial syntax and the indications of safety are in no sense the same. Theodora (Example 1) talks about moving from site to site, especially when “we had problems with those straight people [in a particular shebeen] who are against us lesbians” (lines 1.107-1.108), Babs (Example 2) talks about selecting a single site and settling there for the entire evening. Theodora explains that she and her friends are very much dependent on the patronage of the shebeen’s owner (1.103). If there are problems with other customers 254 William L. Leap (Washington D. C.) (1.107), then “we go and report to the owner of the place. If the owner doesn’t like what is happening, the owner will tell the straight people to leave or we lesbians will leave that place” (1.110-1.111.) Babs’ source of protection is not the owner’s patronage but rests in the fact that “your safety is in your hands”, a comment she introduces twice into the commentary (2.204- 2.205, 2.207-2.208), along with her citation of the rhetorical anecdote reminding her listener that to create trouble is bring unwanted attention (2.205-2.206.) And the speaker’s use of nomination within the story line - specifically the speaker’s selfidentification and the identification of others - strengthens that argument that Theodora and Babs are not telling the same “travel story” even though they are both talking about visiting the township shebeens. Theodora specifies the connections between violence and sexuality, by naming “us” as “lesbians” and by naming the opponents as “straight people”, e. g.: “[. . .] it is just the straight people who have problems with us [. . .] They are against us lesbians [. . .]” (1.104, 1.108.) By maintaining this labeling throughout the commentary, Theodora’s creates an oppositional tension - us/ lesbians vs. them/ straight people - that organizes her entire descriptions of weekend township experience. (Township gay men play no role in the account at all.) For example, Theodora goes on to speak repeatedly about time spent in the homes of friends or in other spaces entirely divorced from the public/ heteronormative gaze. Visits to the shebeens, as important as they are to the work of friendship and kinship, are an augment to whatever social ties are developed in private settings. But more reliably than the shebeens, it is these spaces “inside” that provide Theodora and her friends with protection from “[. . .] the straight people who have problems with us” (1.105.) Borrowing another Township English metaphor these are the spaces in the township where (by Theodora’s report) she and her friends can “feel free.” This is not the stance of nomination - or the argument localizing the sites for “feeling free” - that Babs adopts in her commentary. Rather than attempting to specify a consistent identification for her participants, Babs refers to herself and her colleagues through a series of deictic (pronoun) pairings, and then through shifts in those pairings. What begins as “we” (2.201-2.202) dissolves into a “you” centered comradeship (lines 2.203-2.206) and a cautionary “I”-centered source of disruptive violence (2.206.) However, the “violent I” of 2.206 is not the “evaluative I” which restores the voice of the narrator to the text in 2.207, but is still distinct from “you”-nominated comradeship. As I explain in Leap (2015 b), Babs uses shifts in deictic marking to distinguish those moments where she places herself within the story line, as participant (“we”) or as the source of disruption “I” separated from “you” vs. outside of the story line, as narrator “I.” Overlooked in this complicated use of double-voicing nominating her own gender or sexuality or that of her friends or any other participant in the story-line. I can bring some of these details to the narrative, given that Babs told this story during a face-to-face conversation, which allowed me to assess her self-presentation at first-hand. And also, its specifics notwithstanding, Babs’ story retains the “order of discourse” broadly associated with the shebeen-related travel stories often told by same-sex identified Black township females. But in both cases, this would be information that I, as audience, bring into the narrative moment, Babs did not provide textual materials specifying the basis for those inferences. Unlike Theodora, Babs did not use the term “lesbian” to refer to herself or her women friends in relation to township-centered public/ commercial spaces. Language, Sexuality and the Suspension of Taboo 255 These contrasts in spatial syntax - movement, management of safety/ risk, self-reference, nominations of others - could be entirely accidental, of course. But viewed within an intersectional framework, these contrasts align with other contrasts distinguishing spatialstory-telling in Theodora’s and Bab’s examples. Importantly here is the difference in English register: Theodora’s English resembles the English of Cape Town’s City Centre - and specifically, given its repeated use of English rather than Afrikaans to connect identity, agency and desire - a City Centre-identified gay English practice. Babs’ English was not a City- Centre identified formation. In fact, some City Centre residents might have treated the recurring uses of deictic shift in Babs’ remarks as a marker of township English affiliation. Certainly, the absence of explicit connections to gender/ sexual reference in Babs’ spatial story could have been read as an expression of public modesty, deferential speech, and linguistic avoidance, that is, as the appropriate forms of linguistic practice in instances where southern Nguni speakers and their audiences confront the traditionally disquieting discursive terrain of the sexually taboo. This argument positions Babs as the good township citizen, and places Theodora as someone whose linguistic/ discursive practices violate the rules of taboo-related decorum. What I know about Theodora’s personal biography (summarized above) does not suggest such a transgressive profile. While she has moved into the suburbs, she is very careful to return to the township on the weekends, so that her ties of friendship and kinship may be maintained. And as her spatial story confirms, if the shebeen’s owner cannot mediate points of difficulty, she and her friends are willing to leave and move on to another, and hopefully more cordial location. Theodora’s spatial practices seek to avoid disruption, not to create it. Her use of “lesbian” as a form of nomination disrupts Southern Nguni sexual taboos about sexual self-presentation, the disruption also includes a work of repair: Had she used Afrikaans terms, or invoked vocabulary from vernacular township discourse, or made up terms following the word-building patterns that guide new word creation in instances of taboo’d speech, Theodora’s word choice would display a semiotic of insistence: Her same-sex desire deserves public recognition in township sexual discourse. Theodore’s biography, like her social practices on weekend and her linguistic practices in spatial story-telling (and din the events those stories detail) indicate otherwise: We aren’t against the other people who are drinking there. It is just the straight people who have problems with us. (1.103-104) And while the tactics she and her friend employ are different, Theodora entirely agrees with how Babs responds to such conditions: “That is why I say, your safety is in your hands” (2.207-208.) 7 Conclusions: Discourse, Taboo, Intersectionalities This discussion of discourse and taboo has focused on linguistic and social practices of two women. I could have offered a broader profile of taboo-related spatial syntax by examining more women’s stories or introducing men’s as well as women’s narratives. But my purpose here was to address the intersectionalities linking linguistic practice with mobility and relative affluence, desire, and (be)longing, and thereby linking mediating the tensions 256 William L. Leap (Washington D. C.) between taboo’d message and the obligations of citizenship. Intersectionalities are not static formations, Vološinov reminds us: “Existence reflected in sign is not merely reflected but refracted [. . .]” such that “[. . .] differently oriented accents intersect in every occurrence of the ideological sign” (Vološinov 1973: 23.) Vološinov refers to “sign [. . .] as an arena of the class struggle” (1972: 23) in those remarks, but his comments apply to related domains where social practices are shaped by ongoing political/ ideological dispute. The regulatory practices circulating around the “sign” taboo certainly qualify here. As this paper has shown, the lived experience of taboo may be consistent with the particulars of the single subject’s social, linguistic and personal biography, but for that reason, still unfolds unevenly. Rather than limiting discussions of taboo to discourses of prohibition and restraint, or simply augment them with discussions of creativity, I find it useful to study taboo by asking how some social subjects benefit - or struggle to create benefit - from prohibitions and restraints that might otherwise place them at disadvantage. An intersectionalities framework offers useful guidelines for the semiotic inquiry that such an analysis requires. 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Although this might be correct with regard to ethnicity, race, and social class, it seems less so regarding gender and sexuality. Commercially successful hip-hop artists make their marks with sexist and homophobe lyrics, and also amateur hip-hoppers, male and female, celebrate and reproduce clichéd and traditionalist conceptions of femininity and masculinity in their rap battles (Deppermann & Riecke 2006, 158). Yet hip-hop is diverse, and recently, new gendered subjectivities and possibilities of identification even in more mainstream hip-hop have emerged. Analysing video clips from the Swiss German all male hip-hop crew Chlyklass by applying tools from multimodal social semiotics (van Leeuwen 2008), I demonstrate that these artists construct gendered subjectivities which question hegemonic masculinities and break taboos of hegemonic masculine hip-hop culture. 1 Männlichkeit im Hip-Hop und dessen De-konstruktion Hip-Hop, die popkulturelle Strömung aus Rap, Battle, Tagging und Bombing, ist facettenreich, komplex, in sich keineswegs einheitlich, sondern vielmehr widersprüchlich. Seit seiner Genese in den Ghettos US-amerikanischer Großstädte in den 1970er Jahre hat sich Hip-Hop global ausgebreitet und lokal in unterschiedliche Richtungen ausdifferenziert. Die Wahrnehmung des Hip-Hop in der Öffentlichkeit ist jedoch wenig positiv. Ein Kritikpunkt, der immer wieder vorgebracht wird, ist, dass Hip-Hop männlich geprägt sei: “It’s no secret that rap is a boys’ club.” (Bonnette 2015: 88) Zwar gab und gibt es auch erfolgreiche Rapperinnen, so etwa die US-Amerikanerinnen Lauryn Hill, Queen Latifah oder Nicki Minaj, die deutsche Sookee oder die Schweizerin Steff La Cheffe, doch Frauen sind im Hip-Hop, verglichen mit Männern, weit weniger erfolgreich, und diejenigen, die es sind, mussten sich ihren Platz hart erkämpfen (cf. Smith 2014). Die institutionelle Dominanz der Männer begleitet eine symbolische Vorherrschaft, die in der Öffentlichkeit laut kritisiert wird. So konstatiert Rose gegen Ende der 2000er Jahre: Although its overall fortunes have risen sharply, the most commercially promoted and successful hip-hop [. . .] has increasingly become a playground for caricatures of black gangstas, pimps, and hoes. Hyper-sexism has increased, and homophobia along with distorted, antisocial, selfdestructive, and violent portraits of black masculinity have become rap’s calling cards. (Rose 2008: 1-2) Rose verweist hier auf ein spezifisches Rap-Genre, den Gangsta-Rap. Gangsta-Rap entstand Mitte der 1980er Jahre an der Westküste der USA und wurde kommerziell äußerst erfolgreich. Er fasste in den 2000er Jahren auch in Deutschland und der Schweiz Fuß (cf. Dietrich & Seeliger 2014). 1 Gangsta-Rap zelebriert die “gangsta culture” und damit eine Welt, welche von Gewalt, Drogen und Bandenkriegen geprägt ist und von Männern dominiert wird, die sich in ihren “Präsentationen des Selbst” (Goffman 2003) keine Schwäche leisten können und ihre Männlichkeit ständig unter Beweis stellen müssen, wie etwa 50 Cent in Many Men (Wish Death): I put a hole in nigga for fucking with me, my back on the wall, now you gon’ see, better watch how you talk when you talk about me cause I’ll come and take your life away. (50 Cent 2003) In der Version des Schweizer Rappers L-Montana klingt dies dann so: Besser du seisch mir was ich will wüsse, oder ich druck dis Gsicht in e WC Schüssle. (L-Montana 2013 a) 2 Die in den Songs repräsentierte Gewalt richtet sich nicht nur gegen Gegner in imaginierten Bandenkriegen, sondern auch gegen Frauen. Frauen sind “bitches”, “whores” und “sluts”, die, wenn sie nicht parieren, mit Konsequenzen rechnen müssen. Das gilt selbst für die eigene Mutter, wie Eminem in seinem Song Kill You klar macht: Shut up, slut, you’re causing too much chaos, Just bend over and take it like a slut, okay, Ma? (Eminem 2000) Eine andere Zielgruppe, welche oft ins verbale Fadenkreuz der Gangsa-Rapper gerät, sind Homosexuelle. Homophobie ist im Gangsta-Rap auch heute noch omnipräsent. Auf seiner neusten LP rappt Eminem: I’ll still be able to break a motherfuckin’ table over the back of a couple of faggots and crack it in half. [. . .] Tell me what in the fuck are you thinking? Little gay looking boy so gay I can barely say it with a straight face looking boy. (Eminem 2013) Misogynie und Homophobie sind jedoch keineswegs nur im Gangsta-Rap verbreitet. Auch im Mainstream-Rap ist eine normative, strikte Geschlechterordnung weit verbreitet, und in dieser dominieren heterosexuelle Männer (cf. Deppermann & Riecke 2006: 158). Das heterosexuelle männliche Subjekt ist hier die “somatische Norm” (Berggren 2014: 234), und Schwule und Lesben sind im kommerziellen Hip-Hop immer noch nicht wirklich willkommen: “Commercial rap music [. . .] exudes homophobia.” (Oware 2014: 74) Auch der so genannten “Conscious Rap”, der gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit rappt, stellt die Vorherrschaft der Männer und die mit ihr zusammenhängende Sozialstruktur nur selten in Frage, und die Tatsache, dass Rassismus, Sexismus und Patriarchalismus eng 1 Cf. dazu etwa die Schweizer Rapper L-Montana oder S-Hot oder den deutschen Rapper FLer. 2 Besser du sagst mir was ich wissen will, sonst drück ich dein Gesicht in die WC-Schüssel. 260 Daniel H. Rellstab (Vaasa) miteinander verknüpft sein können, wird kaum thematisiert (cf. Rabaka 2011: 66). Das Gleiche gilt auch für den nicht von den großen Musikkonzernen vertriebenen Underground- Hip-Hop. Oware, der Songtexte US-amerikanischer Mainstream Rapper und solcher, die sich dem Untergrund zuordnen, vergleicht, zeigt, dass auch letztere in abfälliger Weise über Frauen rappen und Gewalt gegen Frauen verherrlichen (cf. Oware 2014: 73). Sein Fazit hinsichtlich Homophobie fällt aber anders aus. Zwar kenne auch der Underground-Rapper keine größere Beleidigung, als den Gegner als “schwul” zu bezeichnen, doch tauche diese in den von ihm analysierten Untergrund-Texten deutlich seltener auf als in den Songs erfolgreicher Rapper. Nicht alle Geschlechterentwürfe innerhalb des Hip-Hop werden von diesen Normen regiert, und schon lange existieren auch Strömungen, die dezidiert feministisch sind und die “gender-line” in mehrfacher Hinsicht überschreiten. So formierte sich anfangs der 2000er Jahre an der US-amerikanischen Westküste die schwule Hip-Hop-Crew Deep Dick Collective. Die queere Künstlerin Hanifah Walidah rappt seit mehr als 20 Jahren; Johnny Dangerous, der sich selbst als “top faggot emcee” bezeichnete, schrieb in den 2000er Jahren Songtexte, die so schlüpfrig sind, dass sie selbst ein “military-base working girl” zum Erröten bringen. 3 Queerer Rap blieb jedoch lange an den Rändern des Hip-Hop Universums und wurde in einschlägigen Hip-Hop Clubs nicht gespielt (cf. Clay 2012). Heute scheint ein Umbruch stattzufinden. So stellt sich die US-Rapperin Nicki Minaj gegen die herrschende Heteronormativität und inszeniert queeres Begehren in ihren Texten und auf der Bühne (cf. Smith 2014). Die Platten von Le1f, einem schwulen Rapper aus Harlem, werden in DIE ZEIT genauso besprochen wie diejenigen der queeren Person Mykki Blanko oder der deutschen Sookee, Quing of Berlin (cf. Groß & Winkler 2013). Doch auch eher dem Mainstream zuzuordnende, heterosexuelle männliche Rapper setzen sich zunehmend kritisch mit den vorherrschenden Gendervorstellungen auseinander. Um dies zu zeigen, werden im Folgenden zwei Musikvideos von Rappern des Berner Hip-Hop-Kollektivs Chlyklass auf ihre Genderkonstruktionen hin untersucht. Analytisch orientiere ich mich an der multimodal konzipierten Social Semiotics (cf. Jewitt 1997; Mayr 2015; Van Leeuwen 1996; Van Leeuwen 2008); die Konstruktionen werden aus männlichkeitstheoretischer und “Hip- Hop”-ästhetischer Perspektive interpretiert. Der Beitrag ist folgendermaßen strukturiert. Zuerst werden die männlichkeitstheoretischen Grundlagen sowie die dem Hip-Hop eigene Ästhetik des Samplings und die Ideologie der Gegenhegemonie diskutiert. Dann werden die analysierten Videoclips kontextualisiert und die zur Analyse verwendete semiotische Methode expliziert, bevor die beiden Videoclips analysiert und diskutiert werden. 2 Das Prinzip hegemonialer Männlichkeit und die Produktion von Tabus Die traditionelle institutionelle wie auch die symbolische Praxis des Hip-Hop funktionieren gemäß des generativen Prinzips hegemonialer Männlichkeit. Dieses Prinzip definiert Meuser im Anschluss an Connell (2006), Connell und Messerschmidt (2005) sowie Bourdieu (2005) als “doppeltes, die hetero- und die homosoziale Dimension umfassendes Hegemoniebestreben [sic! ]” (Meuser 2006: 166-167). Dieses Hegemoniestreben ist erstens darauf gerichtet, die Angehörigen des anderen Geschlechts zu dominieren. Zweitens zielt es auf 3 http: / / www.johnnydangerousworld.com/ #! press/ c14or [7. 7. 2016] Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 261 Hierarchiebildung innerhalb der Gruppe der Männer ab; alle Männlichkeitsbekundungen müssen von anderen Männern bestätigt und beglaubigt werden (cf. Bourdieu 2005: 94-95). Die beiden Dimensionen sind eng miteinander verknüpft, denn das erfolgreiche Dominieren der Frauen führt zum Aufstieg in der Hierarchieleiter innerhalb der Gruppe der Männer (cf. Meuser 2006: 167). Auch die Unterwerfung nicht-hegemonialer Männlichkeiten ermöglicht den Aufstieg in der Hierarchieleiter der Männlichkeit, und ganz zu unterst auf dieser Hierarchieleiter stehen schwule Männer, denen Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit Weiblichkeit assoziiert und damit hegemonialer Männlichkeit diametral entgegengesetzt sind. Subordinierte Positionen kommen jedoch auch anderen Männlichkeiten zu, wie dies eine Reihe von Schimpfwörtern zeigen, mit welchen “nicht richtige” Männer belegt werden. Dazu gehören der Nerd, der Weichling, das Muttersöhnchen, der Warmduscher, das Weichei, aber auch der Streber, um nur ein paar zu nennen (cf. Connell 2006: 78-79). Das generative Prinzip hegemonialer Männlichkeit manifestiert sich kontextuell und schafft lokal ausdifferenzierte Konfigurationen von Männlichkeiten und Organisationformen der Geschlechterarrangements. Gleichzeitig interagiert es mit einer Reihe weiterer Faktoren. Wichtig sind etwa ökonomische und ethnische Faktoren. In ökonomisch depravierten und aus ethnischen Gründen marginalisierten Gruppen werden teilweise kompensatorisch “protest masculinities” konstruiert, die zwar mit dem Anspruch hegemonialer Männlichkeit auftreten, denen aber etwa die ökonomischen Ressourcen oder die institutionelle Autorität fehlen, um de facto zur hegemonialen Männlichkeit zu werden; dazu gehören etwa machoide Männlichkeitskonstruktionen in spezifischen Arbeitermilieus und in aus ethnischen Gründen marginalisierten Gruppen (Connell & Messerschmidt 2005: 847- 848). 4 Selbst wenn diese “protest masculinities” in der Gesamtgesellschaft marginalisiert sind, können sie in ihren spezifischen sozialen Milieus dominant sein (cf. Meuser 2006: 167). Das generative Prinzip hegemonialer Männlichkeit produziert gleichzeitig auch Tabus, die als Instrumente eingesetzt werden, um die Hierarchie zu stützen. Geht man mit Douglas (1979; 2002) davon aus, dass das Tabu auch eine die gesellschaftliche Klassifikation stabilisierende Funktion hat, dann stellt eine Tabuverletzung auch eine Problematisierung des gesamten Klassifikationssystems, auf dessen Etablierung das generative Prinzip hegemonialer Männlichkeit ausgerichtet ist, in Frage. Als Männer Schwäche zu zeigen könnte man deshalb als Tabubruch bezeichnen, entspricht dies doch dem “Tabu der Feminisierung”, und aus hegemonial männlicher Perspektive muss das männliche Prinzip über das weibliche herrschen. Ein noch größerer Tabubruch stellt gemäß dieser Logik Homosexualität dar; diese gilt als “Sakrileg am Männlichen” (Bourdieu 2005: 203). Homosexualität scheint für den Hip-Hop ein spezifisches Skandalon darzustellen, was weniger erstaunlich wirkt, wenn in Betracht gezogen wird, dass die männlich dominierte Hip-Hop Kultur stark durch Homosozialität geprägt ist. Diese manifestiert sich auch in den Songtexten des US-amerikanischen (cf. Oware 2011), des schwedischen (cf. Berggren 2012) 4 Die von Bohnsack untersuchten Männlichkeitskonstruktionen deutsch-türkischer männlicher Jugendlicher der zweiten und dritten Generation sind solche Protestmännlichkeiten (cf. Meuser 2006: 165-167). In ihrem Bestreben, ihre “Ehre” und damit ihre “türkische” Identität zu bewahren, überwachen diese Männer u. A. ihre Schwestern und Freundinnen permanent und interpretieren den Umgang deutscher Männer mit ihren Frauen gleichzeitig als Laschheit (cf. Bohnsack 2001). 262 Daniel H. Rellstab (Vaasa) oder des Schweizer Hip-Hops: “alli auge uf mi grichtet, d’brüeder hinder mir, äs paar bitches näbe mir” - ‘alle Augen auf mich gerichtet, die Brüder hinter mir, ein paar Bitches neben mir’ (L-Montana 2013 b). Diese Homosozialität mischt sich, wie Beggren (2012) zeigt, manchmal, wohl nicht-intentional, mit gleichgeschlechtlichem Begehren. So beschreibt der schwedische Rapper Petter die Wirkung seines Songs folgendermaßen: “there’s just a few of us who can turn hip hop-dicks hard” (Petter 1999: Rulla med oss, zitiert in: Berggren 2012: 55). Dieses gleichgeschlechtliche Begehren gilt es aber immer wieder abzublocken, eine Vermischung von Homosozialität und Homosexualität kommt einem Tabubruch gleich. So verweisen die Rappenden schon fast litaneiartig darauf, nicht schwul zu sein, und bedienen sich des Adjektivs “schwul”, um andere zu beschimpfen. Damit re-konstruieren sie nicht nur Heteronormativität, sondern gleichzeitig auch ihre eigene Männlichkeit. 3 Hip-Hop: Ästhetik des Samplings, Ideologie der Gegenhegemonie Dass in weiten Bereichen des Hip-Hop ein hegemonial-männliches Prinzip vorherrscht, ist eigentlich erstaunlich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens zeichnet sich Hip-Hop durch Verfahren der Bricolage, des Recyclings, der Vermischungen aus. Dieses Verfahren macht den Rap zur Blaupause der Konstruktion transkultureller, hybrider Identitäten, wie etwa Scholz (2004: 63) feststellt. Diese Hybridität ließe sich auch auf die Konstruktion von Gender anwenden. Zweitens wird Hip-Hop oftmals als eine Kultur des Widerstands beschrieben (cf. Kimminich 2014), welche, wie insbesondere US-amerikanische Autoren und Autorinnen schreiben, die weiße Hegemonie herausfordern und in Frage stellen würde (cf. Oware 2014: 62). Schur identifiziert vier unterschiedliche, aber eng miteinander verwobene Facetten der Ästhetik der Bricolage des Hip-Hop: “(1) sampling, (2) layering, (3) rhythmic flow and asymmetry, and (4) parody or irony” (Schur 2011: 43). Im Sampling werden kurze Segmente unterschiedlicher Lieder, Filme oder anderer Quellen qua Produktion eines neuen Klangs miteinander verwoben, und so werden die Grenzen zwischen Prozessen des Konsumierens und des Produzierens verwischt (cf. Schur 2011: 46 ff.). Hip-Hop ist in einem ständigen Austausch mit vielfältigen Klang-, Bilder-, Text- und Warenwelten, welche die Erfahrungen des heutigen Menschen prägen. Der Hip-Hop-Ästhet, die Hip-Hop-Ästhetin greift auf Fragmente dieser Welten zurück und fügt sie zu neuen Texten zusammen, die gleichzeitig als ironische Kommentare dieser Elemente und der Welten, aus denen diese stammen, dienen (cf. Schur 2011: 47). In und durch Sampling und Layering entsteht im Hip-Hop ein ganz eigener Flow, ein eigener Rhythmus, der durch den spezifischen Einsatz des Basses etwa zusätzlich unterstrichen wird (cf. Schur 2011: 53-54). Die Ästhetik der Bricolage scheint nicht nur der Globalisierung des Hip-Hop Vorschub geleistet zu haben, sondern gleichzeitig auch ein Angebot zur Konstruktion von Identitäten zu bieten, welche für Menschen attraktiv ist, die sich zwischen den Kulturen verorten. Obwohl eng mit der afro-amerikanischen Kultur der USA, der Karibik und Großbritanniens verbunden, ist Hip-Hop heute ein weltweites popkulturelles Phänomen und in vielen Teilen der Welt und in allen Ländern Europas zugegen (cf. Androutsopoulos & Scholz 2003: 463). Hip-Hop wird in unterschiedlichsten kulturellen, sozialen und linguistischen Kontexten produktiv genutzt, was sich auch auf die spezifische Ästhetik zurückführen lässt, welche die Kombination und die Vermischung unterschiedlichsten Lautmaterials, unterschiedlicher Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 263 Sprachen und Stimmen nicht nur zulässt, sondern geradezu fordert (cf. Pennycook 2007: 92). So kann Hip-Hop zu einem Vehikel werden, welches der Rekonstruktion lokaler Identität dient (cf. Mitchell 2001: 1-2). Dies beobachtet Scholz unter anderem in Frankreich, wo Hip- Hop vor allem von Migranten der ersten und der zweiten Generation getragen wird und auch der Konstruktion einer “eigenen sozioethnischen Identität innerhalb Frankreichs” dient, einer Identität, welche Elemente der Familienkultur und der Mehrheitskultur auf der Folie des globalisierten Hip-Hop in einen “z. T. kritischen Dialog überführt” (Scholz 2004: 63). Die Charakterisierung des Hip-Hop als “site of cultural resistance”, als “site of contestation as well as social transformation” (Viola & Porfilio 2012: 3) geschieht im akademischen Diskurs oft unter Verweis auf seine Anfänge in der Bronx der 1970er Jahre. Dort waren die Arbeitslosigkeit groß und die Kriminalitätsrate hoch, und die Bevölkerung fühlte sich von der Polizei eher bedrängt denn beschützt. Für viele Jugendliche war Hip-Hop eine Möglichkeit, Frustration und Ärger, Ängsten und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen (cf. Oware 2014: 62). Die Charakterisierung des Hip-Hop als Praxis der Emanzipation geschieht auch unter Verweis auf die Traditionen, in welchen er sich verorten lässt, etwa das Black Power Movement oder die Black Panthers Party (cf. Cheney 2005; Rabaka 2011); Kimminich weist darauf hin, dass der Rap “Ausdrucks- und Protestformen afroamerikanischer Bevölkerungsgruppen und Latino-Minderheiten” beerbte und unterstreicht, dass Hip- Hop von der Nation of Islam vereinnahmt, für die Entstehung der Zulu Nation entscheidend und zur Verbreitung der Ideen der von KRS-One etablierten Stop-the-Violence-Bewegung eingesetzt wurde (cf. Kimminich 2014: 177). Der globalisierte Hip-Hop erscheint so, um Bock, Meier und Süß (2007: 316) zu zitieren, als “globale Emanzipationspraxis”, mit welchem auf soziale Missstände aufmerksam gemacht wird, sei dies auf die Unterdrückung ethnischer Minderheiten oder auf die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen und deren Konsequenzen für diejenigen, die über keine Mittel verfügen (cf. Mitchell 2001: 10). 4 Daten und Methode Chlyklass, Berndeutsch für Kleinklasse 5 , entstand aus dem Zusammenschluss zweier Rapcrews, Wurzel 5 und PVP, den beiden Solokünstlern Greis und Baze und den DJs Link und Skoob gegen Ende der 1990er Jahre. PVP wurde 1994, Wurzel 5 drei Jahre später gegründet. Nicht unbescheiden behauptet Chlyklass, dass sie ein ganzes Jahrzehnt des Mundart-Raps in der Schweiz geprägt hätte. 6 Richtig ist, dass nicht nur das Kollektiv Chlyklass, sondern auch die Crews und die Solokünstler Baze und Greis für Schweizer Verhältnisse erfolgreich waren oder es immer noch sind. 7 Zumindest die Crew PVP und der Solokünstler Greis lassen sich dem so genannten “Conscious Rap” (Kimminich 2014) zuordnen. PVP veröffentlichte einen ihren ersten Songs auf einer CD, die im Kampf gegen die 5 Der Terminus Kleinklasse wird heute in offiziellen Dokumenten nicht mehr verwendet; er bezeichnete früher die heute so genannten “Klassen zur besonderen Förderung”, d. h. Klassen, die aus Schülerinnen und Schülern mit Lern- oder Aufmerksamkeitsschwierigkeiten bestehen. Siehe dazu http: / / www.erz.be.ch/ erz/ de/ index/ kindergarten_volksschule/ kindergarten_volksschule/ integration_und_besonderemassnahmen/ besondere_kla ssen2.html [7. 7. 2016]. 6 Pressetext zu “Wieso immer mir? ”. Abrufbar unter http: / / www.chlyklass.ch/ #links [7. 7. 2016]. 7 Allerdings konnten die Mitglieder von Wurzel 5 nie von der Musik leben. Siehe dazu den Dokumentarfilm “Backstage mit Chlyklass”, http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016]. 264 Daniel H. Rellstab (Vaasa) Verabschiedung eines neuen Polizeigesetzes in Bern aufgenommen worden war; dieser trug in Anlehnung an Che Guevara den Titel Hasta la victoria siempre (1997); Greis, der mit Baze das erfolgreichste Mitglied von Chlyklass ist, wird noch heute in der Presse als “Politrapper, Ökoaktivist, Revoluzzer, Cüplisozialist, Klugscheisser oder Schnittlauchgrüner” (Sigrist 2012) bezeichnet. Wurzel 5 dagegen haftete lange das Image der bösen Buben an, mit dem sie laut Eigenaussagen auch kokettierten. 8 Chlyklass rappt vor allem auf Berndeutsch, Greis rappt auch auf Französisch und experimentiert mit anderen Sprachen. Das erste analysierte Musikvideo gehört zum Song Wysse Golf (‘Weißer Golf ’) (Chlyklass 2015 a), der auf dem Chlyklass Album Wieso immer mir? (‘Warum immer wir’) (2015) erschienen ist. Dieses Album veröffentlichte die Crew nach einer 10-jährigen Pause. Darauf wird unter anderem das Älterwerden und die Tatsache, dass man sich als Rapper jenseits der Dreißig der Gefahr der Lächerlichkeit aussetzt (z. B. in Chlyklass 2015 b), thematisiert und gleichzeitig klargemacht, dass das Festhalten an alten Gewohnheiten und die Verweigerung, älter zu werden, problematisch sind (z. B. in Chlyklass 2015 c). Gedreht wurde das Video von PW Records, einer Firma, die Platten und Filme vor allem der Hip-Hop-Szene produziert. 9 Das zweite Video, Hünd (‘Hunde’) ist der Titel gebende Song aus Greis’ Album Hünd i parkierte Outos (‘Hunde in geparkten Autos’). Greis rappt hier mit den beiden deutlich jüngeren Rappern Migo und Juri; das Musikvideo wurde von Kackmusikk produziert, Regie führte Oliver Moser. Die Analyse fokussiert die Repräsentation sozialer Akteure und greift dazu einerseits auf van Leeuwens (1996) “Social Actors Network” zurück. Die Textanalyse wird mit der visuellen Analyse sozialer Akteure, wie sie von van Leeuwen und Kress (2006) als Social Semiotics entwickelt wurde, ergänzt. Kritisieren könnte man die Social Semiotics dafür, dass sie vor allem “Repräsentation” im Sinne von Kress (2010: 57) zu analysieren versucht, das heißt die von den Textproduzierenden intendierte Bedeutung, und dass sie dabei insbesondere an einer Inventarisierung der semiotischen Ressourcen interessiert scheint (cf. Roswell 2014). Und obwohl die Social Semiotics vorgibt, multimodal ausgerichtet zu sein, wurde der Ansatz als logozentrisch kritisiert, da alle Modi analog der Sprache analysiert werden (cf. Kokkola & Ketola 2015). Dieser Kritik wird insofern Rechnung getragen, als dass hier keineswegs die Intention der Produzenten analysiert werden soll, sondern das Sinnbildungspotential multimodaler Texte untersucht wird. Um dem Vorwurf des Logozentrismus zu begegnen, werden die Repräsentationen sozialer Akteure ebenfalls mit Hilfe einer genuin filmsemiotischen Methode analysiert (cf. Faulstich 2008; Korte 2004). Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass Musikvideoclips einer anderen Logik folgen als Filme. Die Musik steht hier im Zentrum und wird lange vor der Produktion der Musikvideos geschrieben. Sie bleibt das dominierende Element, und die visuellen Elemente und die anderen formalen Komponenten, so etwa spezifische Soundeffekte, werden dazu verwendet, um die Musik zu verstärken und nicht umgekehrt, wie dies in Filmen der Fall ist: Die Clips illustrieren einen Song (cf. Gow 1992). 8 Backstage mit Chlyklass, http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016]. 9 http: / / www.pw-records.com/ index.php [7. 7. 2016]. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 265 5 Wysse Golf: Parasitäre Männlichkeit Die erste Kameraeinstellung des Videos zeigt den titelgebenden weißen Golf auf einem sonst leeren Parkplatz in einem Industrieareal einer Stadt, die nur Eingeweihte als die Stadt Bern erkennen. Der Golf steht links im Bild. Graffitis schmücken die Güterwagons, die hinter dem Parkplatz sichtbar werden. Ein Mann in Trainingshose, Wollmütze und Sonnenbrille betritt von rechts das Bild und läuft zielstrebig auf den Golf zu (Bild 1). Bild 1 Das Gesicht des Mannes, der sich als der Sänger Baze entpuppen wird, wird erst nach einem Kamerawechsel im “Schuss-Gegenschuss”-Verfahren (Korte 2004: 40) erkennbar. In der neuen Einstellung wird gezeigt, wie er die Autotür öffnet. Es folgt ein Schnitt zurück auf die ursprüngliche Position. Der Mann setzt sich ins Auto. Im Moment, in dem er die Tür zuschlägt und wegfährt, setzt die Musik ein. Diese Eröffnungsszene re-konstruiert ein für den Hip-Hop typisches, urbanes Setting. Doch wird durch die Verwendung des weißen Golfs I Cabriolets, eines Autos, das von VW von 1979 bis 1992 produziert wurde, dieses Setting ironisiert. Der weiße Golf, der während seiner Produktionszeit für eine Mittelschicht durchaus als schick gegolten haben mag 10 , unterscheidet sich deutlich von den in Hip-Hop- Videos sonst oft ins Szene gesetzten Range Rovers (cf. Fler 2015), Hummers (50 Cents 2003 b), überdimensionierten Luxustrucks (Lil Wayne 2008), aufgemotzten Oldtimern (Dr. Dre 1999) oder Ferraris (Jakebeatz 2015). Nachdem die Musik eingesetzt hat und das Auto davongefahren ist, wird nach einem harten Schnitt in einer kurzen Einstellung (Bild 2) die - unvollständige - Chlyklass-Crew unter einer Autobahnbrücke präsentiert. Im Zentrum des Bilds steht der Fahrer des Autos und Leadrapper dieses Songs, Baze. Um ihn gruppieren sich weitere Mitglieder der Chlyklass-Crew. Diese präsentieren sich in typischer Hip-Hop-Manier: Sie tragen Baseball-Mützen, Jogging-Hosen, Trainerjacken, Turnschuhe. Ihre Haltung ist locker, entspannt. Die beiden Männer im Zentrum sowie die beiden am äußeren Rand der Gruppe tragen schwarze Sonnenbrillen. Die Gruppe erscheint 10 Siehe dazu https: / / www.volkswagen-classic.de/ magazin/ special/ modellgeschichte [7. 7. 2016]. 266 Daniel H. Rellstab (Vaasa) homogen, keiner sticht hervor. Die Crew wird durch Kameraperspektive und -bewegung sowie die Bildeinstellung in Szene gesetzt. Die Kamera schwenkt am Anfang vertikal von oben nach unten, bis die Crew in einer Halbtotalen sichtbar ist. Die Kameraperspektive ist untersichtig, das heißt, die Crew wird aus einer tieferen Perspektive als der Normalsicht gefilmt (Korte 2004: 42). Diese Kameraachse konstruiert einen spezifischen Interaktionsrahmen zwischen Betrachter und sozialen Akteuren im Film und rückt letztere zugleich in eine Position der Stärke (Van Leeuwen 2008: 140-141). Der Betrachter steht im Fokus der Männer; ihre direkten Blicke scheinen den Betrachter zur Interaktion aufzufordern. Doch muss der Betrachter zur Crew hochblicken und kann dabei die zentralen Figuren, diejenigen, die ihm am nächsten stehen, nur unvollständig erkennen, weil diese ihre Augen hinter schwarzen Sonnenbrillen verstecken. Noch bevor der Sprechgesang einsetzt, wird nach einem weiteren Schnitt auf den Schriftzug am weißen Golf Baze im Kreis einer weiteren Hip-Hop-Crew präsentiert, und zwar in einer ähnlichen mise-en-scene wie der ersten (Bild 3). Bild 3 Bild 2 Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 267 Baze und vier Mitglieder des Basler Hip-Hop-Kollektivs K. W. A. T. stehen um den weißen Golf, der in einer mit Graffitis besprühten Unterführung steht. Auch diese Akteure indizieren ihre Zugehörigkeit zu Hip-Hop durch Kleidung: Die Baseballmütze mit der Postleitzahl von Klein-Basel, den Pullover mit dem Schriftzug Kleinbasel, das Akronym KWAT auf der Baseballmütze. Die Kamera fokussiert Baze, hier wieder mit Mütze, aber mit Brille und in einer roten Chicago Bulls Jacke. Baze steht näher zur Kamera, die anderen etwas weiter weg. Eingeführt wird die Szene durch einen horizontalen Kameraschwenk nach rechts; die Kameraperspektive ist hier wieder untersichtig, der Betrachter steht auch hier wieder im Fokus des Blicks der Gruppe. Diese Gruppe steht aber insgesamt näher beim Betrachter, was den Effekt, dass sie in einer Position der Stärke sind, noch verstärkt. Auch die vierte mise-en-scene gleicht der vorherigen. Hier wird der Leadsänger mit Mitgliedern des Rap-Projekts Temple of Speed aus Zürich gezeigt. Auch hier stehen die Männer um den weißen Golf, auch hier wird der Blick nach oben durch eine Decke, diesmal eine Plattform, begrenzt (Bild 4). Bild 4 Baze steht jetzt näher noch zur Kamera als die anderen. Er trägt immer noch dieselbe Mütze, nun aber wieder Sonnenbrille und ein T-Shirt mit dem Schriftzug der britischen Death-Metal Band Napalm Death. Die anderen tragen wiederum Baseballmützen, Baseballjacken und Sonnenbrillen; alle sind dunkel angezogen. Die Kamera schwenkt hier zu Beginn der Einstellung wieder von oben nach unten, die Kameraperspektive ist wieder untersichtig, der Betrachter ist wieder um Blickpunkt aller Rapper. Doch anders als in den beiden vorherigen, relativ statischen Einstellungen bewegt sich hier Baze auf die Kamera zu und bleibt kurz bevor diese zu Ende ist, stehen. Was nun folgt, sind Schnitte zwischen diesen drei ähnlichen Einstellungen sowie, dazwischen montiert, Fahrten im Golf durch die Stadt. Die Fahrt sowie die Schnitte verleihen dem Musikvideos Dynamik. Die Männer bewegen sich, abgesehen von Baze, der rappt, relativ wenig. Sie stehen um den Golf herum, machen zuweilen die für Hip-Hopper typischen Handbewegungen (Bild 5), singen teilweise mit. Die ersten Einstellungen des Musikvideos wurde deswegen relativ ausführlich beschrieben, weil sie die Grundeinstellungen des Musikvideos sind und die sozialen Akteure des Clips 268 Daniel H. Rellstab (Vaasa) porträtieren. Dieser präsentiert diese Männer als typische Vertreter des Hip-Hop, die körperlich stark sind und sich als überlegen präsentieren. Frauen kommen im Video in keiner einzigen Einstellung vor. Die Akteure bewegen sich in einer durch Homosozialität geprägten, rein männlichen Welt. Der visuelle Texte folgt, so könnte man schließen, der Logik des Prinzips hegemonialer Männlichkeit. Doch schon der visuelle Text bricht mit diesem Prinzip, was sich anhand des in Szene gesetzten Golfs zeigt. Ironie blitzt auf, wenn die repräsentierten Akteure zeigen, dass sie ihre Rolle nicht ganz ernst nehmen und sich ihre Minen aufhellen oder sie Grimassen ziehen. Gleichzeitig sind weitere, kleine visuelle Indices vorhanden, welche die Orientierung der Repräsentierten an einer Logik des Stärkeren zumindest fraglich werden lassen. Baze trägt während des gesamten Videos eine Wollmütze des gemeinnützigen Vereins Surprise, welcher Integrationsprojekte für Menschen in sozialen Schwierigkeiten durchführt. Ein Mitglied der Basler Gruppe trägt eine Kufiya, die zwar rein modisches Accessoire, die aber auch Ausdruck einer politischen Gesinnung sein kann. Die Dekonstruktion des generativen Prinzips hegemonialer Männlichkeit wird im Zusammenspiel des visuellen und des linguistischen Modus des Videos entfaltet. Der Song besteht aus zwei Strophen und einem Refrain, der zweimal gesungen wird. Im Lied wird die ziemlich armselige Existenz des Protagonisten durch das Aufzählen der verschiedenen Gebrauchtwagen, die er besessen hat, in Szene gesetzt. Die Aufzählung beginnt mit dem Titel gebenden weißen Golf, dem ersten Auto überhaupt: “I ha agfange imne wysse golf, paar tuusig kilometer scho het d’hube groucht”, ‘ich fing in einem weißen Golf an, ein paar tausend Kilomenter, und schon rauchte die Haube’. (Chlyklass 2015 a) Auf den weißen Golf folgte ein grauer Opel Ascona, mit dem das Ich durch den halben Osten Europas fuhr, dann ein schwarzer Jeep von Toyota, der auch bald “den Geist aufgab”, anschließend ein weißer Fiat Uno, der in der Metallpresse landete. Am Ende besitzt das Ich einen billigen BMW, der den bevorstehenden TÜV nicht bestehen wird: “zieh mer a bmw für paar wenigi franke, bis jetzt louft er wie gschmiert, übermorn wird er prüeft, das wär’s de scho gsi, mit mim bmw”, ‘ziehe mir einen BMW für wenige Franken, bis jetzt läuft er wie geschmiert, übermorgen wird er geprüft, und das wäre es dann auch schon gewesen mit meinem BWM’ (Chlyklass 2015 a). Bild 5 Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 269 Der Protagonist wird durch die Aufzählung der Autos, die gleichsam als Attribute funktionieren, näher charakterisiert. Alle sind billig, auch der BMW, keines ist neu, keines ist zuverlässig. Andere Autos kann sich dieses Subjekt hier offensichtlich nicht leisten. Charakterisiert wird der Protagonist ebenfalls durch seinen Drogenkonsum. Marihuana hat er in der Tasche, die halluzinogenen Pilze, die er und seine Begleiter schluckten, können ihm nichts anhaben: “üs hei sie nid abezoge”, ‘uns haben sie nicht runtergezogen’ (Chlyklass 2015 a). Er scheint geübt im Umgang mit Drogen. Beziehungen zu anderen Menschen werden in den Liedstrophen nur spärlich thematisiert. Thematisiert wird die Beziehung zu seinen Jungs, die hinten im Jeep sitzen, das “Bierverdeck offen” (Chlyklass 2015 a). Genannt wird zwar auch der Vater, doch die Beziehung zum Vater dient nur der näheren Charakterisierung eines Autos. Genannt wird die Schwester, relevant ist indessen ausschließlich der Streit, den er mit ihr als Kind auf dem Rücksitz des Autos ausfocht. Deutlicher ausgestaltet ist die Beziehung zum schwarzen Jeep, der das Lieblingsauto zu sein scheint, und dem als nicht-humanes Objekt die Rolle eines sozialen Akteurs zukommt. Baze rapt: “4WD panzer us bläch rase düre töifschnee über wanderwäg ig u mi jeep”, ‘4WD Panzer aus Blech rasen durch Tiefschnee über Wanderwege, ich und mein Jeep’. Der Protagonist und der Jeep bilden ein Wir. Dieser Jeep ist Statussymbol, sein Motorengeräusch, dem eines Traktors gleich, lockt Menschen aus dem Dorf an. Der Jeep ist aber auch Liebesobjekt, denn als er kaputt geht, herrscht “Abschiedsschmerz” (Chlyklass 2015 a). Im Refrain wird die Erzählung der Liedstrophen in zwei Zeilen kondensiert und weitergeführt. Hier heißt es: I ha agfangä imne wysse golf, hüt fahr i schwarzes velo, Nüd isch blibä oni mini frou nume ne mansarde im breitsch, bro. (Chlyklass 2015) 11 Die erste Zeile des Refrains führt an den Anfang des Lieds zurück, “ich fing an in einem weißen Golf ”, und führt die erzählte Geschichte direkt zu ihrem Ende und zurück ins Jetzt: “heute fahre ich ein schwarzes Rad”. Heute besitzt der Protagonist nicht einmal mehr einen Gebrauchtwagen, sondern nur noch ein Fahrrad. In der zweiten Zeile wird der soziale Abstieg des Protagonisten weiter konkretisiert. Er wohnt nur noch in einer Mansarde. Hier wird auch der Grund für das Scheitern angeführt: “Nichts blieb ohne meine Frau.” Die zweite Zeile ist auch eine Mahnung an den Zuhörer, der im Stil des Hip-Hop als “Bro”, Kurzform von “Brother” angesprochen wird, zu verstehen. Allerdings scheint das Ich seiner Frau nicht wirklich nachzutrauern, denn der Refrain beschwört danach noch einmal die Beziehung zwischen Protagonisten und Jeep, und zwar gleich sechsmal: Ig u mi jeep ig u mi jeep ig u mi jeep samurai, Ig u mi jeep ig u mi jeep ig u mi jeep samurai. 12 (Chlyklass 2015) Die in der Zeile “nichts blieb ohne meine Frau” skizzierte Männlichkeit könnte man mit Halberstam (2012: 21) als “parasitical masculinity” bezeichnen. Halberstam selbst nennt diese Männlichkeit auch “‘angler’ masculinity” nach dem “angler-fish”, dem Seeteufel, und zwar aus folgendem Grund: 11 Ich habe in einem weißen Golf angefangen, jetzt fahre ich schwarzes Rad, nichts ist geblieben ohne meine Frau, nur eine Mansarde im Breitenrain. 12 Ich und mein Jeep ich und mein Jeep Samurai. 270 Daniel H. Rellstab (Vaasa) Male angler fish are much smaller than the females; they can only survive by attaching to the larger female, fusing with her and mating with her. She then spawns eggs and baby fish . . . and her mate? He hangs on for dear life and feeds when she feeds. (Halberstam 2012: 21) Halberstam entwickelt dieses Konzept parasitischer Männlichkeit in ihrer Analyse sogenannter Mumblecore-Filme und Serien, die seit anfangs der 2010er Jahre produziert werden. In diesen werden schwache, männliche Protagonisten von erfolgreichen Frauen geliebt und letztlich geheiratet. Laut Halberstam bilden diese Filme zwar ein verändertes Geschlechterverhältnis ab, nach welchem Frauen erfolgreich sein und mehr verdienen können als Männer. Doch bleibt das Grundprinzip patriarchal, denn diese Filme zeigen Frauen immer noch als Wesen, welche, um jemand sein zu können, auf einen Mann an ihrer Seite angewiesen sind. Und dieser darf sehr wohl faul, untreu, nicht ambitioniert und unattraktiv sein. Denn, so die Logik des Films, für eine Frau ist es allemal besser, verheiratet zu sein: “Any guy who will marry you is marriage material” (Halberstam 2012: 22). In diesem Rapsong ist dies jedoch nicht so. Denn das Ich landet nicht im Hafen der Ehe, sondern allein in einer Mansarde. Der Song erzählt damit Mumblecore on Happy-End für den Mann. Interessanterweise erzählt der Rapsong die Geschichte des Abstiegs des männlichen Protagonisten nicht als Erzählung über jemanden 13 , sondern in der Ich-Form und damit als Hip-Hopper. Das rappende männliche Subjekt des Musikvideos und mit ihm die anderen Männer verkörpern in diesem Musikvideo das Prinzip hegemonialer Männlichkeit nur noch scheinbar, die Geschichte, die erzählt wird, zeugt davon, dass hinter dem inszenierten Habitus eine parasitäre Männlichkeit steckt, die ohne Frau nicht erfolgreich sein kann. 6 Hünd: Queere Gestalten Im zweiten hier besprochenen Video leistet schon der Songtext selbst eine Dekonstruktion hegemonialer Männlichkeit. Die Diskrepanz zwischen Text, Stimme und Bild schafft aber in diesem Musikvideo eine zusätzliche Dimension der Kritik, da hier ebenfalls Gendergrenzen verwischt und Heteronormativität de-konstruiert werden. Das Lied Hünd, ‘Hunde’, wird gemeinsam von Greis, Juri und Migo gesungen; jeder der drei Sänger singt eine Strophe, den Refrain, der dreimal wiederholt wird, rappen sie gemeinsam. In der ersten Strophe beschreibt Greis Handlungen und Innenleben eines egozentrischen, melancholischen Möchtegernschriftstellers, der über die Welt sinniert, der sich seiner Partnerin entzieht, nicht mit ihr kommuniziert und der auf die Bestätigung der Richtigkeit oder Wichtigkeit dieser Beziehung durch andere angewiesen scheint. Die Beschreibung dieses Mannes aus der Ich-Perspektive wird durch die Frage einer “Sie” in Gang gesetzt: “sie fragt um was geits im däm lied”, ‘worum geht es in diesem Lied? ’. Das rappende Ich weicht der Antwort mit der Begründung aus, es müsse die Zehennägel schneiden, bricht dann die Kommunikation ab und wendet sich dafür dem Zuhörer zu, dem es erzählt, dass es ein Buch über sich selbst und die Zeit, als es traurig war und einen Hund 13 Vgl. dazu aber den Song “Felä” (Chlyklass 2015 c) auf dem gleichen Album. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 271 kaufte und irgendwie hoffte, dass dieser weglaufe, schreibe. Mit der Partnerin will es über diesen Gefühlszustand aber nicht sprechen, lieber sitzt es abends rauchend auf dem Balkon und geht erst spät zur Frau ins Bett. Unsicherheit hinsichtlich der Wichtigkeit der Beziehung zu dieser Frau markiert das Ich in den letzten drei Zeilen der Strophe. Es muss sich der Zustimmung aller Menschen der Stadt versichern, dass das Bett seiner Frau der bessere Platz als die “Kuba Bar” sei (Greis 2015). Auch die dritte Strophe, gerappt von Migo, beschreibt einen Mann, einen Möchtegerngangster aus der Stadt Bern, der von sich selbst behauptet, das Unmögliche zu vollbringen: Er veranstalte illegale Elefantenkämpfe in Stadtkellern und lasse sich dabei von seiner Crew feiern: “mini keiler tobe” - ‘meine Keiler toben’; er bringe den Polizeidirektor um und fahre ihn, zerstückelt und in drei Taschen an ein bekanntes Ausflugsziel; er schüchtere andere mit einer abgesägten Schrottflinte und mit Drohanrufen ein. All das sei, so merkt der Rappende selbstironisch an, “haub politisch, haub chindisch”, ‘halb politisch, halb kindisch’ (Greis 2015). Das Ich der zweiten Strophe, von Juri gerappt, identifiziert sich mit unterschiedlichen Hunden, beschreibt die Welt aus Hundeperspektive und lässt den Zuhörer in unterschiedliche Hundeseelen blicken: “es isch e troum anä boum anä biislä” - ‘ein Traum ist es, an einen Baum zu pinkeln’. Es sei eine Dogge, die rotze und schniefe, ein Collie in einem Trolley, ein Mops in einem Jeep. Auch hier werden Geschlechterbeziehungen thematisiert, und zwar schon ganz zu Beginn: “I renne mit der frou wo mi zieht”, ‘ich renne mit der Frau die mich zieht’; die Hunde werden von Frauen geführt, sind im Besitz von Frauen (Greis 2015). So wartet der Schäferhund angstvoll im parkierten Auto, einem weißen Golf, auf die Rückkehr seiner Besitzerin: i binä wouf gfangä imnä wiisä gouf mini bsitzerin sött lang scho wieder inä cho wo isch si bloss blibä het sie mi verlah. 14 (Greis 2015) Als Hund ist man meistens nicht der Stärkere; “hündisch” zu sein gilt seit der Antike als negativ, “hündisch” sind in der griechischen Antike (Franco 2014), und auch im englischen Sprachraum heute, vor allem Frauen: “Bitch”. Der Hund ist aber, wie Garber schreibt, eine komplexe Chiffre mit widersprüchlichen Bedeutungen. Der Hund, der ideale Begleiter des Menschen, steht auch für eine komplexe Fantasie der Kommunikation, die gleichzeitig opak und transparent, stumm und beredt ist: “[t]he dog stands in for the very complexity of human desire.” Denn der Hund nimmt uns an, wie wir sind, und wir können ihn dominieren und von ihm Unterwerfung fordern (Garber 1996: 116-117). Nicht alle Hunde, die in der zweiten Strophe beschrieben werden, unterwerfen sich ohne Widerspruch. So rappt Juri: “i wott apportiere aber gott seit mir biiss”, ‘ich will apportieren, aber Gott sagt mir beiß zu’. Er sagt: “i fougä nid i motzä=n u schriiss"ich gehorche nicht, ich begehre auf und reiße (an der Leine)’ (Greis 2015). 14 Ich bin ein Schäferhund, gefangen in einem weißen Golf, meine Besitzerin sollte längst schon wieder rein kommen, wo ist sie bloß geblieben, hat sie mich verlassen? 272 Daniel H. Rellstab (Vaasa) Doch dass die Frauen letztlich stärker sind, zeigt der Refrain, der nach jeder Strophe gesungen wird: si sägä foug u mir fougä si sägä mach u mir machä si sägä rou u mir rouä si sägä platz u mir platzä u mir platzä. 15 (Greis 2015) Die rappenden Subjekte präsentieren sich hier als unterwürfig und autoaggressiv. Sie gehorchen, wenn sie gehorchen sollen, sie tun, was ihnen befohlen wird, sie rollen, wenn sie sich rollen sollen, doch wenn sie Platz nehmen sollen, dann nehmen sie nicht Platz, sondern platzen. Der männliche Hegemon, so könnte man sagen, ist im Refrain vollständig verschwunden und hat dem unterwürfigen Mann Platz gemacht. Das Video wendet das Prinzip der Bricolage auf seine Genderkonstruktion an. Denn die drei männlichen Sänger werden von drei weiblichen Akteuren verkörpert (Bild 6). Bild 6 Jede dieser drei Frauen übernimmt eine Strophe, den Refrain singen sie gemeinsam. Diese drei Frauen werden in vier verschiedenen Settings gezeigt: Eine Szenerie ist ein Wohnzimmer, an dessen Wände große, moderne Bilder hängen, das mit Sofa, Sessel und einem Glastisch, auf dem Whiskeyflaschen, ein Comic und eine CD-Hülle mit Kokainlinien liegen, möbliert ist. In diesem Wohnzimmer tauchen auch zwei Hunde auf; beide sind weiß. Die anderen Schauplätze befinden sich alle in der Altstadt Berns: Es sind dies eine Ladenpassage, der Raum vor den Auslagen eines Teppichgeschäfts, die Arkaden der Stadt. Zwischen diese Aufnahmen werden Bilder, passend zum Text, in das Video montiert: eine kläglich aussehende Pflanze auf einem Balkon in der ersten Strophe, der zur CD erschienene Comics in der zweiten Strophe, eine Actionfigur in der dritten Strophe, vor dem Abspann Marker, die zum Taggen verwendet werden, eine flackernde Kerze, und immer wieder die Skulptur eines Hundes, auf die goldene Farbe tropft. 15 Sie sagen gehorch, und wir gehorchen; sie sagen mach, und wir machen; sie sagen roll, und wir rollen, sie sagen mach Platz, und wir platzen, und wir platzen. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 273 Das Video wirkt dynamisch. Es scheint mit einer Handkamera gefilmt worden zu sein. Die Einstellungen in den verschiedenen Settings sind immer ähnlich. In den Außenaufnahmen werden die Frauen in halbnahen bis nahen Einstellungen gezeigt, die Kamera zoomt jedoch oft auf die Frauen zu und wieder zurück. Die Kameraperspektive ist dabei meist leicht untersichtig (siehe Bild 6). Die Aufnahmen in den Innenräumen sind oft aus einer nahem Einstellung und ebenfalls aus untersichtiger Perspektive gefilmt (Bild 7). Bild 7 In den Innenräumen schwenkt die Kamera oftmals auf und ab, was zusätzliche Dynamik erzeugt. Dynamik erzeugen auch die vielen Schnitte (Faulstich 2008: 128-129): In dem Musikvideo, das ohne Vor- und Abspann 3 min 32 sec dauert, kommen insgesamt 121 Schnitte vor. Das Video flackert zudem synchron mit dem Bass der Musik. Die Frauen, die einzigen Akteure im Musikvideo, singen wie in Drag-Queen- oder Drag- King-Shows Playback zur Musik. Doch anders als in den Drag-Queen- oder Drag-King- Shows, wo Männer und Frauen darum bemüht sind, die Illusion zu erzeugen, Angehörige des anderen Geschlechts zu sein (cf. Daems 2014), wird hier keine Kongruenz zwischen dem Geschlecht der Stimme und dem Geschlecht, das von den Akteuren im Musikvideo verkörpert wird, angestrebt, im Gegenteil. Die Konstruktion ist vielmehr ambivalent. Einerseits werden die Frauen mit Requisiten ausgestattet, die sonst üblicherweise männlichen Akteuren zugeschrieben werden: Ein Akteurin trägt einen Schlagring, die Frauen sind umgeben von Drogen und Alkohol. Sie werden, ähnlich wie die Männer im Video Wysse Golf, durch die von der Kamera kreierten Achsenverhältnisse in eine Position der Stärke gerückt. Der Betrachter blickt zu den Frauen auf, und obwohl diese ihn ständig anblicken, schaffen auch sie eine Asymmetrie in der Interaktion dadurch, dass ihre Gesichter mit Sonnenbrille und einer geschminkten Maske verdecken. Doch sind die Frauen keineswegs androgyn. Ihre Weiblichkeit wird durch Kleidung, Make-Up und Schmuck vielmehr unterstrichen. Eine der drei Akteurinnen tritt gar als Rotkäppchen auf. Die Genderkonstruktionen, die durch die Diskrepanz zwischen Stimme und visuellem Eindruck geschaffen werden, sind vielmehr queer im eigentlichen Sinn, denn es scheint, als ob männliche Stimmen und männlicher Habitus in weibliche Körper gesetzt worden wären. Die Genderkonstruktionen werden noch komplexer, wenn das Zusammenspiel zwischen Liedtext, Stimmen und Körpern betrachtet wird. Denn das Musikvideo stellt nicht nur das Prinzip hegemonialer Männlichkeit in Frage, sondern auch die damit verbundene Hete- 274 Daniel H. Rellstab (Vaasa) ronormativität. Im Musikvideo singt in der ersten Strophe eine Frau mit der Stimme eines Mannes über die Beziehungen zu einer Frau und in der zweiten Strophe singt eine Frau mit männlicher Stimme über ihr Leben als Hund an der Seite einer Frau. Dass sich in der dritten Strophe eine queere Figur aus männlicher Stimme, männlichem Habitus und weiblichem Aussehen Respekt zu verschaffen sucht, wäre dann nicht mehr nur halb, sondern ganz politisch. 7 Schluss: Multimodaler Tabubruch Die Kultur des Hip-Hop war lange Zeit patriarchal und ist es zum Teil auch heute noch. Zwar konnte sich schon Ende der 1990er Jahre eine queere Hip-Hop-Subkultur etablieren, doch blieb diese am Rand des Hip-Hop-Universums, und ihre Stimmen wurden vom Mainstream nicht gehört. In den letzten Jahren konnten sich vereinzelt “queere” Künstler in der Hip-Hop- Kultur etablieren. Diese unterminieren in ihren Produktionen auch die hegemonial männliche Kultur des Hip-Hop. Das Prinzip hegemonialer Männlichkeit wird jedoch nicht nur an den Rändern des Hip-Hop herausgefordert, sondern zuweilen selbst von Hip-Hop- Künstlern, die sich im Mainstream erfolgreich behauptet haben, in Frage gestellt. Das ist unter anderem bei den Mitgliedern der Berner Hip-Hop-Crew Chlyklass der Fall. Konnten sie noch anfangs der 2000er Jahre rappen, dass sie lieber “Rüpple statt Schwüpple” seien (cf. Rellstab 2006), so de-konstruieren sie in ihren neuesten Musikproduktionen selbst die hegemoniale Männlichkeit des Hip-Hop. In dem Musikvideo Wysse Golf geschieht dies vor allem durch die Darstellung eines traditionellen männlichen Rappers als Vertreter eines parasitären Männlichkeitstypus. Im Song Hünd präsentiert sich das rappendes Subjekt nicht als parasitär, sondern als unterwürfig, ja als Hund, welcher seiner Meisterin gehorcht. Die Konstruktion hybrider Gestalten im Musikvideo, in welchem Frauen mit männlichem Habitus und männlicher Stimme singen, durchkreuzt darüber hinaus Gendereindeutigkeiten und löst Heteronormativität auf, weil letztlich nicht mehr klar ist, welchem Geschlecht die Figuren des Videos zugeordnet werden können und wie Begehren hier organisiert sein soll. Beide Videos brechen so Tabus der Hip-Hop-Kultur und liefern damit gegenhegemoniales Potenzial im Kampf gegen normative und patriarchale Gendervorstellungen. Diskografie 50 Cent 2003 a: “Many Men (Wish Death)”, auf: Get Rich or Die Tryin’. Interscope Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=5D3crqpClPY [7. 7. 2016] 50 Cent 2003 b: “In da club”, auf: Get Rich or Die Tryin’. Interscope Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www. youtube.com/ watch? v=5qm8PH4xAss [7. 7. 2016] Chlyklass 2015 a: “Wysse Golf ”, auf: Wieso immer mir? Sound Service. Videoclip abrufbar unter: http: / / www. chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016] Chlyklass 2015 b: “Auti truurigi Männer”, auf: Wieso immer mir? Sound Service. Videoclip abrufbar unter http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016] Chlyklass 2015 c: “Felä”, auf: Wieso immer mir? Sound Service. Videoclip abrufbar unter: http: / / www.chlyklass.ch/ #videos [7. 7. 2016] Dr. Dr feat Snoop Dog 1999: “Still Dre”, auf: 2001. Interscope. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=_CL6n0FJZpk [7. 7. 2016] Eminem 2000: “Kill You”, auf: The Marshall Mathers LP. Interscope Records. Multimodale Tabubrüche in Hip-Hop Musikvideos 275 Eminem 2013: “Rap God”, auf: The Marshall Mathers LP 2. Interscope Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=XbGs_qK2PQA [7. 7. 2016] Fler 2015: “Alles Fake”, auf: Keiner kommt klar mit mir. Maskulin. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube. com/ watch? v=IVdP69E6MOc [7. 7. 2016] Greis feat. Juri & Migo 2015: “Hünd”, auf: Hünd i parkierte Outos. Sound Service. Videoclip abrufbar unter: http: / / www.greis.ch/ blog/ videos/ [7. 7. 2016] Jakebeatz 2015: “Ich gib nit uff ”, auf: 77th. PW Records. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=wQl3LEdVGVk [7. 7. 2016] L-Montana 2013 a: “Bad Boy”, auf: Bad Boy. Famestore. Videclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=D0gBRu3MKlE [7. 7. 2016] L-Montana 2013 b: “Club Mit de Gang”, auf: Bad Boy. Famestore. Lil’ Wayne 2008: “Lollipop”, auf: Tha Carter III. Young Money. Videoclip abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=2IH8tNQAzSs [7. 7. 2016] Bibliographie Androutsopoulos, Jannis K. & Arno Scholz 2003: “Spaghetti Funk: Appropriations of Hip-Hop Culture and Rap Music in Europe”, in: Popular Music & Society 26 (4): 463-479 Aulenbacher, Brigitte et al. (eds.) 2006: FrauenMännerGeschlechterforschung. 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Thus, by taking a close look at disfigured, damaged or scribbled margins of texts, the awareness for the fundamental potential of such marginal phenomena - which are neglected whenever we read - is sharpened. 1 Einleitung Über den “ehrlich ergriffene[n] Leser” sagt Max Brod in seinem Essay Umgang mit Büchern, dass sie [l]esen - mit dem Bleistift in der Hand; Stellen anstreichen, die einem ins Auge und Hirn leuchten, als lang gesuchte, endlich gefundene Erkenntnisse; den Seitenrand mit Rufezeichen, Fragezeichen, Anmerkungen verzieren, wiewohl das Aussehen des Buches davon gewiß nicht schöner wird. (Brod 2014: 329) Ein solcher Umgang biete die Möglichkeit, die beim stillen Lesen aufgeregte Aktivität zum Entladen zu bringen. Einzig, so Brod, bei Goethes Spruch- und Aphorismenwerk lasse sich der Bleistift beiseitelegen, da sonst alles angestrichen werden müsse. Verzieren von Seitenrändern, Anstreichen von einleuchtenden Stellen - Brods Wortwahl, die er hier und in der folgenden Passage zum Beschreiben einer Lesetätigkeit verwendet, die nicht nur zum Blättern Hand anlegt, sondern sogar das Hinzuziehen von versehrenden Werkzeugen nicht scheut, ist eine ungemein euphemistische. Sie verrät von Anfang an das Wissen um diesen ungewohnten Umgang mit Büchern und auch die weiteren erklärenden Beobachtungen führen den Gegensatz zwischen dieser “Unart” und den üblicherweise geforderten Lektüretätigkeiten vor Augen (Brod 2014: 329 ff.): (über-)eifrige Leseaktivität versus Passivität als Ärgernis; “Sitte oder Unsitte”; Verzieren versus Ruinieren; Versöhnen versus Verabscheuen. Bücher demnach nicht zu “‘schonen’, um es unter allen Umständen fein und rein [zu] bewahren” (Brod 2014: 331), dafür gibt es für Brod gute Gründe. Sein Essay liest sich als ein Plädoyer für die Aufforderung zu einem Handlungsverbot, für einen Bruch mit einem - im Vergleich mit anderen zugegebenermaßen harmloseren, aber dennoch - veritablen Tabu. Der vorliegende Beitrag nimmt sich dieses Tabus an und fokussiert zugleich auf die Tabubrüche, die an den Rändern von Buchseiten geschehen. 1 Diese Seitenränder sind als Phänomene zu oft aus dem Fokus des Lesers, auch des wissenschaftlichen, geraten oder sogar - etwas überspitzt formuliert selbst ein Tabu - mit Absicht ausgeblendet worden. Dies wohl aus dem Grund, dass sie (zumeist) trivialerweise leer sind, weiße Flächen um die Schriftfläche herum, zwar ‘da’, aber nicht weiter beachtenswert und marginal. Mit dem Aufkommen des Interesses an Materialität sind die Schriftfläche wie auch der Textträger zu neuen Ehren gekommen. 2 Es soll hier aber dezidiert nicht um die “Arbeit an der Materialität” gehen, die “ganz buchstäblich als kratzende, radierende und ausstreichende Behandlung der Schrift, der Buchstaben, der einzelnen Wörter und ganzer Texte” verstanden wird (Körte 2012: 18). Denn der Textrand - damit ist der Seitenrand, aber auch weitere Ränder eines Buchs gemeint - stand bislang (zu) selten im Fokus, ob in der Literaturwissenschaft oder in der Textlinguistik. Eine Erklärung dafür könnte darin liegen, dass für sein grundlegendes Verständnis ein interdisziplinärer Zugang erforderlich ist und neben einem textsemiotischen Ansatz auch buch- und medienwissenschaftliche Zugänge - etwa was seine bis zu den Praktiken der Schriftrolle zurückreichende Genese betrifft - gefragt sind (Teil 2 “An den Ränder von Texten”). Eingehende Beschäftigungen spezifisch mit dem Seitenrand sind nur punktuell zu verzeichnen. Ein Fall, die Untersuchung von Michael Camille zu Kritzeleien an Texträndern von gotischen Handschriften (Camille 1994), behandelt aber u. a. dezidiert Tabubrüche. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie Tabus historischen Vorstellungen unterliegen und sich im Lauf der Zeit vervielfältigen können (Teil 3 “Verschandeln”): Das rigorose Wegschneiden wurde gerade bei mittelalterlichen Codices durch frühneuzeitliche Sammler und Buchbinder praktiziert; später dann diese Praxis, die vom fehlenden Verständnis für die Randphänomene zeugt, wiederum verdammt. Heute begeistern ausgerechnet (reale) Bücher, die in verschiedenen Variationen das versehrende Moment insbesondere von Texträndern wieder ins Spiel bringen; sei es als konsequentes Mitmach-Buch (Teil 4 “Versehren”) oder als literarischer Bestseller, der die heute zur Verfügung stehenden drucktechnischen Möglichkeiten gänzlich ausreizt (Teil 5 “Bekritzeln”). Dies sicherlich vor dem Hintergrund der Neuen Medien, die die ursprüngliche Materialität so raffiniert ins Digitale zu kopieren und zu simulieren wissen, aber in Sachen Ränder der Texte ihren echten Pendants doch in Manchem nachstehen (Teil 6 “Und digital? Fazit”). 1 Nicht thematisiert werden hier bewusst weder die gänzliche physische Auslöschung eines Buchs, etwa in Form der Bücherverbrennung, noch das Feld der literarischen Umsetzungen. Vgl. dazu Körte & Ortlieb 2007 und Körte 2012. 2 Die Gründe liegen auch im Aufkommen der neuen Medien mit ihrer Bildlastigkeit und digitalen Raffinessen. Laut Stefan Münker habe sich seit der Mitte der neunziger Jahre ein “vor allem durch den medialen Umbruch der Digitalisierung initiierte[r] steigende[r] Reflexionsbedarf in nahezu allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen bemerkbar” gemacht (Münker 2009: 13). Nennenswert sind besonders die im Zuge dessen wiedergelesenen Klassiker wie Gumbrecht/ Pfeiffer 1988, Raible 1991, Gross 1994, Wehde 2000. 280 Hiloko Kato (Zürich) 2 An den Ränder von Texten Der Umgang mit Texten, wie er lange Zeit vorherrschte, fokussierte ganz auf dessen Inhalt: Für sein Verständnis hatte man durch das materiell Vorhandene und vornehmlich visuell Wahrnehmbare regelrecht hindurch zu blicken. Das Vordringen zu diesem Sinn - womit wohl im de Saussureschen Sinn das Primat der gesprochenen Sprache gemeint war - ließ nicht selten sogar die Schrift hinter sich. 3 Ausgerechnet die Textlinguistik beginnt trotz der anfänglich in äußerst pragmatischer Weise propagierten ganzheitlichen Vorgehensweise (Hartmann 1964, 1966, 1971) transphrastisch, inmitten zweier Sätze. Sogar das Dazugehören des Titel zum “eigentlichen Text” wurde angezweifelt (Harweg 1968: 164 und 156 f.), 4 wobei die Verneinung dessen konsequenterweise weitere Folgefragen nach sich zog: Daß der Satz ›Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer‹ Indikatoren enthielte, die auf den Beginn eines längeren epischen Textes schließen ließen, kann strukturell oder textlinguistisch nicht bewiesen werden. [. . .] Aber ist eine solche ›erste Zeile‹ der Textanfang? Setzt dort der Leser eines Buches ein? Wirft er nicht zunächst einen Blick auf Buchrücken, Buchdeckel, Titelblatt, Erscheinungsjahr und Copyright, vielleicht auf Verlagshinweis und Widmung und editorische Vorbemerkung, oder auf Inhaltsverzeichnis und Danksagung und Einleitung des Autors? (Hess-Lüttich 1981: 332) Seit einigen Jahren hat sich die Herangehensweise an Texte auf eine pragmatische Weise gewandelt, die als ‘lebensecht’ beschrieben werden kann. Nicht nur werden “nicht-sprachliche Faktoren” berücksichtigt (Fix 2008), sondern auch bei der Analyse die Reihenfolge des Untersuchten so eingehalten, dass sie einer tatsächlichen, sozusagen ‘natürlichen-alltäglichen’ Herangehensweise an Texte entspricht: So nimmt man zunächst seine Ganzheit und Begrenzbarkeit wahr, analysiert das Augenfälligste zuerst (z. B. die Bildseite einer Postkarte) und setzt anschließend die unterschiedlichen Merkmale in einen Zusammenhang, der die Ganzheit eines Texts weitgehend berücksichtigt und mono-funktionelle Aussagen meidet (Hausendorf & Kesselheim 2008). Zu einer solchen Herangehensweise gehören, auch wenn ihre Wahrnehmung und umso mehr ihre Beschreibung trivial klingen mögen, die Ränder eines Textes. In vielen Fällen scheinen sie tatsächlich nicht der Rede wert, sind aufgrund der Tatsache, dass Schrift immer einen Textträger benötigt - und sei es ein Baumstamm, eine Häuserwand oder ganz prototypisch ein Blatt Papier - zwangsläufig ‘da’. Manchmal aber werden Ränder ihrer Unscheinbarkeit entrissen, werden zum Schauplatz subversiver Bemerkungen und Gedankenspiele. Diese besonderen Fälle, kommen sie auch noch so selten vor, sind kleine Ereignisse, die den sonst so uniformen Texten mitsamt den, an diese Unauffälligkeit gewohnten Lesern den Spiegel vorhalten, um daran zu erinnern, dass hier Potentiale schlummern. 5 Georges Perec führt dies in Espèces d’espaces vor, wenn er seine Tätigkeit als Schriftsteller beschreibt: “J’écris: j’habite ma feuille de papier ” (Perec 1974: 19). 3 Vgl. etwa Krämer 2003. 4 Später revidierte Harweg freilich seine Meinung, vgl. Harweg (1983: 79). Interessant auch, in welchem Zusammenhang besonders vom “eigentlichen Text” oder “main text” gesprochen wird, nämlich häufig dann, wenn es um Fußnoten oder Anmerkungen am Rand geht, vgl. Grafton (1995 113, 154, 166), Tribble (1997: 263). 5 Technologiegiganten haben bereits erkannt, dass ein innovativer Umgang mit Geräterändern verkaufsförderlich sein kann (vgl. Samsung Galaxy S6 Edge, Galaxy Note Edge), und auch der User scheint sich regelrecht nach Veränderungen in diese Richtung zu sehnen, wenn Bilder möglicher Prototypen des nächsten iPhones auffällig oft keinen Gehäuserand mehr aufweisen. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 281 Wenn er eine neue Zeile beginnt, Zwischenräume auslässt und tatsächlich “dans la marge ” schreibt, um dies gleichzeitig auch sichtbar zu tun, erhalten seine Worte maximalen Wahrheitswert und verwandeln den Schreibprozess in einen echten performativen Akt. Gleichzeitig nützt Perec die Räumlichkeit, die eine Buchseite durch das Schreiben annehmen kann und erschafft Ränder. Dies, weil es der Vorgang nicht anders zulässt (“j’investis, je la parcours”) oder gerade aufgrund einer Verflechtung dessen, was einerseits Material (das Blatt Papier) und andererseits Konventionen (man lässt einen Rand frei) zulassen. Diesen Automatismus, der durch Perecs Text so simpel wie präzise entlarvt wird, gilt es für einen Augenblick abzuschalten, möchte man das Funktionieren von Texten und ihre Rezeption genauer verstehen. 6 Was in unserem spezifischen Fall lautet: Das Funktionieren von Tabus an den Rändern von Texten. Die codexikalische Form des heutigen Buchs besitzt zahlreiche Ränder: Die Seitenränder, um die es im Folgenden hauptsächlich gehen wird. Aber auch Titelblätter mit Vorsatzseiten, Motti, Widmungen am Beginn. “The End” und Leseproben, Werbeanzeigen oder leere Seiten am Ende der belletristischen Lektüre. Bei Sachbüchern Inhaltsverzeichnis und Glossar als rahmende Orientierungshilfen. Und noch weiter gegen Außen: Einband mit Deckeln und einem Buchrücken, eventuell Umschläge mit oder ohne Klappen, die leicht übersehbaren Unter- und Oberschnitte. Viele dieser Ränder hat Genette als Peritexte ausführlich beschrieben und mit einem bunten Beispielfächer eindrücklich gezeigt, wie trotz gewisser Uniformitäten die Möglichkeiten der Ausführungen ungemein vielfältig sind (Genette 1989). Andere sind insbesondere durch buchkundliche Publikationen beschrieben worden. So hat etwa ein Erlanger Forschungsprojekt, geleitet von Ursula Rautenberg, die “Entstehung und Entwicklung von Buchtitelseiten in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig” untersucht (Rautenberg 2008). Was heute als selbstverständlicher vorderer Peritext rasch überblättert wird, 7 ist eine aufgrund der Massenproduktion notwendig gewordene Erfindung der Buchdruckzeit. Trotz dieses Vervielfältigungsaspekts blieb das Buch noch längere Zeit ein individueller Gegenstand, da er zumeist ungebunden gekauft und erst vom Besitzer seine ganzheitliche Gestalt erhielt, bis Mitte des 19. Jahrhunderts die seriell hergestellten Verlegereinbände in Erscheinung traten. Zu Einbänden existieren einschlägige Überblicksdarstellungen, allen voran Mazals Einbandkunde (1997), und auch zu Umschlägen gibt es verschiedene Publikationen, die sich entweder überblicksartig mit der Thematik befassen (z. B. Buchumschläge des 20. Jahrhunderts) oder sich einzelnen Grafikern und ihren Werken (z. B. Georg Salter) widmen. Und sogar zu Schnitttiteln und -verzierungen, die heute kaum mehr vorkommen, findet sich eine detaillierte Untersuchung, die zum Schluss kommt: “Fast nur noch bei bibliophilen Handeinbänden werden die Schnitte in die Buchgestaltung einbezogen” (Goerke 2001: 3). All diese Untersuchungen zu unterschiedlichen Buchrändern sind aber tatsächlich nicht Lesestoff allein für Bibliophile, sondern führen ganz grundlegend vor Augen, wie eingeschliffen der Umgang mit Büchern in der Alltagspraxis ist, so dass zahlreiche Eigenheiten nicht mehr wahrnehmbar sind. Wenn Medien dazu tendieren, hinter dem Vermittelten zu 6 Nicht selten geht es sogar um das Nichtfunktionieren von Texten, etwa wenn das Lesen am Bildschirm zu Orientierungslosigkeit und schlechter Memorierbarkeit führt. Hier sind nichtveränderbare, haptisch fühlbare Texte deutlich im Vorteil. Vgl. Carr 2010. 7 Bei e-Books werden die vorderen Titelblätter oftmals automatisch übersprungen. 282 Hiloko Kato (Zürich) verschwinden, 8 so trifft dies bei den Rändern von Büchern in besonderer Weise zu. Man kann sogar davon ausgehen, dass in jahrhundertelanger Entwicklung alles dafür getan wurde, um die perfekten, d. h. maximal nützlichen, gleichzeitig aber möglichst unauffälligen Textränder zu schaffen. Somit haben sie beinahe unbemerkt dazu beigetragen, das Buch als optimal langlebiges, handhabbares und “lokomobiles” (Ehlich 1994: 30) Leseobjekt zu etablieren. Was die Seitenränder angeht, liegt ihr Ursprung in den leergelassenen Rändern der Schriftrollen. Zum einen dienten diese Ränder, indem sie Raum zu der oberen und zu der unteren Kante ließen, dem Schutz vor Abrieb - Martial spricht von “toga barbatos faciat” 9 und vor Beschädigung des Beschriebenen, insbesondere wenn die Bücher der Antike zur Lektüre aufgerollt waren. Zum anderen halfen die Leerräume zwischen den Kolonnen für bessere Übersicht und Lesbarkeit. Solch genügend breite Ränder zwischen den Kolumnen wie auch zum oberen und unteren Rand galten sogar als Qualitätsmerkmal (Blanck 1992: 76). Beim Übergang zur codexikalischen Form blieben diese Ränder - gegen alle Seiten - als Rahmung erhalten, in Weiterführung von bekannten und altbewährten Mustern. Der Schutzfaktor, der bei einem gebundenen Buch weniger notwendig scheint als bei einer Schriftrolle, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, wenn davon auszugehen ist, dass die früheste Form von Büchern in Codexform kaum gebunden waren. 10 Die Ränder boten zudem idealen Platz für Anmerkungen aller Art. Mit der Zeit gewann der leere Raum am Rand an Bedeutung und wandelte sich sogar zu einem wahren Prestigemerkmal, was nicht nur allein dem vorwiegend geistlichen Inhalt zuzuschreiben ist: Denn der ‘verschwendete’ Platz machte nicht nur die Wichtigkeit der wenigen, durch die Rahmung herausgestellten Schrift deutlich, sondern war zugleich auch eine Zurschaustellung der für den teuren Beschreibstoff aufgewendeten Mittel. In diesen Fällen trat demnach die übliche Mechanik “die Buchstaben als Vordergrund und die sie umgebende Fläche als Hintergrund zu sehen” (Giertler & Köppel 2012: 8) insoweit außer Kraft, als die rahmende Leere bedeutsam wurde und dem Stellenwert des Geschriebenen zusätzliches Gewicht verleihen konnte. Studien zum Buchdruck und zur Typographie haben dieses habituelle (Nicht-)Wahrnehmen von einer anderen, technischen Seite beleuchtet und das Augenmerk insbesondere auf Lücken zwischen den Wörtern und Zeilen gelenkt: Sie ist, auch für größere Zwischenräume, nicht einfach Leere, sondern ein mit Blindmaterial - dem so genannten Fleisch (Rautenberg 2003: 496; Hiller & Füssel 2006: 125) - gefüllter, “optisch neutralisiert[er]” Leerraum (Fries 2009: 167). 11 Seitenränder hingegen bilden in diesem Zusammenhang eine “Ausnahme”, da sie “außerhalb des Druckstockes liegen” (Giertler & Köppel 2012: 8). Im Lektürealltag freilich ist es aber schwieriger, die Zwischenräume gesondert von den Rändern wahrzunehmen; vielmehr erscheint dem Leser etwa eine Buchseite als eine Fläche aus Schriftbuchstaben auf einem darunterliegenden, ganzflächigweißen Textträger. Dies mag der Grund sein, dass Seitenränder als solche in der Philologie bislang wenig Beachtung gefunden haben. Sie stehen immer dann im Fokus, wenn sie auf irgendeine Weise beschriftet werden. In der Mehrheit befassen sich einschlägige Arbeiten mit Anmerkungen 8 Vgl. hierzu Mersch 2002 und Krämer 1998. 9 Martial Epigramm 14, 84; auch Blanck (1992: 72). 10 Vgl. die Diskussion bei Roberts & Skeat 1983. 11 Ein Beispiel für positiv gedrucktes Blindmaterial findet sich etwa bei Wehde (2000: 105). Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 283 und Fußnoten. 12 Dabei ist dem Untersuchungsgegenstand - ob Glossen oder Kommentare in mittelalterlichen Handschriften, Marginalia in neuzeitlichen Drucken oder Randbemerkungen in der postmodernen Literatur - gemeinsam, dass sein Schriftbild identisch zum Fließtext, also entweder ebenso handschriftlich oder ebenso gedruckt vorliegt. Damit wird jedoch die Möglichkeit, Tabus an den Rändern von Buchseiten zu beobachten, zwangsläufig ausgeblendet, sind es doch genau die Kombination bzw. Gegenüberstellung verschiedener Schriftmodi und sogar Zeichentypen, die sie in ihrer Eigenschaft ausmachen: Handschriftliches im Gedruckten oder Bilder in Handschriften. Genaugenommen ist diese Kombination zu präzisieren, insofern zum einen der Status des Schreibers eine wichtige Rolle spielt - Anmerkungen bekannter Denker oder vom Autor selbst werden sogar geschätzt -, 13 und zum anderen die Art und Weise des Gemalten. 3 Verschandeln In seiner Studie Image on the Edge befasst sich Michael Camille nicht nur mit Rändern, sondern auch mit tabuisierten, provokativen Malereien, die sich darin befinden. Er legt dar, wie diese Affen, Monster und Karikaturen an den Rändern sehr wohl in Beziehung zu setzen sind mit dem Werkinhalt, den sie umranden. Dabei sind sie nicht nur aufgrund dessen, was sie darstellen, leicht misszuverstehen, sondern auch deswegen, weil sie losgelöst vom Kontext an den Rändern zu flotieren scheinen. Um nicht den Eindruck einer rein zufälligen Positionierung zu erhalten, ist vom Leser die Fähigkeit gefordert, eine Folioseite als Ganzes wahrzunehmen - eine Perspektive, die für die Nutzung der Ränder von zentraler Bedeutung ist. Camille verortet diese neue Form der Wahrnehmung im Wechsel der Art und Weise des Lesens von laut zu leise: “this extra-textual space only developed into a site of artistic elaboration as the idea of the text as written document superseded the idea of the text as a cue for speech” (Camille 1992: 18). 14 Die Ursprünge der Bilder an den Rändern sieht Camille in den schriftlichen Erklärungen und Anmerkungen, die in einem ersten Schritt aufgrund ihrer expandierten Informationsfülle nicht mehr, wie im Fall von übersetzenden Glossen, interlinear gesetzt wurden. Damit verlagerten sie sich an die Ränder und fingen an, aus ihrer neuen Position nunmehr mit einem ganzheitlichen Text zu interagieren, “text that has come to be seen as fixed and finalized” (Camille 1992: 20). Gleichzeitig begannen sie ihn zu interpretieren. An diese schriftlichen Auswüchse an den Rändern hefteten sich allmählich auch bildliche Elemente. Schrift und Bild verbanden sich auf diese Weise zu gemeinsamen Aussagen, konnten aber auch divergierende Meinungen offenbaren. Ein Beispiel für das gemeinsame Zusammen- 12 Allgemeiner Überblick zu Anmerkungen bei Kästner 1984. Zu Fußnoten als vermeintlich aussterbende Spezies vgl. Hilbert 1989. Zu den Ursprüngen der Fußnote und ihre Wissenschaftlichkeit Grafton 1995 und Eckstein 2001. Zum Einfluss unterschiedlicher Kommentierarten auf die Entwicklung der handschriftlichen Buchgestaltung vgl. Parkes 1976. Wegbereiter der Postmoderne auch in Sachen Randbemerkungen sind natürlich Sternes Tristram Shandy und Joyces Finnegans Wake, vgl. dazu Benstock 1983. 13 Vgl. Neefs 1997 oder Eco & Carrière (2010: 101). Brod nennt den Fall, dass Schopenhauers Bemerkungen in seinen Exemplaren von Fichte oder Platon “in Grisebachs vierbändiger Nachlaß-Edition [. . .] säuberlich gedruckt” sind, “so versöhnt das wohl mit der Gepflogenheit, die der Bibliophile verabscheut”, Brod (2014, 331). 14 Vgl. hier natürlich Saenger 1997. 284 Hiloko Kato (Zürich) spannen sind etwa Textkorrekturen, wie sie in einem Stundenbuch des späten 13. Jahrhunderts zu finden sind: Die vergessen gegangenen Werkpassagen, die am unteren Rand hinzugefügt wurden, hievt ein hinzu gemalter Bauarbeiter mit Hilfe eines Seils an die richtige Stelle. 15 Während diese Formen der bildlichen Hinzufügung noch in offensichtlichem Zusammenhang mit dem Werkinhalt stehen, kommen auch zahlreichen Illustrationen vor, die in einem doppelten Sinn ‘randständig’ sind. Die Zeichnungen von entblößten (männlichen) Hintern, von sexuell konnotierten Metaphern (wie das Halten eines Eichhörnchens) oder sogar von Zurschaustellungen einiger Stuhlgänge können, wie Camille zeigt, keineswegs als willkürliche perverse Kritzeleien frecher Illustratoren abgetan werden. Sie zeugen aufgrund ihrer visuellen Tabubrüche viel mehr von den Möglichkeiten, das geschriebene Wort zu untergraben und auf subversive, zugegebenermaßen auch sehr derbe Weise, zu kommentieren. Auf der Rectoseite von Folio 124 der von Petrus de Raimbeaucourt illuminierten Missale von 1323 findet sich ein besonders reiches Beispiel, in dem am unteren Rand der Seite sich mehrere Affen über einen Schreiber lustig machen (Abb. 1). 16 Nicht genug, dass sie ihn nachäffen und Schreibwerkzeuge missbrauchen - ein Affe streckt ihm sogar den Hintern entgegen. Der Grund für diese derben Scherze ist offensichtlich eine unglückliche Trennschreibung des Wortes “culpa” im Gebetstext: “thus it reads Liber est a cul - the book is to the bum! ” (Camille 1992: 26). Was Camille nicht weiter ausführt, ist die Nachvollziehbarkeit zwischen schriftlichem Missgeschick und dessen bildlicher Verspottung, die der Illuminator raffiniert auf doppelte Weise herstellt: Nicht nur weist der hinter dem sitzenden Schreiber stehende Affe mit einer Zeigegeste in Richtung der verunglückten Stelle mit der Silbe cul, es wächst am rechten Rand sogar ein Rankwerk empor, auf dessen Spitze ein Vogel platziert ist, gerade auf der gleichen Höhe zur betreffenden Zeile. Damit kann dem Leser der Zusammenhang kaum entgehen. Auf solch versinnbildlichte Weise bringt sich der Illuminator, 17 der zwar bei der Tradierung heiliger Worte an letzter Stelle steht, als scharfer und unbarmherzig offenlegender Beobachter ein. Die wilde und ungeordnete Usurpation der Ränder in der gotischen Buchmalerei geschieht ganz bewusst, jedoch immer im Bewusstsein, dass der Werktext - “the always already written Word” (Camille 1992: 22) - vorgegeben und in seiner Existenz, Lesart und Rezeption unumstößlich ist. Gerade deshalb können die Freiheiten, die sich der Illustrator mitunter nimmt, überhaupt so schamlos und unanständig sein, untergraben sie doch die Autorität des Werks, sei es geistlicher oder weltlicher Natur, in keinster Weise. Gewisse Perversionen, etwa der nackte Po-Zeiger mit dem Gesicht Jesu, scheinen nur insofern akzeptabel, als sie keine echte Alternative repräsentieren (Camille 1992: 43). Trotz der Provokationen wird also nicht grundlegend an gegebenen gesellschaftlichen Normen gerüttelt, und genauso wenig führen moderne Deutungen zum Ziel: Stuhlgänge sind nicht 15 Das Beispiel lässt sich online einsehen: <http: / / www.thedigitalwalters.org/ Data/ WaltersManuscripts/ W102/ data/ W.102/ sap/ W102_000070_sap.jpg> [31. 10. 2016]. Ein Beispiel für die Offenlegung gegenteiliger Meinungen liefert Camille anhand der Figur Augustins, der in den Psalm-Kommentaren von Peter Lombardus’ Glossa Ordinaria am Rand hinzugemalt wurde: Bewaffnet mit einer Lanze, mit der er auf die kritisierte Werkstelle hinweist, wehrt sich der Kirchenvater gegen ein Zitat, das fälschlicherweise ihm zugeordnet worden ist - “non ego” steht auf einer Schriftrolle, das er akrobatisch mit der anderen Hand entfaltet, vgl. Camille (1992: 21). 16 Abbildung mit freundlicher Genehmigung durch die Koninklijke Bibliotheek, Den Haag. 17 Interessant in dem Zusammenhang ist das Wortspiel singe - signe, vgl. Camille (1992: 13). Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 285 Abb. 1: Bildlicher Tabubruch am Rand einer gotischen Handschrift. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek [KW 78 D 40]. 286 Hiloko Kato (Zürich) Metaphern für Verfall und Tod, sondern im Gegenteil wird der natürliche Vorgang als kreative Produktion bis hin zur Gleichsetzung von Exkrementen mit Geld betrachtet (Camille 1992: 115). Mit der Zeit jedoch ist in der Entwicklung der Buchmalerei das allmähliche Einfangen der bis dahin relativ frei an den Rändern gesetzten Malereien und kleineren Szenerien zu beobachten. Die Ränder wandeln sich von Orten der spontanen Reflexion zu vorgeplanten, gebundenen und kontrolliert ausufernden Rahmungen: “The marginal scenes are no longer painted upon the bare vellum, hovering between the text and the field, but are given their own circular pockets of space” (Camille 1992: 154). Somit endet nicht nur die Praxis der frivolen wie flotierenden Bilder an den Rändern, indem es immer mehr zu einer strikten Trennung zwischen bildlichen und schriftlichen Elementen auf den Seiten von Büchern kommt. Auch der Seitenrand wandelt sich immer stärker zu einem Gegenpart zur Schriftfläche. Die Auffassung dessen, was Tabubrüche an den Rändern von Texten ausmachen, unterliegt, wie die Beispiele aus Camilles Studie zeigen, stark dem Stellenwert der Ränder bzw. der zu der jeweiligen Zeit vorherrschenden Bedeutungszuschreibung von Rändern. Bei den gotischen Handschriften ist es eine komplexe, durch Aufgabenteilung und Auftragsarbeit geprägte, dennoch ganzheitliche Sicht, welche die Randzonen und das darin ungebunden und unverblümt Befindliche in den Zusammenhang des Gesamttexts einzupassen versteht. Die Nachwelt tat sich mit diesen frivolen Malereien freilich schwer: “The ornamentation of a manuscript must have been regarded as a work having no connection whatever with the character of the book itself ”, dies vor allem, wenn die “margins were made the playground for the antics of monkeys or bears and impossible monsters, or afforded room for caricatures [. . .]” (Thompson 1898, 309 zitiert nach Camille 1992: 31). 18 Auf solche Weise gleichzeitig marginalisiert und tabuisiert, konnte erst eine modisch-postmoderne Herangehensweise die Randphänomene salonfähig machen und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen beginnen. 19 4 Versehren William Blades, ein Zeitgenosse Thompsons, beschreibt in The Enemies of Books in zahlreichen Anekdoten und zuweilen auf satirische Weise die Ängste eines jeden Bibliophilen. Neben Feuer, Wasser, Hitze oder Wurmfraß können auch Menschen Feinde des Buchs sein, sogar solche, die professionell oder aus Passion mit Büchern zu tun haben: Buchbinder und Sammler. Restaurationsarbeiten von Buchbindern waren bis in das 19. Jahrhundert hinein oftmals gleichzusetzen mit der Zerstörung des ursprünglichen Buchformats. Denn ihr Tun beschränkte sich nicht nur auf das Ersetzen originaler Einbände, sondern sie beschnitten auch rigoros die Seitenränder: De Rome, a celebrated bookbinder of the eighteenth century, who was nicknamed by Dibdin “The Great Cropper”, was, although in private life an estimable man, much addicted to the vice of reducing the margins of all books sent to him to bind. So far did he go, that he even spared not a fine copy of Froissart’s Chronicles, on vellum, in which was the autograph of the well-known book-lover, De Thou, but cropped it most cruelly. (Blades 1888: 110) 18 Thompson war erster Direktor und oberster Bibliothekar des British Museum von 1888 bis 1909. 19 Nicht immer können aber postmoderne Ansätze schlüssige Erklärungen liefern, wie Camille zu recht betont. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 287 Erklärungen für dieses Beschneiden kann Blades nicht wirklich angeben. Umso vernichtender ist sein Urteil über gewisse Büchersammler, denn wie ihm ein Bekannter berichtet waren sie es, die jene Praxis verlangten, “so that they might look even on [their] bookshelves” (Blades 1888: 135). Einzig diejenigen Sammler, die über Bücherleichen gehen, werden von Blade noch vernichtender verurteilt. Zu ihnen gehört John Bagford, ein Mitbegründer der renommierten Society of Antiquaries. Dieser zog Anfang des 18. Jahrhunderts durch englische Bibliotheken, “tearing away title pages from rare books of all sizes”, um sie zu einer Sammlung zusammenzustellen, die die Geschichte des Buchdrucks dokumentieren sollte (Blades 1888: 142). Dass Bagford auf seiner Sammelreise sich tatsächlich den Namen eines Biblioklasten verdiente und nicht etwa aus Buchfragmenten die Stücke rettete, sieht Alfred W. Pollard, der sich als einer der Ersten mit Titelblättern auseinandersetzte, als erwiesen an, denn: “He cut the margins of the leaves he preserved, often close round the edge of the text; and the man who would do this, would do anything” (Pollard 1891: 3, Hervorhebungen im Original). Wenn mittelalterliche Handschriften auf diese Weise beschnitten werden konnten, dass das neue Format nur noch halb so groß war wie das ursprüngliche, wie es Blades beschreibt (Blades 1888: 129), müssen die Ränder tatsächlich sehr breit gewesen sein. Und Camille geht davon aus, dass durchaus auch gotische Handschriftenränder davon betroffen waren: “The urge to have clean edges often resulted in medieval manuscripts being cruelly cropped down, a practice typical of the increasing disrespect for everything but the text in subsequent centuries” (Camille 1992: 158). Auch wenn der “Text”, also die Schriftfläche nicht tangiert wird, fällt die Verurteilung und Sanktionierung dieser einschneidenden Tabubrüche an den Texträndern sehr deutlich aus: Die Versehrung der Ränder scheint der Verstümmelung eines Körpers nahe zu kommen und das mutwilliges Versehren von Büchern wird harsch verurteilt und sanktioniert. In der Bewahrung eines ganzheitlich intakten Buchkörpers zeigt sich der Respekt vor Büchern: “[S]eine mangelnde Pflege oder mutwillige Zerstörung hingegen beschwören vielfältige Praktiken der Büchervernichtung von der Antike bis zur Moderne als Ausdruck kulturferner Barbarei” (Körte 2012: 9). Es ist ein Handlungstabu, das bereits früh in der Lesesozialisierung antrainiert wird. Das Kind muss nicht nur lernen, beim Lesen still zu sitzen, 20 sondern auch ein Buch sorgfältig und pfleglich zu behandeln - es ist eben kein Spielzeug. 21 Falls bei einer solch frühen und permanenten Zügelung des Leseverhaltens die Imaginationskraft, was man alles Verbotenes mit einem Buch anstellen kann, verloren geht, schafft Keri Smiths Mach dieses Buch fertig (2013) Abhilfe. Es leitet ganz gezielt dazu an, alles zu vergessen, “was du über den Umgang mit Büchern gelernt hast” und Dinge zu tun, “die dir mehr als fragwürdig erscheinen”. 22 Auf jeder ansonsten leeren Doppelseite finden sich 20 “[Lesen im Allgemeinverständnis] ist in zweifacher Hinsicht körperfeindlich: der Eindämmung der Textmaterialität entspricht eine Ruhigstellung des Leserkörpers” (Gross 1994, 59). 21 Bei Büchern für die Kleinsten ist diese Verbindung von Spielzeug und Buch noch vorhanden: “To appeal to very young children, picturebooks are often disguised as playthings” (Kümmerling-Meibauer 2011: 3). Oder man versucht mit entsprechenden, speichelresistenten Beschreibstoffen wie Karton oder Plastik zu arbeiten. Eine besondere Stellung nehmen Zieh-und-Klapp-Bücher oder Pop-up-Bücher ein, die zwar oftmals für kleine Leser gemacht sind, jedoch besonders anfällig für Versehrungen sind: Die Klappen können abgerissen, die filigranen Konstruktionen aus Papier zerrissen werden. Ein Klassiker der Goldenen Ära dieser Pop-up-Bücher aus dem 19. Jahrhundert von Lothar Meggendorfer lautet denn auch Für brave Kinder. Bei diesen Büchern wird deutlich, wie sich in den Sozialisierungsprozess von Lektüre die Kontrollinstanz des Erwachsenen einschaltet, der nicht nur darüber bestimmt, was gelesen wird, sondern auch wie. 22 Körte spricht von einer “Sakralisierung [von Buch und Buchpflege], die nur den Leser und die Leserin in ihr Reich lässt und die alternativen Umgangs- und Rezeptionsweisen mit dem Buch hingegen als deviant abweist” 288 Hiloko Kato (Zürich) Vorschläge in handschriftlicher Typografie, den Anscheinend erweckend, es sei bereits hineingeschrieben worden. Die vielfältigen Vorschläge zielen darauf, Ungewöhnliches mit dem Buch anzustellen, wobei dies zumeist nicht im positiv-ästhetischen Sinn gemeint ist, sondern entweder als Anleitungen zu Nonsense-Handlungen (“Überziehe diese Seite mit Dingen, die weiss sind”, “Krame die Fusseln aus deiner Hosentasche. Klebe sie hier ein”) oder als Aufforderung zu einem enthemmten, respektlosen Umgang mit dem Buch (“Kritzle wild, aggressiv und total hemmungslos herum”, “Knüpfe das Buch an einem Faden auf. Schleudere es wild herum. Lass es gegen Wände knallen”). Der Wortschatz ist dementsprechend mit negativ konnotierter Semantik besetzt (herumkritzeln, austoben, verschmieren, verunstalten, abscheulich, Kacke, Kotze). Statt “dem perfekten Zustand [. . .], in dem sich dieses Buch ursprünglich befand”, nachzutrauern, soll das Vorgehen gegen dieses Perfekte, Saubere und Unversehrte - ganz in postmoderner Manier - als “schöpferische Zerstörung” betrachtet werden, die das Leben spannender machen könne. Die Reichweite dieser Zerstörung geht vom mehrmaligen Herausreißen von Seiten (um einen Papierflieger zu basteln oder ein Geschenk einzupacken, aber auch einfach, um die Seite zu zerknüllen) bis hin zu den Vorschlägen, eine Seite zu verbrennen, das Buch mit unter die Dusche zu nehmen oder “sofort etwas absolut Unvorstellbares, Zerstörerisches mit dem Buch” anzustellen. Nicht immer also wird das Schöpferische erkennbar. Vielmehr handelt es sich um bewusste Tabubrüche, die gleichzeitig die grundlegende Zerstörbarkeit eines Buchs aus Papier betreffen und das dazu herrschende stillschweigende Handlungsverbot vorzuführen und zu umgehen trachten. In Mach dieses Buch fertig werden auch explizit Buchränder malträtiert. Allen voran und bereits auf der zweiten Seite der Buchrücken unter Zuhilfenahme einer Körpermetapher: “Brich den Buchrücken”. Weniger drastisch muten die Vorschläge an, welche den Buchschnitt, das Cover, das Titelblatt, das Impressum und die Seitenränder in Mitleidenschaft ziehen. Statt diese wie ihre mittelalterlichen Pendants physisch zu zerstören, sollen sie den Tabubruch des Bekritzelns erleiden: “Schliesse das Buch. Kritzle etwas auf seine Kanten”, “Kritzle kreuz & quer über das Cover, die Titelseite, die Anleitungen, das Impressum. Knicke die Ecken Deiner Lieblingsseiten um” und “Alles voll kritzeln. [drei nach unten weisende Pfeile] Auch die Ränder”. 23 Interessanterweise unterscheiden sich gerade die beiden letzten Anleitungen fundamental von allen anderen: Diejenige, welche das Bekritzeln der Peritexte vorschlägt, bezieht sich als einzige nicht auf die gerade vorliegende Seite. Auf diese Weise wird an die Ganzheitlichkeit eines Buchs erinnert und bewusst gemacht, dass auch diese unscheinbaren, rasch überblätterten Seiten sehr wohl zum Buch dazugehören - und ebenfalls “fertig gemacht” werden müssen. Diejenige Anleitung zu den Seitenrändern ist insofern besonders, als dass sie die einzige Seite ist, die abgesehen von der Handschrift nicht leer, sondern zweispaltig mit einem Blindtext bedruckt ist wie eine “normale” Buchseite. Spätestens hier - Seitenränder werden erst spontan wahrnehmbar mit einer (bedruckten) Schriftfläche - wird der Widerspruch zwischen dem Titel Mach dieses Buch fertig und der allgemeinen Aufmachung des “Buchs” offensichtlich: Es ist ungebunden, erweckt mit der einzigen Ausnahme den Anschein, unbedruckt zu sein und möchte - zugegebenermaßen auf ausgefallene Art und Weise - “versehrt” werden. Es ähnelt somit eher einem Notizbuch. Aber (Körte 2012: 15). Die von Smith vorgeschlagenen Umgangsweisen lassen sich durchaus als Kontrapunkte zum Lesen verstehen. 23 Umsetzungen finden sich zahlreich im Internet, z. B. <https: / / www.flickr.com/ photos/ 34276479@N05/ 4016106773/ > [31. 3. 2016]. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 289 obwohl der Titel im Original tatsächlich Wreck this Journal lautet, ist auch diese Bezeichnung nicht wirklich befriedigend. Vielmehr macht es das Dilemma eines solchen Unternehmens deutlich, dass spielerisch mit konventionalisierten Handlungstabus umgehen will: Offensichtlich benötigt man die Anleihe an ein Buch - auch wenn es nur eine einzige bedruckte Seite ist -, um die Zerstörungsarten einerseits zu komplettieren und andererseits auf die Spitze treiben zu können. Denn Notizbücher und “echte” Bücher weisen einen gravierenden Unterschied auf: Die un-/ bedruckten Seiten. Diese sind es auch, die entweder dazu auffordern oder davon abhalten, hineinzuschreiben. Zur Intaktheit eines Buchs gehört offensichtlich, sein Bedrucktes von jeglicher Form von Handschriftlichem rein zu halten, es nicht zu der offensichtlichen Augenfälligkeit des Unterschieds zwischen Bedruckten und Hineingekritzelten kommen zu lassen. “Dies ist kein bedeutendes Stück Literatur”: Gerade dieser erste Satz des Blindtextes scheint zu verraten, dass das Handlungstabu des Bekritzelns genau so stark ist wie jeder Zerstörungsreigen, der die Physis eines Buchs angreift. 5 Bekritzeln “KEEP THIS BOOK CLEAN. Borrowers finding this book pencil-marked, written upon, mutilated or unwarrantably defaced, are expected to report it to the librarian” - diese gestempelte Aufforderung findet sich auf der Innenseite des hinteren Einbanddeckels eines 2013 erschienenen Romans, der laut Klappentext auf dem Schuber eine Liebeserklärung der Autoren Doug Dorst und J. J. Abrams an das geschriebene Wort ist. Auf diesem Schuber noch als S betitelt, zieht der Rezipient daraus stattdessen ein Buch mit dem Titel Ship of Theseus heraus, geschrieben von einem gewissen V. M. Straka. Dieses gebundene Buch ist mittels eines auf dem Buchrücken angebrachten Signaturklebers und weiteren Stempelschriftlichkeiten - nebst dem strengen Hinweis hinten findet sich auch ein “BOOK FOR LOAN” in Rot vorne auf dem Vorsatz - klar als Leihbuch aus einer Bibliothek erkennbar. Die Camouflage geht aber noch weiter: In die Hand genommen, scheint man sogleich die Abgenutztheit von gelesenem Papier haptisch spüren zu können. Und ein rasches Durchblättern bringt Überraschendes zum Vorschein: Handgeschriebene Briefe, Postkarten, Fotokopien, Zeitungsausschnitte und sogar eine Papierserviette (mit der aus Filmen musterhaft bekannten Kartenzeichnung) sind zwischen die Seiten geklemmt, das meiste wie das Buch selbst in angegilbt-gebrauchter Manier. Aber noch augenfälliger sind die Seitenränder von S bzw. Ship of Theseus: Sie sind ausnahmslos alle mit verschiedenfarbigen Schreibmitteln und in unterschiedlichen Handschriften beinahe vollständig bekritzelt - den eigens aufgestempelten Tabuhinweis aufs Ärgste übertretend (Abb. 2). Bereits aus der Schmutztitelseite geht aufgrund dieser Einträge hervor, dass hier zwei Leser über das Buch Korrespondenzen austauschen. Genauer handelt es sich um den Beginn des Austausches zwischen Jen, einer Collegestudentin, und einem in Blockschrift schreibenden ‘Kenner’ V. M. Strakas, der sich später als Unistudent namens Eric herausstellt. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, die Identität Strakas zu enthüllen. 24 Was sich auf den folgenden Seiten entspinnt, ist - im Druck - die Erzählung eines Mannes mit Gedächt- 24 Dieser Spannungsbogen wird zusätzlich dadurch intensiviert, indem die Identitätsfindung unter Zeitdruck steht: Erics bisherige Erkenntnisse wurden von seinem Professor gestohlen und drohen nun unter dessen Namen veröffentlich zu werden. 290 Hiloko Kato (Zürich) Abb. 2: Tabubruch aufgrund intensiven Lesens: Dorst & Abrams S (2013) Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 291 nisverlust, der auf ein Schiff entführt wird und den Sinn und Zweck seiner grausigen Reise zu finden sucht; die Suche nach Strakas Identität, der sich die beiden jungen Lesenden - in den Seitenrändern - ver-schreiben und nebenbei beginnen, ihre eigenen Identitäten preiszugeben; sowie - in den Fußnoten - das Streuen vermeintlich codifizierter Hinweise durch den Übersetzer namens F. X. Caldeira, der freilich das Mysterium Straka durch sein Vorwort überhaupt erst ins Leben gerufen hat. Die Lektüre von S ist vor diesem mehrstimmigen Hintergrund so ungewöhnlich wie anstrengend, “schließlich muss man die eigenen Lesegewohnheiten aufgeben und neue entwickeln”, denn “[d]en eigentlichen Text des Romans wie mit Scheuklappen zu lesen und die Marginalien ebenso zu ignorieren wie die eingelegten Gegenstände, ist viel verlangt”, wie es in einer Rezension der FAZ heißt (Spreckelsen 2015). Die verschiedenen Farben zeigen unterschiedliche Zeitpunkte der Einträge an, so dass das Mäandern zwischen Strakas Erzählung und der Detektivarbeit in den Seitenrändern noch weitere verdichtende Schlenker erhält. Die Intensität der miteinander verwobenen Stimmen lässt den Rezipienten mit der Zeit seine durch den “BOOK FOR LOAN”-Stempel genährte Erwartungshaltung und damit auch den Tabubruch vergessen. Zudem wird ausgerechnet dieser Bruch auf den ersten Seiten durch Jen und Eric ausgehandelt: Jens Begeisterung über Strakas Roman lassen Eric zunächst kalt; er unterstellt ihr als Collegestudentin (“Dear undergrad lit major”) eine naive und oberflächliche Lektürehaltung (“if you thought it was an ‘escape’ then you weren’t reading closely enough”). Dies will Jen nicht gelten lassen: “I made some notes in the margins so you can see how closely I read”, was den Experten Eric, der bereits einige spärliche Notizen - farblich überaus blass - eingetragen hatte, empört: “I can’t believe you wrote all over my book”. Jens Antwort (“I know. It was so presumptuous of me. [. . .] Oh, by the way, you’ve totally missed something important about F. X. Caldeira”) bringt die Sache auf den Punkt: Der Tabubruch lässt sich rechtfertigen, insofern es sich um eine intensive - sogar der Wahrheitsfindung dienende - Lektüre handelt. Das Lesen wurde in diesem Fall auch zu einer gänzlich privaten Angelegenheit, denn das Buch ist von seinem ursprünglichen Platz entfernt worden. Sein ‘Verlust’ entzieht es zugleich aus dem Wirkungsbereich der Bibliothek mit ihren Geboten. Trotzdem: Der Tabubruch wird keineswegs nivelliert, sondern euphemistisch als Notwendigkeit geadelt. Man erinnert sich an Brods Worte über die Aktivitäten ergriffener Leser (s. o.), 25 wobei das Aussehen des Buches in diesem Fall sogar (noch) schöner wird, da nicht “mit dem Bleistift”, wie im Fall von Brod, sondern rigoros in Farbe gearbeitet wird. S ist in diesem Sinne ein Roman, der in postmoderner Manier alles das hervorhebt, was nur zu oft aus dem Fokus der auf den “eigentlichen Text” (s. o. Zitat der FAZ) gerichteten Lektüre gerät. Auch wird unter Beweis gestellt, was ein Buch - im Gegensatz zu den bisherigen digitalen Medien - alles kann: Ganz dezidiert ließen sich die Autoren von der Idee leiten, ein Buch zu schaffen, das nicht als digitale Version publiziert werden kann. Ihre Liebeserklärung an das geschriebene Wort ist somit gleichzeitig eine an das traditionelle Buchmedium und an seine materielle Ganzheit als Objekt. Der Tabubruch versehrt das Buch, aber ohne es - im Gegensatz zu den 25 Brod verliert im Essay auch ein Wort über Bibliotheksbücher: “Sind es Bücher der eigenen Bibliothek, so ist ja auch nichts einzuwenden. Aber oft genug kommt es vor, daß man aus einer öffentlichen Bibliothek [. . .] ein Werk ausleiht und mit einigem Ärger darin Randbemerkungen seines Vorgängers findet, die einen gar nicht interessieren [. . .]. Oft genug hat ein zweiter Leser seine Einwendung gegen die Notizen des ersten Lesers in wenig höflicher Form beigefügt [. . .]” (Brod 2014: 331). 292 Hiloko Kato (Zürich) beschnittenen Handschriften oder zu Smiths Mitmach-Buch - zu verstümmeln. Die Randbemerkungen lassen sich gleichfalls nicht ignorieren, sind von Beginn an Bestandteil der Gesamtheit von S. Das Tabu wird mithin Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens postmoderner Lektüre. 6 Und digital? Fazit Dem allgegenwärtigen Zwang zur Digitalisierung kann sich kein Buch entziehen. Keri Smiths Digitalisat wurde zwar kurzerhand und logischerweise umbenannt: Mach diese App fertig. Es ist jedoch ein schwacher Abklatsch im Vergleich zum Original, das die Zerstörbarkeit des Buchs tatsächlich vor Augen führt und durch die vielfältigen und respektlosen Arten regelrecht zu feiern weiß. Im App beschränken sich die Anweisungen auf das Bemalen der Seiten und das Aufnehmen von Fotos (z. B. “Fotografiere die Fusseln aus Deiner Hosentasche”). Die versehrenden Aktivitäten halten sich selbstredend in Grenzen (z. B. “Tipp auf diese Seite” statt wie im Original “Bohre mit einem Bleistift Löcher in diese Seite”), wodurch die fehlende Materialität als eigentlicher Brennstoff bei der schöpferischen Zerstörung besonders frappant zu Tage tritt. Auch von S, das gerade aus der Idee entsprang, ein nicht ins Digitale übertragbares Buch zu konzipieren, existiert erstaunlicherweise eine Version für Kindle. 26 Dorst und Abrams haben es sich aber nicht nehmen lassen, eine Anmerkung hinzuzufügen, die der Rezipient noch vor dem Schmutztitel zu lesen bekommt: PLEASE NOTE: A fundamental part of the experience for the characters in S. is that of holding, reading, and sharing a physical book. Their experience of reading books - of reading this book - is a tactile one, one where they jot notes in the margin and can begin to communicate, back and forth, upon the pages themselves. [. . .] The Kindle Fire version attempts to work with platform limitations to replicate the experience of the physical book. [. . .] But please know that the experience of looking at the digital reproduction of these items is decidedly different from that of reading and holding the physical book of S. [. . .] (Dorst/ Abrams 2013) Auch hier fokussiert sich die versteckte Kritik der Autoren auf die fehlende Materialität des “physical book”. Dorst und Abrams scheinen die Möglichkeit seiner Aneignung in der Kindle-Version sogar abzuschreiben, wenn sie den vielseitigen Umgang mit der Originalversion (“holding, reading, and sharing a physical book”) dem simplen Anschauen (“looking at”) gegenüberstellen. Abschwächend wirkt sich die Digitalisierung nicht zuletzt auf den Tabubruch an den Seitenrändern aus: Es ist eine Art Unmittelbarkeit, ein in-der-Hand- Halten der bekritzelten Seiten, ausgedrückt auch durch das mehrfach wiederholte “holding” in der Notiz der Autoren, wodurch das Tabu nachvollziehbar und erlebbar gemacht wird - eine Unmittelbarkeit, die in der digitalen Version fehlt. Um wenigstens die spezielle Materialität von S auf der visuellen Ebene vermitteln zu können, besteht seine digitale Reproduktion, anders als sonst üblich, aus einer gescannten Kopie des Werks. Damit wird aber das digitale Medium auf eine simple Wiedergabefunktion reduziert. Beinahe höhnisch muten gar die über und über mit Anmerkungen bedeckten 26 Der Name des Kindle-Modells als “Fire”, der die neue Möglichkeit zur Darstellung von Farben bewirbt, mutet vor dem Hintergrund der Bücherversehrung beinahe als schlechter Witz an. Versehren, Verschandeln und Bekritzeln 293 Seitenränder auf den Scans an: Denn mit Hilfe von Kommentierfunktion und der Möglichkeit alle Notizen separat aufzulisten wären doch e-Reader-Programme bestens für solche Tätigkeiten gerüstet und, was die bewältigbare Quantität angeht, sogar potenter. Diese Fähigkeit führt jedoch ebenso zu einer Abschwächung des Tabu, nicht zuletzt da auf diese Weise die scharfe Trennung zwischen Produktion und Rezeption, das Schreiben bzw. das Drucken und das Lesen sich visuell auflöst: Kommentiert wird im gleichen Schriftmodus wie der bereits bestehende Drucktext. Digitale Texte sind darauf angelegt, ihre absolute Beständigkeit und Fixiertheit zu verlieren. Das Gebot, Texte unversehrt und rein zu halten, wird damit nicht nur obsolet, sondern verliert gänzlich seinen Sinn. In beiden Fällen sind die Tabus des Versehrens und Bekritzelns bzw. ihre Umsetzung und Erlebbarmachung verunglückt. Dieses fehlende Bewusstsein für die Phänomene an den Seitenrändern gilt auch für die deutschsprachige Kindle-Version von Perecs Schreibvorgängen in Espèces d’espaces. Wenn Perec im Original “auf den Rand” schreibt (s. o.), geschieht das in der Kindle-Version stattdessen, abgesetzt und in kleinerer Schriftgröße, direkt unterhalb des vorherigen Fließtextes, linksbündig an den Rand, der als solches wohl noch existiert (Abb. 3). Perecs performative Nutzung und Erschaffung des Schreibraumes wird damit, wohl aus technischem Unvermögen, zu einer sinnlosen Aussage degradiert. Auch wenn sie es verstehen, das reale Buch in vielerlei Hinsicht nachzuahmen, macht diese Umsetzung deutlich, wie das mächtige digitale Medium an seine Grenzen stößt. Der codexikalische Seitenrand wird zu einer unbewohnbaren und unbedeutenden Zone, die auch durch den gerätetechnisch breiten Rand in gewisser Weise nivelliert wird. In der Digitalität wird auf diese Art den Seitenrändern wie auch den Tabubrüchen kaum die nötige Aufmerksamkeit zuteil. Wenn Apps oder Dateien durch einfache Klicks - immer als Ganzes Abb. 3: Der digitale Rand als unbewohnbare Zone: Perecs Träume von Räumen für Kindle 294 Hiloko Kato (Zürich) - gelöscht bzw. vernichtet werden, so betrifft die Versehrung immer deren Ganzheit. Damit ist in der Praxis mit digitalen Texten die Negation der Ränder, wie sie bereits bei realen Büchern beobachtbar ist, eine absolute. Die Schärfung des Bewusstseins für Seitenränder ist in vielerlei Hinsicht von Gewinn. Nicht nur kommen erhellende, in der Alltagspraxis verschüttete diachrone Zusammenhänge zu Tage, es lassen sich daraus auch Erkenntnisse für das (Nicht-)Funktionieren von Texten und deren Umsetzung in die Digitalität ziehen. Denn dabei geht es um viel mehr als um den simplen Transfer des Inhalts bzw. der Schrift, es spielen nicht-sprachliche, mediale Faktoren eine wichtige Rolle. Tabubrüche an den Seitenrändern produzieren Reibungen, die dem Verschwinden des Mediums hinter der Schrift und dem Sinn entgegenwirken. Ob verschandelt, versehrt oder bekritzelt wird das Bewusstsein für einmal rigoros an die Ränder gelenkt. Die Reaktionen auf die Tabubrüche - tabuisieren, sanktionieren oder zelebrieren - sind je nach historischem Kontext unterschiedlich und wandeln sich mit der Zeit. Die große Aufmerksamkeit, die den aktuellen Umsetzungen von Tabubrüchen in ihrer spielerischen oder kunstvollen Art zu Teil wird, beweist, dass immer noch ein unverstellter Zugang - sozusagen von den Rändern her - zu der eigentümlichen Qualität des Buchs möglich ist. Bibliographie Benstock, Shari 1983: “At the Margin of Discourse: Footnotes in the Fictional Text”, in: PMLA 98, Nr. 2 (1983): 204- 225 Blades, William 1888: The Enemies of Books, London: Trübner Blanck, Horst 1992: Das Buch in der Antike, München: Beck Brod, Max 2014: Über die Schönheit hässlicher Bilder. 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Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Berlin: De Gruyter, 18-41 Fix, Ulla 2008: “Nichtsprachliches als Textfaktor: Medialität, Materialität, Lokalität”, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36.3 (2008): 343-354 Fries, Thomas 2009: “Die Leerstelle. Der Zwischenraum”, in: Abbt, Christine (ed.): Punkt, Punkt, Komma, Strich? Bielefeld: transcript, 165-178 Genette, Gérard 1989: Paratexte, Frankfurt am Main: Campus Giertler, Mareike & Rea Köppel 2012: “Von Lettern und Lücken: Zur Einführung in diesen Band”, in: Giertler, Mareike & Rea Köppel (eds.): Von Lettern und Lücken: Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz, Paderborn: Fink, 7- 11 Goerke, Jochen 2008: “Schnittverzierungen: Ein Überblick über Geschichte und Techniken der Buchschnittdekoration”, in: Haase, Yorck-Alexander et al. 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Based on non-fictional discourses such as NSA and Edward Snowden on the one hand and highly rated spy series such as Homeland on the other hand the visual representation of surveillance is elaborated. Crucial findings include the relevance of taboo breaking in the process of surveillance and its dependency of socially frames and foundations. The paper argues in general for including visual elements in the definition of taboos. 1 Einleitung: Ein Beispiel aus der medienvermittelten Politik Das Titelzitat dieses Beitrags stammt aus einem Interview Angela Merkels vom 24. 10. 2013 (vgl. Merkel 2013). Es war die erste öffentliche Reaktion der Bundeskanzlerin auf die Nachricht, dass die NSA nicht nur flächendeckend und systematisch das Kommunikationsverhalten der US-Bevölkerung und der Bürger anderer Staaten erfasse, sondern auch Handy- Gespräche der deutschen Bundesregierung und anderer Regierungsvertreter Europas. Merkels Kommentar markiert ganz im Sinne des Heftthemas eine Tabugrenze, die sie durch das Spionageverhalten der NSA überschritten sieht. Das Tabu scheint auf einer besonderen ethischen Wertigkeit freundschaftlicher Beziehungen zu beruhen. Diese Beziehungen implizieren eine Normativität gegenseitigen Vertrauens. Durch die heimliche Spionage mag jedoch diese Normgrenze überschritten worden sein, die in ihrer Relevanz durch die Beteiligten interaktiv zu einer Tabugrenze ausgeweitet wird. Im Falle der medial vermittelten Empörung Angela Merkels findet dies wie folgt statt. Zwar enthält das Interview bezogen auf die deutschen Bundesbürger ein inkludierendes Wir, in dem deren Freiheiten durch die flächendeckende Überwachung gefährdet sei, und bezogen auf die amerikanischen ‘Freunde’ ein exkludierendes Ihr. Mit der Bezeichnung Freunde wird gleichzeitig die Exkludierung wiederum relativiert. Die Zuschreibung des Freundesstatus ist nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern es wird ein ethisches Fehlverhalten innerhalb des Normensystems Freundschaft attestiert. Stellt die NSA-Überwachung allgemein ein Tabubruch gegen die gesamte digital vernetzte Weltbevölkerung dar, indem die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen missachtet wurden, so streicht die deutsche Regierungschefin allerdings einen vermeintlich kleineren Tabubruch der “amerikanischen Freunde” heraus. Gründe mögen in gemeinsamen Wirtschaftsinteressen liegen, denn kurz vor der so genannten Handyaffäre hatte die Bundesregierung bereits bekanntgewordenes Spionageverhalten der NSA zu den Akten legen wollen. Die Enthüllungen Edward Snowdens drängten jedoch den Sub-Diskurs um Merkels Handy nicht ignorierbar auf die politische Agenda. Es wurde dadurch ein bedeutender Eingriff in die politische Souveränität eines Staates offenbar. Er kann als ein weitaus größerer Tabubruch konstruiert werden, als eine persönliche Enttäuschung unter Freunden. Mit der personalisierten Reaktion Merkels wird demgegenüber Zweierlei erreicht. Zum einen bekommt die NSA-Debatte konkrete Gesichter, die es ermöglichen, das Spionageverhalten auf zwei Personen im Sinne eines Täter-Opfer-Schemas zu reduzieren. Zum zweiten bemüht die Kanzlerin ein vermeintlich kleineres Tabu. Die persönliche Enttäuschung unter Freunden lässt sich als individuellen Fall generieren. Vom großen Tabu staatlicher Souveränitätsmissachtung unter Partnerstaaten und der Einschränkung individueller Persönlichkeitsrechte bewegt sich der Skandal hin zu einer persönlichen Enttäuschung eines freundschaftlichen Vertrauensverhältnisses. Dieser Einblick in die mediale Diskurswelt zeigt bereits, dass Tabukonstruktionen funktional sind. Sie entstehen aus der Erstellung, Brechung und Modifikation von normativen Grenzen. Tabubrüche bilden die strategische Form von Stilbrüchen, was in diesem Beitrag näher dargelegt werden soll. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern fiktionale und nicht-fiktionale Überwachungspraktiken als Tabus behandelt werden und welche Konsequenzen daraus für eine Kultur der Überwachung erwachsen können. Der vorliegende Beitrag behandelt Überwachungspraxis als ein non-fiktionales staatliches sowie fiktionales medienspektakuläres Spiel mit dem Tabubereich Privat- und Intimsphäre. Er trägt dabei zwar der Unterschiedlichkeit der fiktionalen und nicht-fiktionalen Diskurstypen Rechnung, verweist jedoch auf ihre kulturprägende Verschränkung hin. Diese wird vor allem in der strukturellen Komplementarität ihrer visuellen Repräsentationen nachgezeichnet. So ergänzen sich die (visuellen) Darstellungsweisen in non-fiktionalen Diskursen über Überwachung (z. B. in der Aufarbeitung des NSA-Skandals (vgl. Wikipedia 2016 a) und den Anschlägen auf den Boston-Marathon von 2013 (vgl. Wikipedia 2016 b) sowie auf die Redaktion von Charlie Hebdo von 2015 (vgl. Wikipedia 2016 c) mit den fiktionalen Überwachungs-Diskursen in den US-Spy-Fernsehserien Homeland (Teakwood Lane Productions 2011) und 24 (Joel Surnow und Robert Cochran 2001) sowie dem Hybrid-Format Big Brother (Endemol 2014). Aufgrund dieser Komplementarität sollen hier Hypothesen zu einer möglichen Kultur enttabuisierter Privatsphäre zur Diskussion gestellt werden. Dies wird fußend auf zwei semiotischen Fragen unternommen: 1. Wie wird in fiktionalen Formaten die Praxis der Überwachung semiotisch-performativ dargestellt und behandelt? 2. Inwiefern lässt sich die Verletzung des Tabubereich Privatbzw. Intimsphäre durch Überwachung zeichentheoretisch fassen? 298 Stefan Meier (Tübingen) 2 NSA-Überwachung als multimodaler Diskursgegenstand Initiator des so genannten NSA-Abhörskandals ist bekanntlich der so genannte Whistle- Blower Edward Snowden. Er trat erstmals in einem Interview vom 06. 06. 2013 mit dem damaligen Guardian-Reporter Glen Greenwald an die Öffentlichkeit. Das berühmte Porträt Snowdens (Abb. 1), das quasi zur Ikone des NSA-Skandals wurde, entstand ebenfalls im Rahmen des Guardian-Interviews, war jedoch Bestandteil des gleichzeitig produzierten Dokumentationsfilms “Citizenfour”. Laura Poitras veröffentlichte diesen im Oktober 2014. Sie war Snowdens erster Kontakt zur Veröffentlichung seines Wissens, während Greenwald bei den verborgenen Dreharbeiten im Hongkonger Hotelzimmer hinzugezogen wurde (vgl. Pitzke 2014). Das Bild (Abb. 1) erfuhr aufgrund seiner digitalen Präsentation auf Youtube eine inflationäre Verbreitung und diente u. a. crossmedialer Mashup-Bearbeitung auf T-Shirts, Plakaten etc.. Abbildung 2 zeigt eine Version, wie es die Berliner Werbeagentur Zitrusblau in Anlehnung an das berühmte Graffiti-Poster Barack Obamas von Shepard Fairey gestaltet hat. Offensichtlich wurde hier mit der Designübernahme an die Kampagne erinnert, in der Obama 2008 im Präsidentschaftswahlkampf als Hoffnungsträger (Hope) eines Politikwechsels nach Georg W. Bush galt. Die Bearbeitung des Snowden-Portraits ist als eine diskursive Reformulierung (vgl. Steyer 1997) in visueller Kodierung zu verstehen. Sie nimmt bekannte Sujets auf und zeigt kommunikative Modifikationen durch weitere visuelle Anspielungen, vermittelt durch bestimmte Farb- und Form- Stile (vgl. Meier 2014: 211 ff.). Snowden ist so zu einem Hoffnungsträger eines freien Internets stilisiert. Das Originalbild eignet sich für diesen Ikonenstatus in mehrfacher Weise. Es ist im Rahmen des Interviews entstanden und damit indexikalisch mit seinem Wagnis verbunden, als amerikanischer Staatsfeind verfolgt zu werden. Das Porträt sowie der gesamte Interviewmittschnitt, wie er zeitnah vom Guardian auf Youtube veröffentlicht wurde, zeigt den Whistleblower in Naheinstellung und streng dokumentarisch. Snowdens Gesicht hat im statischen Bild eine ermattete Blässe und im Bewegtbild eine angstvolle Erregtheit, gepaart mit einer jungenhaften Offenheit: Hier scheint ein aufrichtiger, ehrlicher und von seiner Situation tief beeindruckter junger Mann über unglaubliche Machenschaften eines übermächtig erscheinenden Staatssystems zu sprechen. Trotz Abb. 2: Urheber die Berliner Werbeagentur Zitrusblau 2015 Abb. 1: aus der Filmsequenz: The Guardian (2013) “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” 299 der damit verbundenen Gefahr ist er jedoch seinem Gewissen stärker verpflichtet als seiner persönlichen Sicherheit. Es entsteht die Inszenierung einer medienwirksamen David gegen Goliath-Situation, die Snowden als uneigennützigen Aufklärer gegen die Überwacht der USamerikanischen Sicherheitsbehörden erscheinen lässt. In der Videosequenz erklärt Snowden seine Beweggründe, an die Öffentlichkeit zu treten. Er macht deutlich, welche Tabugrenzen er durch die NSA-Praktiken überschritten sieht. Er gibt an, dass seine Position als Systemadministrator es ihm ermöglichte, den Datenfluss in der NSA-Behörde im Ganzen zu beobachten. Ihm wurde damit klar, in welchem Ausmaß Daten gesammelt und benutzt wurden. Zudem sei ihm die Alltäglichkeit des Umgangs mit den Daten zutiefst suspekt gewesen. Die Äußerung seiner Bedenken innerhalb der Behörde wurden jedoch abgewehrt, bagatellisiert und/ oder ignoriert. Anlass für sein Ausscheiden war schließlich, dass in seinen Augen Vertreter der NSA öffentlich über die Überwachungspraktiken logen. Dadurch war in seinen Augen ein Tabubruch geschehen, der den Tabubruch seinerseits rechtfertige, nämlich geheime Informationen an die Öffentlichkeit zu tragen. Tabus scheinen demzufolge mit moralisch verpflichtendem Gehorsam und moralisch zu sanktionierender Normübertretungen zu tun zu haben. Sie sind werteorientierte Grenzziehungen zur sozialen Strukturierung und Orientierung von Handlungen. Dies wird in der Literatur häufig mit dem Sündenfall im Paradies verglichen. Josef Isensee (2003: 9) merkt dazu an: “Das Tabu ist der Prüfstein des Gehorsams, gerade deshalb, weil es sich nicht dem Verstand als nützlich oder notwendig erschließt.” Tabuisierungen sind demnach eher emotional als rational wirksam. Während Normen als soziale Orientierungsgrößen in Form von Gesetzen oder Regeln rational erschließbar gemacht werden, erscheinen Tabus als implizite Grenzbereiche, die durch Sozialisierung unmittelbar auf den Affekthaushalt des Individuums ausgerichtet sind. Ganz im Sinne Norbert Elias` (1997: 274 f.) lässt sich die soziale Tabuisierung bestimmter Verhaltensweisen als Ursprung und Instrument innerer Konflikte begreifen, die die Wahl von Zurückhaltung, verbunden mit einem Verzicht auf körperliche Bedürfnisse als eine bewusste sowie unbewusste Affektbewältigung (ebd.) verstanden werden kann. Sie lässt sich demnach auch durch abweichende Sozialisierung entsprechend verschieben. Ein solcher Umstand mag bei den NSA-Mitarbeitern vorgelegen haben, mit denen Snowden konfrontiert war. Der alltägliche Umgang mit privaten Daten scheint zur Minderung ihres Unrechtsbewusstseins geführt zu haben, so dass Privatsphäre immer weniger als Tabubereich behandelt wurde. Ihre alltägliche funktionale Erforschung hat anscheinend zu einer enttabuisierten Normalität geführt. Dieser Sozialisationseffekt scheint sich bei Snowden jedoch nicht eingestellt zu haben. Er empfindet dieses Verhalten weiterhin als Tabubruch, der ihn zu einer entsprechenden Gegenreaktion veranlasst. Durch den enttabuisierten Umgang des NSA mit der Privatsphäre freier Bürgerinnen und Bürger sieht sich Snowden vielmehr selbst legitimiert, ja fast dazu verpflichtet, staatliche Geheimnisse ebenfalls enttabuisierend zu behandeln. Eine solche zielorientierte Behandlung, Konstruktion und Modifikation von Tabus zeigt sich auch in dem politischen Folgediskurs, der durch die Snowden-Enthüllungen praktiziert wurde. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz von Angela Merkel und Barak Obama am 19. 06. 2013, also unmittelbar nach Bekanntwerden, dass das Handy von Merkel systematisch abgehört wurde (Deutsche Welle 2013), ist eine solche Tabubehandlung ebenfalls feststellbar. Grund für die Anwesenheit Obamas und der Konferenz war jedoch nicht der Handyskandal, sondern die Verhandlungen um das bereits angesprochene Freihandelsabkommen mit den USA. Indem Merkel in ihrem Redebeitrag intensiv die moralische Leistung der USA für den 300 Stefan Meier (Tübingen) Mauerfall preist, versucht sie dem Tabubruch der amerikanischen Datensammlung mit der Konstruktion einer weiteren Tabuisierung, nämlich einer allzu starken kritischen Haltung gegenüber der USA, zu begegnen. Obama geht in seinem Redebeitrag ebenfalls explizit auf die NSA und ihre Tätigkeit ein. Er benennt die Tabus Schutz bzw. Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung auf der einen Seite und ihre Bürgerrechte und Privatsphäre auf der anderen. Dabei stellt die amerikanische Sicherheit nach seiner Feststellung den größeren Tabubereich dar, dem sich die individuellen Bürgerrechte unterzuordnen hätten. Auf die Verletzung staatlicher Souveränität eines Bündnispartners, die durch das Abhören der Kanzlerin stattfand, ging er nicht explizit ein. 3 Visuelle Repräsentationen der Tabuüberschreitung durch Überwachung Abb. 3: Konzeptbild Abb. 4: Überwachungsbild Marathon Die schlaglichtartige Betrachtung des öffentlichen Diskurses zur Überwachung als Konsequenz der Snowden-Enthüllungen hat das subjektive Sprechen von Akteuren über Überwachungspraktiken in den Vordergrund treten lassen. Im folgenden Schritt soll die Tabuisierung als multimodale Praxis thematisiert werden. Dabei wird nicht nur die verbale Behandlung staatlicher Überwachung untersucht, sondern es werden auch ihre visuellen und fiktionalen Repräsentationspraktiken samt den damit verbundenen Spektakularisierungen analysiert. Dies ist weiterhin eng verbunden mit der Konstruktion, Modifikation und Brechung unterstellter Tabus, die mit der kommunikativen Behandlung von Überwachung immer mit aufgerufen werden. Tabuisierung ist dabei das entscheidende Instrument zur Formierung moralischer Grenzen. Möchte man Überwachung begrifflich näher bestimmen, wird dies offenkundig: Was ist demnach Überwachung? Überwachung macht die Überwachten zu Objekten von Beobachtung. Ihre Körper und Handlungen werden der eigenen Verfügung entnommen, so dass die Überwachung bis weit in die Privat- und Intimsphäre vordringen kann. Dieses Vordringen ist von den Überwachten nicht beeinflussbar, da sie ohne ihr Wissen geschieht. Damit bricht Überwachung Schutzbzw. Sicherheitsgrenzen, die eigentlich über Tabuisierung aufgebaut wurden. Sie bilden moralische und rechtliche “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” 301 Grenzen, welche durch Sozialisation, ausgehend von einem bürgerlichen Freiheitsethos, internalisiert werden. Aus diesem Grund wird die Diskussion über Überwachung gleichzeitig emotional und rational geführt. Ihre emotionalen Anteile zielen auf die Tabuisierungspraktiken ab, die in der Empörung um die Verletzung der Privatbzw. Intimsphäre zur Wahrung von Körper und Seele entstehen. Rationale Anteile werden durch den Bezug auf gesetzliche und sozial konventionalisierte Normen vollzogen. Neben diesen verbal realisierten Positionen zeigen sich prototypisch auch visuelle Repräsentation des Überwachungsdiskurses, die die Tabuisierung von Privatsphäre und öffentlicher Bedrohung quasi vor Augen führen. So sind bildliche Repräsentationen in der medialen Kommunikation beispielsweise in Form von Konzept-Bildern geläufig, die in visueller Anspielung an den Film Matrix durch grün leuchtende vertikal angeordneten Zahlenreihen “0” und “1” realisiert sind (Abb. 3). Im Vordergrund sind Schattenrisse von Personen mit Notebooks positioniert. Bildmetaphorisch wird so der Internet-User zum gläsernen Menschen, da er mit seiner Nutzung des Netzes permanent Daten hinterlässt, die ohne sein Wissen und Einfluss für staatliche aber auch privatwirtschaftliche Interessen genutzt werden können. Auch die grobpixelige Bildlichkeit von Überwachungskameras, die entsteht, wenn Standbilder aus dem zufällig entstandenen Filmmaterial entnommen werden, indem ein bestimmtes Motiv vergrößert wird, sind charakteristisch für mediendiskursive Überwachungsdarstellungen (z. B. Fokussierung auf die Bomben-Attentäter des Boston-Marathons vom 15. April 2013, Abb. 4)). Die mediale Inszenierung schlüsselt mit den Konzeptbildern das Diskursthema Überwachung auf und ist auf die Aufmerksamkeitsstiftung des Rezipienten gerichtet. Sie liefert gleichzeitig textunterstützend inhaltliche Orientierung. Mit Hilfe der Bilder aus den Überwachungskameras wird der Betrachter quasi zu einem Augenzeugen gemacht. Ihm wird vermeintlich authentisches Bildmaterial gezeigt, um den Moment der Überwachung bzw. den Moment der Tat visuell näherzubringen. Die Bilder sind kommunikationsfunktional in ähnlicher Weise genutzt wie O-Töne von Beteiligten bestimmter Ereignisse. Damit sind sie jedoch weniger wahrnehmungs- (im Sinne Sachs- Hombachs 2003) als ereignisnah. Die Umstände des Ereignisses erlauben “nur” eine entsprechende grobpixelige Bildlichkeit, suggerieren dadurch jedoch bei abnehmender Ikonizität zunehmende Authentizität. Im fiktionalen Bereich kann bei geringerer Wahrhaftigkeit jedoch die Ikonizität bzw. Wahrnehmungsnähe gesteigert werden. Der Betrachter von Spy-Serien-Formaten wie Homeland oder 24 wird mit vollkommenen Überwachungspraktiken konfrontiert. Basierend auf modernster digitaler Technologie bedienen diese Serien einerseits die Faszination technologischer Möglichkeiten und andererseits ein voyeuristisches Grundbedürfnis. Man wird diesmal direkt Augenzeuge dieser (fiktionalen) Praktiken, jedoch mit dem gruseligunterhaltsamen Bewusstsein, dass diese Praktiken auch im Realen möglich sind. Gesteigert wird dieses Bewusstsein durch den non-fiktionalen Überwachungsdiskurs um Snowden und die NSA, der Belege liefert, dass dies auch real betrieben wird. Mit den genannten Spy-Serien findet somit eine Verschränkung zwischen fiktionaler und non-fiktionaler Diskurswelt über den Überwachungs- und (islamistischen) Terrorismusdiskurs statt. In den Serien treibt die Überwachung die Handlung weiter, lässt sich medienspektakulär inszenieren und bedient das Bedürfnis nach Voyeurismus. 302 Stefan Meier (Tübingen) Abb. 5: Homeland-Bildschirme Abb. 6: 24-Überwachungsraum Die Abbildung sieben entstammt einer Schlüsselszene am Anfang der ersten Staffel von Homeland. In der Serie geht es darum, dass ein ehemaliger GI von der Agentin Carry unter Verdacht steht, von Al-Quaida während seiner acht-jährigen Gefangenschaft in Pakistan umgedreht worden zu sein. Man glaubt ihr nicht, er wird als Held verehrt, und sie versucht eigenmächtig ihren Verdacht zu beweisen. So überwacht sie ihn illegal. In der Überwachungsszene zeigen sich Verschränkungen mit dem nicht-fiktionalen Überwachungsdiskurs in zweierlei Hinsicht. Zum einen diskutieren Carry und ihr Kollege die rechtliche Situation dieser illegalen Überwachung. Denn wie Obama in der oben angeführten Pressekonferenz auf die notwendige richterliche Anordnung hinweist, die eine Überwachung erst ermögliche, weist auch Carrys Kollege auf diese Bedingung hin. Diese richterliche Anordnung bekommt Carry auch später von ihrem Vorgesetzten Saul, da ein zuständiger Richter ihm noch einen Gefallen schuldete. Die gezeigten Vorgänge erscheinen angesichts der anhaltenden Berichterstattung über problematische Überwachungspraktiken im Realdiskurs durchaus authentisch. Die Sequenz, aus der Abbildung sieben entnommen ist, zeigt die bildliche Repräsentation der Überwachung par excellence. Sie spielt auf das kollektive Bildgedächtnis an, das visuelle Stereotype der Überwachung aus fiktionalen und non-fiktionalen Diskursen bereitstellt. Sie gehen bis weit in die vordigitale Zeit zurückgehen (z. B. auf den Roman 1984 von Georg Orwell oder auf Stasi-Überwachungspraktiken in der DDR). Der Überwachende sitzt vermittelt durch digitale Überwachungstechnologie vor großen splitscreened Bildschirmen, um alle installierten Kameras gleichzeitig im Blick zu haben (Abb. 5 und 6). Es entgeht ihm nichts. Die Kameras dringen bis in die intimste Situation wie den individuellen Beischlaf ein. Es ist weiterhin der Mythos Big Brother, der hierbei bemüht wird. “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” 303 4 Überwachung als medienspektakulärer Tabubruch Abb. 7 4 Fazit Kann die performative Verschränkung fiktionaler und non-fiktionaler Diskurstypen eine Normalisierung und Legitimisierung verursachen, die eine enttabuisierte Kultur der Überwachung möglich macht? Die hier etwas provokant erscheinende Antwort lautet: Ja. Dies wird anhand eines Stil- Modells (Meier 2014) begründet. Es stellt eine sozialsemiotische Konzeptualisierung und methodische Operationalisierung von visuellen Stilisierungen als kontextbedingte performative Praxis der Auswahl, Formung und Komposition von semiotischen Ressourcen dar. Für die hier abschließend gestellte Frage möchte ich nur auf die Kontextfaktoren hinweisen, die als soziale Handlungsfelder sich prägend auf das stilistische Zeichenhandeln auswirken. In Anlehnung an Hallidays und Hasans (1989) Kontextbegriff ist zwischen kulturellen und situativen Kontexten zu trennen. Als kulturelle Kontexte sind zunächst die sozialen Diskurse zu nennen, die das Spektrum möglicher subjektiver Semantisierung von Zeichen mit dem Ziel des Verstehens und Verständigens organisieren. Auf der anderen Seite haben wir die prägenden Handlungsfelder wie Politik, Wirtschaft, Populärkultur etc., die habitualisierend auf die Handlungen der Subjekte einwirken. Nach ihnen richtet das Subjekt sein implizites Handlungswissen aus, welches sich primär durch subjektive Übernahmen von Ritualisierungen wie zum Beispiel Pressekonferenzen oder Serienkonsum vermittelt. Es stellt nichtdiskursives inkorporiertes Wissen bzw. sozialisationsbedingte Verhaltensweisen dar. Die abschließende These lautet, dass das Tabu der Überwachung aus Sicht der Überwachten und Überwachenden deshalb immer mehr abnimmt. Als Grund seien hierfür der 304 Stefan Meier (Tübingen) starke Einzug sozialer Medien wie Facebook oder Twitter in die Alltagskommunikation genannt, die gleichzeitig als Lieferanten von Big Data-Analysen genutzt werden. Sie liefern die Datensätze, die durch besondere Algorithmen eine besondere Transparenz der Nutzer für staatliche Behörden und (Internet-)Unternehmen herstellen. Andererseits genügt das Wissen der Nutzer, überwacht zu werden, nicht mehr aus, um das mediale Kommunikationsverhalten in der Masse zu verändern. Im einzelnen scheinen die sozialen Marginalisierungen gravierender zu erscheinen als die Möglichkeit, von staatlicher und ökonomischer Seite überwacht werden zu können. Dieser Trend kann meines Erachtens nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ich sehe ganz im Sinne von Foucault (1987) und Link (2009) einen diskursiven Normalisierungsprozess verwirklicht, der die durch Digitalmedien ermöglichte Überwachung als Tabu abschwächen lässt. Fiktionale und spektakulisierende Medienpraktiken auf der einen Seite sowie die Verbreitung non-fiktionaler Fahndungserfolge auf der anderen Seite stehen in interdiskursiver und ritualisierender Wechselbeziehung mit den eigenen Online- und Mobil-Medien gestützten Alltagspraktiken. Der Mensch kann die Überwachung nur als normal akzeptieren oder sich aus der Medialität zurückziehen, was möglicherweise eine soziale Isolation zur Folge hat, mit all seinen Konsequenzen. Der Königsweg ist sicherlich, auf individueller Ebene die Überwachung weiterhin bewusst zu halten, um diese Normalisierungsprozess so lang wie möglich hinauszuzögern. 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Lehr- und Lernmaterialien zur Vermittlung kultureller Kompetenzen, Münster etc.: Waxmann, 125-131 Steyer, Kathrin 1997: Reformulierungen: Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs, Tübingen: Gunter Narr 306 Stefan Meier (Tübingen) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität in deutschen und polnischen Texten Urszula Topczewska (Warschau) The essay examines the social functions of media discourse utterances connected with juvenile delinquency. The term “social function” is understood as the function related to identity construction in language interaction (the construction of the images of self and other as well as group images). This function can be fulfilled by means of either internal or external attribution. Examples of both types of attribution are shown on the basis of German and Polish texts. The examples also demonstrate how these attributions depend on their respective contexts. The analysis leads to the hypothesis that the social functions of utterances can be viewed as constitutive of meaning and sense, since the social context of an utterance, including the attitudes and background knowledge of the audience, is relevant for its understanding. Kriminalität stellt für die Medien ein attraktives Thema dar und wird vielfach zu meinungsbildenden Zwecken funktionalisiert. Im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung steht ein diskursanalytisches Erfassen von Argumentationsstrategien, die soziale Funktionen von Äußerungen im öffentlichen Diskurs 1 über Jugendkriminalität markieren und über deren Wirkung im Zusammenhang mit der öffentlichen Meinungsbildung in hohem Maße entscheiden. Dieser Zielsetzung wird aus der diskurslinguistischen Perspektive nachgegangen, wie sie Busse & Teubert 1994, Hermanns 1990 und Gardt 2007 vorgezeichnet haben. Sie ermöglicht es, über die intra- und intertextuelle Ebene hinweg auch die interaktive Ebene sprachlicher Kommunikation zu erfassen und somit einen wesentlich breiteren Zugang zur semantischen Tiefenstruktur von Äußerungen zu gewinnen, als es die traditionellen Sprachanalysemethoden erlauben. 2 1 Unter Diskurs verstehe ich im Anschluss an Warnke & Spitzmüller 2008 eine Sprachgebrauchsformation, die eine transtextuelle Struktur aufweist. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung des theoretischen Status des Diskursbegriffs in der Diskurslinguistik eine nach wie vor offene Frage ist. Umstritten ist insbesondere, ob unter Diskurs eine Menge von Texten oder ein abstraktes Phänomen, dessen Manifestation einzelne Texte sind, zu verstehen ist - cf. Wengeler 2008: 232. 2 Zur Begründung cf. Gardt 2007. Eine detaillierte Darstellung der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse wurde in Warnke & Spitzmüller 2008: 24-44 bearbeitet; vgl. auch den Mehrebenenansatz von Spieß 2008. In beiden letztgenannten Ansätzen wird für ein breites Spektrum an Analysemethoden in der Diskursforschung plädiert. An einigen Beispielen, die dem deutschen und dem polnischen öffentlichen Diskurs über die Jugendkriminalität entnommen sind, werden im Folgenden stichprobenartig zum einen argumentativ erarbeitete, sprachliche Manifestationen von diskursiven Selbst- und Fremdbildern aufgezeigt; zum anderen wird die kontextuelle Prägung dieser Manifestationen und ihrer jeweiligen Funktion in gesellschaftlichen Interaktionen offengelegt. Es handelt sich in diesem Beitrag lediglich um qualitative Einzelfallanalysen; die gewählten Beispiele sind nur insofern für den öffentlichen Diskurs über die Jugendkriminalität repräsentativ, als sie den beiden grundsätzlichen Diskurssträngen angehören, die sich in Bezug auf die Sprecherabsicht in diesem Diskurs abzeichnen: den Diskursbeiträgen, die die jugendlichen Täter zu verstehen suchen, und den (sowohl in deutschen als auch in polnischen Internet-Foren deutlich dominierenden) Diskursbeiträgen, die eine angemessene Strafe für die Täter verlangen. Die aus den Analyseergebnissen hervorgehenden Folgerungen und Anmerkungen zu diskurspragmatischen Fragen schließen den Beitrag ab. 1 Sprachliche Äußerungen und ihre Funktionalisierung Sprachliche Äußerungen können in mehrfacher Weise funktionalisiert werden. Die jeweiligen Funktionen führte die antike Stillehre auf die rhetorische Wirkung einer Rede zurück, deren Haupttypen von Aristoteles pragma (logos), ethos und pathos genannt werden. Ueding und Steinbrink ( 3 1994: 277) charakterisieren diese drei Wirkungsfunktionen wie folgt: Sein Ziel, die Zuhörer oder Leser vom eigenen Standpunkt in einer Sache zu überzeugen, so daß sie ihre Meinung, gegebenenfalls ihre Haltung und Gesinnung, im gewünschten und schließlich richtigen Sinn ändern, kann der Redner auf dreierlei Weise erreichen. Einmal durch die Belehrung (pragma, docere), die auf einen rationalen Erkenntnisprozeß zielt und die intellektuellen Fähigkeiten der Adressaten anspricht [. . .], sodann durch die emotionale Stimulierung des Publikums, die auf die Erregung sanfter, gemäßigter, milder Affekte (ethos, delectare, conciliare) zielt, und schließlich durch die Erregung der Leidenschaften (pathos, movere, concitare). Eine Funktionalisierung sprachlicher Äußerungen, die auf die Veränderung der Meinung, der Haltung bzw. der Gesinnung von Rezipienten abzielt, ist dabei nicht nur im öffentlichen Diskurs zu beobachten. Selbst der wissenschaftliche Diskurs kann von “hinreißenden” Emotionen (dem aristotelischen pathos) gekennzeichnet sein; vorgeprägte Denkmuster (z. B. Vorlieben, Vorurteile u. a. affektive und kognitive Stereotype) schlagen sich manchmal bereits in seiner thematisch-argumentativen Struktur nieder - und sei es dadurch, dass der Versuch unternommen wird, diese Denkmuster zu wiederlegen bzw. abzubauen. Im Folgenden wird zusätzlich zu den in Diskursen vorkommenden sprachlichen Mitteln und Argumentationsstrukturen bzw. den mit ihnen vom Sprecher verfolgten Zielen auch ihr soziokultureller Kontext in die Untersuchung einbezogen. Seine diskurslinguistische Erfassung bringt zwar nach wie vor theoretische und methodische Schwierigkeiten, zu ihrer Überwindung können aber etwa soziopsychologische Konzeptionen herbeigezogen werden. Vor der Darlegung der der Analyse zugrundeliegenden theoretischen Annahmen ist allerdings zunächst die Klärung einiger Schlüsselbegriffe erforderlich. Unter sprachlichen Äußerungen werden hier Sprechhandlungen verstanden, die sowohl in der mündlichen als auch schriftlichen Kommunikation, also in jeder Form sprachlicher 308 Urszula Topczewska (Warschau) Interaktion vorkommen. Alles, was in der Sprechhandlungssituation für das Verstehen einer Äußerung relevant ist, wird dem Kontext zugerechnet 3 . Äußerungen, die untereinander semantische, kontextuelle 4 oder intertextuelle Beziehungen aufweisen, bilden einen Diskurs. Aus der Perspektive argumentationskritischer Diskursanalyse können sprachliche Äußerungen im Prinzip auch als Texte aufgefasst werden, insofern sie als Produkte von Sprechhandlungen betrachtet werden (cf. Busse & Teubert 1994: 18). Allerdings sind ihre sozialen Funktionen nicht mit den Textfunktionen im Sinne von Brinker ( 5 2001: 83 f.) gleichzusetzen, der unter “Textfunktionen” kommunikative Funktionen von Texten, insbesondere die dominierende, konventionell festgelegte Textfunktion bzw. die “Kommunikationsabsicht” des Textproduzenten (Brinker 5 2001: 95 f.) versteht. Soziale Funktionen sind weder mit den Absichten bzw. Intentionen des Sprechers noch mit den Illokutionen seiner Sprechakte gleichzusetzen. Ebenso wenig lassen sie sich von letzteren ableiten, insofern sie aus der Hörerperspektive erschlossen und erforscht werden. 2 Soziale Funktionen medienvermittelter Äußerungen Das Interesse an der sozialen Dimension der Sprache ist in der Linguistik nicht neu. In seinem Aufsatz zum Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft stellt Busse (2005) fest, dass die auf de Saussure zurückgehende Definition der Sprache als einer sozialen Tatsache (de Saussure 1969: 188) von der Systemlinguistik zwar lange verkannt wurde, dem Gründer dieser Disziplin jedoch von Anfang an klar war: Für Saussure selbst ist (sicherlich stärker als bei seinen Nachlassverwaltern und Nachfolgern) sogar das Sprachsystem, also die langue selbst, im Kern sozial, weil sie den gesamten Sprachbesitz der sozialen Gemeinschaft verkörpert, während die parole individuell sei, da sie nur einen durch die Psyche des sprechenden Individuums geleiteten Ausschnitt der Möglichkeiten des gesamtgesellschaftlichen Sprachsystems verwirklichen könne (Busse 2005: 26). In der neueren pragmatisch orientierten Linguistik wird vor allem das Sprechhandeln als soziale Tatsache angesehen, und zwar wegen seiner sozial relevanten Folgen (cf. Hermanns 1990: 46). In der Sprechaktanalyse werden diese zwar oft als “Perlokutionen” programmatisch aus dem Interessengebiet der Sprachwissenschaft ausgeschlossen, 5 meines Erachtens verdienen sie jedoch durchaus ein linguistisches Interesse, auch wenn ihre systematische Erfassung noch aussteht. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass sich Perlokutionen als soziale Funktionen von Äußerungen mit dem diskursanalytischen Instrumentarium unter- 3 Der Kontext hat nicht nur eine statische Seite, sondern durch die Äußerung wird Kontext im Sinne einer Kontextualisierung auch hervorgebracht. Zum Kontext- und Kontextualisierungsbegriff cf. Busse 2007. 4 “Kontextuelle Beziehungen” konstituieren sich z. B. über einen gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang (cf. Busse & Teubert 1994: 14). 5 Zwar ist Meibauer ( 2 2001: 86) darin zuzustimmen, dass Perlokutionen von der Sprecherseite her betrachtet jeweils Effekte - seien es intendierte oder nicht intendierte - der Sprechhandlungen sind, diese Effekte stellen aber zugleich Akte des Hörers dar, z. B. das Sich-Überreden-Lassen, das Sich-Überzeugen, das Bestätigen eigener oder fremder Identität usw. Für Searle sind sie nur deswegen uninteressant, weil sie im Unterschied zu regelkonstituierten illokutionären Akten nicht regelgeleitet sind (cf. z. B. Searle 1969/ 1971: 113). Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 309 suchen lassen, was als Beitrag zur Erweiterung methodischer Möglichkeiten in sprachwissenschaftlichen Analysen verstanden werden soll. 6 Soziale Funktionen sprachlicher Äußerungen ergeben sich aus dem Doppelcharakter der Sprache, die “aufgrund ihrer linguistischen und sozialen Struktur” (Hartig & Kurz 1971: 139) eine Komponente sozialer Interaktionen ist. Im Folgenden werde ich einen der wichtigsten Aspekte der sozialen Funktionen aufgreifen, und zwar die Funktionalisierung von Äußerungen für die Identitätskonstitution in einer sprachlichen Interaktion. 7 In diesem Sinne lassen sich im Anschluss an Quasthoff (1995) drei einander nicht ausschließende Funktionen von Äußerungen unterscheiden: l Selbstpräsentation des Sprechers (durch Distanzierung von Anderen oder durch die Übernahme ihrer Positionen), l Konstruktion von Fremdbildern (durch Stereotypisierung der Anderen oder durch Abbau von Stereotypen), l Konstruktion einer kollektiven Identität (durch Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen), das heißt in-group-konstituierende oder “gemeinschaftsstiftende” Funktion. Diese Funktionen können mit Hilfe zweier Argumentationsstrategien diskursiv realisiert werden: mit interner bzw. externer Attribuierung. 8 Die Attribuierungen können sowohl auf das Verhalten Anderer (im zu untersuchenden Kriminalitätsdiskurs auf die Taten jugendlicher Krimineller) als auch auf das eigene Verhalten des Sprechers bezogen werden. Eine interne Attribuierung liegt vor, wenn das zu kommentierende bzw. zu erklärende Verhalten auf innere, vom Täter selbst abhängige Faktoren (insbesondere auf seine innere Veranlagung) zurückgeführt wird. Hierbei wird der Täter für sein Verhalten verantwortlich gemacht. Von einer externen Attribuierung spricht man dagegen, wenn das Verhalten von äußeren, außerhalb der Kontrolle des Täters liegenden Faktoren abhängig gemacht wird. Damit wird es auf äußere Umstände zurückgeführt, die den Täter beeinflussen, einschränken bzw. festlegen. Im Laufe meiner Analyse werde ich die beiden Argumentationsstrategien eingehender erörtern und ihren Beitrag zu den genannten sozialen Funktionen von Äußerungen diskutieren. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Sprechhandlungen im Mediendiskurs in Bezug auf ihre soziale Wirksamkeit auch andere Funktionen erfüllen können, z. B. eine ideologische, eine rituelle bzw. eine sozialsymbolische. Ich werde mich aber ausschließlich auf die diskursive Konstitution sozialer Identität und somit auf die Analyse der vorher erwähnten Funktionen konzentrieren. 6 Bereits Gardt 2007 hat “eine der erfreulichsten Entwicklungen, die mit der Etablierung der Diskursanalyse einhergehen” im “Ausbau des textanalytischen Instrumentariums innerhalb der Philologien” gesehen. Seiner Meinung nach könnte das auf lange Sicht “derjenige Aspekt der Diskursanalyse sein, der auch über die Grenzen der linguistischen Teildisziplinen besonders nachhaltige Wirkungen zeitigt” (Gardt 2007: 42). 7 Die soziale Funktion einer Äußerung kann unterschiedlich aufgefasst werden. Als soziale Funktionen sind z. B. auch Jacobsons emotive, konative und phatische Funktion der Sprache bzw. ihre evokative Funktion im Sinne von Berger & Luckmann 1966 anzusehen. An dieser Stelle ist jedoch keine abschließende Aufzählung sozialer Funktionen von Äußerungen beabsichtigt. 8 Die Unterscheidung geht auf die Attributionstheorie Fritz Heiders (1958) zurück. In Czyżewski (2005: 212) werden die beiden Argumentationsstrategien resp. “interne” und “externe” Stimme genannt. 310 Urszula Topczewska (Warschau) Die zu analysierenden Äußerungen stellen Diskursfragmente im Sinne von Jäger ( 3 2001) dar, die thematisch dem Diskurs über Jugendkriminalität zuzuordnen sind. Die ausgewählten Äußerungen gehören verschiedenen medienvermittelten Kommunikationsformen (Zeitung, Internet) an und repräsentieren verschiedene Textsorten (Interviews, Forenbeiträge). Dadurch konnten in der Analyse unterschiedliche Sprachgebrauchsvarietäten im zu besprechenden Diskurs berücksichtigt werden. Die zwei ersten Beispiele stammen aus Interviews mit prominenten Politikern: dem hessischen Ministerpräsidenten und dem polnischen Staatspräsidenten. Ihnen folgen Internetbeiträge, die als Beispiele für Sprache der Forenkommunikation fungieren, wobei das deutsche Beispiel einem Forum entnommen wurde, das sich als Diskussion zu dem im vorangehenden Interview angesprochenen Thema “jugendlicher Täter” verstand. Auch der polnische Internetbeitrag bezieht sich auf das Täter-Thema und wurde einer polnischen Debatte über die Kriminalität von Jugendlichen entnommen. Das letzte Beispiel ist dem populärwissenschaftlichen Diskurs in Deutschland und somit der publizistischen Sprache zuzuordnen. 9 3 Zur Jugendkriminalitätsdebatte im öffentlichen Diskurs in Deutschland und Polen Das Thema Jugendkriminalität wird im öffentlichen Diskurs in Polen, in dem m. E. eher genuin politische oder wirtschaftliche Fragen dominieren, nicht so intensiv behandelt wie in Deutschland. Allerdings gibt es markante Beispiele medialen Interesses an dem Thema sowohl im politischen als auch im erziehungswissenschaftlichen Kontext. Als erstes Beispiel sei Aleksander Kwaśniewskis Rechtfertigung der von ihm während seiner Amtszeit ausgesprochenen Begnadigungen angeführt. Aus diskursanalytischer Sicht ist die Begnadigung ein Hoheitsakt, der ein altes kommunikatives Ritual darstellt. Die Ausübung des Rechtes auf Gnade, die heutzutage meist eine Handlung des hierzu gesetzlich ermächtigten Staatspräsidenten ist, war jahrhundertelang eine Handlung des Herrschers, der als Träger hoheitlicher Gewalt dafür zuständig war, Gnadenentscheidungen zu treffen. Indem er das ius gratiarum ausübte, gab er seiner Großmut Ausdruck, zum anderen war seine Barmherzigkeit auch Mittel zur Machtabsicherung und gesellschaftlichen Befriedung. Wenn die Begnadigung etwa aufgrund einer laetitia publica (Hochzeit im Herrscherhaus, Geburt eines Kronprinzen, Thronjubiläum des Herrschers u. ä.) oder der Losbitte durch das Volk erfolgte, stand sie im Dienste einer symbolischen politischen Kommunikation. 10 Öffentliches Vorzeigen der Großzügigkeit scheint im Falle der Begnadigungen Kwaśniewskis entscheidend zu sein: 9 Zum Verhältnis von Diskurs und Sprache cf. Warnke & Spitzmüller 2008. Die Autoren verstehen Sprache als Teilmedium bei der Symbolisierung in Diskursen und weisen auf die sich daraus ergebenden Grenzen diskurslinguistischer Untersuchungen hin: “Eine an spezifischen medialen Realisationen von Sprache ausgerichtete Analyse von Diskursen erlaubt es nicht, gültige Aussagen über den Diskurs an sich zu treffen. Methodologisch bedeutet das, dass ein Rückschluss von Sprache auf Diskurse immer nur partiell sein kann” (Warnke & Spitzmüller 2008: 10). 10 Die diskursive Tradition zur Legitimation von Gnadenakten reicht bis in das christliche Altertum zurück - cf. z. B. Mickisch (1996: 29-32 und 47-66). Vor diesem Hintergrund diskutiert Mickisch (1996: 75-147) die heutigen Funktionen von Gnadenentscheidungen. Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 311 Prezydent RP: Uważam te decyzje może za najważniejsze w swojej działalności. Decyduję o dalszym losie konkretnych ludzi. Nie ukrywam, że ułaskawienia dają mi satysfakcję - mam poczucie, że pomagam ludziom, którzy uwikłali się w dramaty, często bez własnej woli lub bezmyślnie, którym wyrok więzienia może złamać życie. To nie są jakieś wielkie przestępstwa, ja nie ułaskawiam recydywistów, którzy mają na swoim koncie ciężkie przestępstwa. Ułaskawiam, jak powiedziałem, ludzi, którzy nie mają ciężkich, ale jednak przestępstwa i to takich, którzy udowodnili już, że rokują poprawę. Ułaskawiam często ludzi młodych, nierzadko kończy się to ustanowieniem dla nich kurateli (Gazeta Sądowa, 30. 11. 1999) Der polnische Staatspräsident: Ich halte diese Entscheidungen für die vielleicht wichtigsten in meinem Amt. Ich entscheide über das Schicksal konkreter Menschen. Ich mache kein Hehl daraus, dass mir die Begnadigungen eine Befriedigung geben - ich habe das Gefühl, dass ich Menschen helfe, die sich oft unfreiwillig oder gedankenlos in Dramen verwickelt haben und denen die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe das ganze Leben zerstören kann. Das sind keine großen Verbrechen, ich begnadige keine Wiederholungstäter, auf deren Konto schwere Straftaten gehen. Ich begnadige, wie gesagt, Menschen, die keine schweren, aber doch Straftaten begangen haben, und zwar solche, die schon bewiesen haben, dass von ihnen in Zukunft eine Besserung zu erwarten ist. Ich begnadige oft junge Leute; nicht selten endet das damit, dass ein Bewährungshelfer für sie bestellt wird. 11 Der ehemalige polnische Staatspräsident begründet seine Entscheidungen unter Berufung auf sein Verantwortungsbewusstsein und sein Mitgefühl. Ersteres bezeugt er, indem er Optimismus hinsichtlich der Folgen seiner Entscheidungen zeigt, letzteres, indem er sich als einen wohltätigen Menschen darstellt. Das positive Selbstbild des Sprechers wird im Kontext seiner umstrittenen Entscheidungen vor allem mit Hilfe der internen Attribuierung des eigenen anerkennenswerten Verhaltens erreicht: Kwaśniewski erklärt z. B., es sei ein inneres Bedürfnis für ihn, jungen Leuten, die ins soziale Abseits geraten sind, durch eine Begnadigung zu helfen. Er betont dabei explizit und mit Nachdruck die Eigenständigkeit seiner als Leistung dargestellten Rechtshandlungen: ich entscheide, ich helfe, ich begnadige. Die Formulierung ich helfe liefert zugleich eine moralische Legitimation für Kwaśniewskis Entscheidungen. Er fühlt sich moralisch verpflichtet, sozial Schwachen zu helfen. Auf diese Weise geht die Selbstpräsentation mit einer moralischen Aufwertung der eigenen Position einher. Die Argumentation wird zudem darauf gestützt, dass Kwaśniewski die Begnadigungsentscheidungen zu seinen wichtigsten zähle, er stuft also ihre Relevanz personalisierend hoch. Die zur Selbstpräsentation genutzte Argumentation wird durch die Konstruktion eines scheinbar differenzierten Bildes von Straftätern untermauert. Ihre Missetaten werden hier nicht als ihre eigenen Fehler dargestellt, sondern implizit durch externe Faktoren, d. h. durch externe Attribuierung, erklärt, so z. B. in der Behauptung, begnadigt würden Menschen, die sich zwar schuldig gemacht haben, aber dies nur unfreiwillig und unreflektiert getan haben. Sie brauchen also soziale Unterstützung, z. B. einen Bewährungshelfer. 12 Das Selbstbild wird also vom Sprecher nicht im Kontrast zum Fremdbild konstruiert, sondern auch das Fremdbild muss - entgegen dem verbreiteten Stereotyp - positiv ausfallen, um die angesprochenen Entscheidungen rechtfertigen zu können. Die Wahl dieser externen Attribuierung ist eine diskursive Strategie, die im Kontext einer Gefährdung des eigenen Image Kwaśniewskis der Gesichtswahrung dient. Die Attribuierung 11 Deutsche Übersetzungen der polnischen Beispiele von mir - U. T. 12 In Kwaśniewskis Gebrauch des Wortes bezmyślnie (dt. ‘gedankenlos’) steckt zwar eindeutig eine interne Attribution, aber der Ausdruck besitzt im gegebenen Zusammenhang eine relativierende Qualität. 312 Urszula Topczewska (Warschau) macht dabei Gebrauch vom Klischee des vom Schicksal benachteiligten Straftäters. Sofern sie auf Beeinflussung des Hörers zielt, könnte hier von einer Manipulation gesprochen werden: “Wird manipuliert, so suggeriert die sprachlich gelieferte Information eine ausreichende Entscheidungsbasis, so daß der Manipulierte von selbst und ohne schlechtes Gewissen handelt. In diesem Sinne ist auch jede Höflichkeitsfloskel manipuliert [. . .], jedoch bleibt dabei klar, dass manipuliert wird, dass ein Gesprächspartner vom anderen etwas will” (Köck 1972: 284). Das nächste Beispiel stammt aus einem “Bild”-Interview mit Hessens Ministerpräsident Roland Koch vom 28 Dezember 2007, also einen Monat vor den Landtagswahlen in Hessen und einige Tage nach dem brutalen Überfall auf einen Rentner (einen pensionierten Schuldirektor, 76) in der Münchner U-Bahn, der von einem 17-jährigen Griechen und einem 20-jährigen Türken - die Medien nennen bei nicht aus Deutschland stammenden Tätern oft die Nationalität mit - niedergeprügelt, bespuckt und zusammengetreten wurde, nachdem er sie aufgefordert hatte, ihre brennenden Zigaretten auszumachen: BILD: Herr Ministerpräsident, muss man nach dem Überfall von München nicht fragen, ob man als Deutscher im eigenen Land noch sicher ist? Roland Koch: Die Bilder des Überfalls zeigen eine atemberaubende Brutalität. Aber Gewaltausbrüche unter Jugendlichen ganz allgemein sind leider keine Einzelfälle mehr. Wenn das weiter einreißt, wird sich Verunsicherung in Deutschland breitmachen. BILD: Was lehrt der Münchner Fall konkret? Koch: Zivilcourage zeigen, es nicht hinnehmen, wenn Regeln verletzt werden! Aber zu dieser Zivilcourage gehört auch Solidarität der anderen, die sich mit unterhaken oder Hilfe holen. Die entscheidende Frage ist: Was lassen wir uns gefallen von einem kleinen Teil äußerst gewaltbereiter Jugendlicher, häufig mit ausländischem Hintergrund? “ (http: / / www.bild.de/ BILD/ news/ politik/ 2007/ 12/ 28/ koch-roland/ interview-deutschland-faust. geo=3361148, letzter Abruf am 20. 09. 2013) Unter Berufung auf Zivilcourage und gesellschaftliche Solidarität distanziert sich der hessische Politiker von denjenigen Akteuren der politischen Szene, die die jugendlichen Gewalttäter (nicht nur im Münchener Fall) in ihren öffentlichen Äußerungen zu entschuldigen oder zumindest zu verstehen versuchten. Koch bestätigt damit in der Öffentlichkeit sein eigenes Bild eines Politikers, der für konservative Werte steht, und zwar gerade dann, “wenn Regeln verletzt werden”. Parallel zu dieser rhetorisch vorwiegend auf aristotelischem Ethos aufbauenden Selbstpräsentation im Kontext des Wahlkampfs entwirft Roland Koch ein durchaus stereotypes Bild von jugendlichen Kriminellen. Er erreicht diese Stereotypisierung durch eine interne Attribuierung ihres problematischen Verhaltens, indem er von “äußerst gewaltbereiten Jugendlichen, häufig mit ausländischem Hintergrund” spricht, also von Jugendlichen, die zur Brutalität neigen. Die Formulierung “äußerst gewaltbereit” enthält zugleich eine implizite Verurteilung der Täter. Mit der Konstruktion dieses Fremdbildes kommt im angeführten Beispiel die in-groupkonstituierende Funktion zum Ausdruck, die auf die Opposition wir - sie zurückgeht: Aufgrund des Zusatzes “häufig mit ausländischem Hintergrund” in Bezug auf die Kriminellen bekommt das wir den Charakter eines “nationalen deutschen Wir”, dem tendenziell “AusländerInnen” als die Anderen gegenüber gestellt werden. Durch das generalisierende wir schreibt Koch die von ihm vertretene, konservative Position einer breiten Gesellschaftsgruppe zu, womit eine klare Abgrenzung nicht nur von den Kriminellen, sondern implizit Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 313 auch von den politischen Gegnern Kochs hergestellt wird. 13 Die Empörung, die in der Formulierung “Was lassen wir uns gefallen” zum Ausdruck kommt, und der Appell an das Gerechtigkeitsgefühl der deutschen Bevölkerung, die zum Handeln aufgerufen wird (im Hinweis auf die Regelverletzung und im Aufruf zur Zivilcourage und Solidarität mit den Opfern) verstärken diese Abgrenzung zusätzlich. Von den zahlreichen Internetkommentaren zum Münchner Vorfall, die vor den Wahlen in Hessen im “Spiegel Online”-Forum geäußert wurden, habe ich einen Beitrag gewählt, der die Reaktion der Öffentlichkeit auf Kochs “Bild”-Interview exemplarisch darstellt. Dieses Beispiel drückt auf eine klare und rhetorisch ausgebaute Weise die Meinung beinahe aller Diskussionsteilnehmer aus: Die Strafe, die man als normaler Jugendlicher zu erwarten hat, fällt mit Sozialstunden usw. ja eher milde aus. . . Würden Sie einen unkontrollierbaren Gewalttäter, der in Tötungsabsicht auf den Kopf von z. B. Ihrem Kind eintritt, mit einem Klaps auf die Finger und 200 Sozialstunden plus einem seehr [sic] ernst gemeinten ‘Entschuldigungsbrief ’ davonkommen lassen? Vielleicht müsste er auch noch einen Kuchen für Sie backen. Würden Sie den essen? [. . .] Denn jeder Täter hatte eine schwere Jugend, war in sein Schaukelpferd verliebt, und leidet noch heute unter eingewachsenen Zehennägeln. (http: / / forum.spiegel.de/ showthread.php? p=1881002#post1881002, letzter Abruf am 20. 9. 2013) Die Äußerung spricht die Leser direkt an, wodurch eine sowohl den Sprecher als auch die Leser umfassende Gruppe potentieller Opfer der jugendlichen Gewaltkriminalität konstituiert wird. Die sprachliche Realisierung dieser gemeinschaftsstiftenden Funktion setzt bereits auf der formalen Ebene der Äußerung an: Durch eine Häufung von rhetorischen Fragen drängt der Sprecher seine Leser dazu, der von ihm geäußerten Meinung zuzustimmen. Diese Meinung zielt notwendigerweise - da es um die Abgrenzung der in-group gegenüber den jugendlichen Kriminellen geht - auf die Abwertung der (potentiellen) Täter ab, und obschon sie vom Sprecher nicht direkt ausgedrückt wird, wird sie dem Leser doch eindeutig zu verstehen gegeben. Darauf zielen nicht nur die vorgebrachten Argumente, sondern auch die damit einhergehende Anspielung auf Emotionen des Lesers (aristotelisches Pathos) ab. Im einzelnen sieht es der Sprecher als eine Verhöhnung der Opfer an (auch der potentiellen Opfer), dass den Tätern aufgrund einer - wie er unterstellt - oberflächlichen bzw. nicht aufrichtigen Entschuldigung Strafmilderung zugebilligt wird. Ebenso zeigt er sich verbittert darüber, dass die Täter aufgrund ganz banaler Gegebenheiten mit Verständnis seitens der Gesellschaft rechnen können. Das negative Bild der Täter wird auf eine doppelte, jeweils sehr wirkungsvolle Weise konstituiert: Zunächst wird in der Äußerung die interne Attribuierung des kriminellen Verhaltens ausgedrückt, und zwar implizit, das heißt durch den Verweis darauf, dass die jugendlichen Kriminellen unkontrollierbar seien); dann wird die externe Attribuierung - übernommen von der gegensätzlichen Position, die dieser stereotypen Schuldzuweisung und Herabsetzung der Gewalttäter entgegenwirken könnte - zwar explizit, aber ironisch 13 Die gemeinschaftsstiftende Funktion von Äußerungen der Politiker spielt in der Wahlkampfzeit eine wichtige Rolle. Extrem zugespitzt kommt sie in folgender Äußerung des bayrischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) in einem Interview mit der “Bild”-Zeitung während des Wahlkampfs 2008 in Bayern zum Ausdruck: “Es würde niemand verstehen, wenn Ausländer, die eine derartige Brutalität an den Tag legen, weiter in Deutschland bleiben könnten” (zitiert nach Spiegel Online 08. 07. 2008). 314 Urszula Topczewska (Warschau) überspitzt formuliert: “Denn jeder Täter hatte eine schwere Jugend, war in sein Schaukelpferd verliebt, und leidet noch heute unter eingewachsenen Zehennägeln.” Letzten Endes dienen also beide Argumentationsstrategien einer Bestätigung der stereotypen Einschätzung von jugendlichen Kriminellen und damit der Forderung nach einer gerechten (i. S. v. nicht zu milder) Strafe. Als ein stereotypengestützter Appell an das Gerechtigkeitsgefühl des Lesers liest sich auch das nächste Beispiel. Es handelt sich um einen Internetbeitrag nach dem Selbstmord einer von ihren Klassenkameraden mit Gewalt ausgezogenen Gymnasiastin in Gdańsk im Jahre 2006: Dlaczego taki chłopak, który uważa się za super dorosłego, myśli, że wszystko mu wolno, dlaczego ma nie odpowiadać na takiej zasadzie na jakiej stawia sam siebie? Niech przejdzie nago po szkole, na dużej przerwie wśród wszystkich. . . takie jest moje zdanie: dzisiaj nie ma co stosować jakichś innych wydumanych kar, bo one nic nie znaczą. Teraz rzadko cokolwiek coś znaczy, więc może jeśli ci, którzy coś komuś zrobili poczują to samo co ich ofiary, zrozumieją jakimi są zwyrodnialcami? (http: / / www.wiadomości24.pl/ artykul/ jak_wychowywac_jak_karac_10281.html, letzter Abruf am 20. 09. 2013) Warum soll solch ein Junge, der sich für einen Super-Erwachsenen hält und denkt, dass ihm alles erlaubt ist, warum soll der sich nicht nach dem Prinzip verantworten, das er sich selbst setzt? Soll er doch in der Schule in der großen Pause vor allen anderen nackt herumlaufen . . . Meine Meinung ist: Heute sollte man nicht irgendwelche ausgeklügelten Strafen anwenden, denn die haben keinen Sinn. Heutzutage ist es überhaupt selten, dass etwas einen Sinn hat, wenn also diejenigen, die jemandem etwas angetan haben, am eigenen Leib dasselbe spüren, was ihre Opfer erfahren haben, werden sie vielleicht einsehen, was für Unmenschen sie sind? “ 14 Zusammen mit der Forderung nach Bestrafung der jugendlichen Täter, also mit der expliziten Verurteilung ihres Verhaltens, 15 vermittelt die Äußerung ein stereotypes, wenn auch nur implizit gezeichnetes Bild von Kriminellen. Die nachdrückliche Zuweisung der Eigenverantwortung an die jugendlichen Kriminellen impliziert, dass sie bewusst und freiwillig handeln. Damit verwendet der Sprecher eine interne Attribuierung des problematischen Verhaltens, die mit einer beinahe aggressiven Argumentationsweise einhergeht (“wenn also diejenigen, die jemandem etwas angetan haben, am eigenen Leib dasselbe spüren, was ihre Opfer erfahren haben, werden sie vielleicht einsehen, was für Unmenschen sie sind”). Die Attribuierung stützt sich zwar auf ein ethisches Argument (der Täter soll nach dem Prinzip gestraft werden, nach dem er selbst gehandelt hat), dieses gehört aber einer Ethik an, die Gleiches mit Gleichem vergelten lässt, 16 in diesem Fall also Gewalt als die angemessene Genugtuung für Gewalt fordert. Dieses ethische Prinzip wird zugleich für das einzig sinnvolle (wenn Sinn “heutzutage” überhaupt möglich ist) erklärt, ohne dass der Sprecher eine Begründung dafür gibt. Mit seinem Infragestellen der “ausgeklügelten Strafen” evoziert er lediglich das kollektive Wissen um die Unwirksamkeit heutiger Methoden der Resozialisierung. Auch in dieser Hinsicht erweist sich also seine Argumentation als ein stereotypengestützter Appell an das Gerechtigkeitsgefühl des Lesers. 14 Die stilistische Unbeholfenheit der Übersetzung entspricht dem Original. 15 Ein Junge sollte sich nach dem Prinzip verantworten, das er sich selbst setzt, was darunter gemeint ist, ist nicht völlig klar, es geht aber sehr stark um eine Aug-um-Aug-Zahn-um-Zahn-Mentalität. 16 Dieses ethische Prinzip stellt ein diskursives Muster dar, das ein Untertyp des Vergleichstopos ist und als Topos der Gleichheit bezeichnet werden kann. Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 315 Das letzte Beispiel stammt aus dem populärwissenschaftlichen Diskurs in Deutschland und zeigt auf, dass die Konstruktion eines Fremdbildes nicht nur im politischen Diskurs mit der Selbstpräsentation einhergeht. In einem Zeitungsfeuilleton der “Tagespost” äußert sich die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christa Meves zu dem von Roland Koch in dem zitierten “Bild”-Interview ausgelösten politischen Streit um den richtigen Umgang mit jungen Gewalttätern wie folgt: Die Unsicherheit auf unseren Straßen wird von Jahr zu Jahr zunehmen. Das ließ sich aufgrund psychotherapeutischen Fachwissens bereits vor Jahrzehnten als Folge unseres vertechnisierten Lebens voraussagen, und das wurde durch die unzureichende Integration der Migranten mächtig verstärkt. Lieblose und gewalttätige Härte in der Erziehung bewirken das (Die Tagespost, 15. 01. 2008). Indem die Autorin das Phänomen der zunehmenden Gewalt bei Jugendlichen als von psychotherapeutischem Fachwissen schon lange vorhergesehen bezeichnet, stellt sie sich als kompetente, weitsichtige Expertin dar. Ihre Selbstpräsentation durch die interne Attribuierung geht mit der externen Attribuierung des kriminellen Verhaltens bei der Konstruktion des Bildes jugendlicher Täter einher. Christa Meves wertet somit die Täter nicht ab, sondern erklärt ihr Verhalten als gesamtgesellschaftliches Problem. Es sind die lieblose und die gewalttätige Erziehung, die Meves in starkem Maße mit MigrantInnen verknüpft, und nicht die Jugendlichen selbst, die für die Jugendgewalt verantwortlich gemacht werden. Damit nimmt Meves Partei für die Jugendlichen und grenzt sich deutlich von dem hessischen Ministerpräsidenten ab. 17 Interessant fällt dabei die gemeinschaftsstiftende Funktion dieser Äußerung aus: In das Personalpronomen unser sind - besonders deutlich bei dessen zweiter Verwendung - die Jugendlichen mit einbezogen. 4 Schlussbemerkungen Die exemplarischen Analysen berechtigen nicht dazu, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen, ermöglichen aber die Aufstellung von Arbeitshypothesen, die in weiteren quantitativ ausgerichteten Untersuchungen überprüft werden sollen. In den angeführten Interviews mit Politikern dient das Ausdrücken der eigenen Einstellung zur Jugendkriminalität hauptsächlich der Selbstpräsentation des Sprechers, darunter auch einer Markierung seiner politischen Position. Während aber im deutschen Beispiel das präsentierte Selbstbild kontrastierend zum Fremdbild der politischen Gegner entworfen wird und der Sprecher die eigene Position mit Hilfe des Topos der Zivilcourage als die richtige (die “gerechte”) angibt, legitimiert der Sprecher im parallelen polnischen Beispiel die eigene Position durch ein mitleiderregendes Bild der Straftäter. Das Fremdbild ist also in diesem Fall nicht dasjenige der politischen Gegner, trotzdem ist die ideologische Zugehörigkeit des Sprechers leicht zu identifizieren und von den ideologischen (vor allem konservativen) Gegenpositionen klar zu unterscheiden. 17 Die Äußerung Meves’ steht in einem deutlichen intertextuellen Zusammenhang mit dem berühmten Interview Kochs. Der Zusammenhang kommt nicht nur in der Thematik zum Ausdruck, sondern auch in der direkten Aufnahme des von Koch in den Vordergrund gestellten Sicherheitsgedankens im ersten Satz des oben angeführten Beispiels. 316 Urszula Topczewska (Warschau) Die angeführten Internetbeiträge sind zwar demselben Argumentationstypus (Verwendung interner Attribuierung unter Berufung auf eine ethische Ordnung) zuzurechnen, weisen aber auch markante Unterschiede in Bezug auf die Art und Weise der Darbietung dieser Argumentation auf: Dieselbe Forderung nach einer gerechten Strafe für die jugendlichen Kriminellen wird im deutschen Beispiel mit ironischer Ablehnung jeglicher Rechtfertigung der letzteren untermauert. Im polnischen Beispiel wird diese Ablehnung dagegen direkt und beinahe aggressiv ausgedrückt, wodurch diese Äußerung - trotz der rational wirkenden Argumentation - stark emotionsgeladen wirkt. Das zuletzt angeführte Beispiel für eine wissenschaftlich begründete Argumentation über das Problem der Jugendkriminalität erreicht ihre meinungsbildende Funktion dadurch, dass versucht wird, das stereotype Fremdbild, also das gängige negative Bild von Kriminellen, zu überwinden. Auch die gegebenenfalls festzustellende Selbstpräsentation ist dieser Funktion untergeordnet. Insofern sind die beiden Äußerungen ideologisch neutral, auch wenn ihre Verwertung zu ideologischen Zwecken in anderen, nicht-wissenschaftlichen Kontexten prinzipiell kaum auszuschließen ist. Die analysierten deutschen und polnischen Beispiele könnten in Bezug auf ihre Funktionalisierung zwei Untertypen des Diskurses über Jugendkriminalität zugerechnet werden, die ich Entlastungsdiskurs und Gerechtigkeitsdiskurs nennen würde. 18 Der erste geht in rhetorisch unmarkierten Fällen mit einer externen Attribuierung des problematischen Verhaltens und gegebenenfalls mit einem latenten Versuch moralischer Aufwertung der Täter einher (im Kwaśniewski- und im Meves-Zitat). Die Argumentation geht in diesen Fällen über die stereotype Schuldzuweisung hinaus, und die Jugendkriminalität wird als ein soziales Problem 19 dargestellt. Durch eine ironische bis sarkastische Verarbeitung dieser Argumentationsstrategie kann aber auch das Gegenteil, das heißt die moralische Verurteilung der jugendlichen Täter erreicht werden (siehe den deutschen Internetbeitrag), was schon zu den charakteristischen Zügen des Gerechtigkeitsdiskurses gehört. Dieser bedient sich in rhetorisch unmarkierten Fällen der internen Attribuierung in Bezug auf das problematische Verhalten und übernimmt im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte über Jugendkriminalität die Funktion der stereotypen Darstellung der Täter (siehe das Koch- Interview und den polnischen Internetbeitrag). Die oben analysierten sozialen Funktionen haben sich als sinngebende Größen erwiesen. Das Wissen um diese Funktionen kann zum verstehensrelevanten Wissen gerechnet werden und soll nicht bloß als persuasive Wirkung von Äußerungen abgetan werden. Die Funktionen betreffen nicht die “Oberfläche”, sondern die “Tiefenstruktur” der Diskurssemantik, und da sie nicht zur expliziten Bedeutung des jeweiligen Textes gehören, müssen sie mit der hermeneutischen Methode ermittelt werden. Die Textinterpretation als Methode der Diskurslinguistik ist insofern der korpuslinguistischen Methode vorzuziehen, als “the corpus-based analysis tends to focus on what has been explicitly written, rather than 18 Die Kategorie des Schulddiskurses (Czyżewski 2005) würde hier zu kurz greifen, denn es geht nicht um einen Appell an die Moralität der jugendlichen Gewalttäter, sondern um einen Appell an das Gerechtigkeitsgefühl der Öffentlichkeit. Somit entfällt beim Gerechtigkeitsdiskurs der gegenüber dem Schulddiskurs erhobene Moralismus-Vorwurf (cf. ibid.: 244) sowie die von Czyżewski festgestellte Paradoxie, dass die Gewalttäter zwar moralisch verurteilt werden, aber zugleich “als Adressaten der universalen Moral durchaus anerkannt und eben dadurch zur Verantwortung gezogen” werden (ibid.). 19 Diese Argumentation stellt allerdings auch eine stereotype, “quasi-soziologische” Erklärung der Jugendkriminalität dar. Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 317 what could have been written but was not, or what is implied, inferred, insinuated or latently hinted at” (Baker et al. 2008: 296). Es steht noch aus, das sinnkonstituierende Potential der ermittelten diskursiven Bedeutungen systematisch zu erfassen. Sie könnten möglicherweise als perlokutionäre Bedeutungen - parallel zu illokutionären Bedeutungen bei Austins (cf. Austin 2 1979: 117) - eingestuft werden. Abschließend ist anzumerken, dass eine Meinungsäußerung in den meisten Fällen prinzipiell auf das Erreichen einer (zumindest partiellen) Zustimmung abzielt. Sie grenzt dabei die eigenen Anhänger von den Andersdenkenden ab. Die medienvermittelte Kommunikation muss insofern nicht zwingend als Manipulation und Propaganda angesehen werden, sondern kann ebenso gut - ganz im Sinne der antiken rhetorischen Tradition - als Mittel zum Ausdruck des Selbst- und Fremdverständnisses gelten, zumal ihre sozialen Funktionen keine eindeutige Korrelation mit dem jeweils verfolgten Kommunikationszweck aufweisen. 20 Bibliographie Austin, John L. 2 1979: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam Baker, Paul, Gabrielatos Costas, Majid Khosravinik, Michal Krzyżanowski, Tony McEnery & Ruth Wodak 2008: “A useful methodological synergy? Combining Critical Discourse Analysis and Corpus Linguistics to examine Discourses of Refugees and Asylum Seekers in the UK Press”, in: Discourse & Society 19: 273-306. Berger, Peter L. & Thomas Luckmann 1966: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City, NY: Anchor Books Brinker, Klaus 5 2001: Linguistische Textanalyse. 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Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkeiten”, in: Warnke (ed.) 2007: 27-52 Hartig, Matthias & Ursula Kurz 1971: Sprache als soziale Kontrolle. Neue Ansätze zur Soziolinguistik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Heider, Fritz 1958: The psychology of interpersonal relations, New York: Wiley Hermans, Fritz 1990: “Innere Akte. Zu einer Neubegründung der Sprechakttheorie aus dem Geist der Phänomenologie”, in: Zeitschrift für germanische Linguistik 18 (1990): 43-55 Jäger, Siegfried 3 2001: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg: DISS Köck, Wolfram K. 1972: “Manipulation durch Trivialisierung. Elementare sprachliche Möglichkeiten der Konsumprogrammierung”, in: Annamaria Rucktäschel (ed.): Sprache und Gesellschaft, München: Fink, 275-367 20 Unter den anfangs unterschiedenen sozialen Funktionen medialer Meinungsäußerungen rückt die Konstruktion von Fremdbildern in den Vordergrund. Im politischen Diskurs geht sie in komplementärer Weise mit der Funktion der Selbstpräsentation einher. Die gemeinschaftsstiftende Funktion kommt besonders deutlich im Kontext des Wahlkampfs zum Ausdruck, erscheint aber auch in den anderen Kontexten. 318 Urszula Topczewska (Warschau) Meibauer, Jörg 2 2001: Pragmatik. Eine Einführung, Tübingen: Stauffenburg Mickisch, Christian 1996: Die Gnade im Rechtsstaat. Grundlinien einer rechtsdogmatischen, staatsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Neukonzeption, Frankfurt am Main etc: Peter Lang Quasthoff, Uta M. 1995: “Ethnischer Diskurs und Argumentation”, in: Marek Czyżewski, Elisabeth Gülich, Heiko Hausendorf & Mary Kastner (eds.) 1995: Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. 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Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen”, in: Warnke & Spitzmüller (eds.) 2008: 3-54 Ingo H. Warnke (ed.) 2007: Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, Berlin/ New York: de Gruyter Ingo H. Warnke & Jürgen Spitzmüller (eds.) 2008: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Berlin/ New York: de Gruyter Wengeler, Martin 2008: “,Ausländer dürfen nicht Sündenböcke sein’. Diskurslinguistische Analyseebenen, präsentiert am Beispiel zweier Zeitungstexte”, in: Warnke & Spitzmüller (eds.) 2008: 207-236 Soziale Funktionen medialer Meinungsäußerungen zum Thema Jugendkriminalität 319 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Finanzkrise als Tabu-Thema Ein intra- und interkultureller Diskurs in Deutschland und Italien Antonietta Fortunato (Salerno) 1 The economic and financial crisis is one of the biggest issues debated in contemporary Europe and it has recently become a challenging research topic in the field of linguistics. Since the old continent is currently going through one of the deepest crisis since 1929, the European identity and stability are in danger. How do politicians and journalists face these issues? The present study aims at investigating how the communication about the economic crisis is handled by two crucial partners of the EU, i. e. Italy and Germany. In order to discover how two different social groups on the one hand and two different nations on the other hand deal with this topic, the study proposes to investigate the Euro-crisis as a taboo-topic that can be either highlighted or hidden. The analysis focuses on a specific period of time when the political relationship between the two countries is not at its best. While politicians made use of specific strategies to hide the negative aspects of the crisis, the journalists tried to highlight them. It is for this very reason that the economic crisis can be analysed as a particular kind of taboo-topic. 1 Vorbemerkung Seit 2008 stellt die Finanzkrise ein heikles Thema dar, mit dem die unterschiedlichen europäischen Länder umgehen müssen. In den letzten Jahren fanden viele politische Treffen statt, in denen sich Politiker aus verschiedenen EU-Ländern mit den Problemen der Finanzkrise beschäftigen mussten. Wenn internationale Gipfel dazu stattfinden, ist die Presse voll mit Artikeln zur Finanzkrise. Von besonderer Bedeutung ist die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Italien, d. h. zwei Ländern, die im Drama der Euro-Rettung zwei unterschiedliche Rollen spielen: Während Deutschland “am Steuer sitzt”, gehört Italien zu den “Krisen-Ländern”. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Politiker und Journalisten aus Deutschland und aus Italien das Thema Finanzkrise sprachlich behandeln. Angesichts der Tatsache, dass die Sprache ein Mittel der Kategorisierung der Welt darstellt (Rosch 1975), wird ihr eine wirklichkeitskonstituierende Rolle beigemessen, die zahlreiche Autoren insbesondere der Metapher zugeschrieben haben (Hülsse 2003; Leonhardt 2012). Demzufolge kann eine linguistische Untersuchung wichtige Informationen über die Behandlung und Wahrnehmung der Wirtschaftskrise aufzeigen. Ziel dieser Arbeit ist eine inter- und intrakulturelle Untersuchung zur Sprache der Krise in der Politik und in 1 Formale Manuskriptbearbeitung durch Ernest W. B. Hess-Lüttich. der Presse in Deutschland und Italien, um zu prüfen, ob das Tabuthema Finanzkrise eine sprachliche Grenze zwischen zwei Ländern oder zwischen zwei Gruppen innerhalb eines Landes begründet. 2 Krisen als Forschungsthema Seit einigen Jahren stellen die unterschiedlichen Formen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen für die Linguistik ein interessantes Forschungsthema dar, dem z. B. ein EU-Projekt über The Euro Crisis, Media Coverage, and Perceptions of Europe within the EU 2 oder ein DFG-Projekt über Sprachliche Konstruktionen sozial- und wirtschaftspolitischer Krisen in der BRD von 1973 bis heute 3 gewidmet sind. An dem EU-Projekt sind Forschungsgruppen aus zehn Ländern beteiligt, darunter auch aus Deutschland und Italien. Es soll untersuchen, wie das Thema ‘Krise’ von der Presse in den unterschiedlichen Ländern behandelt wird und wie ihre Sprache die Wahrnehmung von Krisen beeinflusst. Dafür wurden 10’000 Artikel aus 40 Zeitungen ausgewählt. Allerdings bleibt dabei die intrakulturelle Dimension außer Betracht, der hier unser besonderes Interesse gilt. Das von Martin Wengeler (Trier) und Alexander Ziem (Düsseldorf) geleitete DFG- Projekt untersucht, wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen durch Sprache erzeugt werden, vor allem in diachroner Perspektive (Wengeler & Ziem 2013). Dabei wird freilich die interkulturelle und intrakulturelle Dimension ausgeblendet. Gestützt auf das für das DFG- Projekt erstellte Krisen-Korpus suchen Drommler & Kuck 2013 zu beschreiben, welche Metaphern die deutsche Presse am häufigsten für die Wirtschaftskrise 2008/ 2009 gebraucht. Im Einklang mit Ansätzen, die der Metapher eine wirklichkeitskonstituierende Rolle zuschreiben (cf. u. a. Hülsse 2003; Leonhardt 2012), registrieren Drommler und Kuck (2013: 232) in ihrem Material einen “krisenkonstituierenden Metapherngebrauch”. Nachdem die Krise der letzten Jahre das Vertrauen in die Europäische Union unterminiert hat, beschäftigen sich etliche Untersuchungen mit dem Thema der Europäischen Identität (z. B. Hülsse 2000; Drulak 2006; Wimmel 2006; Leonhardt 2012) und der Behandlung der Krise durch die Presse (z. B. Arrese 2015). Allerdings fehlt bislang ein diesbezüglicher Vergleich des Sprachgebrauchs in Politik und Medien im Italienischen und Deutschen. 2.1 Die Finanzkrise als Gegenstand der Tabuforschung: ein Vorschlag Um zu bestimmen, ob die Finanzkrise ein Tabuthema darstellt oder nicht, sei der Tabubegriff kurz erläutert. Als Tabu wird das Verbot verstanden, bestimmte Handlungen auszuführen, z. B. bestimmte Speisen zu essen. Eine Entsprechung solcher nonverbalen Tabus findet man oft in der Sprache. Demzufolge muss die Beschreibung eines Worttabus das dahinterstehende nonverbale Tabu in Betracht ziehen, weil Worttabus oft die sprachliche Konsequenz nonverbaler Tabus sind (cf. Balle 1990: 15). Die Finanzkrise kann als ein nonverbales Tabu betrachtet werden, für das es in der Sprache unterschiedliche verbale Ausdrucksformen gibt. Von besonderem Interesse ist die von Schröder (1999: 1, 8) vorgeschlagene Unter- 2 http: / / reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/ publication/ euro-crisis-media-coverage-and-perceptions-europe-with in-eu [01. 10. 2015] 3 https: / / www.uni-trier.de/ index.php? id=45453 [01. 10. 2015] Die Finanzkrise als Tabu-Thema 321 scheidung zwischen Tabuthemen und Tabudiskursen. Ein Tabuthema ist nach Schröder eines, über das entweder gar nicht oder (wenn doch, dann) nur in etikettierter Form gesprochen werden soll, bzw. ein Wortfeld, zu dem verschiedene sprachliche Ausdrücke gehören, die vermieden werden sollen (cf. Schröder 1999: 1). Demnach kann die Finanzkrise eine Form von verbalem Tabu sein, weil man über sie meist in etikettierter Form spricht, und das Wortfeld ‘Finanzkrise’ viele Ausdrücke enthält, die oft vermieden werden. Mit Tabudiskurs meint Schröder (1999: 8) dagegen eine kommunikative Situation, in der man über tabuisierte Handlungen in einer besonderen Art und Weise sprechen kann oder sogar muss, sodass keine Tabuverletzung stattfindet. In diesem Sinne stellt die Finanzkrise auch einen Tabudiskurs dar, weil viele Politiker verschiedene sprachliche Strategien anwenden, um eine Tabuverletzung zu vermeiden, wenn sie das Thema ansprechen. Wenn die Finanzkrise aber als Tabu betrachtet werden kann, kann sie auch einem Tabubereich zugeordnet werden. Während Geld, Arbeitsmarkt, Politik und Ökonomie nach Balle (1990: 99 ff.) zu den modernen Tabus gehören, werden von Reutner (2009: 80 ff.) auch Wirtschaft und Finanzen als Tabubereiche in Betracht gezogen. Auch Schier (2009: 77) zählt Geld zu den klassischen Tabubereichen. Da die Finanzkrise ein komplexes Phänomen darstellt, das unterschiedliche gesellschaftliche Sphären betrifft, kann sie sowohl dem klassischen Bereich Geld, als auch den modernen Bereichen Arbeitsmarkt, Politik, Ökonomie, Wirtschaft und Finanzen zugeordnet werden. Günther (1992: 48 f.) unterscheidet zwischen zwei Arten von kommunikativen Situationen der Tabuisierung und der Enttabuisierung, nämlich eine, in der die Sprecher über ein brennendes Thema kommunizieren müssen, worüber sie nicht sprechen möchten, und eine andere, in der die Sprecher wegen moralischer, konventioneller oder gesellschaftlicher Grenzen darüber nicht sprechen dürfen, worüber sie sprechen wollen. So könnten sich in unserer Untersuchung die Politiker in der ersten und die Journalisten in der zweiten kommunikativen Situation befinden. Während die Politiker über das Thema Finanzkrise sprechen müssen, auch wenn sie es nicht wollen, sprechen die Journalisten über Details der Krise, auch wenn sie es nicht sollten. Da Tabus einerseits gruppen- und kulturspezifisch sind, und andererseits für mehrere Kulturen in gleicher oder in ähnlicher Weise gelten können (Schröder 1998: 3), kann die Untersuchung aus einer intra- und interkulturellen Perspektive sehr interessant sein, um zu zeigen, wie zwei Länder (hier: Deutschland und Italien) und zwei Gruppen (Politik und Presse) dasselbe Tabuthema sprachlich behandeln. Es stellt sich die Frage, ob die Finanzkrise ein interkulturelles oder ein intrakulturelles Tabu darstelle, und ob - wenn Tabus zur Stabilität von Gesellschaften und Gruppen beitragen (Schröder 1995: 8) - (Ent-)Tabuisierung der Finanzkrise zur Stabilität der Gruppe der Politiker oder der Journalisten beitrage. Wenn Tabus Macht bedeuten, können sie ein Mittel dazu dienen, soziale und politische Kontrolle auszuüben (Balle 1990: 17). Wird im Krisendiskurs also durch Tabus (oder deren Bruch) soziale und politische Kontrolle ausgeübt? Erfüllen Tabus im Sprachgebrauch von Politikern und Journalisten bei diesem Thema eine verschleiernde oder eine verhüllende Funktion? 2.2. Sprache als Werkzeug: sprachliche Ersatzmittel für Tabus Das Reden der Politiker und der Journalisten über die Krise gehört zur politischen Kommunikation, die Texte von Politikern ebenso umfasst wie solche der Presse (cf. Fairclough 2009: 294; Wodak 2010: 330). Sprache ist das wichtigste Werkzeug politischer Kommunikation (cf. Bachem 1979: 11). Durch Sprache können Politiker andere überzeugen 322 Antonietta Fortunato (Salerno) oder betrügen (cf. Chilton 2009: 622), den Geist der Menschen kontrollieren (cf. Wodak 2010: 331), sie führen oder verführen (cf. Joseph 2006: 13). Rhetorische Mittel können die politische Realität verändern (Reisigl 2009: 883). Sprache bietet Politikern wie Journalisten zahlreiche Möglichkeiten, Tabuthemen zu behandeln, ohne Tabus zu verletzen. Solche sprachlichen Ersatzmittel oder Umgehungsstrategien können sehr unterschiedlich sein; Euphemismen als die andere Seite der Tabu-Medaille (Balle 1990: 177) sind nicht die einzige Möglichkeit, über tabuisierte Gegenstände, Handlungen und Sachverhalte zu sprechen (cf. Schröder 1995: 7). Unter den verschiedenen sprachlichen Ersatzmitteln, die z. B. von Havers 1946, Balle 1990 und Günther 1992 notiert wurden, konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf einige wenige Umgehungsstrategien, die als relevant für die Analyse gehalten werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Verwendung von Metaphern, Euphemismen und Fachvokabular, die dafür geeignet sind, Tabus zu behandeln. Außerdem können auch andere Strategien der Behandlung von Tabus dienen, z. B. Vagheit, Wortvermeidung, Entlehnungen und Ellipsen. Außer dieser traditionellen Umgehungsstrategien werden in der vorliegenden Analyse zwei weitere Strategien eingeführt: das “integrative Wir” (Brambilla 2007: 53) und die Verwendung von Hochwertwörtern. Die Verwendung von Ersatzmitteln kann unterschiedlichen Zielen dienen. Euphemismen erfüllen nach Luchtenberg (1985: 24) entweder eine verhüllende oder eine verschleiernde Funktion. Hier werden Ersatzmittel als ‘verhüllend’ bezeichnet, wenn sie den Interessen des Sprechers und des Hörers dienen. Dagegen werden Ersatzmittel als ‘verschleiernd’ eingestuft, wenn sie nur den Interessen des Sprechers dienen. Durch die Ersatzmittel kann sowohl ein highlightingals auch ein hiding-Effekt erzielt werden (cf. Lakoff & Johnson 1980: 10 ff.). Während im ersten Fall positive Aspekte hervorgehoben werden, werden im zweiten negative Aspekte der Krise verborgen. Diese ‘Licht-Schatten-Dialektik’ (Antos 2006: 134 f.) der Ersatzmittel ermöglicht es, bestimmte Aspekte zu verbergen, indem man andere Aspekte betont. Diese Dialektik des Ausleuchtens und des Abdunkelns ist typisch für die politische Kommunikation, in der die Verwendung von rhetorischen Figuren eine positive Selbstdarstellung und eine negative Darstellung des Gegners bewirkt (Reisigl 2009: 884). Außerdem dienen solche rhetorische Strategien dazu, besondere Merkmale des politischen Lebens in den Vordergrund zu rücken und andere in den Hintergrund (Reisigl 2009: 884). 3 Korpus und Methode In diesem zweiten Teil werden die wichtigsten Ergebnisse einer Analyse präsentiert, die auf einem inter- und intrakulturellen Korpus basiert. Um den öffentlichen Diskurs zur Wirtschaftskrise zwischen Italien und Deutschland einerseits und Politikern und Journalisten andererseits zu vergleichen, wurde ein Zeitabschnitt ausgewählt, der für die Beziehungen sowohl zwischen den beiden Ländern als auch zwischen den beiden sozialen Gruppen besonders relevant ist. Das Korpus besteht aus der Aufnahme einer deutschitalienischen Pressekonferenz, die am 4. Juli 2012 in Rom stattfand, sowie aus insgesamt 100 Online-Artikeln 4 (56 italienische und 44 deutsche Artikel), die zwischen dem 27. Juni und 4 Für die italienische Presse wurden die folgenden Online-Zeitungen ausgewählt: La Stampa, Corriere della Sera, La Repubblica, Il Sole 24 Ore, für die deutsche Presse die Online-Ausgaben von Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Welt und Handelsblatt. Die Finanzkrise als Tabu-Thema 323 dem 5. Juli 2012 veröffentlicht wurden. Die Protagonisten der Pressekonferenz sind die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der seinerzeitige italienische Ministerpräsident Mario Monti, deren Einigung im Rahmen der Pressekonferenz präsentiert werden soll. Noch eine Woche zuvor hatte (am 28. Juni) der Euro-Gipfel in Brüssel stattgefunden, bei dem Monti und Merkel keine Einigung erzielen konnten. Der durch die Finanzkrise aufgebrochene Konflikt zwischen Monti und Merkel wurde zum Tabu, das die Politiker zu kaschieren suchen, während die Journalisten es gerade aufdecken wollen. In der Pressekonferenz haben die Politiker darüber die Kontrolle, in den Online-Artikeln wird sie von den Journalisten übernommen. Da es sich um Texte unterschiedlicher Modalität handelt, zieht die methodisch an Bachem (1979) orientierte Analyse lexikalisch-semantische Phänomene in Betracht, die sowohl die gesprochene als auch die geschriebene Sprache betreffen, also Wortschatz, Metaphern, Euphemismen, Polysemie, semantische Vagheit, Neologismen, Hochwertwörter, wobei die lexikalischen Strategien entweder als Stilformen der Tabuisierung oder des Tabubruchs betrachtet werden. 3.1 Politsprache: wie die Politiker Tabus behandeln Die Analyse zeigt, wie die Politiker auf der Pressekonferenz die Probleme der Finanzkrise behandeln und dabei unterschiedliche Strategien einsetzen, um sowohl den Konflikt zu kaschieren als auch die Krise selbst zu leugnen. Das soll sie in günstigem Licht erscheinen lassen, ihre Motive verschleiern und zugleich die Stabilität der Gruppe der Politiker erhalten. Im Kontext der Pressekonferenz können beim Tabuthema ‘Finanzkrise’ zwei Aspekte unterschieden werden, nämlich (i) der persönliche Konflikt (nach dem Euro-Gipfel) und (ii) die wirtschaftspolitischen Bedingungen und Folgen der Krise. 3.1.1 Der Konflikt Der Konflikt wird vor allem durch die Metaphorik kaschiert, die durch highlighting- oder hiding-Effekte (i. S. v. Lakoff & Johnson 1980) der Tabuisierung dient, indem sie bestimmte Merkmale der Krise verbirgt. Sowohl die Rede der Kanzlerin als auch ihre Antworten sind geprägt von der konzeptuellen Metapher ‘der Staat ist ein Haus’ (i. S. v. Reisigl 2009: 884): (1) Wenn es unseren Nachbarn in Europa wirtschaftlich nicht gut geht, geht es auch Deutschland auf lange Sicht nicht gut. (2) Das, was für mich wichtig ist, ist, dass diese Dinge auf der Grundlage der geltenden Regeln stattfinden. [. . .] Genau auf der Basis dessen, was wir auch früher schon beschlossen haben, haben wir unsere Beschlüsse gefasst. Mit ihrer Aussage (1) über die (hochverschuldeten) ‘Nachbarn’ ihres Landes evoziert die Kanzlerin das Bild des Hauses oder Stadtviertels; die Metapher der ‘Grundlage’ (i. S. v. Chilton 2009: 622 ff.) in Antwort (2) lässt den Staat als ein Gebäude mit soliden Grundmauern erscheinen, die den Bewohnern ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Auch Monti nutzt die Strategie der Metaphorik, wenn er die ‘Krise als Weg’ beschreibt, auf dem beide Länder gemeinsam voranschreiten sollen: (3) [. . .] spero che accorceremo le distanze e entrambi spingeremo più avanti l’Europa. 324 Antonietta Fortunato (Salerno) Beide Redner suchen den Konflikt auch durch einen positiv konnotierten Wortschatz zu verdecken, Merkel durch Adjektive wie ‘gemeinsam’ und ‘einstimmig’, Adverbien wie ‘miteinander’ und Substantive wie ‘Austausch’ und ‘Partner’, hinter denen die substantiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen Italien und Deutschland zu verschwinden scheinen: (4) Wir sind ganz wichtige Handelspartner. Monti verwendet Substantive wie ‘collaborazione’ und ‘partner’ oder Adjektive wie ‘insieme’, um die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Italien zu unterstreichen: (5) La Germania è il nostro principale partner economico per l’import e l’export: l’interscambio tra i due paesi ammonta a più di 100 miliardi di euro. (6) Se posso aggiungere una parola, credo che la Cancelliera Merkel e io lavoriamo molto bene insieme [. . .]. Eine wichtige Rolle spielen auch die Superlative, mit denen Monti die Beziehung zwischen den beiden Ländern beschreibt, während Merkel umgekehrt die Regierung Montis lobt: (7) È un’occasione molto utile per intensificare lo stato delle già ottime relazioni economiche e politiche bilaterali fra la Repubblica Federale tedesca e l’Italia. (8) In kürzester Zeit glaube ich sind sehr, sehr wichtige Weichenstellungen erfolgt. Der Ministerpräsident hat eben noch einmal betont, dass das auch in den nächsten Tagen durch weitere Beschlüsse noch vervollkommnet wird. Eine Umgehungsstrategie für das “Ich-Tabu als Beschwichtigungstabu” (Balle 1990: 111) ist auch das integrative Wir, also die Verwendung des Plurals statt des Singulars (Brambilla 2007: 53), wie die folgenden Beispiele zeigen: (9) Unsere Wirtschaftsminister, unsere Außenminister, unsere Arbeitsminister, unsere Verkehrsminister haben Gespräche geführt. (10) Ich möchte jetzt erst einmal mit Mario Monti und seiner Regierung sehr gut zusammenarbeiten. [. . .] Dabei unterstützen wir uns gegenseitig. Darüber sprechen wir heute. Alles, was wir heute erledigen, brauchen wir morgen nicht mehr zu machen, und deshalb sind wir heute alle miteinander sehr fleißig. Desgleichen Monti, wenn er das Adjektiv ‘entrambi’ verwendet oder Ausdrücke wie ‘lavoro comune, i nostri due paesi e i nostri due governi’ und den Phraseologismus ‘avere in comune’: (11) [. . .] la grande quantità di lavoro comune che i nostri due paesi e i nostri due governi svolgono nel contesto dell’Unione Europea [. . .]. (12) Seguirà poi un pranzo di lavoro allargato anche a un gruppo di esponenti dei settori industriale e finanziario dei nostri due paesi, due paesi che hanno in comune la caratteristica di essere grandi paesi manifatturieri [. . .]. (13) Credo che i nostri due paesi siano tra quelli più disposti ad andare verso una condivisione di sovranità a livello comunitario. In Beispiel (14) kombiniert Merkel das integrative Wir mit einem Euphemismus, um die Gemeinsamkeit hervorzuheben und das Trennende zu verbergen: (14) Und wir sollten doch das Gute unserer Länder teilen, und da, wo wir noch nicht so gut sind [. . .], dann sollten wir voneinander lernen. Die Finanzkrise als Tabu-Thema 325 Demselben Zweck dienen Merkel auch Wiederholungen und Generalisierungen: (15) [. . .] Das macht Deutschland, das macht Italien, und das machen in der Eurogruppe die 15 anderen und ansonsten die 25 anderen. Mario Monti nutzt auch Fremdwörter (meist Anglizismen, aber auch einen deutschen Ausdruck wie ‘soziale Marktwirtschaft’) als Strategie zur Überbrückung von Gegensätzen. 3.1.2 Die Finanzkrise Beide Politiker sprechen das unangenehme Thema ‘Finanzkrise’ ungern direkt an, sondern suchen es mit allerlei rhetorischen Tricks zu vermeiden. Ein Thema zu ‘beschweigen’ ist eine der klassischen Strategien im Umgang mit Tabus (Balle 1990; Schröder 1999; id. 2013), weil “dem Tabukonzept wohl am besten entsprochen wäre, wenn man darüber schweigt [. . .]” (Schier 2009: 77). Neben die verschleiernde Funktion des Schweigens tritt wiederum die Metaphorik als Strategie tabuisierender Schonung hinzu, besonders im Hinblick auf die notwendigen harten Maßnahmen zur Bewältigung der Krise. Die erscheinen bei Monti und Merkel in deutlich milderem Licht durch ihre Umschreibung mit Metaphern des Typus ‘Europa ist eine Schule’ (als einer Variante des Typus ‘der Staat ist ein Haus’), in der die EU- Länder wie strebsame Schüler ‘ihre Hausaufgaben machen’ müssen: (16) Ognuno deve fare i compiti a casa. (17) Auch in Deutschland stehen wir immer wieder vor der Aufgabe auch angesichts eines aufkommenden demografischen Wandels, eines völlig veränderten Altersaufbaus, unsere Hausaufgaben immer wieder zu machen. Die Metapher ‘die Krise ist eine Rechnung’, die in den Online-Artikeln häufig zu finden ist, taucht auch in der Rede von Monti auf, der damit auf die Folgen der Fehler vorheriger Regierungen verweist: (18) [. . .] spesso hanno fatto in passato riforme che li lasciavano più soddisfatti, anche perché il conto veniva pagato dal bilancio pubblico [. . .]. Die Krise in Italien ließ das Land ‘vor dem Zusammenbruch stehen’ - Monti möchte durch den metaphorischen Phraseologismus nahelegen, dass Italien nur mit den notwendigen harten Maßnahmen davor hat bewahrt werden können: (19) Trattenuta così l’Italia dall’orlo del precipizio, è venuto il momento, fatta la riforma delle pensioni fatta la riforma del mercato del lavoro di agire in modo strutturalmente più convincente sul settore pubblico [. . .]. Um die Maßnahmen zu rechtfertigen, streut die Kanzlerin wieder Metaphern des Typs ‘der Staat ist ein Haus’ ein, indem sie von ‘Enkeln und Kindern’ spricht, wie wenn Deutschland und Italien zwei sorgende Familien wären: (20) Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist und dass es für unsere Kinder und für die Enkel richtig ist. 326 Antonietta Fortunato (Salerno) Mit Metaphern des Typs ‘die Krise ist ein Weg’ lassen die ‘notwendigen Maßnahmen’ der Haushaltskonsolidierung und Souveränitätseinschränkung weniger hart erscheinen, sondern als Weg, den man gehen muss, um am Ende das Glück zu erreichen: (21) ‘In die richtige Richtung fortsetzen’ anstatt ‘die notwendigen Maßnahmen ergreifen’. (22) Ho confermato alla Cancelliera la determinazione, che già conosce e credo apprezzi, con cui il governo italiano intende proseguire sulla strada del contenimento di bilancio, della disciplina fiscale, delle riforme strutturali. (23) Credo che i nostri due paesi siano tra quelli più disposti ad andare verso una condivisione di sovranità a livello comunitario. Wenn Euphemismen die ‘andere Seite’ der Tabu-Medaille sind (Balle 1990: 177), dürfen sie hier nicht fehlen. Folgerichtig bezeichnet die Kanzlerin die Finanzkrise als ‘eine nicht einfache Zeit’ (statt: eine Katastrophe) oder allgemein und nebulös als ‘Situation’ (statt: Krise): (24) Für uns sind das sehr wichtige Gespräche in einer nicht einfachen Zeit, aber in einer Zeit, in der wir gewillt sind, die Schwierigkeiten, in den wir uns befinden, auch gemeinsam zu überwinden. (25) Wir beide haben natürlich über die Situation in unseren Ländern gesprochen. Das integrative Wir dient nicht nur der Tabuisierung des Konflikts (s. o.), sondern auch der Rechtfertigung der Maßnahmen: (26) Denn unsere Menschen in unseren Ländern erwarten doch mit Recht, dass wir ihre Probleme lösen, dafür sind wir ja da. Eine andere Umgehungsstrategie stellen die Hochwertwörter dar, durch die negativ konnotierten Ausdrücke aufgewogen werden, etwa wenn Merkel der ‘Austerität’ die ‘Gerechtigkeit’ gegenüberstellt, der ‘die Maßnahmen’ dienten, natürlich zum Wohle des Volkes: (27) Es geht auch nicht um Austerität als eine besondere Plage [. . .]. Um Gerechtigkeit geht es. Der Strategie der Camouflage bedient sich Monti gegenüber den Italienern gern mithilfe von Fachsprache und Fremdwörtern wie ‘best practices’, ‘spending review’ und ‘riduzione tranchant’, um die Finanzkrise durch Vagheit zu verschleiern und eine Annäherung zwischen ihm und den ausländischen Politikern und Journalisten zu insinuieren. Mit dem Superlativ ‘brevissimo periodo’ sucht er die Lage zu rechtfertigen, die zu verbessern er schließlich noch kaum Zeit gehabt habe: (28) E non abbiamo avuto molta scelta, nel breve, brevissimo periodo abbiamo dovuto fare una manovra largamente basata sull’aumento delle tasse, pur rendendoci conto che questo era sgradevole. Eine andere Strategie verfolgt Monti mit dem Ausweichen ins Generelle oder mit dem Verweis auf vermeintliche Sündenböcke und ähnliche Probleme in anderen Ländern: (29) Con la Cancelliera abbiamo prima parlato proprio di questa cifra del 36 % di disoccupazione giovanile in Italia, c’è anche qualche altro paese europeo che ha una Die Finanzkrise als Tabu-Thema 327 disoccupazione giovanile così alta o addirittura maggiore, ma comunque è una cifra chiaramente inaccettabile. (30) È molto semplice, lo scopo essenziale del nostro governo è stato quello di evitare che l’Italia si trovasse ad impensierire ancora di più la Cancelliera Merkel, fuor di metafora, si trovasse in una situazione simile a quella della Grecia. 3.2 Pressesprache: wie die Journalisten Tabus behandeln Der erste Teil der Analyse hat gezeigt, dass die Politiker ähnliche Strategien zur Tabuisierung der Finanzkrise verwenden, auch wenn sie aus verschiedenen Ländern kommen; wenn sie auf Pressekonferenzen die Kontrolle haben, suchen sie auf ähnliche Weise die Versuche von Journalisten abzuwehren, ihre Strategien zu unterlaufen. In jüngerer Zeit sind die Journalisten (zumindest in den westlichen Demokratien) hartnäckiger geworden, wenn sie Fragen zu brennenden Problemen stellen (Fairclough & Fairclough 2012: 294) und dabei manchmal auch Tabus brechen (Joseph 2006: 86). Die Folgen einer Tabuverletzung können vom latenten Konflikt über offene Konfrontation bis zum Abbruch der Kommunikation reichen (Hess-Lüttich 2013: 29). Im Folgenden wird gezeigt, wie die Journalisten (i) auf der Pressekonferenz tabuisierte Sachverhalte enthüllen und (ii) sich in Online-Artikeln freier artikulieren. 3.2.1 Pressekonferenz: Strategien des Tabubruchs (i) Schon die ersten Fragen der Journalisten auf der Pressekonferenz verletzen das von den Politikern etablierte Tabu des von der Krise verursachten Konflikts. (31) Frau Bundeskanzlerin Merkel, nach dem Gipfel war die Interpretation der Ergebnisse sehr vielfältig. Es gab eine große Lücke, gerade zwischen Deutschland und Italien. Wer hat denn nun Recht? (32) Buonasera Cancelliera [. . .] Alla luce della sintonia politica che c’è in questo momento fra i due governi, come lei sa in Italia nella primavera del prossimo anno ci saranno le elezioni politiche, mi chiedevo se lei avesse qualche auspicio, appunto alla luce della sintonia manifestata con questo governo, o qualche timore al contrario, in vista di questo appuntamento? (33) Frau Bundeskanzlerin, Herr Monti hat uns neulich in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” erklärt, dass die Ziele, die er verfolgt, sehr deutsche Ziele seien, und er sei in Italien eigentlich geradezu als ein Deutsch denkender Ökonom verschrien. Inwieweit sehen Sie Ihre eigenen politischen Ziele, Ihre eigenen wirtschaftlichen Ziele konform gehen mit den Zielen von dem Präsidenten der Regierung hier, Herrn Monti? In seiner ersten Frage (31) benennt der Journalist offen die ‘große Lücke’ zwischen den Standpunkten der Politiker und nötigt mit der direkten Frage “Wer hat denn nun Recht? ” die Kanzlerin zu einer Stellungnahme, die sie in ihrer Rede gerade vermeiden wollte. In der zweiten Frage (32) wird der Tabubruch durch eine ironische Antiphrase verursacht: Der Journalist spricht von einem politischen Einklang, obwohl Monti und Merkel während des vorherigen Euro-Gipfels gerade keine Einigung gefunden hatten. Während Balle (1990: 179) die Antiphrase als Stilmittel der Tabuisierung zugeordnet hat, zeigt das Beispiel, dass sie umgekehrt auch der Enttabuisierung dienen kann. Dass es sich um eine ironische Antiphrase handelt, kann (wie immer in der Ironie) erst aus dem Kontext heraus erschlossen werden. 328 Antonietta Fortunato (Salerno) Auch die an Monti und Merkel gerichtete dritte Frage kann als Verletzung des Tabus verstanden werden, von einem Konflikt zu sprechen, wenn der Journalist die Kanzlerin direkt fragt, ob sie der italienischen Einschätzung zustimme, dass Monti eigentlich ‘deutsche’ Ziele verfolge und sie damit erneut zu einer Stellungnahme drängt, die sie lieber vermieden hätte. (ii) Nach der Offenlegung des Konflikts zwischen den beiden Politikern rücken die Journalisten die Finanzkrise selbst ins Zentrum ihres Interesses, indem sie die deutsche Austeritätspolitik Deutschlands und die erfolglosen Maßnahmen der italienischen Regierung kritisieren: (34) Buonasera Signora Cancelliera, lei lo sa mi scusi, ma in molti paesi, anche molti italiani la dipingono come la cattiva Kaiserin dell’Europa. Ora io le chiedo di sfruttare questa possibilità, e di spiegare agli italiani il perché e i vantaggi della sua linea di rigore. . . Bitte benutzen Sie diese Gelegenheit und sprechen Sie direkt zu den Italienern. (35) E poi al presidente italiano, crescita, crescita economica. Il 36 % dei giovani italiani non hanno lavoro, e le imprese non riescono ad assumere, il suo governo sta per varare un intervento di spending review dove sono previsti taglia gli sprechi e anche tagli ai dipendenti ecco le chiedo di spiegarci qual è il legame con al crescita. Die vierte Frage (34) ist eine Provokation: der italienische Journalist fordert die Kanzlerin angesichts des Umstands, dass sie in Italien als ‘böse’ beschrieben werde, ohne Umschweife auf, den Italienern doch die Vorteile ihrer ‘linea di rigore’, ihrer Austeritätspolitik, direkt zu erläutern, was hinsichtlich der Verwendung des Adjektivs ‘böse’ und des Ausdrucks ‘linea di rigore’ einen doppelten Tabubruch darstellt. Auch die dem italienischen Ministerpräsidenten gestellte fünfte und letzte Frage (35) stellt insofern einen Tabubruch dar, als sie das Thema ‘Finanzkrise’ unumwunden anspricht, indem er angesichts der Jugendarbeitslosigkeit und der vorgesehenen Kürzungen ironisch nach dem Zusammenhang zwischen den Kürzungen und dem Wachstum stellt. 3.2.2 Online-Artikel: Enttabuisierung durch Metaphern (i) Der Konflikt In ihren Online-Artikeln gebrauchen die Journalisten häufig Metaphern, um bestimmte Merkmale der Finanzkrise zu verhüllen oder hervorzuheben. Metaphern dienen hier der Enttabuisierung. Die von der Krise verursachten Meinungsverschiedenheiten sind dabei ein besonders beliebtes Thema. Deutsche wie italienische Journalisten inszenieren die politische Verhandlung als Wettkampf, in dem es Gewinner und Verlierer gibt, eine Metaphorik, die von den Politikern gerade peinlich vermieden wird. (36) Wer hat beim EU-Gipfel gewonnen? www.handelsblatt.com [29. 06. 2012] (37) Noch hat Monti nichts gewonnen [. . .]. www.welt.de [04. 07. 2012] (38) Super-Mario, der in seiner Heimat als Gewinner des Euro-Gipfels gefeiert [. . .] wurde. www.handelsblatt.com [04. 07. 2012] (39) Si tratta di una vittoria soprattutto per l’Italia e la Spagna. www.corriere.it [29. 06. 2012] (40) Supermario ha vinto ma la Merkel non ha perso. www.repubblica.it [01. 07. 2012] (41) Inoltre, di certo con i risultati del vertice di Bruxelles Merkel non ha perso. www.lastampa.it [04. 07. 2012] (42) Questa donna sottovalutata [. . .] è la vera vincitrice del summit. www.ilsole24ore.com [01. 07. 2012] Die Finanzkrise als Tabu-Thema 329 Eine sportliche Variante dieser Metapher von der politischen Verhandlung als Wettkampf ist der Vergleich der Verhandlung mit einem Fußballspiel. (43) Es war am Freitag geboten, den Südländern die Punkte auf dem Spielfeld zu überlassen. www.welt.de [04. 07. 2012] (44) [. . .] die deutschen Sozialdemokraten - die ja am liebsten im Team Hollande spielen würden. www.welt.de [30. 06. 2012] (45) Non è certo la festosa fase finale di una campionato di calcio quella che si apre oggi al vertice di Bruxelles fra gli Stati europei. www.lastampa.it [28. 06. 2012] (46) A Bruxelles non si gioca mai una finale [. . .] ogni incontro dei capi di Stato e di governo è sempre una semifinale. www.corriere.it [30. 06. 2012] (47) Anche a Bruxelles gioco di squadra e qualche tocco di classe hanno prodotto il risultato finale. www.ilsole24ore.com [29. 06. 2012] (48) Dopo aver visto il pressing senza sosta di Monti su Merkel [. . .]. www.lastampa.it [30. 06. 2012] (49) L’Italia potrà poi contare in una sorta di tempo supplementare nel bilaterale previsto tra Monti e Merkel il 4 luglio. www.lastampa.it [27. 06. 2012] Der naheliegende Vergleich zwischen Europa-Gipfel und Europa-Meisterschaft bietet sich vor allem deshalb an, weil das Halbfinale zwischen Deutschland und Italien in derselben Woche wie das Gipfeltreffen der Politiker stattfindet. Deutschland verliert gegen Italien, Merkel gegen Monti, finden die Journalisten in beiden Ländern übereinstimmend. (50) Wirtschaftlich ist Deutschland der Europameister. www.handelsblatt.com [29. 06. 2012] (51) [. . .] als habe diesmal der Premier die Verteidigung vor dem Tor des Welttorhüters Gianluigi Buffon organisiert. www.welt.de [30. 06. 2012] (52) So wie Balotelli das Ding ins deutsche Tor gerammt hat, so hat auch Monti den Sack zugemacht. www.zeit.de [02. 07. 2012] (53) Deutschland - auf dem Fußballplatz und im Verhandlungsraum vernichtend geschlagen. www.zeit.de [02. 07. 2012] (54) Chi ha vinto l’eurofinale di Bruxelles? www.ilsole24ore.com [30. 06. 2012] (55) Il combinato disposto di Mario Monti e Mario Balotelli, assortito magari di un assist di Mario Draghi [. . .]. www.ilsole24ore.com [29. 06. 2012] (56) Hollande come Cassano ha fornito gli “assist”; Monti come Balotelli ha messo la palla in rete. www.repubblica.it [01. 07. 2012] (57) Meno chiaro è chi sia il vero vincitore dell’altra grande partita, quella disputata nelle ovattate sale riunioni e nei corridoi di Bruxelles dagli sherpa prima e dai capi di Stato e Governo poi. Una partita con quattro grandi squadre in campo: Italia, Germania, Spagna e Francia. Com’è andata, secondo i grandi giornali nazionali? Chi ha vinto? www.ilsole24ore. com [30. 06. 2012] Eine weitere Variante ist die Metapher von der politischen Verhandlung als Marathon, zumal der Konflikt zwischen Merkel und Monti den Gipfel in die Länge zieht, dessen Dauer dann in deutschen Zusammensetzungen wie ‘Marathonberatungen’, ‘Marathonsitzung’, ‘Gipfelmarathon’, ‘EU-Gipfel-Marathon’ und in italienischen Ausdrücken wie ‘maratona negoziale’ oder ‘maratona notturna’ ihren kritischen Niederschlag findet. Gelegentlich werden die Antagonisten in dem Wettkampf auch als Hasardeure dargestellt: Montis riskantes Pokern lässt dann den Journalisten die Verhandlung als Hasardspiel erscheinen: (58) Montis Hasardspiel hat sich also ausgezahlt. www.welt.de [30. 06. 2012] 330 Antonietta Fortunato (Salerno) (59) Die zuständigen Stellen der Eurozone seien in der Lage, im gegebenen Moment die Karte zu ziehen, die es auf den Tisch zu knallen gilt. www.süddeutsche.de [29. 06. 2012] (60) Danach wollte keiner den Showdown im Grünen, sondern das Bild der Einheit. www. handelsblatt.com [05. 07. 2012] (61) Lo spariglio del Professore. www.lastampa.it [27. 06. 2012] (62) La tattica negoziale messa a punto dal premier insieme ai due uomini chiave della partita, Grilli e Moavero, si avvicina all’azzardo. www.repubblica.it [28. 06. 2012] (63) [. . .]“il più tedesco degli economisti italiani” è anche un giocatore di poker [. . .]. www. ilsole24ore.com [29. 06. 2012] (64) Il rilancio di Monti che spiazza la Merkel. www.ilsole24ore.com [29. 06. 2012] Weitere sportliche Vergleiche des Konflikts finden sich in der deutschen Presse (Pingpong, Tauziehen) ebenso wie in der italienischen (Boxen, Radrennen). (65) (Monti) [. . .] ziehe mit der Kanzlerin an einem Strang. www.welt.de [04. 07. 2012] (66) Bei dem Pingpong der verblüffenden Einheit von Berlin und Rom gab Monti die Bälle mit Leichtigkeit zurück. www.handelsblatt.com [04. 07. 2012] (67) La Cancelliera è nell’angolo. www.repubblica.it [28. 06. 2012] (68) Come lei sono all’angolo anche gli altri falchi. www.repubblica.it [28. 06. 2012] (69) Il premier italiano ha accumulato un patrimonio di energie da spendere, con la stessa forza e la stessa ostinazione, nella volata finale. www.lastampa.it [30. 06. 2012] (70) La prospettiva di restare in surplace sta franando insieme alla speranza, e forse all’illusione, di trovare uno straccio di intesa a livello dell’Unione, per salvare l’Eurozona dall’eurocrollo. www.lastampa.it [27. 06. 2012] Aber auch martialischere Varianten finden sich zuhauf; Kriegs- und Kampfmetaphorik soll das gereizte Verhältnis der Kontrahenten für den deutschen wie den italienischen Zeitungleser anschaulich machen: (71) Italiens Premier Mario Monti und Kanzlerin Angela Merkel kämpfen erbittert um die Meinungsführerschaft. www.handelsblatt.com [29. 06. 2012] (72) Die Grabenkämpfe um Euro-Bonds [. . .]. www.handelsblatt.com [28. 06. 2012] (73) Wenn Monti nun verbal abrüstet, dürfte ihn auch die Sorge umtreiben, dass sich sein Brüsseler Sieg doch noch in eine Niederlage wandeln könnte. www.welt.de [04. 07. 2012] (74) Die deutsche Seite pocht auch darauf, in diesem Punkt nicht eingeknickt zu sein. www.zeit. de [29. 06. 2012] (75) Fast könnte man von einem Mario-Komplott gegen Deutschland reden. www.welt.de [05. 07. 2012] (76) Kanzlerin Merkel erwartet in Brüssel viel Widerstand. www.sueddeutsche.de [28. 06. 2012] (77) Der Angriff gilt Europa selbst und wird über die schwächere Peripherie geführt gegen die Währung, die ein Instrument und Symbol des geeinten Kontinents ist. www.welt.de [28. 06. 2012] (78) Der Euro-Rettungsfonds [. . .] hat aber aktuell wohl zu wenig Munition, um die Stimmung am Markt zu drehen. www.handelsblatt.com [28. 06. 2012] (79) Die Reformen werde er weiterführen, Italiens Haushaltsdefizit rasch und energisch zurückführen. Die Drohung: dass ein ausbleibender Erfolg ihn zum Rücktritt zwingen könnte. www.welt.de [28. 06. 2012] (80) Monti trova due preziosi alleati per la sua strategia: il francese Hollande e il collega spagnolo Rajoy. www.repubblica.it [29. 06. 2012] (81) Né tacere del malessere tedesco, che potrebbe aumentare insieme al senso di crescente isolamento del Paese in un’Europa dove la triplice italo-franco-spagnola dà segni di un’insospettata e inattesa vitalità politica e negoziale. www.ilsole24ore.com [04. 07. 2012] Die Finanzkrise als Tabu-Thema 331 (82) E ai colpi ricevuti nella battaglia contro Hollande, Monti e Rajoy si sono aggiunte nuove, e conseguenti, difficoltà sul fronte interno. www.corriere.it [01. 07. 2012] (83) Un inedito asse mediterraneo tra Francia, Italia e Spagna ha costretto la Germania a guardare la cartina geografica e le statistiche economiche da una prospettiva diversa. www. corriere.it [30. 06. 2012] (84) Al suo primo vertice europeo, il socialista Hollande ha rotto il binomio franco-tedesco e, nel momento decisivo, si è schierato con i governi di Italia e Spagna. Non è la fine dell’asse Parigi-Berlino, che resta e resterà comunque fondamentale per orientare le scelte europee. www.repubblica.it [30. 06. 2012] (85) L’asse tra Germania e Francia con l’evidente egemonia tedesca ha ceduto il posto ad una direzione collettiva i cui pilastri di sostegno sono la Germania, la Francia, l’Italia, la Spagna. www.repubblica.it [01. 07. 2012] Vielen Beobachtern des Gipfelgeschehens erscheint das Verhalten der Protagonisten freilich auch nur noch als Theater, in dem jeder auf der Bühne seinen Part spielt: die politische Verhandlung als Drama: (86) Merkel und Monti sind die Hauptdarsteller im Drama Euro-Rettung. www.handelsblatt. com [04. 07. 2012] (87) Es treffen die Protagonisten des Euro-Streits aus dem Süden und dem Norden Europas aufeinander: Super- Mario [. . .] und Angela Merkel [. . .]. www.handelsblatt.com [04. 07. 2012] (88) Denn das ist die Kehrseite des Bildes von der unerbittlichen Kanzlerin: Das Spektakel, sie verlieren zu sehen, entwickelt in Europa inzwischen eine gewisse Faszination. www.zeit.de [05. 07. 2012] (89) In Brüssel zumindest brachten Monti und sein spanischer Kollege Mariano Rajoy die gesamte Gipfel-Dramaturgie von Bundeskanzlerin Angela Merkel [. . .] durcheinander [. . .]. www.handelsblatt.com [29. 06. 2012] (90) Monti will kein Publikum bespaßen. www.handelsblatt.com [04. 07. 2012] (91) Um Merkels Wählerschaft zu beruhigen, wird Monti zeigen, dass er im Herzen ein Deutscher ist und mit italienischem Schlendrian nichts am Hut hat: er spart gerne, setzt Reformen durch und das alles ohne das Spektakel seines Vorgängers. www.handelsblatt. com [04. 07. 2012] (92) Die EZB soll dabei eine starke Rolle spielen. www.zeit.de [29. 06. 2012] (93) Nella notte in cui gli occhi erano puntati su Varsavia, a Bruxelles abbiamo ritrovato quel ruolo da protagonisti nell’Unione Europea che si era perso in tanti anni di pallide apparizioni. www.corriere.it [30. 06. 2012] (94) Mario Monti è stato il protagonista numero uno. www.repubblica.it [01. 07. 2012] (95) Oltretutto dietro le quinte anche il presidente della Bce Mario Draghi sta cercando di facilitare i negoziati. www.repubblica.it [28. 06. 2012] (96) Ieri le parti si sono drammaticamente invertite. www.ilsole24ore.com [29. 06. 2012] (97) Uno psicodramma nazionale. www.corriere.it [01. 07. 2012] (98) Questa però è l’aria che tirerà dietro le quinte del vertice. www.ilsole24ore.com [28. 06. 2012] (99) Dopo aver a lungo, e anche giustamente, ascoltato il responso dei mercati, la politica riprende il suo ruolo [. . .]. www.repubblica.it [30. 06. 2012] Auch die Metapher vom Staat als Haus und den Ländern als Familie wird wieder gern bemüht; jeder müsse seine ‘Hausaufgaben’ machen, denn die Probleme seien ‘hausgemacht’ usw. Der Streit wird so zum Familienkrach verniedlicht. 332 Antonietta Fortunato (Salerno) (100) [. . .] eine Attacke auf die gemeinsame Währung und das europäische Haus. www.welt.de [28. 06. 2012] (101) Von Monti wird zu Hause erwartet, dass er möglichst viel in Brüssel durchsetzt - gegen die Kanzlerin. www.handelsblatt.de [04. 07. 2012] (102) Denn nur wenn sie den Pakt aus Brüssel mit nach Hause bringt, bekommt sie die Stimmen der SPD [. . .]. www.zeit.de [05. 07. 2012] (103) Die Probleme der Länder, die unter Beobachtung stehen, sind hausgemacht und können nur zu Hause gelöst werden. www.handelsblatt.com [28. 06. 2012] (104) Die Regierungen müssen sich allerdings dazu verpflichten, die jährlichen Hausaufgaben der EU-Kommission rechtzeitig zu erfüllen und ihre Defizite rasch abzubauen. www. sueddeutsche.de [29. 06. 2012] (105) Doch jetzt kommen die wahren Hausarbeiten. www.handelsblatt.com [04. 07. 2012] (106) Deutschland hat vor einiger Zeit gesagt, dass Italien seine Hausaufgaben machen müsse. www.welt.de [28. 06. 2012] (107) Resta che la Merkel, già aspramente criticata in casa al suo ritorno da Bruxelles [. . .]. www. ilsole24ore.com [04. 07. 2012] (108) Il nostro premier ha portato a casa quanto aveva promesso [. . .]. www.repubblica.it [01. 07. 2012] (109) [. . .] per Monti è stato un successo, a cui hanno contribuito anche i leader della “strana maggioranza”, impegnati nelle rispettive famiglie europee di riferimento. www.corriere.it [30. 06. 2012] (110) I compiti non sono finiti, il tempo quasi. www.corriere.it [30. 06. 2012] (111) [. . .] in attesa che il 9 luglio, e forse anche il 20, i ministri dell’Eurogruppo mettano in bella copia l’accordo di massima raggiunto a Bruxelles. www.ilsole24ore.com [04. 07. 2012] (112) Resistenze sui tagli mentre il Nord Europa “corregge” Bruxelles. www.corriere.it [03. 07. 2012] (ii) Die Finanzkrise Wenn weniger auf den Konflikt als auf die Finanzkrise selbst abgehoben wird, kommen wiederum etliche Metaphern ins Spiel, die jene negativen Aspekte ins grelle Licht der Aufmerksamkeit rücken, die die Politiker lieber im Dunkeln gelassen hätten. Dann ist vor allem von der Krise als Krankheit die Rede, von Ländern, Banken, Währungen usw., denen eher negativ konnotierte menschliche Eigenschaften (krank, leiden, gesund/ ungesund; patologia, morbo, contagio usw.) zugeschrieben werden. (113) Der Euro sei eine kranke Währung, der nicht mehr geholfen werden könne. www.welt.de [30. 06. 2012] (114) Die Idee Finnlands ist, dass die unter hohen Zinsen leidenden Staaten mit Vermögenswerten abgesicherte Pfandbriefe begeben könnten. www.handelsblatt.com [28. 06. 2012] (115) Gesunde Banken, allen voran in Deutschland, müssten im Ernstfall für ihre maroden Konkurrenten in anderen Euroländern zahlen. www.handelsblatt.com [29. 06. 2012] (116) Die knappen Staatskassen sind nur ein Symptom für jahrzehntelange schlechte Regierungsführung, ausgebliebene Reformen, ineffiziente Verwaltungen, verkrustete Strukturen, ungesunde Verquickung von Politik und Wirtschaft und eine rapide gesunkene Wettbewerbsfähigkeit. www.welt.de [30. 06. 2012] (117) Die Strategie hatte jedoch einige Nebenwirkungen. www.zeit.de [29. 06. 2012] (118) [. . .] il circolo vizioso tra debiti sovrani e debiti privati che è alla base della patologia della moneta unica. www.corriere.it [30. 06. 2012] (119) A Deauville, nell’ottobre del 2010, Merkel e Sarkozy fecero l’errore di coinvolgere i privati nella crisi greca e da lì il contagio sui mercati fu inarrestabile. www.corriere.it [30. 06. 2012] Die Finanzkrise als Tabu-Thema 333 (120) Insomma, una manna dal cielo per Angela Merkel: cosa poteva servirle di più per dimostrare, alla vigilia del vertice, che il morbo della moneta unica s’annida tra le spiagge del Mediterraneo? www.lastampa.it [28. 06. 2012] (121) Quasi tutti, a parte gli inglesi che all’agonia del vecchio euro guardano dall’alto della loro sterlina, concordano sulla necessità di una rifondazione monetaria; non tutti concordano invece sui tempi e sul dosaggio della formula. www.lastampa.it [28. 06. 2012] (122) Il più grave è il male italiano. www.repubblica.it [02. 07. 2012] (123) Parole che dicono quanto la febbre europea resti sempre troppo alta. ‘Le decisioni del vertice riducono il contagio nell’eurozona’ www.ilsole24ore.com [04. 07. 2012] (124) Questa volta a Bruxelles in gioco non c’è solo il destino dell’euro e il rilancio dell’economia europea in catalessi. www.ilsole24ore.com [28. 06. 2012] (125) Forse, il dato diffuso poco prima, sulla disoccupazione ora in aumento anche in Germania, le aveva indicato che anche la superpotenza economica d’Europa non è immune alla crisi. www. ilsole24ore.com [29. 06. 2012] Aber wo Krankheit ist, ist auch Heilung, hofft man. Die Metapher assoziiert freilich nicht nur die heilende Hand des Arztes, sondern auch das verfallende Haus, das marode Stadtviertel, das der Sanierung bedarf. (126) Spanien pochte in den ausgesprochen zähen Verhandlungen auf direkte Finanzspritzen der europäischen Rettungsfonds für marode Banken im Land. www.welt.de [29. 06. 2012] (127) Das Land schreckte bislang aus Angst vor harten Auflagen vor dem Griff zum Euro-Tropf zurück. www.sueddeutsche.de [29. 06. 2012] (128) Man darf aber nicht vergessen, dass es andere Länder wie Irland, Italien, Spanien und Portugal gibt, die von der Krise angesteckt wurden und daraufhin ihre Haushälter zu sanieren angefangen haben. www.zeit.de [28. 06. 2012] (129) Dieses soll den Kurs der Haushaltssanierung flankieren. www.sueddeutsche.de [28. 06. 2012] (130) Deutschland wollte lieber dem spanischen Staat Kredite geben, damit er damit seine Banken saniert. www.zeit.de [29. 06. 2012] (131) Per questo ci devono essere misure che assicurino che non ci siano contagi nell’eurozona. www.repubblica.it [28. 06. 2012] (132) [. . .] i previsti aiuti alle banche spagnole sono un salasso da circa 100 miliardi che va ad aggiungersi all’assistenza già fornita a Grecia, Irlanda e Portogallo. www.ilsole24ore.com [04. 07. 2012] (133) Sarà da vedere a quali ricette terapeutiche tenteranno di ricorrere, per la cura del morbo, i Paesi più importanti dell’eurozona infetta e ormai minacciata nella sua stessa sopravvivenza. www.lastampa.it [28. 06. 2012] Sowohl die deutsche als auch die italienische Presse beschreiben oft die Krise als Rechnung, die der Bevölkerung präsentiert werde. (134) Wir haben auf Kosten kommender Generationen gut gelebt. www.welt.de [28. 06. 2012] (135) Italien und Spanien zahlen einen kleinen Preis. www.sueddeutsche.de [29. 06. 2012] (136) (Monti) hat keinen Rabatt erbeten. www.welt.de [28. 06. 2012] (137) Es geht nicht um Rabatte für die schwächeren Problemländer. www.welt.de [28. 06. 2012] (138) Als gäbe es nur das Heute und kein Morgen, setzte man überall auf einen Wohlstand, der mit Schulden erkauft wurde. www.welt.de [28. 06. 2012] (139) EU-Kreise rechneten mit einer Einigung über die Bankenunion mit europäischer Bankenaufsicht und mit kurzfristigen Maßnahmen zur Absicherung der Eurozone. www.sueddeutsche.de [28. 06. 2012] 334 Antonietta Fortunato (Salerno) (140) Per il debito pubblico italiano il conto si fa troppo “salato”. www.ilsole24ore.com [28. 06. 2012] (141) La moneta di scambio per convincere Berlino. www.ilsole24ore.com [28. 06. 2012] Wenn jedoch die bei den Politikern beliebte Metapher von der Krise als ein Weg von der Presse übernommen wird, dann in der Form von ‘Wüste’, ‘Sackgasse’ und ‘via di fuga’, was weit weniger idyllisch klingt. (142) Es geht darum, groß zu denken, symbolische Ziele zu definieren, für die es sich lohnt, die Wüste der Krise zu durchqueren. www.welt.de [28. 06. 2012] (143) Europa befindet sich in einer Sackgasse. www.zeit.de [28. 06. 2012] (144) Das ist [. . .] ein erster Schritt in Richtung Bankenunion. www.sueddeutsche.de [29. 06. 2012] (145) Berlin und Rom präsentieren sich da gemeinsam auf der Reformstraße. www.handelsblatt. com [05. 07. 2012] (146) Il cammino delle riforme, non solo economiche, è ancora lungo. www.corriere.it [30. 06. 2012] (147) [. . .] rende velleitari più o meno tutti i tentativi, francesi, italiani, spagnoli di trovare una via di fuga dai costi iperbolici di rifinanziamento del debito. www.ilsole24ore.com [28. 06. 2012] (148) Un passo avanti sulla strada tracciata dell’unione politica e fiscale. www.corriere.it [30. 06. 2012] Gelegentlich wird die Krise als Feind ausgemacht, den es zu bekämpfen gelte: (149) Kaum ein Anleger erwarte, dass es auf dem Gipfel substanzielle Fortschritte zur Bekämpfung der europäischen Schuldenkrise geben werde, hieß es von Experten. www.sueddeutsche.de [28. 06. 2012] (150) Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten verständigten sich im Kampf gegen die Rezession auf einen Wachstumspakt für mehr Beschäftigung. www.sueddeutsche.de [29. 06. 2012] (151) Die katastrophale Rezession bekämpfen. www.sueddeutsche.de [28. 06. 2012] (152) Die beiden Euro-Wackelkandidaten kämpfen mit hohen Zinsen. www.handelsblatt.com [28. 06. 2012] (153) Spanien und Italien kämpfen mit steigenden Risikoaufschlägen für ihre Staatsanleihen. www.handelsblatt.com [28. 06. 2012] (154) Sul fronte dei conti pubblici, si registra la nuova rassicurazione di Monti: non vi saranno nuove manovre correttive. www.ilsole24ore.com [30. 06. 2012] (155) Dall’altro i meccanismi di stabilizzazione per far fronte alla crisi dei debiti sovrani [. . .]. www.ilsole24ore.com [30. 06. 2012] 4 Schlussbemerkung Für die Tabuforschung ist der Diskurs zur Finanzkrise insofern von Interesse als dessen sprachliche Folgen in einer Fülle von Material direkt beobachtet werden können. Die sprachlichen Mittel der Tabuisierung und Enttabuisierung der Krise wurden hier aus intra- und interkultureller Perspektive untersucht, um die Unterschiede ihrer Bewertung sowohl in den beiden Ländern als auch in den beiden Gruppen von Akteuren (Politiker versus Journalisten) herauszuarbeiten. Ein aufschlussreiches Ergebnis ist, dass obwohl Italien und Deutschland im Drama der Euro-Rettung diametral entgegengesetzte Rollen spielen, die Die Finanzkrise als Tabu-Thema 335 beteiligten Politiker ganz ähnliche sprachliche Strategien einsetzen, um die Finanzkrise als solche zu tabuisieren und ihre Probleme zu verschleiern oder zu verharmlosen. Umgekehrt versuchen die Journalisten aus beiden Ländern trotz entgegengesetzter Interessenlage sowohl in ihren Fragen auf der Pressekonferenz als auch in ihren Online-Artikeln die Tabus zu durchbrechen und die camouflierenden und euphemisierenden Strategien der Politiker zu durchkreuzen. Dazu dient ihnen vor allem das reiche Arsenal der Metaphorik, um im Spiel mit der Dialektik von Licht und Schatten ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken, was die Politiker gern im Dunkeln lassen würden. Daraus kann man schließen, dass der Krisendiskurs grenzüberschreitend die Gruppen der Akteure eint, zwischen den Gruppen aber die Grenze verstärkt, weil er - als Tabuthema - hier eben nur gruppenspezifisch ist, nicht kulturspezifisch. Bibliographie Aarts, Bas et al. (eds.) 2000: Fuzzy Grammar: A Reader, New York: Oxford University Press Arrese, Ángel 2015: “Euro crisis metaphors in the Spanish press”, in: Communication & Society 28.2 (2015): 19-38 Antos, Gerd 2008: “‘Wo Licht ist, ist auch Schatten! ’ Kommunikatives Ausblenden oder: Zur Dialektik von Highlighting und Hiding”, in: Pappert et al. 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Funktionen - Brüche - Inszenierungen: Beiträge des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS), 24.-26. Juni 2005, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt Oder 2006, im Internet unter http: / / semiotik.eu/ kongress2005/ pdf/ schroeder.pdf [01. 10. 2015] http: / / www.sitiarcheologici.palazzochigi.it/ www.governo.it/ aprile%202013/ www.governo.it/ governoinforma/ documenti/ mp3/ monti_merkel_20120704.mp3 [29. 06. 2015] Die Finanzkrise als Tabu-Thema 337 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) Following the refugee crisis 2015 and the terror attacks by Islamists in Europe, there was a media debate in Germany on the yashmaks of female Muslims in Summer 2016, called the burqadebate. Taking this debate as a starting point, the chapter discusses rituals and taboos of religious communities in a secular society. Proceeding from a sociological definition of rituals, the paper then attempts to present a terminological framework for the analysis of taboos in intercultural communication and applies the critical discussion of stereotypical assumptions to the current debate in secular countries in Europe on women wearing a burqa in public. The example furthermore serves for dealing with the problem of asymmetry in taboo discourse and argues for certain revisions of teaching material for the instruction in German as a foreign language with special attention to Muslim refugees. 1 Aus aktuell gegebenem Anlass Im Sommer 2016 flammt nach einer Serie islamistischer Anschläge und Attentate auch in Deutschland eine sog. “Burka-Debatte” wieder auf wie sie ähnlich schon in der Schweiz, in den Niederlanden, in Frankreich oder Belgien und anderen, vor allem osteuropäischen Ländern geführt wurde. Nachdem die “Kopftuch-Debatte” jahrelang den europäischen Migrations-Diskurs geprägt hat (Korteweg & Yurdakul 2016), scheint in Deutschland nach dem zweiten Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts das öffentliche Interesse daran etwas erlahmt. Wir erinnern uns: im ersten sog. Kopftuch-Urteil v. 24. 09. 2003 wurden die Klagen der angehenden muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin abgewiesen, die als Beamtin in den öffentlichen Schuldienst übernommen werden wollte, aber darauf beharrte, im Unterricht ihr Kopftuch als Zeichen Ihrer Religion zu tragen. Für dieses Ziel klagte sie sich durch alle Instanzen, weil die Schulbehörden (in Baden-Württemberg) das Kopftuch als Zeichen “kultureller Desintegration” interpretierten, das mit dem Verfassungsgebot staatlicher Neutralität in Glaubensfragen nicht zu vereinbaren sei, weshalb ihre Einstellung zunächst abgelehnt worden war. Mit Beschluss v. 27. 01. 2015 entschied nun das Bundesverfassungsgericht in einem zweiten Kopftuch-Urteil (zwei Fälle in Nordrhein-Westfalen betreffend), “dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen” durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht vereinbar“ sei (Pressemitteilung Nr. 14/ 2015 vom 13. 03. 2015). 1 Da Lehrer bislang das Recht auf ein Kopftuch für sich nicht reklamiert haben, dürfte das Urteil vor allem 1 https: / / www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/ Pressemitteilungen/ DE/ 2015/ bvg15-014.html [Zugriff: 02. 09. 2016] Lehrerinnen muslimischen Glaubens betreffen. Es stellt damit das Gebot der Glaubensfreiheit über das Gebot der staatlichen Neutralität bzw. das der Trennung von Staat und Religion. Erst eine ”konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens“ könne ein Verbot möglicherweise rechtfertigen. Damit liegt der schwarze Peter bei der jeweiligen Schulleitung. Für einen erklärtermaßen säkularen Staat ist das keine sehr übersichtliche Ausgangslage. Die Debatte hält daher an, hat aber in dem Maße an Fahrt verloren, in dem andere Formen der religiös motivierten Verschleierung ins Blickfeld des öffentlichen Interesses geraten. Nachdem man sich an das Kopftuch im öffentlichen Raum und in staatlichen Kontexten zu gewöhnen beginnt, verlagert sich die Diskussion vom Aspekt der Neutralität zu dem der Sicherheit im Falle der sog. Vollverschleierung. So wie es für manch eine gläubige Muslima ein Tabu wäre, ihren (wahabitischen) Niqab abzulegen, ist es für manch einen Richter tabu, etwa eine Zeugin zu befragen, deren Gesicht er nicht sehen kann, um ihre Mimik zu deuten, oder für einen Grenzpolizisten, den Pass einer (afghanischen) Burqa-Trägerin zu prüfen, oder für einen Taxikunden, sich der Fahrkunst einer Fahrerin im (iranischen) Tschador anzuvertrauen. Die Formenvielfalt der (muslimischen) Verschleierung wird in der sog. ‘Burka-Debatte’ zu einer Variante verkürzt, um die es aber meist gar nicht geht. Erst allmählich bemühen sich die Medien um Differenzierung und rücken entsprechende didaktisch aufbereitete Abbildungen in ihre diesbezüglichen Texte ein (wie z. B. im Spiegel 34 v. 20. 08. 2016: 31): Abb. 1 Wir haben es also mit konfligierenden Tabus zu tun, die religiöse Symbole betreffen oder die zahllosen Rituale, Regeln und Tabus, die jeweils religiös begründet werden (und z. B. die Ernährung betreffen oder die sexuelle Orientierung oder die Beschneidung usw.). Das macht das Thema Schleier als pars pro toto für unseren semiotischen und diskursiven Zusammenhang exemplarisch interessant und zum Gegenstand anhaltender Debatten in der öffentlichen Kommunikation. Für die Feministin Alice Schwarzer war der islamische (Voll-) Schleier immer ein Zeichen für die männliche Unterdrückung der Frau bzw. deren Unterwerfung unter das Patriarchat. Für die Publizistin Khola Maryam Hübsch ist er ein Zeichen für die Freiheit der Frau, ihrer religiösen Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Für die Rechtsanwältin Seyran Ateş ist er ein Zeichen des politischen Kampfes gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Der türkische Journalisten Can Dündar sieht in ihm ein Zeichen des Widerstands gegen den Laizismus und er kritisiert die deutsche “Doppelmoral”, die der Nonne den Schleier erlaube, der Muslima aber nicht (wobei Vergleich hinkt: die Berufskleidung der einen und die Burka der anderen sind nicht einfach gleichzusetzen). 2 2 Alle Belege dazu im August 2016 in der Zeit und im Spiegel sowie bei Maybritt Illner. Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 339 In der Zeit (35 v. 18. 08. 2016) diskutieren Elisabeth Raether und Iris Radisch in ihren Leitartikeln auf der ersten Seite das Für und Wider des in diesem Sommer allenthalben diskutierten ‘Burka-Verbots’: Raether warnt vor dem Paradox, mit einem Verbot Illiberalität besiegen zu wollen, indem man das Prinzip der Liberalität dafür aussetze. Radisch hebt dagegen die symbolische Kraft hervor, die von der Vollverschleierung ausgehe. Die Burka sei das politische Kampf-Zeichen der radikalen Taliban, der Nikab das der Salafisten und Wahabiten; beide hätten mehr mit Fanatismus und Geschlechterapartheid zu tun als mit religiöser Inbrunst. Wer meine, den Vollschleier im Namen des Grundgesetzes verteidigen zu müssen (s. o.), schütze ungewollt jenen Fundamentalismus, der die Grundwerte jenes Landes verachte, in dem seine Anhänger lebten. Radisch erinnert daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst kürzlich “das französische Burka-Verbot mit dem Hinweis auf den berechtigten Schutz eines geordneten menschlichen Zusammenlebens in einer offenen Bürgergesellschaft bestätigt” habe und resümiert: “Das Recht darauf, sein Leben hinter einem Stoffgitter zu verbringen, darf nicht mehr wiegen als das einer freien Gesellschaft, die selbst darüber entscheidet, wie viel rückschrittlichen Fanatismus sie ertragen will.” Aber dafür müsste diese sich mit der enormen Kraft uralter Rituale und strenger Tabus auseinandersetzen. Darf man von religiös oder kulturell geprägten Immigranten erwarten, sich im Namen der Integration von ihren ererbten Ritualen zu befreien, internalisierte Tabus zu verletzen, die vermeintlich ihre kulturelle Identität ausmachen? Stellen wir die Frage zunächst in den größeren Zusammenhang der Frage nach Ritualen und Tabus (und deren zeichenhaften Ausdrucksformen), bevor wir auf sie im Kontext der aktuellen Debatte(n) zurückkommen. 3 2 Rituale, Tabus Wer die Risiken und Gefährdungen, die jedem Versuch kommunikativer Verständigung, interkultureller zumal, innewohnen, zu vermeiden, zu umgehen, zu lindern sucht, dem hilft schon eine gewisse Sensibilität dafür, was zum Beispiel ‘normal’, also gewöhnlich, d. h. dem Gewohnten entsprechend ist und was nicht, was angesprochen werden darf und was lieber nicht, was ‘in Ordnung’ ist, was nicht. Anomie indes, resümiert der Konstanzer Soziologe Hans-Georg Soeffner in seinem Buch mit dem Titel Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, dessen Einleitung ich zum Auftakt diese und die folgenden Hinweise entnehme (Soeffner 2010: 9 f.), Anomie werde seit dem Beginn soziologischen Denkens bei Emile Durkheim als eine der fundamentalen Bedrohungen der Gesellschaft wahrgenommen. Der Autor erinnert an Max Weber, der die zentrale Ordnungsleistung der Kultur darin erkenne, dass sie einen “vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedacht [en] endlich[en] Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens” zu schaffen versuche (Weber 1973: 180); bei Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984) sollten Strukturen der Lebenswelt als gesellschaftliche Ordnungskonstruktionen die ewige 3 Im Folgenden knüpfe ich an Überlegungen an, die ich zuerst bei der Eröffnung eines Colloquiums der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 2010 in Kairo entwickelt habe, das dem Thema Zwischen Ritual und Tabu. Interaktionsschemata interkultureller Kommunikation in Sprache und Literatur gewidmet war (cf. Hess- Lüttich et al eds. 2011: 21-42). 340 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) Gefahr des Zusammenbruchs der gewohnten Ordnungen bannen; auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns sei ein Versuch, die ungeordnete Prozesshaftigkeit gesellschaftlicher Entwicklung und menschlicher Kommunikation in ein umfassendes Ordnungsmodell zu zwingen. Es gebe, fährt Soeffner (ibid.) fort, praktisch keinen namhaften soziologischen Theorieentwurf, der der Ordnungsproblematik nicht einen zentralen Stellenwert zuweise. Er argumentiert, eines der vielen Hilfsmittel menschlicher Orientierungsversuche und Ordnungskonstruktionen bestehe in dem Entwurf von Sinnstrukturen, der das Leben mit einem Netzwerk von auf einander verweisenden Chiffren überziehe, diese in symbolische ‘Großformen’ einwebe (Cassirer 1952) und schließlich in einen übergreifenden Mythos einarbeite. Unter Verweis auf die Tradition von Max Weber bis Hans Blumenberg hält Soeffner (2010: 10) fest, dass wir als “Kulturmenschen [. . .], begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen” (Weber 1973: 180), unsere Kultur durch unablässige und beharrliche “Arbeit am Mythos” (Blumenberg 1979) selbst entwürfen, und zwar durch religiöse oder weltanschauliche Großerzählungen, die es uns erlaubten, uns auf sinnhaften Inseln innerhalb der “sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens” (Weber: ibid.) wohnlich einzurichten. Da nun aber weder das individuelle noch das soziale Leben, weder Gemeinschaften noch Gesellschaften eine durchgängige Ordnung aufwiesen, ja selbst die erkennbaren Ordnungen oft einander widersprächen oder miteinander konkurrierten, sei die ‘Arbeit am Mythos’, fährt Soeffner (ibid.) fort, immer zugleich auch die Arbeit am Widerspruch, präziser: an der Zähmung des Widersprüchlichen. Diese Zähmung bediene sich eines Werkzeugs, das in allen Bereichen menschlicher Kommunikation die Widersprüche zu einer, wenn auch in sich widersprüchlichen Einheit zusammenzufügen strebe (griechisch: ςύμβολειν, symbolein). Das aus Widersprüchen zusammengesetzte, sich als ursprüngliche Einheit Gebende, sei das Symbol, seine Gestalt die symbolische Form, das Zeichen, seine Handlungsform aber - das Ritual. Rituale dienen der Regulierung von sozialem Handeln, insofern sie Erwartungen über Ordnungsmuster und Verhaltensschemata festigen sowie Sanktionsmechanismen für regelwidriges und regelkonformes Verhalten bereitstellen. Es sind regelgeleitete Handlungsroutinen, aber die Regeln dafür können nicht durchweg universale Geltung beanspruchen: sie variieren nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen; auch innerhalb einer Gesellschaft gibt es hochgradig gruppen- und situationsspezifische Unterschiede je Alter, Bildungsgrad, Lebensraum, sozialem Geschlecht, sexueller Orientierung, kultureller Sozialisation. Sozialisation und moderne Erziehung verankern Rituale im Routinewissen des Handelnden, das dann zwar noch als Orientierungswissen über die kontextuell angemessene Verwendung sprachlicher Rituale bzw. die Beachtung oder Vermeidung tabuierten Verhaltens vorhanden, als ätiologisches Wissen (d. h. als Wissen über Ursprung und Inhalt der Rituale und Tabus) hingegen verloren gegangen ist. Insofern der Konstruktivismus des Individuums in Wechselwirkung mit seinem jeweiligen gesellschaftlichen Herkommen steht (Wilhelm v. Humboldt), rückt das Interesse an diesen (potentiell dissenten, gar konfliktären) gesellschaftlichen Bedingungen interkulturellen Gemeinschaftshandelns in den Vordergrund. Die daraus möglicherweise folgenden Unterschiede in der kulturellen Prägung von Individuen und ihrer Auslegungen sprachlichen Handelns treten nun besonders deutlich dort zu Tage, wo es zu Regelwidrigkeiten oder Normverletzungen kommt, die die Verständigung aufgrund der (ggf. latenten, coverten, d. h. Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 341 versteckten) Differenzen der in Frage stehenden Normen und Ordnungsschemata ‘problematisch’ werden lässt. Gerade Rituale als zugleich traditionsbildende und ordnungsschaffende routinisierte Handlungen und Tabus als zugleich selektiv wirkende und mit Sanktionen belegte (ggf. unterdrückte) Handlungen, sind symptomatisch für spezifische kulturelle Identitäten und führen im Falle von unterschiedlicher kultureller Prägung zu einem besonders starken Fremdheitserleben. Insoweit Rituale und Tabus sprachlich sedimentiert sind (und oft auch Gegenstand ästhetischer Modellierung), finden sie (außer in der Anthropologie, Ethologie, Ethnographie der Kommunikation) auch in den Textwissenschaften zunehmend Beachtung. Während Rituale als Interaktionsrituale (Erving Goffman) heute etablierter Gegenstand der (empirischen, interkulturellen) Semiotik und Linguistik sind, bleibt die Untersuchung gerade von verbal oder nonverbal manifestierten Tabus (Kommunikationstabus, Sprachtabus und Tabudiskurse) weiterhin Desiderat der Semiotik und Kulturwissenschaften im allgemeinen sowie wie der interkulturellen Germanistik im besonderen. Bei der im Zeichen der Flüchtlingskrise 2015/ 16 alltäglichen Begegnung zwischen fremdsprachigen (fremdkulturellen) Immigranten und muttersprachlichen Einheimischen müssen beide Seiten nicht nur für die Tabus der fremden Kultur - aber auch der eigenen! - sensibilisiert werden, sie sollten auch ein Arsenal an Reparaturmechanismen und Kompensationsstrategien zur Hand haben, um im Falle einer Tabuverletzung dem Abbruch und Scheitern der Kommunikation entgegensteuern zu können. Dies aber führt zu der Frage, welche (sprachlichen) Mittel eine Vermeidung von Tabus oder die kommunikative Bewältigung von Tabubrüchen ermöglichen. Dazu kann auch die verständige Lektüre ihrer literarischen Problematisierung oder die Betrachtung ihrer medialen Inszenierung fruchtbar beitragen. In den letzten Jahren ist bekanntlich die Auseinandersetzung zwischen westlicher und muslimischer Welt in den Vordergrund der gesellschaftlichen Diskurse gerückt. Nicht zuletzt auch durch die Medien ist das Thema im kollektiven Bewusstsein präsent. Die Bemühungen um Verständnis der jeweils anderen Kultur werden, wenn überhaupt, aus einer Position der mutuellen Skepsis initiiert, die sich gerade an der spürbaren Differenz der Rituale, dem oft krass unterschiedlichen Zuschnitt der Tabus entzündet. Rituale finden sich im deutschen wie im muslimisch-arabischen Kontext nicht nur in religiösen Zusammenhängen, sie strukturieren und formalisieren in hohem Maße ganz alltägliche Handlungen. Rituale der (ersten) Begegnung und Routinen des Grüßens erleichtern die Interaktion (cf. Hess-Lüttich 1991, id. & Diallo 2007); vielfach machen sie - als Handlungsroutinen der Höflichkeit (cf. Lüger 1992; Bouchara 2002) - das Zusammenleben überhaupt erst möglich. Freilich lauern schon hier erhebliche Gefahren wechselseitiger Irritation, wenn der Einheimische z. B. den Handschlag als Zeichen der Höflichkeit entbietet und erwartet, während er zugleich für den Muslim gegenüber der Frau, für die Muslima gegenüber dem Mann tabuisiert ist. Das hat, soweit es öffentlich wird, dann sofort heftige Diskussionen in den sozialen Medien zur Folge, wenn etwa Julia Klöckner als prominentes Mitglied des CDU-Vorstands auf das verabredete Gespräch mit einem Imam verzichtet, der ihr den Handschlag unter Verweis auf das religiöse Verbot seines Glaubens verweigert, oder umgekehrt Khola Maryam Hübsch als medienpräsenter Dauergast einschlägiger Talkshows die zum Gruß entbotene Hand der männlichen Mit-Gäste ignoriert, was diese als Zeichen mangelnder Achtung, ja von Missachtung oder gar Verachtung empfinden. 342 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) Als in der Schweiz zwei muslimische Schüler, entsprechend indoktriniert, ihrer Lehrerin plötzlich den Handschlag verweigerten, fand man nach intensiver (auch öffentlicher) Diskussion eine vermeintlich pfiffige Lösung, um das religiöse Tabu der Muslime und das ihm widerstreitende gesellschaftliche Tabu der Diskriminierung von Frauen in der Schweiz miteinander in Einklang zu bringen: die beiden Schüler durften fortan auch ihren männlichen Lehrpersonen nicht mehr die Hand geben. Wenn schon keine Integration, dann wenigstens beiderseitige Gesichtswahrung. Inzwischen sind allerdings 71 % der Schweizer für ein Burka-Verbot nach dem Vorbild Frankreichs, Belgiens oder der Niederlande; seit dem 1. Juli 2016 ist eines im Tessin bereits in Kraft. Dort legt die Kantonsverfassung (nach einer mit 65.4 % angenommenen Initiative) fest: “Niemand darf sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten verhüllen oder verbergen, die allgemein zugänglich sind (ausgenommen Sakralstätten) oder der Erbringung von Publikumsdienstleistungen dienen” (Jäggi 2016: 7). Allerdings ist nirgends von der Burka die Rede, verfassungswidrige Diskriminierung damit vermieden. Der Umgang mit Tabus entzieht sich häufig dem diskursiven Bewusstsein, weil das über sie internalisierte Wissen ihre Handhabung automatisiert. Dass sich die soziale Praxis von Ritualen und Tabus innerhalb einer Kultur - in den durch Mitgliedschaftsausweise generationaler, geschlechtlicher, ideologischer, sozialer, religiöser Zugehörigkeit und sexueller Orientierung definierten Subkulturen und gesellschaftlichen Gruppen - zusätzlich hochkomplex differenziert, macht deren Erforschung sicher nicht einfacher, aber dafür umso reizvoller. Wenn dies schon innerhalb einer Kultur oft von brisanter Bedeutung ist (auch die Rituale und Tabus katholischer, evangelikaler oder orthodoxer Christen geben manchem säkular emanzipierten Mitbürger Rätsel auf), dann erst recht für die Begegnung zwischen Angehörigen deutlich differenter Kulturen aus den deutschsprachigen und arabisch-muslimischen Regionen. Hier stellen sich für den Beobachter von außen wichtige Fragen: Wie manifestieren sich sprachbasierte Rituale? Wie ist von Routineformeln getragenes Ritualhandeln organisiert? Welche Wechselbeziehungen gibt es zwischen Ritualen und Tabus? Warum existiert bei manchen Tabus ein positiver Regelungskreis, der durch ein Ritual vor einem Tabubruch bewahrt (z. B. beim Siezen), bei anderen hingegen nicht? Warum haben Tabus häufig die Form einer Unterdrückung spezifischer verbaler Äußerungen? Was macht Geltungsdifferenzen von Tabus für die jeweils andere Gruppe so schwer erträglich? Wie trägt Sprache in diesen Formen konstruktiv oder destruktiv zur Festigung und Reproduktion sozialer Wirklichkeit bei? Wie werden solche Formen von literarischen Autoren vor dem Hintergrund ihrer (interkulturellen) Kommunikationserfahrung sensibel registriert und ästhetisch modelliert? Wer Antworten auf solche Fragen sucht und sie empirisch zu (er-)gründen sucht, geht Risiken ein, wenn den Beteiligten nicht bewusst ist, dass, indem wir über Tabus räsonieren, wir sie nicht etwa verletzen, da wir als Beobachter zwischen Objekt- und Metaebene strikt zu unterscheiden gelernt haben, d. h. über x reden heißt nicht, x tun. Dies sei aus leider allzu zahlreich gegebenen Anlässen noch einmal mit Nachdruck ins Stammbaum all jener geschrieben, die bei jedem Tabu-Thema (also dem Reden über Tabus) ihre kulturelle oder religiöse Identität attackiert wähnen und die berühmte “Verletzung religiöser Gefühle” beklagen. Mit dem einigermaßen sorgfältig definierten Begriff des Rituals habe ich gleichsam nebenbei den des Tabus eingeführt, noch ohne ihn genauer festzulegen. Unsere Neugier Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 343 beginnt wiederum mit Fragen. Was ist ein Tabu? Warum haben wir Tabus? Welche Arten von Tabus gibt es überhaupt? Wie kann (darf ) ich ein Tabu ansprechen? Wie kann ich eigene oder fremde Tabus überhaupt erkennen und wie soll ich mit ihnen umgehen? Wie kann ich ein Tabu vermitteln? Wie entstehen in interkulturellen Kontaktsituationen Tabubrüche? Wie können sie ggf. ‘repariert’ werden? 3 Was ist ein Tabu? Die bekannteste und bündigste Definition formulierte bekanntlich Sigmund Freud in seinem berühmten Essay Totem und Tabu: “Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben” (Freud 1961 [1912]: 27). Stimmt das eigentlich? Haben Tabus keine Gründe, keine Ursachen? Ist ihre Herkunft nie rekonstruierbar und erklärbar? Entziehen sie sich grundsätzlich ihrer (rationalen) Verstehbarkeit? Ich denke, wir müssen ein wenig genauer hinschauen und uns zunächst noch einmal des Begriffs versichern. Der Ausdruck Tabu bezeichnet nach einer geläufigen Festlegung in einem der Zentren der deutschsprachigen Tabuforschung an der Europa-Universität Viadrina zu Frankfurt an der Oder (i) Gegenstände und Sachverhalte, Taten, Gedanken oder Gefühle, die man meiden soll, (ii) Themen, über die man nicht oder nur in bestimmter Art und Weise sprechen darf: die eben erwähnten Kommunikationstabus, die aber nicht unabhängig von den tabuisierten Gegenständen, Sachverhalten, Taten, Gedanken, Gefühlen existieren (cf. EUV-Frankfurt 2007) Der in Frankfurt/ Oder wirkende Tabuforscher Hartmut Schröder (1999: 1 f.) unterscheidet sodann genauer zwischen verbalen und nonverbalen Tabus: diese beziehen sich auf Handlungen, die verboten sind, jene auf Themen, über die ‘in etikettierter Form’ kommuniziert wird, und auf Ausdrücke, die vermieden werden sollen - kurzum: “(i) was man nicht tut; (ii) worüber man nicht spricht” (Birk & Kaunzner 2009: 400). Tabus dienten nach Klaus-Dieter Felsmann (ed. 2009: 19) dem ‘Selbstschutz’ des einzelnen in der Gesellschaft, der ‘Ordnung’ innerhalb einer (Werte-)Gemeinschaft, der individuellen ‘Selbstkontrolle’ (der Impuls- und der Triebkontrolle), sie determinierten gesellschaftliche Normen (und Abweichungen davon), sie generierten Schamgefühle und hülfen damit, (missbilligte) physische oder seelische Entblößungen, auch Perversionen (oder was ‘man’ dafür hält), zu vermeiden und Freiheiten zu testen (bzw. Zwänge einzuführen, soziale Kontrolle auszuüben, zu sanktionieren, was ‘der Normalität’ zuwiderlaufe). Vom ‘Verbot’ unterscheidet das Tabu, dass das durch es Verbotene nicht thematisiert werden können soll. Wer es dennoch tut, ‘bricht’ es, macht sich des Tabubruchs ‘schuldig’. Ihn zu ‘heilen’, zu reparieren, setzt einige Fertigkeiten wie die vorherige Kenntnis passender Euphemisierungsstrategien (cf. Fortunato, in diesem Band) und einschlägiger Reparaturmechanismen voraus (cf. Schröder 1995: 19). Unbewusste, also nicht taktisch eingesetzte ‘schuldhafte’ Tabubrüche erzeugen Missverständnisse, die innerhalb des bestehenden Kommunikationskreises vertrackterweise nicht verhandelt und aufgeklärt werden können, was manche Konstellation gerade interkultureller Kommunikation konflikthaft verschärfen kann. Der Begriff Tabu, der nach den Expeditionen von James Cook, der den Ausdruck bei einer Expedition 1771 in Tonga aufschnappte, Eingang in den Sprachgebrauch der meisten 344 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) Europäer gefunden hat (cf. Schröder 1995: 15; Hirschberg 1999: 367), stammt bekanntlich aus dem polynesischen ta pu, was zunächst soviel wie ‘außerordentlich’ oder ‘das kräftig Markierte’ bedeutet (cf. Wagner 1991: 17). Die polynesische Gesellschaft hatte vielfältig differenzierte Kulte und ziemlich komplexe Rangordnungen ausgebildet, vieles war ta pu, was ein soziales Verbot oder auch ein individuelles Meidungsgebot bezeichnen konnte (cf. Streck 2000: 252). In einer ursprünglichen Form entstanden Tabus aufgrund der Vorstellung, dass Götter oder Dämonen ‘falsche Handlungen’ bestrafen. Dem Bruch eines Tabus folgten unangemessen hohe Strafen, die man daher tunlichst vermied. Tabus dienten also zunächst dem Schutz vor ‘bösen Mächten’, aber auch der sozialen Regulierung und Sanktionierung, sie verliehen bestimmten Personen damit also auch Druckmittel und Macht (cf. Zöllner 1997: 15 ff.). Andere traditionelle Tabus dienten dem Zweck, vor Krankheit zu schützen, wie das Tabugebot der Meidung von Schweinefleisch im Islam, das darauf zurückzuführen ist, dass diese Fleischsorte in der heißen Sonne leicht verderblich war, was sich in Zeiten moderner Kühlanlagen zwar als Anachronismus erweist, aber, religiös aufgeladen, nichts von seiner sanktionsbewehrten Wirksamkeit eingebüßt hat (cf. Wagner 1991: 15). Der Ursprung solcher Tabus ist oft nicht leicht oder gar nicht mehr rekonstruierbar; viele Tabus sind nicht mehr ohne weiteres auf vermeintliche Gottesgebote oder ritualisierte Moralvorschriften zurückzuführen; sie werden im Wege der Sozialisierung durch Eltern, peers und Gesellschaft erlernt, eingeübt, automatisiert, internalisiert ohne Erklärung, weshalb sie als Teil des Routinewissens kultur- und subkulturspezifisch ausgeprägt sein können; sie stabilisieren soziale Ordnungen und dienen der Sicherung von Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen (cf. Schröder 2002: 1 ff.). Dazu haben sich regelrechte Tabu- Systeme ausgebildet, die indes selbst keine statischen, sondern durchaus dynamische Gebilde sind; sie dienen einerseits der Konservierung intrakultureller Handlungs- und Kommunikationspraxen, andererseits bieten sie durch ihre Sanktionierungsmechanismen Sicherheit und Schutz - oder den Impuls zur Kritik gesellschaftlich überholter oder obsoleter Moral- und Wertvorstellungen und dienen damit in historischer Sicht ex negativo der Erweiterung des Sagbaren (cf. Rothe & Schröder 2005: 9 f.). So unüberschaubar die Vielfalt ihrer historischen und regionalen Ausprägungen, so begrenzt die Auswahl ihrer Themen: Tabu-Systeme beziehen sich im wesentlichen auf Tod und Religion, auf Gesundheit und Krankheit, auf Geld und Sex (cf. Birk & Kaunzner 2009: 400 f.). Diese Themen sedimentieren sich in aus Handlungstabus abgeleiteten Sprachtabus, die tabuisierte Handlungen zu camouflieren und damit abzusichern erlauben. Zöllner (1997) oder Schröder (1999) unterscheiden in systematisierender Absicht (i) Tabus aus Furcht (religiöse Motive, Aberglauben); (ii) Tabus aus Feinfühligkeit (gegenüber Krankheit und Tod); (iii) Tabus aus Anstandsnormen (bezogen auf Sexualität und Körperteile oder -funktionen); (iv) Tabus aus sozialem Kontakt oder ideologischen Prinzipien (“Gleichheit aller Menschen”), die in Gesellschaften mit “hohem Zivilisationsgrad” Geltung heischen (und dort manchmal die Grenzen zur “political correctness” leicht verschwimmen lassen: cf. Holder 2008: 303). In der Praxis sind solche Sortierungen freilich selten durchzuhalten; oft korrelieren z. B. sexuelle Tabus mit religiösen Motiven und umgekehrt, wenn auch in je nach Region, Kultur und Epoche höchst unterschiedlicher Weise (cf. Luchtenberg 1999: 69): was hier oder derzeit als selbstverständlicher Ausdruck sexuellen Variationsreichtums oder individuellen Lebensstils gilt, kann dort oder zu andern Zeiten als ‘wider die Natur des Menschen’ oder ‘Verstoß gegen göttliches Gebot’ gebrandmarkt werden. Einvernehmlich privater Sex unter er- Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 345 wachsenen Männern etwa gilt als ein solches Tabu, dessen Verletzung zu Ausbrüchen von schier unfassbarem Hass führen kann. Für Jusuf al-Karadawi, einen der wichtigsten Islam- Gelehrten der Gegenwart, sind Homosexuelle “abartige Elemente”, die es auszumerzen gelte, bevor die Gesundheit der Gemeinschaft Schaden nehme (cf. Ourghi 2016). Die Tabuisierung von Homosexualität führt zur hypokritischen Leugnung ihrer Existenz in der islamischen Welt (wo sie natürlich nicht weniger verbreitet ist als überall sonst) und zu ihrer Pathologisierung als Symbol eines ‘dekadent-verweichlichten’ Westens. Die zur Rechtfertigung des strengen Urteils angeführten Koranstellen verweisen zumeist auf das Volk Lot, das der verderblichen Lust unter Männern fröne (z. B. 11, 77-83; 15, 58-77; 26, 160-174; 27, 54-58). Christen kennen den Verwurf aus der biblischen Sodom-Erzählung, die zum Namenspatron der berüchtigten ‘Sodomie’ werden sollte, als die katholische Informationsblätter homosexuelle Handlungen im Einklang mit dem biblischen Erkenntnisstand auch heute noch bezeichnen. 4 Wer auf rechten und islamophoben Foren wie “politically incorrect” (www.pi-news.net), die bislang nicht durch besondere Sympathie für Homosexuelle aufgefallen sind, angesichts islamischer Homophobie plötzlich sein Herz für Schwule entdeckt, könnte ebenso gut auch bei (allzu) frommen Christen fündig werden. In seinem Bestseller Der Gotteswahn hat der Evolutionsbiologe Richard Dawkins (2008) exemplarisch Zitate von prominenten amerikanischen Christen wie dem Gründer der Liberty University Jerry Falwell, dem Gründer der Christian Coalition Pat Robertson, dem Präsidenten der Catholics for Christian Political Action Gary Potter oder dem Pastor Fred Phelps von der Westboro Baptist Church gesammelt, die den Unbefangenen genauso das Gruseln lehren wie die inhumanen Verdikte von Muslimen, denn es sei geradezu das “Markenzeichen der glaubensorientierten Moralisten: Sie sorgen sich leidenschaftlich um das, was andere Menschen privat tun (oder sogar denken)” (Dawkins 2008: 402). Die Strukturähnlichkeit homophober Hasspredigten christlicher Missionare in Afrika und muslimischer Imame speist sich aus derselben Quelle: aus dem religiösen Absolutismus - mit nicht selten tödlicher Konsequenz für die Opfer. Wie übrigens um den Tod eines Menschen getrauert wird, unterliegt ebenfalls höchst unterschiedlichen Konventionen (inklusive solchen des Kondolenzverhaltens oder der Kleiderwahl), die zu verletzen mehr oder weniger empfindliche Sanktionen nach sich ziehen kann. Tabus ‘beschweigen’ das nicht (oder noch nicht oder hic et nunc nicht) Sagbare. Wie aber kann man über Tabus sprechen? Tabuthemen betreffen meist zentrale Bereiche menschlichen Lebens, deshalb ist es von elementarer Bedeutung, Wege zu finden, sie zu besprechen. Man sucht nach Ersatzformen. Diese Suche scheint ungeachtet der Stärke der Tabus (und wie immer sanktionsbewehrt sie sein mögen) und der kulturellen Vielfalt ihrer Ausprägungen universal zu sein (cf. Schröder 2002). Es sind die unterschiedlichsten Strategien, die zu einer direkten oder indirekten Kommunikation über ein Tabu führen können: Schweigen, Gesten, Verhüllen, Verschleiern, Andeuten, Umschreiben, Beschönigen (Birk & Kaunzner 2009: 401 ff.). Sprachliche Ersatzformen der Camouflage, der Metapher oder des Euphemismus machen es möglich, über Tabus zu sprechen, ohne einen Tabubruch zu begehen. Diese Möglichkeiten scheinen schier unbegrenzt: Nicole Zöllner (1997) hat zu dem Thema ein über vierhundertseitiges Werk geschrieben, Robert W. Holder (2008) hat ein ganzes Lexikon englischsprachige Euphemismen kompiliert - Fundgruben für Linguisten und sprach- 4 “Als Sodomie im Vollsinn (sodomia perfecta) bezeichnet man die homosexuelle Betätigung (Karl Hörmann: LChM 1969, Sp. 1102 f)”: http: / / www.stjosef.at/ morallexikon/ sodomie.htm [Zugriff: 03. 09. 2016]. 346 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) sensible Autoren auf der Suche nach sprachlichen Mitteln des Ausdrucks dessen, was man meint, nicht ‘sagen’ zu können. Aber auch eine Herausforderung kommunikativer Praxis im Alltag: wer solche Ersatzmittel nicht pragmatisch angemessen (rhetorisch: aptum) einzusetzen vermag, wer unbeholfen den Tabubruch riskiert, wird vom Gegenüber sofort bestraft mit Konflikt, Konfrontation oder Abbruch der Kommunikation. Wer sich seines Tabubruchs bewusst wird, empfindet Scham oder Schuld und sucht nach Reparaturmechanismen (wie z. B. Entschuldigung, Beschwichtigung, Umdeutung, Abschwächung, Selbstironisierung usw.). Ist er sich seines Tabubruchs aber nicht bewusst, wird die Situation eher noch viel komplizierter, was nicht selten geschieht, wenn die Gesprächpartner aus verschiedenen Kulturräumen kommen. 4 Tabus in der interkulturellen Kommunikation Die Komplexität der Probleme interkultureller Kommunikation wird noch einmal potenziert, wenn sie verbunden wird mit den Problemen der Tabu-Kommunikation. Genau das ist unser Thema. In interkulturellen Kontaktsituationen kann es oft dadurch zu Missverständnissen kommen, dass einem Sprecher - mangels interkulturellen Wissens - gar nicht bewusst ist, dass er einen Tabubruch begangen hat. Das vom Hörer daraufhin wenigstens erwartete Schamgefühl tritt daher gar nicht auf, was zu Verwirrung führen kann oder gar zum abrupten Abbruch des Gesprächs (cf. Schröder 1995: 23 f.). Gleichzeitig fällt es aber auch schwer oder es ist gar unmöglich, die Irritation aufzuklären, weil der Hörer den Tabubruch nicht thematisieren kann, eben weil er tabu ist (cf. Luchtenberg 1997: 73): ein klassischer circulus vitiosus, der im Anschluß an Birk & Kaunzner (2009: 402 f.) kurz veranschaulicht sei als ein Problemfall der in diesem Zusammenhang verhandelten Forschungsaufgaben. Wenn ein Sprecher ein kulturspezifisch tabuisiertes Thema ohne konventionelle sprachliche Ersatzmittel anschneidet, begeht er einen Tabubruch, dessen ‘Opfer’ je nach ‘Schwere der Tat’ entsprechend überrascht oder verunsichert, verstört oder empört, beleidigt oder aggressiv reagiert. Wird dem Sprecher sein Fehler daraufhin bewusst, verspürt er, wie gesagt, normalerweise Scham und Schuld: er versucht sich zu entschuldigen oder zu erklären und mit Hilfe eines konventionalisierten Reparaturmechanismus Schlimmeres zu verhüten und Sanktionen zu vermeiden. Der circulus vitiosus wird so unterbrochen (cf. Birk & Kaunzner 2009: 401 f.). Die Bedingung dafür ist Kenntnis der und Verständnis für die im gegebenen Kontext geltenden gesellschaftlichen Regeln. Fehlt indes die Kenntnis dieser Regeln bzw. der konventionell akzeptierten Reparaturmechanismen aufgrund kulturell divergenter Wissensbestände, wird der Sprecher keine Schuld empfinden und seinerseits mit Unverständnis auf die Reaktion des Hörers reagieren, also dessen Verhalten negativ bewerten und das Weite suchen. Der Konflikt nimmt seinen Lauf. Wie lässt sich das vermeiden? Wie erfährt man, was wie angesprochen werden darf? An interkultureller Ratgeberliteratur herrscht bekanntlich kein Mangel. Sie vermittelt die wichtigsten Do’s and Don’ts [oder dos and don’ts], die beachten sollte, wer ein fremdes Land bereist oder mit ausländischen Geschäftspartnern verhandelt. Solche Hinweise können etwa bei internationalen Werbekampagnen nützlich sein, die ‘interlinguale Tabuwörter’ oder interkulturelle Tabu-Gebärden vermeiden möchten, also solche Wörter und Gebärden, deren (graphische bzw. phonische oder gestische) Form in zwei Sprachen bzw. Kulturen mehr oder Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 347 weniger gleich sind, jedoch semantisch oder pragmatisch unterschiedlich sind und in der einen Sprache oder Kultur Tabuiertes bezeichnen, in der andern nicht (cf. Schröder 2002). Als z. B. Ford sein neues Automodell Pinto (Bezeichnung für ein geschecktes Pferd) in Brasilien einführen wollte und das nicht recht funktionierte, mussten die US-Werbeleute lernen, daß Pinto dort ein Slangwort für “tiny male genitals” ist. Oder als eine amerikanische Firma ihr Produkt in Griechenland mit dem gestischen Emblem für ‘okay’ vermarktete, brachen sie zügig die Kampagne ab, als sie schließlich merkten, daß ihr Zeichen (ein aus Daumen und Zeigefinger gebildeter Kreis) dort eine deutlich sexuell konnotierte deftige Beleidigung bedeutet. Die gängigen Ratgeber (insbesondere der Managementliteratur) vermitteln allerdings meist nur verbreitete Stereotypen, die, als wohlfeile Rezeptur zur Anwendung gebracht, vielleicht die gröbsten Missverständnisse verhindern helfen (selbst amerikanische Manager, die immer als erprobte Negativbeispiele mangelnder interkultureller Sensibilität herhalten müssen, vermeiden es mittlerweile, ihren muslimischen Geschäftspartnern den Anblick ihrer Schuhsohlen zuzumuten; umgekehrt gaben urdeutsche Bürger, sonst muslimischer Neigungen unverdächtig, mittels wütend erhobener Schuhe gegenüber dem seinerzeitigen Bundespräsidenten Christian Wulff (“Der Islam gehört zu Deutschland”) ihrem politischmoralischen Furor über die von ihnen als unschicklich empfundenen Geschäftsverstrickungen ihres Staatsoberhauptes gestischen Ausdruck: ein aufschlussreiches interkulturelles Zitat von Tabu-Gebärden in globalisierten Zeiten). Die Tabus einer fremden Kultur wirklich zu verstehen setzt indes umfassenderes Wissen voraus (Birk & Kaunzner 2009: 407): Die Tabus einer fremden Kultur wirklich zu erfassen, bedeutet, ihre Grundwerte und -überzeugungen im Detail zu erfassen, den Sinn der Grenzen, die zwischen Aussprechbarem und Unaussprechlichem gezogen werden, zu begreifen und die von der jeweiligen Gesellschaft vorgesehenen kommunikativen Ersatzmittel zu beherrschen. Erst dann ist es möglich, mit den anderen über Themen wie Sex, Geld, Tod und Religion zu reden. Das Konfliktpotential verschärft sich noch in Fällen ‘divergierender Tabus’. Werte oder Worte, Gegenstände und Sachverhalte können in der einen Sprache oder Kultur tabuisiert sein, während sie in der anderen umgekehrt positiv konnotiert sind oder sogar das eigene Tabu dem des anderen diametral entgegengesetzt ist, d. h. Gebot und Verbot einander gegenüberstehen, etwa das Verhüllungsgebot in der einen Gesellschaft und das sog. Vermummungsverbot (im öffentlichen Raum) in der anderen. Damit komme ich auf die eingangs angesprochene Diskussion über Formen und Funktionen der Verschleierung zurück, die hier als Beispiel für konfligierende gesellschaftlich-religiöse Tabus dienen mag. Die deutsche ‘Burka-Debatte’ des Sommers 2016 (die angesichts der in Deutschland praktisch nicht vertretenen Burka-Trägerinnen eigentlich unter einem etwas irreführenden Etikett geführt wird) hat ihr Vorbild in Frankreich, aber auch in anderen Ländern Westeuropas. Werfen wir zur politischen Einordnung der Debatte abschließend zunächst einen kurzen Blick zurück auf den dort ausgetragenen Streit. 5 5 Bei dieser Rekonstruktion der Vorgeschichte stütze ich mich teilweise auf Material, das Esther Kunz (Bern) in ihrer Bachelorarbeit (Kunz 2010) zusammengetragen hat: ihr sei für die dort kompilierten Hinweise herzlich gedankt. 348 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) 5 Im Zeichen des Schleiers Im laizistischen Frankreich mit seinen traditionell engen Verbindungen mit Nord- und West- Afrika und seinem vergleichsweise hohen Anteil muslimischer Immigranten wurde - nach dem bereits seit 2005 gesetzlich verbotenen Tragen religiöser Zeichen in öffentlichen Schulen (cf. Schenker 2007: 13) - seit Mitte des Jahres 2009 das generelle Verbot der sog. Vollverschleierung im öffentlichen Raum (also in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in öffentlichen Gebäuden wie Rathäusern, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern) intensiv diskutiert. Den bevorstehenden Wahlkampf im Blick verkündete der seinerzeitige französische Präsident Nicolas Sarkozy am 22. Juni 2009 mit ähnlichen Worten wie am 19. August 2016 der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, die ‘Burka’ sei auf dem Territorium der Republik nicht mehr willkommen. 6 Sie verletze die Menschenwürde im allgemeinen und die Rechte der Frauen im besonderen und widerspreche damit den Grundwerten der französischen Republik. Sie sei ein Zeichen für die muslimische Unterdrückung der Frau und überhaupt ein Zeichen für den religiösen Fundamentalismus. Der Ganzkörperschleier sei ein Gefängnis aus Stoff, das die eigene Identität verhülle und jeden sozialen Kontakt erschwere (cf. Ehni 2010; Niewerth 2010; Ulrich 2010). Am 11. April 2011 trat ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das nicht nur innenpolitisch umstritten war, sondern auch ein nicht unerhebliches außenpolitisches Konfliktpotential barg, wie die daran entzündeten diplomatischen Verwicklungen etwa zwischen Frankreich und der Türkei vor Augen geführt haben. Kritische Stimmen gaben damals zu bedenken, dass das (unterstellt) ‘populistische’ Verbot von ungleich wichtigeren Problemen des Landes ablenken solle, dass es der französischen Verfassung widerspreche, die jedem die Entfaltung der persönlichen und religiösen Freiheit garantiere, dass es im übrigen nur eine verschwindende Minderheit von gerade mal 2000 entschlossenen Burka-Trägerinnen betreffe und deren Isolation eher noch zu verstärken drohe (cf. Ehni 2010; Niewerth 2010; Ulrich 2010). Inzwischen ist die Burkabzw. Nikab-Kontrolle ein eingespieltes Ritual: Feststellung der Identität und der Personalien, Verhängung eines Bußgeldes, das dann routinemäßig von dem algerischen Geschäftsmann Rashīd Naqqāz oder seinem zu diesem Zwecke gegründeten Verein “Touche pas à ma constitution” bezahlt wird. Die seither kontrovers geführte Debatte gründet im konfliktträchtigen Gegeneinander divergierender Tabus, das aber m. E. nicht in einen clash of civilizations à la Huntington münden muss, sondern vor allem eine innerhalb der muslimischen Kulturen streitig geführte Auseinandersetzung darstellt mit der Auslegung von Regeln des Korans und Vorschriften islamischen Rechts (Scharia) unter Einschluss von z. T. vorislamisch-gewohnheitsrechtlichen Ritualen (Ehrenmorde, Steinigung, vaginale Beschneidung etc.). Deren Primat gegenüber staatlich verfügtem Recht steht die in vielen Ländern Europas nach Jahrhunderten durchlittener Religionskriege mühsam erkämpfte Trennung von Kirche und Staat entgegen (die allerdings nicht überall konsequent durchgesetzt wurde). Die rechtsphilosophische Be- 6 Hier sinngemäß wiedergegeben gemäß eidgenössischer Berichterstattung u. a. im Hauptstadt-Blatt Der Bund (sam/ ddp 2010). Die Burka-Debatte (in Frankreich, aber auch in Deutschland und Österreich, in Belgien und Dänemark, in den Niederlanden und in der Schweiz) ist natürlich nur ein aktueller Ausschnitt aus der in vielen europäischen Ländern seit etlichen Jahren anhaltenden Diskussion über alle möglichen anderen Verschleierungsformen (cf. Oestreich 2005; Korteweg & Yurdakul 2016; zur ‘Kopftuch-Debatte’ in deutschsprachigen Medien cf. Hess-Lüttich 2009; ). Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 349 gründung ‘westlicher’ Antidiskrimierungsgesetze etwa (z. B. gegen die Benachteiligung von Frauen oder sexuellen Minderheiten) wird sich schwer jemandem erschließen, dem diese als gravierende Verletzung übergeordneten religiösen Rechts erscheinen, was, nota bene, ähnlich auch für die ultraorthodoxen Haredim in Israel, die evangelikalen (‘wiedergeborenen’) Protestanten in den USA, die klerikalkonservativen Katholiken vom Opus Dei, die Partei der Bibelchristen in Deutschland und andere fundamentalistische Sekten und Sektierer gilt. Im Körperdiskurs wird dieser Basiskonflikt unmittelbar anschaulich, wenn das muslimische Patriarchat die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau aus dem überlieferten islamischen Recht ableitet, das es zugleich unhistorisch absolut setzt (obwohl Scharia bekanntlich kein juristisches Normenwerk bezeichnet, sondern als Sammelname gebraucht wird für ein Bündel von Traditionen, Ritualen und Lebensregeln, die in jedem islamischen Land anders interpretiert werden). Das Insgesamt der islamischen Lebensregeln in der Scharia diene dazu, resümiert die gebürtige Perserin Ferideh Akashe-Böhme (2006: 13), die Menschen “vor den teuflischen Versuchungen im irdischen Dasein” zu schützen - ähnlich äußern sich übrigens auch katholische Bischöfe in Deutschland: “Der Teufel lauert hinter jeder Tür”, warnt, zum Beispiel, der Erzbischof von München und Freising Reinhard Marx (2012: 54). Der Umgang mit dem eigenen Körper und die körperliche Beziehung zu anderen Menschen gewönnen dysfunktionales Gewicht gegenüber anderen Lebensbereichen. Der gesamte Genitalbereich etwa sei weitläufig tabuisiert und seine Reinigung speziellem Ritual unterworfen. Ein ‘natürlicher’ Umgang mit dem eigenen Körper im (heutigen) ‘westlichen’ Sinne werde dadurch dämonisiert: jede Berührung tabuisierter Körperzonen sei ‘Verunreinigung’, wobei der Schambereich bei Frauen sich grundsätzlich auf ihren gesamten Körper erstrecke. Die einer magischen Leibpraxis entspringenden Berührungsverbote stünden im “Zusammenhang mit den Einschränkungen der Sexualität, sie verfolgen noch die kleinste leibliche Anmutung durch den anderen Menschen unter dem Verdacht unerlaubter Sexualität” (Akashe-Böhme 2006: 34). Die heute wieder zunehmende Verfolgung von Frauen durch selbsternannte männliche Tugendwächter entspringt dabei weniger einer engen Auslegung des Koran (oder der Thora oder der Bibel), sondern eher einer eigentlich therapiebedürftigen sexualpathologischen Phantasie der Fundamentalisten. Selbst das unbefangene Blickverhalten unterliegt asymmetrischer Regulierung: während die Frau sich vor den frei schweifenden Blicken der Männer durch Verhüllung schützen müsse, seien diese umgekehrt auch unverhüllt vor den Frauen sicher, die ihren Blick schamhaft senken müssten, sowie sie eines Mannes gewahr würden: das strikte Reglement unterstellt nach Akashe-Böhme (2006: 37 f.) die Allgegenwart männlichen Begehrens [. . .] als eine unveränderliche Naturtatsache. Die Männer brauchen sich keinen Zwang anzutun. Der Notwendigkeit, den Umgang der Geschlechter miteinander im öffentlichen Raum zu entsexualisieren, wird einseitig zu Lasten der Frau entsprochen. Faktisch ist jedoch das, was die Frauen durch Verhüllung zu leisten haben, ein Schutz der Männer. Denn es wird unterstellt, dass die Frauen durch ihre pure weibliche Erscheinung für die Männer eine unerträgliche Beunruhigung darstellen, also Fitna, das heißt, Chaos, Aufruhr, Verführung verursachen. Der Schleierzwang erweist sich damit als Maßnahme zur Domestizierung der Frau, als Mittel ihrer Unterdrückung im öffentlichen Raum. Dies aber missachtet im ‘westlichen’ Verständnis die unverbrüchlichen Rechte zur freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit und widerspricht damit diametral allen - nach der historischen Anstrengung zur Befreiung des Rechts aus dem Korsett der Religion - 350 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) mittlerweile errungenen Verfassungsgrundsätzen des Schutzes vor Diskriminierung, deren Verletzung durch (strenggläubige) Muslime genauso einen Tabubruch darstellt wie diese umgekehrt den Anspruch auf Respekt vor ihren Tabus geltend machen. Ein echtes Dilemma divergierender Tabus mit gleich starken Geltungsansprüchen, nur dass sie sich auf der einen Seite auf Menschen- und Verfassungsrechte, auf der andern auf Religion und Tradition berufen. Zwischen beiden scheint eine argumentative Vermittlung etwa auf der Basis Habermasscher Diskursmodelle kaum denkbar, da deren Bedingung herrschaftsfreier Rationalität nicht gegeben ist, solange Tabus im Spiele sind, die ihrerseits nicht hinterfragt werden (dürfen). Was hilft die argumentative Rechtfertigung verfassungsrechtlicher Errungenschaften, wenn schon deren Prämissen nicht akzeptiert werden? Aber sollen sie relativiert oder gar dispensiert werden, um in ihren Tabus und Traditionen gefangenen Muslimen (oder Fundamentalisten gleich welcher religiösen Schattierung) die Integration und gesellschaftliche Teilhabe in den mittlerweile überwiegend säkular verfassten Gesellschaften Europas zu erleichtern? “Integration ist ein Rätsel. Wer als ‘Fremder’ in einer Gesellschaft ankommen will, muss sich irgendwie einpassen, so die Anforderung. Die Gesellschaft muss ihm dazu Platz und Gelegenheit bieten, das ist die Kehrseite der Bedingung [. . .]” (Oestreich 2005: 173). Aber wenn Tabus so tief in kulturellen Traditionen wurzeln, dass sie als Teil der eigenen Identität erlebt werden, die nicht ohne weiteres ablegen kann (oder zu können glaubt), wer in die Fremde zieht (oder ziehen muss)? Ist eine überzeugte Muslima, die ihre Burka subjektiv als Schutz empfindet, besser integriert, sobald sie sich ihrer zu entledigen gezwungen wird? Darf sie umgekehrt Respekt (nicht nur jene Toleranz, die von Indifferenz nicht weit entfernt erscheint) vor ihrem Tabu von denen fordern, die damit ihre eigenen Tabus brechen würden? Der Grundwiderspruch divergierender Tabus ist eine echte Herausforderung interkultureller Kommunikation, die von mutuellem Respekt vor der kulturellen (sexuellen) Identität des Anderen geprägt ist. Wo immer Tabu und Identität sich widersprechen, wo immer sich Menschenrecht und Scharia-Recht wechselseitig ausschließen, geraten Rechtfertigungsdiskurse in den oben beschriebenen circulus vitiosus interkultureller Tabu- Kommunikation (cf. Oestreich 2005: 133). Welches Recht hat höheren Rang: Religionsfreiheit oder Gleichberechtigung? Welches Tabu darf in ihrem Namen gebrochen werden? Soll das Prinzip der Liberalität im Namen der Laizität dispensiert werden? Die Debatte darüber hält an, die deutsche Rechtsprechung ist alles andere als einheitlich, geschweige denn konsequent. Wenn die geläufige Kopftuch-Debatte sich wandelt zur Burka- Debatte, so tritt jedoch ein anderer Aspekt hinzu: der der Sicherheit. Das seit 1985 geltende Vermummungsverbot wurde in Deutschland damit begründet. Es untersagt i. S. v. § 17 Abs. 2 Versammlungsgesetz die Verhüllung z. B. bei Demonstrationen, in Fußballstadien, beim Autofahren, am Bankschalter usw. Die Serie von Anschlägen islamischer Täter hat die Öffentlichkeit für den Sicherheitsaspekt sensibilisiert. Er hat vordergründig den Vorteil, dass der Staat nicht auf religiöser Ebene argumentieren muss, aber auch den Nachteil, dass er in der Praxis weitgehend wirkungslos bleibt, solange schon die geltende Rechtslage nicht durchgesetzt wird und zudem die religiös motivierte Verschleierung von den Proponentinnen ja gerade nicht als Sicherheitsrisiko betrachtet wird, sondern als Zeichen ihres ‘friedliebenden’ Glaubens. Wieder stehen zwei Prinzipien quer zueinander: auf der einen Seite das Sicherheitsbedürfnis vor dem Hintergrund islamistischen Terrors, auf der anderen die gesetzlich geschützte Glaubensfreiheit und Selbstverwirklichung religiöser Minderheiten. Ist argumentative Verständigung darüber möglich, sofern überhaupt erwünscht? Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 351 Die Eigenschaft des Tabus als eines kulturell im Magischen verwurzelten Sprech- und Handlungsverbots erschwert es, unbefangen über es zu sprechen, frei von Emotionen darüber zu verhandeln. Lässt man es also lieber gleich ganz? Diesen Eindruck muss gewinnen, wer die einschlägige Debatte verfolgt oder wer im Zuge der aktuellen Migration und dem dramatisch gestiegenen Bedarf an der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache die gängigen Lehrmaterialien dafür auf Fragen der Tabu-Kommunikation jenseits stereotypisierter Oberflächlichkeiten und wohlfeiler Postulatorik hin durchforstet. Dabei ist das Thema in Zeiten akzelerierender ‘Glokalisierung’ - also dem zunehmenden Bestehen auf lokaler Identität (Stichwort Rechtspopulismus, AfD usw.) gegenüber den Ansprüchen wirtschaftlicher Verflechtung (Stichwort Handelsabkommen à la CETA, TTIP etc.) - und anschwellender Migrationsströme (infolge von Krieg, Armut, Umwelt) aktueller und brisanter denn je. 6 Identität oder Integration? Die ‘Burka-Debatte’ ist nur ein Symptom des Spannungsverhältnisses zwischen Identität und Integration, insofern Flüchtlinge und Immigranten ihre Religion, ihre Tradition und deren tabubewehrten Regelwerke als Teil ihres Selbstbildes zu behaupten suchen, während die Einheimischen von ihnen die Anpassung an europäische Normen und Werte erwarten und einfordern. Konflikte entstehen insbesondere dort, wo diese Normen und Regelwerke eklatant divergieren. Das betrifft keineswegs nur muslimische Flüchtlinge. Die Beschneidungsdebatte etwa führte zu unverhofften Solidarisierungen zwischen Juden und Arabern, als deutsche Gerichte aufgrund medizinischer Probleme die religiös begründete Beschneidungspraxis in Frage stellten. Während der neue geschaffene § 226 a StGB die “Verstümmelung weiblicher Genitalien” unter Strafe stellt, wird der zumindest medizinisch entsprechende Vorgang bei Jungen konsequent ‘Beschneidung’ genannt und in § 1631 d BGB ausdrücklich legalisiert. Juristen sahen darin einen Verstoß gegen das verfassungsmäßige Diskriminierungsverbot: das weibliche Genital sei sakrosankt, das männliche disponibel (so z. B. der Richter am OLG Nürnberg Tonio Walter in Die Zeit 28 v. 04. 07. 2013: 13). Der Sturm der Entrüstung, der anschließend durch den deutschen Blätterwald rauschte, war gewaltig. “Auschwitz! ”, riefen jüdische Autoren, “Islamhasser! ”, die muslimischen. Dabei war die Rechtslage auch vor Einführung der neuen Paragraphen eindeutig, aber diese berührten eben religiöse Tabus, was die nüchterne Erörterung des eigentlichen Sachverhalts endgültig unmöglich machte. Die Liste solcher Beispiele ließe sich angesichts der Fülle divergierender Normen und tabubewehrter Regeln mühelos erweitern (wozu hier nicht der Raum ist). Sie stehen für unsere Ausgangsfrage, auf die wir hier am Beispiel der Verhüllung zurückkommen: Darf man von religiös oder kulturell geprägten Immigranten erwarten, sich im Namen der Integration von ihren ererbten Ritualen zu befreien, internalisierte Tabus zu verletzen, die vermeintlich ihre kulturelle Identität ausmachen? Das Dilemma ist offensichtlich, aber es sollte uns nicht ratlos machen, denn der Handlungsbedarf ist ebenso offensichtlich. Er beginnt mit den endlich politisch beschlossenen Maßnahmen zur behutsamen Heranführung der Flüchtlinge aus anderen Kulturen an europäische Normen und Schaffung der dafür essentiellen Voraussetzung: der Vermittlung sprachlicher Kompetenz. Aus den (mindestens) dreißig Jahre alten Forderungen nach einer theoretisch fundierten und empirisch instrumentierten Erforschung von Konstellationen interkultureller Tabu- 352 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Bern/ Stellenbosch) kommunikation sollte daher m. E. endlich auch die Konsequenz gezogen werden, deren Ergebnisse für die angewandte Dimension kulturwissenschaftlich basierter Fremdsprachenvermittlung fruchtbar zu machen (cf. Hess-Lüttich 1985 [! ]). Ihr Ziel sollte z. B. sein, über die sprachliche Kompetenz hinaus auch Toleranzfähigkeit, sprachliche Sensibilität, Verständigung durch Schweigen etc. zu vermitteln (cf. Schröder 1998). Solche Fähigkeiten erleichtern Reparaturen von Tabubrüchen und helfen potentielle kommunikative Konflikte zu vermeiden. Das müsste weit hinausgehen über die wohlfeilen Rezepturen der Management- und Ratgeberliteratur, die das Memorieren von doand don’t-Listen in interkulturellen Trainings empfehlen, die ohnehin nie vollständig sein können, “zumal dann ja auch die teils noch komplizierteren Reparaturmechanismen miterlernt werden müssten” (Birk & Kaunzner 2009: 410). Exhaustive Inventare über Tabus, Reparaturmechanismen und Euphemisierungsstrategien einer Kultur anzulegen, dürfte also kaum möglich sein. Umso gebotener scheint mir die Ergänzung der schulgemäßen Sprachvermittlung um ein “emotionales und kognitives Lernen” etwa im Sinne des Konzepts von Language Awareness (Luchtenberg 1997: 220 f.) und des Empathie-Ansatzes (Hermanns 2007). Bezogen auf Tabus bedeutet das, sich der eigenen kulturellen Zugehörigkeit bewusst zu werden und sich für die Tabus der Zielsprache informiert zu sensibilisieren. Zur Vermittlung deutscher Sprache und Kultur z. B. an muslimische Immigranten gehört dann m. E. auch, das Ethos liberalen Rechts säkular verfasster Gesellschaften mit unangestrengter Beharrlichkeit zu erklären. Die immer wieder berichtete Rücksichtnahme mancher deutscher Juristen und muslimischer Friedensrichter auf muslimische Maximen patriarchalischer Konfliktbearbeitung ist nicht nur ein Missverständnis von Multikulturalität, sondern ein Rückschritt hinter längst erreichte global-zivilisatorische Maßstäbe und Richtwerte. Ansätze zu einem aufgeklärt-sensiblen Umgang mit Tabus im DaF-Unterricht haben Birk & Kaunzner (2009) entwickelt. In ihrem Modell des “situierten Lernens” (ibid.: 410 ff.) soll der Umgang mit der Überraschung und Verwirrung bei einem Tabubruch systematisch eingeübt werden. Im Unterricht werden dabei konkrete und authentische Situationen betrachtet, die die Lernenden selbst erlebt haben. Dabei ist zu beobachten, dass Studierende typischerweise zunächst fremde Tabus (die der ‘anderen’) zurückgreifen und die der eigenen Kultur kaum ansprechen. Diese Beobachtung hat schon Hartmut Schröder gemacht, als er in einem Experiment Studierenden aufgab, einen Aufsatz über ihre Erfahrungen mit Tabus in ihrer eigenen Kultur und in fremden Kulturen zu schreiben: “Bei der Nennung von Tabus aus der eigenen Kultur meint ein großer Teil der Studierenden, keine persönliche Erfahrung mit Tabus gemacht zu haben, und schildert hauptsächlich Erfahrungen von anderen Personen, womit wahrscheinlich schon eine wichtige Strategie für den Diskurs über Tabus angesprochen ist” (Schröder 1995: 24 f.). Wer dieser Strategie folgte, ginge über Hans-Jürgen Krumms bekanntes (und heute kaum mehr strittiges) Plädoyer für eine Distanzierung des Faches Deutsch als Fremdsprache vom Euro-/ Ethnozentrismus und für dessen konsequent interkulturelle Orientierung hinaus, der gemäß es gelte, “die Entwicklung von Interkulturalität als der Fähigkeit, Verschiedenheit zu akzeptieren, mit Hilfe von Sprache eine neue Kultur zu entdecken und die eigene neu sehen zu lernen” (Krumm 1994: 31), und könnte, im Glücksfalle, kommunikativen Gewinn buchen; er begäbe sich - im Respekt vor den gewiss erhellenden Konfigurationen der Differenz (und durchaus diesseits aller romantischen ‘Multikulti’-Idealisierungen) - z. B. mit dem Humboldt-Preisträger Anil Bhatti auf die Suche nach den Ähnlichkeiten (similarities) in der Diversität (Bhatti 2012: 185): Kultur, Ritual, Tabu - und das Zeichen des Schleiers 353 ‘Ähnlichkeit’ als universalistische Perspektive - verbunden mit ‘Solidarität’ (welche partikularistische Bindungen relativiert, um eine plurikulturelle Kommunikationsgesellschaft zu projizieren) - gewinnt an Bedeutung. Dies bildet einen Gegensatz zur Verabsolutierung der Differenz durch die Homogenisierung. Durch die damit anvisierten plurikulturellen Lebensformen und die entsprechenden Implikationen für Identitätsvorstellungen gewinnt das Konzept der Interkulturalität neue Kontur. Das heißt indessen nicht, die Augen vor den Differenzen zu verschließen. Lern- und Aufnahmebereitschaft der Residenzgesellschaft setzt das Bewusstsein der eigenen Maßstäbe und Richtwerte sowie jene klaren Grenzziehungen voraus, zu denen sich die Politik bislang in Deutschland nie hat durchringen können, was nicht zuletzt den reaktionären Kräften gegenwärtig so beunruhigenden Auftrieb verleiht. Wenn 2015 mehr als 1000 fremdenfeindliche Straftaten registriert wurden und wenn sogar in einem Bundesland, in dem es z. B. gar keine Burka- oder Nikab-Trägerinnen gibt, xenophobe Parteien wie AfD und NPD fast ein Viertel alle Wählerstimmen auf sich vereinigen (wie am 04. 09. 2016 in Mecklenburg- Vorpommern), dann sollte vielleicht auch in Deutschland (wie schon in den umliegenden Ländern) das Religionsprivileg überdacht und so ausgestaltet werden, dass der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit ebenso Rechnung getragen wird wie dem ebenfalls grundgesetzlich verankerten Anspruch staatlicher Neutralität in Glaubensfragen. Daraus folgt m. E. eine für alle Religionen gleichermaßen verbindliche Einhegung ihrer öffentlichen Präsenz als Zeichen der politischen Behauptung eines Bekenntnisses (cf. z. B. Kruzifix-Urteile). Religion ist Privatsache, nicht Sache des Staates. Privat mögen Frauen tragen, was sie wollen; aber im Staatsdienst und bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben sollten Zeichen religiöser Überzeugung nicht als Zeichen politischer Stellungnahme missbraucht werden. Elke Schmitter fordert (im Spiegel 34 v. 27. 08. 2016: 107) die muslimische Frau auf: “Zeige dein Angesicht”, Maske und Schleier gehörten “auf die Bühne, in den Karneval oder zum Banküberfall”. Die Burka sei ein politisches Symbol, bei dem es nicht um Unwohlsein gehe, “sondern um ein System von Macht und Gewalt unter der religiösen Vollverschleierung” (ibid.). Vermittlung von Wissen über Religion dagegen ist sehr wohl Sache des Staates und sollte nicht allein den Religionsgemeinschaften gleich welcher Couleur überlassen bleiben, die die Schüler eines Klassenverbandes zu den Stunden ihrer je eigenen Konfessionen auseinanderreißen und die Fremdheit zwischen ihnen verstärken. Vielmehr gebe es stichhaltige Argumente für einen bildenden statt nur bekennenden Unterricht in Religion, meint der Hallenser Germanist Jürgen Krätzer (in der Zeit 35 v. 18. 08. 2016: 50), eine für alle Schüler verbindliche und gemeinsame Unterweisung, in der historisch-vergleichend die vielfältigen “Spielarten des Glaubens und Unglaubens als Varianten freier Willensentscheidung” vorgeführt werden. Das relativierte vielleicht auch ein wenig die Unbedingtheit der von religiösen Autoritäten eingeforderten Unterwerfung unter ihre jeweilige Doktrin. Deren Behauptung, nur die Furcht vor Gottesstrafe und die Hoffnung auf Belohnung im Jenseits befähige zu ethischem Handeln, würde als Hybris entzaubert. Der eigenverantwortlich Handelnde gewönne eine durch die Einsicht in die dem Maß seines Nicht-Wissens gemäße Demut jene mündige Freiheit, die religiöse Autoritäten so einträchtig bekämpfen, weil sie ihre Macht in Frage stellt. Und die Freiheit verliehe ihm dann auch die Kraft, Rituale auf ihre Rechtfertigung hin zu befragen und die Funktionalität von Tabus kritisch zu prüfen. Die Freude an (selbst) bestimmten Ritualen, der Respekt vor (selbst) akzeptierten Tabus würde dadurch nicht beschränkt. 354 Ernest W. B. 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Forschungsschwerpunkte: sprachliche Konstruktionen der Wirtschaftskrise, Metaphernanalyse, interkulturelle und politische Kommunikation, Mediensprache, Verhandlungsdolmetschen. Wichtigste Publikationen: “L’interpretazione dialogica nella trattativa d’affari: lo studio di un caso”, in: Testi e linguaggi 8 (2014): 131-148 [mit N. Gagliardi]; Fortunato, A. (2015): “Deutschitalienische verdolmetschte Geschäftsverhandlungen: Vorüberlegungen zu einer Form interkultureller Fachkommunikation”, in: Axel Satzger, Lenka Vaňková & Norbert Richard Wolf (eds.) 2015: Fachkommunikation im Wandel. The Changing Landscape of Professional Discourse, Ostrava: Universitas Ostraviensis, 297-312; La Conferenza Stampa in occasione dei vertici intergovernativi: dialogo sulla crisi tra Italia e Germania. Atti del convegno “Lingue, linguaggi e politica” (Padova 27-29 novembre 2014, in Vorb.). Ellen Fricke ist Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale an der Technischen Universität Chemnitz und Ko-Sprecherin der gesamtuniversitären Forschungsprofillinie “Mensch und Technik”. Sie leitet das interdisziplinäre BMBF- Projekt “Hands and Objects in Language, Culture and Technology: Manual Actions at Workplaces between Robotics, Gesture and Product Design” (www.manuact.org), für das sie Hauptantragstellerin war. Zuvor war sie Teilprojektleiterin und Mitantragstellerin des von der Volkswagenstiftung geförderten interdisziplinären Forschungsprojekts “Towards a Grammar of Gesture: Evolution, Brain, and Linguistic Structures” (www.togog.org). Ellen Fricke ist Gründerin der Arbeitsstelle “Sprechwissenschaft und Gestenforschung” an der TU Chemnitz, Mitbegründerin des Berlin Gesture Center und Mitherausgeberin des zweibändigen Handbuchs Body - Language - Communication, das bei De Gruyter Mouton 2013 und 2014 in der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) erschienen ist. Sie ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Semiotik sowie Beirätin der Sektion Sprachwissenschaft und gibt seit 2015 zusammen mit Roland Posner und Martin Siefkes die Zeitschrift für Semiotik (ZSEM) heraus. Weiterführende Informationen unter www.ellenfricke.de. Ernest W. B. Hess-Lüttich (*1949) is Professor emeritus (Berne), Hon.Prof. (TU Berlin), Hon.Prof. Extraordinary (Stellenbosch), Dr.phil. (Philology), Dr.paed. (Social Sciences), Dr. habil. (German, General Linguistics), Dr.h. c. (Budapest). He held academic positions at the universities of London, Bonn, Berlin, Bloomington/ IN, Berne, and was invited as a guest professor or visiting scholar to more than 30 renowned universities around the world. - His main areas of research are dialogue analysis and discourse studies in various fields of theory and application. He has published some 60 books and more than 350 scholarly articles in journals and books. His monographs include books on the foundations of dialogue linguistics, on communication and aesthetics, on semiotics of theatre and drama, on Gerhart Hauptmann, on applied sociology of language, on literary theory and media practice, on German grammar and language use, on urban discourse [in press]. He was (vice) president of various scholarly associations, among them the German Assoc. for Semiotic Studies, Assoc. of Applied Linguistics, Int’l Assoc. of Dialogue Analysis, Assoc. of intercultural German Studies. He is a member of the editorial boards of several journals and book series and of numerous other academic advisory boards, including that of the Austrian Academy of Sciences. Hiloko Kato studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Zürich. Promotion 2015 zum Thema “An den Rändern der Texte”. Mitarbeit im SNF-Projekt “Textualitäten - Theorie und Empirie”. Assistenz und Oberassistenz am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik an der Universität Zürich. Forschungsinteressen in Text- und Medienlinguistik, Game Studies, Systemlinguistik, pragmatischer Linguistik und Kinder- und Jugendmedien. Sabine Krajewski arbeitet als Senior Lecturer für Internationale Kommunikation im Department “Media, Music, Communication and Cultural Studies” an der Macquarie University in Sydney, Australien. Ihr Forschungsinteresse gilt der interkulturellen Kommunikation (Schwerpunkte: Tabu in interkulturellen Kontexten, Machtstrukturen, Migration). Zu ihren Veröffentlichungen zählen Identity Challenged: Taiwanese Women Migrating to Australia. Gender, Place and Culture, London etc.: Sage 2012 (mit Sandra Blumberg); “Developing intercultural competence in multilingual and multicultural student groups”, in: Journal for Research in International Education 10.2 (2011): 137-153; Tabu. Hinhören, Hinsehen, Besprechen, Ort: Kamphausen 2015. Sie verbindet Forschung und Lehre in ihren workshops “cross-cultural communication” und “Taboo - The consequences of tasting forbidden fruit”, die sie im Rahmen des Global Leadership Programme der Macquarie University anbietet. William L. Leap is Professor Emeritus of Anthropology at the American University (Washington DC) and an Affiliate Professor in the Center for Women, Gender and Sexuality Studies at Florida Atlantic University (Boca Raton FL.) He has coordinated the annual Lavender Language Conference since 1993 (www.american.edu/ cas/ anthropology/ lavenderlanguages). He is the founding senior editor of the Journal of Language & Sexuality. His writings about language and sexuality address topics as varied as race/ class inequities, gender differences, language socialization, homophobia/ hate speech, gay pornography, transnational circulations, subaltern geographies, and problems of queer historiography. Key publications include Word’s Out: Gay Men’s English, Public Sex, Gay Space (editor), Speaking in Queer Tongues: Gay Language and Globalization (co-edited with Tom Boellstorff); the widely reprinted essays “Language, socialization and silence in gay adolescence’, ”Queering gay men’s English“, and ”Homophobia as moral geography”: and the forthcoming monograph, Language Before Stonewall. Ulrike Lynn ist promovierte Linguistin im Fachbereich Semiotik. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im interdisziplinären BMBF-Forschungsprojekt “Hands and 360 Autoren / Authors Objects in Language, Culture, and Technology: Manual Actions at Workplaces between Robotics, Gesture, and Product Design” (MANUACT) an der Technischen Universität Chemnitz. Von 2007-2008 war sie Assistant Professor für deutsche Sprache und Kultur an der Shippensburg Universität in Pennsylvania, USA, stellvertretend für den Vorsitzenden des Fachbereichs Deutsche Sprache in der Fakultät für Moderne Sprachen. Ursprünglich Magister-Studentin der Neueren Deutschen Philologie und Philosophie, ist Ulrike Lynns Dissertation, ein Gestenlexikon mit dem Arbeitstitel “Keep in Touch - A Dictionary of Contemporary Physical Contact Gestures in the Mid-Atlantic region of the United States”, in einer kommunikations- und kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik und in der Semiotik verankert. In Berlin wirkte sie zuvor am “Berliner Lexikon der Alltagsgesten” (BLAG) an der Arbeitsstelle für Semiotik an der TU-Berlin mit. Stefan Meier studierte bis 1997 Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Göttingen und Oldenburg. Er absolvierte ein Lehramtsreferendariat und ein Online- Volontariat und arbeitete von 2002 bis 2012 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Medienkommunikation TU Chemnitz. 2007 promovierte er dort zum Thema (Bild-)Diskurse im Netz. Er vertrat 2013-14 die Professur Visuelle Kommunikation an der TU Chemnitz und habilitierte sich 2013 an der Universität Tübingen im Fach Medienwissenschaft zum Thema Visuelle Stile. Forschungsschwerpunkte bilden Visual and Digital Culture, Mediensemiotik, Diskursanalyse, Design- und Medientheorie, qualitative Mediennutzungs- und Designforschung, wichtige Publikationen: Visuelle Stile. Zur Sozialsemiotik visueller Medienkultur und konvergenter Design-Praxis, Bielefeld: transcript 2014; (Bild-) Diskurs im Netz. Konzept und Methode für eine semiotische Diskursanalyse im World Wide Web, Köln: Halem 2008/ 2014; Online-Diskurse. Theorien und Methoden transmedialer Online-Diskursforschung (DGOF), Köln: Halem 2013 [ed. mit Claudia Fraas & Christian Pentzold). Daniel H. Rellstab studierte Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft und evangelische Theologie, promovierte und habilitierte an der Universität Bern. Er arbeitet gegenwärtig als Yliopistonlehtori im internationalen MA-Programm “Intercultural Management and Communication” der Universität Vaasa, Finnland, und ist Privatdozent an der Universität Bern, Schweiz. Seine Forschungsinteressen liegen einerseits im Überschneidungsbereich von Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Migration. So untersucht er in seiner Habilitationsschrift Verständigungsprozesse in kulturell und sprachlich heterogenen Deutsch L2-Klassenzimmern aus multimodal-interaktionaler Perspektive und edierte einen Sammelband mit dem Titel Representations of War, Migration and Refugeehood, der bei Routledge erschienen ist. Er hat andererseits intensiv zu semiotischen Themen geforscht und eine Monografie zu Charles S. Peirce’ Theorie natürlicher Sprache und deren Relevanz für die aktuelle Linguistik verfasst. Weitere Forschungsschwerpunkte, zu denen er eine Reihe von Aufsätzen publiziert hat, sind Sprache und Interaktion unter Jugendlichen, Sprache und Gender und die Geschichte der Linguistik, insbesondere die Geschichte der Pragmatik. Martin Siefkes forscht zu Fragestellungen im Bereich der multimodalen Linguistik, Diskursanalyse und Digital Humanities. Mehrere Publikationen zu Diskursen der deutschen Kolonialmission und zur Völkermordfrage in Deutsch-Südwestafrika; in diesem Kontext erfolgte auch die Edition einer historischen Quelle zur Rolle der Rheinischen Mission beim Autoren / Authors 361 Nama-Herero-Aufstand. 2009 Forschungsaufenthalt am Institut Jean Nicod (École Normale Supérieure) in Paris. Die an der TU Berlin mit summa cum laude abgeschlossene Dissertation wurde 2012 unter dem Titel Stil als Zeichenprozess publiziert und 2014 mit dem Förderpreis der Deutschen Gesellschaft für Semiotik ausgezeichnet. 2011 bis 2013 Forschungsaufenthalt an der Universität IUAV in Venedig, gefördert mit einem Feodor-Lynen-Stipendium der Humboldt-Stiftung. 2014 Rückkehr nach Deutschland mit einem Forschungsprojekt zur Analyse multimodaler Texte an der Universität Bremen. Seit Februar 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Chemnitz, seit August 2015 zudem Mitarbeiter im BMBF- Forschungsprojekt MANUACT (www.manuact.org). Zahlreiche Publikationen in internationalen Fachzeitschriften. Zusammen mit Roland Posner und Ellen Fricke gibt er die Zeitschrift für Semiotik heraus. Ab 2015 Konzeption und Leitung der Sektion Digital Humanities der DGS (gemeinsam mit Ralph Knickmeier). Infos zu aktuellen Forschungsprojekten und Publikationen im Volltext finden sich unter www.siefkes.de. Urszula Topczewska, Assistenzprofessorin am Institut für Angewandte Linguistik an der Universität Warschau, studierte Germanistik an der Katholischen Universität Lublin und der Universität zu Köln sowie Italianistik an der Universität Warschau und der Universität zu Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören linguistische Pragmatik, Diskurssemantik, Narratologie und Übersetzungswissenschaft. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Phraseolexeme in Paulusbriefen und ihre Wiedergabe im Deutschen und im Polnischen anhand ausgewählter Bibelübersetzungen (Wissenschaftlicher Verlag Trier 2004), Leonardo Sciascia - un classico del giallo italiano? (Aracne 2009), Konnotationen oder konventionelle Implikaturen? (Peter Lang 2012), “Kognition-Emotion-Volition. Fritz Hermanns’ Beitrag zur linguistischen Diskursanalyse”, in: Zeitschrift des Verbandes Polnischer Germanisten 1.4 (2012): 386-398, “Entlehnungen im Deutschen zwischen Eleganz und Affektiertheit”, in: Katarzyna Lukas & Izabela Olszewska (eds.), Deutsch im Kontakt und im Kontrast (Peter Lang 2014, 329-339), “Was sind aggressive Sprechakte? Zu Theorie und Methodologie von pragmalinguistischen Untersuchungen zur verbalen Aggression” (im Druck). 362 Autoren / Authors K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autoren / Addresses of Authors Antonietta Fortunato Via Casa Scuoppo 1/ A I-84135 Salerno (SA), Italien fortunatoanto@gmail.com Prof. Dr. Ellen Fricke Technische Universität Chemnitz Institut für Germanistik und Kommunikation Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation D-09107 Chemnitz ellen.fricke@phil.tu-chemnitz.de Prof. em. Dr. Dr. Dr. h. c. Ernest W. B. Hess-Lüttich Institut für Germanistik, Universität Bern Länggass-Str. 49, CH-3012 Bern, Schweiz ernest.hess-luettich@germ.unibe.ch Hon. Prof. Technische Universität Berlin (TUB) Institut für Sprache und Kommunikation Straße des 17. Juni 135, D-10623 Berlin hess-luettich@tu-berlin.de Hon. Prof. Dept. of Modern Foreign Languages Stellenbosch University, Private Bag X1 Stellenbosch 7602/ South Africa Priv.: Winterfeldtstr. 61, D-10781 Berlin hess-luettich@t-online.de Dr. Hiloko Kato Deutsches Seminar Universität Zürich Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich, Schweiz hiloko.kato@ds.uzh.ch Dr. Sabine Krajewski Senior Lecturer Media, Music, Communication and Cultural Studies Level 1, Y3A Building, Balaclava Road Macquarie University, Sydney, NSW 2109, Australia Sabine.krajewski@mq.edu.au Prof. William L. Leap, PhD 3035 NE 5 th Ave Wilton Manors FL 33334, USA wlm@american.edu Dr. Ulrike Lynn Technische Universität Chemnitz Institut für Germanistik und Kommunikation Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation D-09107 Chemnitz ulrike.lynn@phil.tu-chemnitz.de PD Dr. Stefan Meier Universität Tübingen Medienwissenschaft Wilhelmstr. 50 D-72074 Tübingen priv.: Gottschedstraße 23 D-04109 Leipzig stefan.meier@uni-tuebingen.de Doc. Dr. Daniel H. Rellstab Vasaan Yliopisto Filosofinen Tiedekunta Intercultural Management and Communication P. O. Box 500, FIN-65101 Vaasa, Suomi daniel.rellstab@uwasa.fi Dr. Martin Siefkes Technische Universität Chemnitz Institut für Germanistik und Kommunikation Professur Germanistische Sprachwissenschaft, Semiotik und Multimodale Kommunikation D-09107 Chemnitz martin@siefkes.de Ass.Prof. Dr. Urszula Topczewska Instytut Lingwistyki Stosowanej UW ul. Dobra 55, PL-00-312 Warszawa, Polen u.topczewska@uw.edu.pl 364 Anschriften der Autoren / Addresses of Authors Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift KODIKAS/ CODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarzweiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für KODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“. . .”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im SPIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren . . . (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[. . .] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [. . .], Hinzufügungen durch Initialen des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“. . . ‘. . .’ . . .”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [. . .] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u. a.” nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter 366 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15. 01. 2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15. 01. 2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15. 01. 2009] Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 367 Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotation marks “. . .” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn’t make sense; one is taken out of context; one isn’t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘normal’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind . . . (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [. . .], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “. . .‘. . .’ . . .”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from MAVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001, http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15. 01. 09].