Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2016
393-4
An International Journal of Semiotics Vol. 39 · July/ December 2016 · No. 3-4 Editors: Achim Eschbach · Ernest W. B. Hess-Lüttich · Jürgen Trabant Review Editor: Daniel H. Rellstab KODIKAS / CODE is an International Journal of Semiotics and one of the leading European scholarly journals in this field of research. It was founded by Achim Eschbach, Ernest Hess-Lüttich and Jürgen Trabant in order to promote multidisciplinary approaches to the study of sociocultural semiosis in 1979, and has been publishing high quality articles, in-depth reviews, and reports on all aspects of sign processes from historical, theoretical, and empirical perspectives since then. On a regular basis, KODIKAS / CODE also publishes special issues, collections of refereed articles on timely topics, solicited by guest editors. Languages of publication are German, English, and French; all contributions handed in to the editorial board are subject to a peer review process. Please send manuscripts electronically to either of these addresses: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich (Prof. em. University of Berne, Hon. Prof. Tech. Univ. Berlin, Hon. Prof. Univ. of Stellenbosch) / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin / ernest.hess-luettich@germ.unibe.ch, hess-luettich@t-online.de Prof. Dr. Achim Eschbach / Universität Duisburg-Essen / Kommunikationswissenschaft / Universitätsstraße 12 / 45117 Essen / Deutschland / achim.eschbach@uni-due.de Prof. Dr. Jürgen Trabant / Krampasplatz 4b / 14199 Berlin / Deutschland / trabant@zedat.fu-berlin.de Please send books for review to: PD Dr. Daniel H. Rellstab / University of Jyväsykylä / Faculty of Philosophy / Department of Language and Communication / P.O. Box 35 / 40014University of Jyväsykylä / Finland / dahurell@lyu.fi Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich (Hon. Prof. Tech. Univ. Berlin) / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin / ernest.hess-luettich@germ.unibe.ch, hess-luettich@t-online.de Manuscripts should be written according to the Instructions to Authors (see last pages of this issue). Books will be reviewed as circumstances permit. No publication can be returned. An International Journal of Semiotics Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 / 72070 Tübingen / Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 / Fax +49 (07071) 97 97-11 / info@narr.de / www.narr.de / periodicals.narr.de KODIKAS/ CODE An International Journal of Semiotics Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Themenheft / Special Issue Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur. Formen und Funktionen in literatur- und kulturhistorischen Kontexten Beiträge der Sektion Literatur des 14. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. in Tübingen, 23. - 29. September 2014 Herausgegeben von / edited by Jan-Oliver Decker, Andreas Blödorn & Amelie Zimmermann Articles Jan-Oliver Decker Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur aus narratologischer Perspektive: Eine Einführung in den Band und ein Vorschlag zur Analyse und Funktion der Metalepse . . . . . . . . . . . . 205 Christoph Rauen Jenseits der Relevanzphrase - Was Selbstreflexivität in den Literatur- und Kunstwissenschaften leisten kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Michael Buhl Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Stephan Brössel Selbstreflexives Biedermeier: Kunstreflexion und Selbstreferenzialität in Friedrich Theodor Vischers Cordelia (1836) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Magdolna Orosz Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Hans Krah Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität - Krisenbewältigung und Selbstvergewisserung in Marie Luise Kaschnitz Liebe beginnt (1933) . . . . . . . . . . . . . . 291 Ines E. Veauthier Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Ernest W. B. Hess-Lüttich Medialität der Literatur - Textbegriff, Intertextualität, Intermedialität, Hypertextualität, Digitale Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Autoren / Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Anschriften der Autoren / Adresses of authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . . 353 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € , - (special price for private persons € , - ) plus postage. Single copy (double issue) € 8 , - plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. The articles of this issue are available separately on www.narr.de © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P. O. Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISSN 0171-0834 134 104 4 K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur aus narratologischer Perspektive: Eine Einführung in den Band und ein Vorschlag zur Analyse und Funktion der Metalepse Jan-Oliver Decker (Passau) This issue comprises the contributions in literary studies of the section “ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in Literatur, Film und anderen Künsten ” of the 14th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Verstehen und Verständigung ” (Eberhard-Karls- Universität Tübingen, 23. - 29. 09. 2014). Subject of the section were the questions i) how in a semiotic way self-reference and self-reflexivity could be described in literature ii) which function self-reference and self-reflexive narrations could get in the history of literature and in their cultural contexts. Introducing the contributions the relations and problems of self-reference and self-reflexivity in narrative processes will be shown from a point of view that defines literature and film as semiotic systems on a secondary level of meaning constitution (cf. Lotman). The volume is rounded off with a chapter which reflects the mediality of literary texts and aesthetic objects in general. It serves both as a terminological foundation and as a link between this volume and its follow-up on films and computer games by reconstructing the notions of ‘ text ’ in language and literature (in textual linguistics, literary theory, intertextuality), by looking at its use in media theory (intermediality, hypertextuality), and by summarizing the structural and aesthetic implications of Hyperfiction or Digital Poetry. 1 Zur Genese und zum semiotischen Verständnis des Bandes Die hier vorgelegten Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen in der Sektion Literatur auf dem 14. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik mit dem Thema “ Verstehen und Verständigung ” vom 23.-29. September 2014 an der Eberhard-Karls- Universität Tübingen, die sich dem Thema der Selbstbezogenheit in Literatur, Film und Computerspiel gewidmet haben und hier in einem ersten Band zur Selbstreferenz und zur Selbstreflexion in der Literatur erscheinen. 1 Mit dem Thema “ Verstehen und Verständi- 1 Der zweite Band versammelt die Beiträge in der Sektion zu Film und Computerspiel. Als zeichen- und medientheoretisches Verbindungsstück zwischen beiden Bänden figuriert ein abschließender Beitrag zur gung ” werden zwei der zentralen Begriffe in den Theorien und Methodenbildungen der Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft und Germanistik im Besonderen und der Literatur- und Mediensemiotik im Allgemeinen adressiert. Darüber hinaus ist der Begriff des Verstehens Kern einer Geschichte der Hermeneutik im Speziellen und der Auslegung von Texten in allen Disziplinen überhaupt, die Textanalysen ins Zentrum stellen (also neben den Nationalphilologien beispielsweise auch Rechtswissenschaft, Theologie und Philosophie). Verstehen ist in seiner theoriegeschichtlichen Dimension Gegenstand zahlreicher Debatten. 2 Begreift man das Verstehen von literarischen Texten aus einer engeren literatursemiotischen Perspektive operational zunächst vor allem als das Verstehen von semiotisch aus Zeichen konstruierten, materiellen Artefakten, die in einen Kommunikationsprozess eingebunden sind und der Verständigung dienen (cf. für die Literatur Krah 2006; für audiovisuelle Formate Gräf et al. 2011 und Decker/ Krah 2011), dann lässt sich der Umgang mit Texten, ihr Verstehen und die Verständigung über dieses Verstehen zum einen auf das in Kodes regulierte Verhältnis von Zeichensystemen und Zeichenbenutzern herunterbrechen (Pragmatik) und von einem Verstehen von Texten unterscheiden, das zum anderen durch den konkreten Text selbst geleistet wird (Semantik). Für die Semantik von Texten gilt grundlegend, dass literarische und audiovisuelle Texte im Sinne des estnischen Literaturwissenschaftlers Jurij M. Lotman (1993) und auch im Sinne des französischen Kulturwissenschaftlers Roland Barthes (1964) aus primären Zeichensystemen (wie Sprache, Musik, Filmbild usw.) sekundäre semiotische, Modell bildende Zeichensysteme aufbauen. Als sekundäre semiotische Systeme, die ein Modell von Welt aufbauen, übersetzen Texte kulturelles Wissen in mediale Zeichen. In genau dem Maße, in dem Texte als sekundäre semiotische Systeme kulturelles Wissen verarbeiten, ermöglichen sie ihrer Produktionskultur, sich über sich selbst zu verständigen. Sekundäre semiotische Systeme wie Literatur und Film machen auf diese Weise Bedeutungsangebote, die als kulturelle Selbstreproduktion einer Kultur dazu dienen, a) Komplexität zu reduzieren und b) eine Verständigung über Werte und Normen, Mentalitäten und Einstellungen, Probleme einer Kultur und ihre möglichen Lösungen in virtuellen, medialen Probehandlungen vorzunehmen (cf. Titzmann 2003). In genau diesem Sinne leisten die vorliegenden Beiträge semiotisch geleitete Reflexionen von rekonstruierbaren Textbedeutungen, die der Verständigung einer Kultur über ihre zentralen Probleme, Mentalitäten und Ideologien dienen. 2 Selbstreferenz und selbstreflexives Erzählen - ein Problemaufriss Ausgehend von den oben skizzierten, artefaktbasierten Bedeutungspotenzialen und Verstehensangeboten literarischer Texte und erweitert durch erzähltheoretische Fragestellungen untersuchen die hier vorgelegten Beiträge aus semiotischer Perspektive Formen selbstreflexiven Erzählens in der Literatur. Selbstreflexives Erzählen ist dabei zunächst Fundierung eines polykodierten und multimedialen Textbegriffs, der einer Analyse von literarischen (ästhetischen) Produkten gleich welchen Mediums zugrunde gelegt werden kann. 2 Die Heterogenität des Verständnisses von Verstehen zeigt sich schon in der Aufspaltung des Begriffs Hermeneutik in zwei Lemmata und drei Begriffe im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (cf. Weimar 2000 und Figal 2000). 206 Jan-Oliver Decker (Passau) einmal nur neutral als ein Erzählen zu verstehen, das sich selbst im Erzählvorgang als Erzählen thematisiert (cf. Scheffel 1997). Diese Spiegelung des Erzählvorganges im Erzählen selbst lässt sich mit Harald Fricke (2003) als gestufte Iteration begreifen. Semiotisch gesprochen ist unter einer gestuften Iteration nach Fricke die Reproduktion von textuell manifesten Zeichen einer Textebene auf einer anderen Ebene des Textes durch Ableitung oder Variation zu verstehen. Das heißt: Wenn sich die Erzählsituation im Erzählvorgang selbst und damit als Gegenstand des Erzählens im Erzählten spiegelt, dann wird ein Aspekt der Präsentation einer Geschichte selbst zum Inhalt und Thema der Geschichte. Selbstreflexives Erzählen bedeutet also, dass die Sprechsituation eines Textes von ihm selbst zu seiner besprochenen Situation gemacht wird. Zu selbstreflexivem Erzählen in Literatur und Film liegen eine ganze Reihe aktueller methodischer Studien aus narratologischer Perspektive vor. 3 Jedoch bleibt eine semiotisch orientierte Analyse selbstreflexiven Erzählens, die sich semiotischer Analyse- und Beschreibungsinventare als ihrer Methoden bedient, sowohl in der Theorie als auch in der Anwendung bis heute ein Desiderat. Um diese Lücke zu schließen, versuchen die hier vorgelegten Beiträge in einer methodisch geleiteten, vorwiegend narratologischen Herangehensweise Verfahren selbstreflexiven Erzählens - wozu hier auch Formen selbstreferenzieller Bezugnahmen gezählt werden - von der einfachen Spiegelung bis zur Metalepse und zum narrativen Kurzschluss (Genette 2010) in historischen Beispielen semiotisch zu beschreiben und zu erklären. Erst auf einer breiten Basis diachroner und synchroner Studien mit semiotischer Ausrichtung, die an ausgewählten Beispielsanalysen in Literatur, Film und in anderen Medien aus einer semiotischen Perspektive Phänomene selbstreflexiven Erzählens exemplarisch analysieren, ließe sich ein semiotisch orientiertes Beschreibungsinventar multimodaler Selbstreflexion ableiten, das dann auch Funktionen und Reichweiten unterschiedlicher Formen von Selbstthematisierung, Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexion zu beschreiben imstande wäre. Dieses medienübergreifende semiotische Beschreibungsinventar zur semiotischen Analyse selbstreflexiven Erzählens gilt es in einem nächsten Schritt an ausgewählten Beispielen zu etablieren. Darauf ausgerichtet bieten die Beiträge im vorliegenden Band einen vielfältigen, fundierten ersten Überblick. In einem zweiten Schritt erproben dann die Beiträge des Folgebands auf diesem Fundament ein medienübergreifendes semiotisches Beschreibungsinventar für selbstreflexives Erzählen. 3 Selbstreflexion als Selbstvergewisserung - die Beiträge Im Mittelpunkt der Sektion standen im Bereich der Beispielsanalysen vor allem Beiträge, die erzählerische Selbstvergewisserungen individueller und/ oder kollektiver Identität(en) untersucht haben. 3 Cf. zur Selbtsreflexivität in der Literatur beispielsweise Schmid 2005 und Martínez/ Scheffel 2012, cf. zum Film bspw. Grimm 1997 und Kuhn 2013, cf. zur Übertragung literaturwissenschaftlicher Analyseverfahren Wolf 2005. Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 207 So hat sich Christoph Rauen aus einer kritischen Perspektive mit der Methodenreflexion beschäftigt, die sich an selbstreflexivem Erzählen entzündet. Dabei überblickt Rauen in seinem Beitrag neuere Ansätze der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Selbstreflexivität und ihre kritischen Revisionen, die zu Recht inflationäre Verwendungen eines unscharfen Modebegriffs von Selbstreflexivität beanstanden. Unter Rekurs auf kommunikationstheoretische Implikationen und Ansätze - auch in der Nachfolge Niklas Luhmanns - plädiert Rauen für eine theoretisch und historisch differenzierte Analyse von Selbstreflexivität. Dabei sollen gerade nicht universale Typologien entworfen, sondern unter Berücksichtigung der Forschungstradition historisch spezifisch die epistemologischen Bedingungen der Kommunikationsmodi rekonstruiert werden, die für die untersuchten Beispiele und ihre Produktionskultur relevant sind. Solcherart ließen sich nämlich Selbst- und Fremdreferenz, so Rauen, als polares Kontinuum jedes Textes begreifen, anhand deren Verhältnis sich kulturhistorisch spezifisch Funktionen von Selbstreflexivität bestimmen ließen. Rauens These ist dabei in Anlehnung an Katja Mellmann, Selbstreflexivität als kulturhistorisch spezifische Metakommunikation auch über institutionalisierte Kommunikationsmodi von Kommunikation zu begreifen. Solche Untersuchungen könnten dann in einer historischen Konzeptgeschichte die sich wandelnden Funktionen genrespezifischer oder in Literatursystemen dominanter Verhältnisse von Selbst- und Fremdreferenz produktiv auf die Kultur-, Ideen- und Mentalitätsgeschichte rückbeziehen. Den größten Raum nahmen im Bereich der Literaturwissenschaft - ganz im Sinne von Rauen - Beiträge ein, die sich mit einer literatur- und kulturhistorisch spezifischen Konzeption mentalitätsgeschichtlich relevanter Konzepte von Person, Kollektiv und Identität befassen, die in einzelnen, konkreten literarischen Texten/ Korpora durch selbstreflexives Erzählen verunsichert werden. Michael Buhl analysiert beispielsweise Ludwig Tiecks Die verkehrte Welt (1798) im Hinblick auf die zwei miteinander konkurrierenden Konzeptionen einer Kunst als Wert an sich und einer zweckgerichteten Kunst. Buhl arbeitet dabei heraus, dass durch die ironisierende Auflösung der diegetischen Ebenen die zunächst oppositionellen Rollen der Figuren innerhalb des Stückes ebenso einander angenähert werden wie die Funktionen des Schauspielensembles und der Theatermacher sowie der einzelnen Formteile. Auf diese Weise wird der Widerspruch der beiden zunächst disjunkten Kunstkonzeptionen spielerisch perpetuiert und sie als zusammengehörige, polare Komplemente miteinander verschmolzen. Ziel dieses selbstreflexiven ästhetischen Verfahrens ist dabei, eine über Kunst reflektierende Haltung aus dem Stück heraus an die Zuschauerschaft zu transferieren. Damit erweist sich Tiecks verkehrte Welt im Sinne Rauens als Reflexion über die Prämissen und Modi literarischer Kommunikation in der Goethezeit und ihren konkurrierenden Kunstauffassungen zwischen Aufklärung und Romantik. Stephan Brössel identifiziert mit einem ähnlichen Interesse an der Reflexion über die textimmanente Konzeption von Kunst in Friedrich Theodor Vischers Cordelia (1836) die metaphorische Verarbeitung der literarischen Epochen Romantik und Klassik für die Goethezeit auf der Ebene der Figurenkonstellation und der Kunstproduktion (im Text von den Figuren produzierte Malerei und Literatur, insbesondere Lyrik; intertextueller Bezug auf Shakespeares King Lear). Er klassifiziert auf diesen Befunden Cordelia als Metatext, der selbstreflexiv als zentrales Merkmal biedermeierlichen Selbstverständnisses im Scheitern 208 Jan-Oliver Decker (Passau) der Liebesbeziehung auf der Figurenebene auch ein Scheitern der Kunstkonzeptionen verhandelt. Dabei kann die Kunstproduktion gerade nicht die Defizite kompensieren, welche die Figuren in ihren Paarbildungsprozessen aufweisen. Im Ergebnis konstatiert Brössel, dass Cordelia damit selbstreferenziell ein Scheitern in der Suche nach einer eigenständigen Kunstkonzeption thematisiert, welche erfolglos anstrebt, die Goethezeit zu überwinden und damit paradigmatisch die Merkmale eines Literatursystems Biedermeier erfüllt. Magdolna Orosz untersucht anhand der Referenzen a) zwischen textinterner Fiktion und Produktionskultur, b) zwischen den syntaktischen und semantischen Beziehungen der erzählten Welt und ihrer Erzählung sowie c) den textinternen Bezugnahmen auf den Prozess der Hervorbringung der Narration Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/ 1933/ 1943), Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und Schnitzlers Der letzte Brief eines Literaten (1917/ 1932) als drei repräsentative Beispiele für den Roman der Frühen Moderne im Hinblick auf die Funktionalisierung selbstreflexiven Erzählens. Dabei gelangt Orosz detailliert zu dem Befund, dass im Spiel mit traditionellen Erzählformen durch metanarrative und selbstreflexive Verfahren das Erzählen selber als zum Teil radikal subjektivierte und unzuverlässige Konstruktion als Epochenmerkmal der Frühen Moderne thematisch wird. Hans Krah interessiert sich für den Übergang zwischen Früher Moderne und NS- Literatur und weist in Marie Luise Kaschnitz ’ Erstlingsroman Liebe beginnt (1933) bisher nicht in der Forschung gesehene faschistische Ideologeme nach: Unter Rekurs u. a. auch auf antisemitische Stereotype und unter der Oberfläche einer nur vermeintlichen weiblichen Emanzipation in einem nur scheinbar selbst bestimmten Erzählakt etabliert der Text auf der Basis des frühmodernen Weg-Umweg-Ziel-Modells der Reise zu sich selber die Norm biologischer Mutterschaft als Dienst an Vaterland und Kollektivgemeinschaft, die eine erotische Paarbeziehung als Wert an sich überwindet. Besondere Bedeutung kommt dabei dem weiblichen Schreibakt zu, der selbstreflexiv der Bewältigung der in der Fremde erfahrenen Krise und der Hervorbringung kollektiver Wertvorstellungen vom Opfer für den höheren Wert des Lebens und seiner Annahme als Eigenes dient. Damit werden frühmoderne Elemente des Erzählens und des Erzählten am Ende der Frühen Moderne in Elemente der NS-Literatur transformiert. Ines Veauthier untersucht schließlich die Macht imaginärer Bilder und Vorstellungen der Hauptfiguren und kultureller Images in Ana Castillos So far from God (1993). Dabei weist sie nach, dass die Grenzen zwischen verbalen und visuellen sowie vorgestellten und realen Welten performativ sowohl durch die Hauptfigur als auch durch die Erzählerstimme aufgelöst werden. Diese Entgrenzungen erlauben selbstreflexiv die Vernetzung sub- und teilkultureller Topoi der Chicano-Kultur (insbesondere Vaqueros, Charros, La Malogra, La Llorona, La Malinche) mit der literarischen Fiktion und ermöglichen so gleichzeitig ihr Beglaubigung durch die Evidenz der erzählten Geschichte und die imaginäre Gemeinschaft zwischen adressierter Leserschaft und beobachtender, aber unbestimmt bleibender Erzählerstimme. In einem größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang hat die Sektion hiermit vor allem Beiträge zu konkreten literarischen Fallbeispielen vorgelegt, die aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mentalitätsgeschichtliche Funktionen selbstreflexiven Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 209 Erzählens erläutern. Nicht zufällig zeigen dabei auch die hier vorgelegten Beiträge den in der Forschung bereits breit belegten Befund, dass literaturgeschichtliche Schwerpunkte selbstreflexiven Erzählens in der Romantik und in der (Frühen) Moderne zu finden sind (cf. Scheffel 1997). Beides sicher Epochen des Übergangs und Wandels zwischen stabilen Literatursystemen, die sich auf sich selber beziehen, um sich in einer Systemkrise über sich selber als Kunst und die Funktionen von Kunst im Verhältnis zu einer relativierten Realität zu vergewissern. Ernest W. B. Hess-Lüttich rundet den Band ab mit einem Beitrag zur begriffssystematischen Fundierung der Analyse ästhetischer ‘ Texte ’ gleich welcher Medialität, der zugleich als zeichen- und medientheoretisches Verbindungsstück zwischen diesem Band und seinem Folgeband figuriert (Anm. 1). Nach einem kurzen Rückblick auf die Forschungsgeschichte der Reflexion auf die Medialität des (literarischen) Textes versichert sich der Beitrag zunächst des begrifflichen Fundamentes, indem er die Textbegriffe der Sprach- und Literaturwissenschaft rekonstruiert (Textlinguistik, Literaturtheorie, Intertextualitätstheorie), dann ihren Gebrauch in den Medien(text)wissenschaften betrachtet (Intermedialität, Hypertextualität) und - als Voraussetzung von Hyperfiction - die Entwicklung des Hypertext-Konzeptes in genetischer, struktureller und ästhetischer Perspektive nachzeichnet. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf Ansätze der Digitalen Poesie (Netzliteratur, Hyperfiction, Cyberfiction). 4 Selbstreflexives Erzählen als Krisenbewältigung und das Konzept des Anderen Wie sich in den einzelnen Beiträgen zu konkreten literarischen Beispielen gezeigt hat, dient selbstreflexives Erzählen oft dem Prozess einer Selbstvergewisserung in einer Krise und führt damit den Konflikt zweier Systemzustände sowohl auf der Ebene der besprochenen Situation als auch auf der Ebene der Sprech- und Erzählsituation vor: Ein altes, gegebenes System wird als defizitär empfunden, ein neues angestrebtes System ist noch nicht gefunden. Selbstreflexives Erzählen wird hierbei zu einer besonderen Form der Krisenbewältigung und der Verständigung über Krisen und Phasen des Wechsels in der Vorstellung vom Eigenen, Anderen und Fremden. Im Folgenden möchte ich diesen Aspekt an zwei literarischen Beispielen selber noch einmal näher betrachten und insbesondere das in der Narratologie breit diskutierte Konzept der Metalepse differenziert beleuchten und hier einen neuen Vorschlag in die Debatte einbringen. 4 4.1 Tzvetan Todorov: Identität - Alterität - Alienität (Tzvetan Todorov 1985) hat in seiner Studie Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen einen kulturwissenschaftlichen Rahmen für Probleme kollektiver Identitätsbildung formuliert: Nach Todorov bilden sich kollektive und gleichermaßen personale Identität nur dann aus, wenn sich das Ich oder das Kollektiv der Herausforderung durch ein Anderes gegenüber gestellt sieht. In diesem differenzlogischen Denken bildet sich nur durch Abgrenzung zum anderen, das man individuell oder kollektiv bewusst gerade nicht 4 Vergleiche zur Produktivität der Analyse von Metalepsen den Sammelband zur Metalepse in der Populärkultur von Kukkonen/ Klimek 2011. 210 Jan-Oliver Decker (Passau) ist, überhaupt erst ein Verständnis von sich selbst als ein mit sich selbst identisches Eigenes aus. Da das Andere also eine notwendige Bedingung für eine permanent prozessual erfolgende Identitätsbildung ist, ist das Andere nicht per se etwas, das als fremd, als nicht zum Ich gehörig, abgespalten werden muss. Todorov unterscheidet dabei drei Ebenen des Kontaktes zwischen dem Eigenen und dem Anderen: Unter der a) axeologischen Ebene versteht Tododorv die kulturellen Werte und Normen, welche die Beurteilung des Anderen als Anderes leiten; die b) praxeologische Ebene ist der konkret erfolgende, reale Kontakt des Eigenen mit dem Anderen, also der Fall; mit der c) epistemologischen Ebene bezeichnet Todorov die Frage der Sichtbarkeit, Erkenntnis und Markierung des Anderen, also seine kommunikative Funktion und seine Zeichenfunktion. An der Peripherie des Eigenen kann das Andere als das Andere dabei durchaus eine Existenzberechtigung haben, um als Grenzphänomen die Identität im Zentrum des Eigenen zu konstituieren. Darüber hinaus kann es aber auch ein Anderes geben, das als Fremdes abgespalten und ausgegrenzt werden muss. DieTilgung des Fremden wird hier also in Kauf genommen oder angestrebt, weil das Fremde das Eigene in seinen Werten und Normen konkret im Kontakt und in seiner zeichenhaften Repräsentation fundamental bedroht. 4.2 Erzählmodell des Anderen Mir soll es im nun Folgenden anhand meiner zwei Beispiele um ein selbstreflexives Erzählen gehen, das Prozessen der Selbstvergewisserung dient, um sich selbst zu verstehen und eine Sprache der Verständigung über das eigene Selbst zu finden. Ich habe meine beiden Beispiele so ausgewählt, dass sie mehr oder weniger genau einem Erzählmodell entsprechen: Durch ein Anderes, das im Inneren der Person oder einer sozialen Struktur auftaucht oder durch ein Anderes, das von außen kommt, gelangt ein Ich in eine Krise. Das Andere katalysiert in dieser Krise einen Prozess der Selbstvergewisserung in Form eines selbstreflexiven Erzählens. Funktion dieses selbstreflexiven Erzählens ist dabei, den Konflikt zweier Systemzustände vorzuführen. Ein altes, gegebenes System wird als defizitär empfunden, ein neues angestrebtes System ist noch nicht gefunden. Neben einer ins Fließen geratenen personalen Identität haben wir es in beiden Beispielen auch mit der Konkurrenz mindestens zweier Systemzustände zu tun. Diese konkurrierenden Systemzustände finden sich nicht nur in der besprochenen Situation, also in der dargestellten Welt, sondern auch als selbstreflexives Erzählen auf der Ebene der Erzählsituation, der Präsentation und Hervorbringung der Geschichte, selbst. Der jeweils männliche Protagonist meiner beiden Beispiele beginnt einen Prozess des selbstreflexiven Erzählens, um sich selbst zu verstehen und sich dadurch selbst neu als Ich zu finden. Selbstreflexives Erzählen wird hierbei zu einer besonderen Form der Krisenbewältigung und der Verständigung über Krise und Phasen des Wechsels in der Vorstellung des Eigenen, des Anderen und des Fremden. In meinem ersten Beispiel scheitert die Selbstfindung. In meinem zweiten Beispiel gelingt sie. Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 211 4.3 Selbstreflexives Erzählen und scheiternde Selbstfindung in Der Steppenwolf (Hermann Hesse 1927) Der Steppenwolf erzählt bekanntermaßen die Geschichte des ehemaligen Journalisten, Privatgelehrten und Bohemien Harry Haller, der sich nicht von seinem kleinbürgerlichen Herkunftsmilieu lösen kann, unter dem er leidet. 5 Haller strebt aber zumindest in seinen Aufzeichnungen und literarischen Versuchen eine Überwindung der bürgerlichen Anteile seiner Person an. Das erzählende Ich Haller ist in eine Krise geraten, in der er Anteile seines Ichs, die Steppenwolf-Persönlichkeit, als ein Anderes im Todorovschen Sinne begreift, das seine personale Integrität und Identität bedroht und das er als Fremdes von seinem bewussten Ich abspalten möchte. Weil Haller aber mit dem Steppenwolf auch die ihm nicht voll bewussten Anteile seiner eigentlich Glück und sinnliche Erfüllung versprechenden Triebnatur ablehnt, droht ihm der Selbstverlust. In dieser Situation kommt es zu einer Art Selbstbegegnung mit seinem weiblichen Alter ego Hermine. Hermine und ihre Gehilfin Maria lehren Haller das bewusste Zulassen seiner Triebe und das Ausloten bisher verborgener erotischer, aber auch künstlerischer Persönlichkeitspotenziale. Doch Harry kann die letzte Grenze zu einem neuen Ich nicht überwinden: Als Hermine ihre Ermordung durch Haller fordert, verweigert er diesen Liebesdienst. Als er sie jedoch aus Eifersucht ersticht, weil sie mit einem anderen intim gewesen ist, offenbart sich in seinem Persönlichkeitskern die im Sozialisationsprozess angeeignete, bürgerliche Moral. Diese bürgerliche Moral wird gerade nicht überwunden. Auch eine im Drogenrausch imaginierte, also rein virtuelle, bisexuelle Orgie hat der prüde Haller zuvor verweigert. Diese Altherrenfantasie auf der Ebene der erzählten Geschichte wäre nicht weiter interessant, würde sie nicht im Gewand eines selbstreflexiven Erzählexperimentes daher kommen: Harry Haller versucht sich in seinen “ nur für Verrückte ” als Leser ausgewiesenen Aufzeichnungen selber zu finden, er verliert sich aber im magischen Theater der miteinander in einem narrativen Kurzschluss verwobenen Erzählebenen. In einer Wand tut sich die Tür zu einem magischen Theater auf, in dessen Umfeld Haller ein Traktat über den Steppenwolf bekommt, das merkwürdigerweise seine individuelle Psyche durchleuchtet. Innerhalb des magischen Theaters schlüpft Haller dann in verschiedene Aspekte seiner Person und lebt unterschiedliche Persönlichkeitsanteile aus. Am Ende entpuppt sich jedoch das als Steppenwolf-Identität wahrgenommene Andere, das eigentlich abgespalten werden soll, als eigentliches Eigenes, als Kern von Hallers Identität. Das erzählerische Spiel mit den Figuren im magischen Theater und den literarischen Figuren als Repräsentanten der Persönlichkeitsanteile wird beendet. Die Karten werden neu gemischt. Das Spiel muss von vorne beginnen, weil dieser eine selbstreflexive erzählerische Versuch der Selbstfindung missglückt ist. Hermine verzwergt, wie es heißt, zur Spielfigur und dann erkennt Haller auf einer nach Todorov epistemologischen Ebene, das das Spiel mit dem Anderen der Ausdifferenzierung seines Ich galt: Oh, ich begriff alles, [. . .] wusste alle hunderttausend Figuren des Lebensspiels in meiner Tasche, ahnte erschüttert den Sinn, war gewillt das Spiel nochmals zu beginnen, seine Qualen nochmals zu kosten, vor seinem Unsinn nochmals zu schaudern, die Hölle meines Innern nochmals und oft zu 5 Cf. zum Folgenden Decker 2006. 212 Jan-Oliver Decker (Passau) durchwandern. Einmal würde ich das Figurenspiel besser spielen. Einmal würde ich das Lachen lernen. [. . .] (Hesse 1974: 278). Der literarisch fixierte Prozess des selbstreflexiven Erzählens wird hier als Lebenshilfe semantisiert, der immer wieder von vorne begonnen werden kann. Auf diese Weise wird hier das selbstreflexive Erzählen zu einer Lösungsstrategie stilisiert, die sich vom konkret geschilderten Fall in der dargestellten Welt prinzipiell entkoppelt. Das selbstreflexive literarische Erzählen wird potenziell zum Selbstzweck mit dem Sinn, Selbstvergewisserung nicht nur darzustellen, sondern Selbstvergewisserung als solche zu sein. Damit lässt sich hier im Text eine Verlagerung weg von der Dominanz des Erzählten hin zur Dominanz des experimentellen Erzählens beobachten, der typisch für die Literatur der Frühen Moderne ist. 4.4 Selbstreflexives Erzählen und gelingende Selbstfindung in Die unendliche Geschichte (Michael Ende 1979) Ähnlich wie Hesses Steppenwolf erzählt auch Michael Endes Die unendliche Geschichte von einer Literatur, die als Lebenshilfe konzipiert wird: Die Familie des Außenseiters Bastian Balthasar Bux ist durch den Tod der Mutter gestört. Vater und Sohn haben noch keine neue emotionale Beziehung zueinander gefunden, in der beide miteinander dieses Trauma verarbeiten können. Zu Beginn des Jugendromans desintegriert sich Bastian durch Diebstahl eines Buches mit dem Titel Die unendliche Geschichte in einem Antiquariat aus der sozialen Ordnung. Er begibt sich auf den Speicher der Schule zum Lesen, der durch das hier ausrangierte Gerümpel als Raum eines reduzierten Lebens und soziale Isolation markiert wird. Die Lektüre des gestohlenen Buches bindet Bastian nun emotional immer stärker an die märchenhafte Diegese des Landes Phantasien und seine Figuren: Der kleine Indianerjunge Atreju im gestohlenen Buch fungiert als Stellvertreter des Lesers Bastian außerhalb des Buches. Atreju verkörpert dabei oppositionell alle Merkmale eines Helden, die Bastian nicht hat, aber gerne hätte. Durch Empathie mit der Hauptfigur Atreju im Buch im Buch werden also Defizite Bastians zunächst imaginär und dann in einer fantastischen Realität kompensiert. Die emotionale Bindung geht schließlich so weit, dass Bastian seine intradiegetische Welt in Richtung der intra-intradiegetischen (cf. Decker 2006) Welt Phantasiens verlässt. Die Märchenwelt Phantasien droht unterzugehen, weil die Menschen nicht mehr träumen und ihrer Phantasie keinen Wert mehr beimessen, sondern diese als irrelevante Fiktion abwerten. Bastian kann nun zum Retter Phantasiens werden, indem er einen semiotischen Akt vollzieht: In einem Sprechakt benennt er die Kindliche Kaiserin, die Herrscherin Phantasiens, mit einem neuen Namen und wechselt so metaleptisch in die intra-intradiegtische Welt über. Genau in der Mitte des Buches, dessen Kapitel alle mit den fortlaufenden Buchstaben des Alphabets beginnen, wird als ideales Konzept von Literatur ein Eskapismus durch Literatur als Wert propagiert: Aus einem begrenzten Inventar an Zeichen lässt sich mittels der Phantasie eine unendliche Zahl an Geschichten generieren, mit deren Hilfe man aus einer defizitären Welt fliehen kann. Diese Konzeption von Literatur wird jedoch durch die zweite Hälfte des Romans relativiert. Bastian beginnt nun in der zweiten Hälfte des Buches, Phantasien und auch sich selber in seinem Äußeren und in seinen Eigenschaften nach seinen eigenen Wünschen neu Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 213 zu erschaffen. Jede Veräußerlichung seiner inneren Persönlichkeit geht dabei allerdings mit dem Verlust einer Erinnerung einher, was schließlich zu einem kompletten Selbstverlust führt. Nur mit Hilfe seines Freundes Atreju gelingt es ihm schließlich, durch einen erneuten semiotischen Akt die intra-intradiegetische Welt wieder zu verlassen und in seine Realität außerhalb Phantasiens zurückzukehren: Bastian benennt sich selbst mit seinem eigenen Namen und findet damit zu seiner Identität und auch zu seinem Vater zurück. Indem Bastian seinem Vater von seinen Abenteuern in Phantasien erzählt, wird das Trauma der Familie durch den Verlust der Ehefrau und Mutter bewältigt. Bastian und sein Vater sind in einer neuen emotionalen Gemeinschaft miteinander vereint. Das Eintauchen in die fiktionale Geschichte in der Geschichte erfolgt also nach dem Modell einer Identitätsfindung durch temporäre Übernahme der Rolle eines Anderen im Rahmen der Literatur. Durch emotionales Involvieren in das fiktionale Geschehen kann die Person des Lesers dabei traumatische Erfahrungen in der Realität bewältigen. Durch ein virtuelles Probehandeln in der Literatur gelingt eine Selbstvergewisserung, welche die Grenzen der Welt, von der erzählt wird (das intra-intradiegtische Phantasien), und der Welt, in der erzählt wird (die intradiegtische Familiensituation Bastians), selbstreflexiv und selbstreferenziell verwischt. Selbstreflexives Erzählen hat in der unendlichen Geschichte also die Funktion, sinnhaft den Kern der Persönlichkeit in einer Identitätskrise zu verteidigen. Hier ist das selbstreflexive Erzählen also anders als in Hesses Steppenwolf nicht Selbstzweck, sondern teleologisch auf das Herauspräparieren einer Art metaphysischer Funktion der Literatur als Lebenshilfe hin orientiert. 4.5 Ein narratologischer Vorschlag: Erzählebenen in Metalepsen als semantische Räume Mit Hilfe der beiden Beispiele kann ich zeigen, dass selbstreflexives Erzählen vor allem jeweils an die Konstruktion der Erzählebenen im individuellen Textbeispiel geknüpft ist, die in beiden Fällen durch Metalepsen miteinander verschmolzen werden, aber jeweils ganz unterschiedliche Funktionen in der Textsemantik erfüllen. Diese Metalepsen sind dabei mit Selbstreferenzen im Sinne der von Fricke 2003 beschriebenen gestuften Iteration verknüpft: Zeichen auf der Ebene der Erzählsituation und des Erzählten in einer Erzählebene, werden auf einer anderen Erzählebene reproduziert und so miteinander in Beziehung gesetzt. Im Rahmen dieser Potenzierung geht allerdings auch eine bisher weniger beachtete Verschränkung der Ebenen von Discours (Präsentationsformen einer Geschichte) und Histoire (präsentierte Geschichte) einher. Wie bereits unter 2. ausgeführt, wird beim selbstreflexiven Erzählen generell ein Aspekt der Präsentation einer Geschichte selbst zum Inhalt und Thema der Geschichte, wenn sich die Erzählsituation im Erzählvorgang selbst und damit als Gegenstand des Erzählens im Erzählten spiegelt. Insofern also beim selbstreflexiven Erzählen die Sprechsituation eines Textes von ihm selbst zu seiner besprochenen Situation gemacht wird, werden - wie in den beiden von mir angeführten Beispielen erkennbar - bei der Metalepse die Erzählebenen zu semantischen Räumen im Sinne Lotmans auf der Ebene der Histoire: Die Figuren können ihre Bindung an eine Erzählebene aufgeben und als Helden ereignishaft die Grenze zwischen einzelnen Erzählebenen überschreiten. Das bedeutet, im Falle der Metalepse lassen sich die Erzählebenen als semantische Räume in der 214 Jan-Oliver Decker (Passau) Diegese eines Textes beschreiben und analysieren, wie diese Verfahren exemplarisch von Lotman 1993, Titzmann 2003 und Krah 2006 beschrieben wurden. Konsequent lassen sich damit im Fall der Metalepse Discours-Phänomene wie die Erzählsituation und die Erzählebenen gleichzeitig auch als Phänomene der Histoire begreifen. Im Fall einer Metalepse verändert sich damit dann auch die Relationierung von Discours und Histoire: Der Realitäts- oder Fiktionalitätsstatus einer erzählten Geschichte hängt in der Regel in einem nicht-metaleptischen Geschehen vollständig vom Filter der Erzählsituation und ihrer Semantisierung unabhängig von der erzählten Geschichte beispielsweise auch durch die paratextuelle und textpragmatische Rahmung ab. Beim metaleptischen Erzählen wird dagegen die Erzählsituation vollständig der Semantik der erzählten Geschichte unterworfen, die auch und in erster Linie durch jeden konkreten Text und seine individuelle Diegese semantisiert wird. Damit mag es zwar auch - wie bisher oft geschehen - sinnvoll erscheinen, typologisch zu fragen, welche Arten von Metalepsen sich theoretisch durch die Überschreitung welcher verschiedenen Erzählebenen modellieren lassen. Aber erst wenn im Einzelfall konkret die Metalepse auf ihre Funktion für die erzählte Welt, die ihre Bedeutung wesentlich mit bestimmt, hin untersucht wird, lassen sich die typologischen Analysen auch sinnvoll und systematisch den literatur- und kulturhistorische Kontexten ihrer Produktionskultur zuordnen. Damit plädiere ich abschließend mit diesem Band und seinen Beiträgen dafür, historische Analysen des selbstreflexiven Erzählens zu ermöglichen, die einerseits die historisch übergreifende Bandbreite selbstreflexiven Erzählens aufzeigen und das selbstreflexive Erzählen andererseits kultur- und epochenspezifisch mentalitätsgeschichtlich funktionalisieren. Dies erscheint mir umso wichtiger, als heutzutage selbstreflexives Erzählen einzelne Medien und mediale Formate ebenso wie Epochen und Kulturräume überschreiten kann. 6 Als in diesem Sinne transmediales 7 Phänomen ist selbstreflexives Erzählen dabei nicht nur in den Einzeldisziplinen wie Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft oder der Narratologie von wissenschaftlicher Relevanz. Vielmehr erscheint selbstreflexives Erzählen, um sich über sich selbst zu verständigen und sich selbst zu verstehen damit ein kulturübergreifendes Phänomen zu sein, durch dessen Analyse und Reflexion auch das Verstehen und Verständnis unserer medialen Moderne ermöglicht wird. Bibliographie Barthes, Roland 1964: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Blödorn, Andreas et al. (eds.) 2006: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/ New York: de Gruyter. Braungart, Georg et al. (eds.) 2000: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2, H-O, Berlin/ New York: de Gruyter. 6 Vergleiche zum selbstreflexiven Erzählen im Spielfilm bspw. Decker 2007 a. 7 Vergleiche zum Phänomen transmedialen Erzählens und der Bedeutung der erzählten Diegese einführend Decker 2016, vergleiche zum selbstreflexiven Erzählen als medienübergreifenden Phänomen, die Beiträge im Kodikas-Folgeband Selbstreferenz und Selbstreflexion in Film und Computerspiel. Formen - Funktionen - Kontexte. Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. 215 Decker, Jan-Oliver 2006: “ Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität in Hermann Hesses Der Steppenwolf (1927) ” , in: Blödorn et al. (eds.) 2006: 233 - 266. Derselbe 2007 a: “ Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘ Postmoderne ’ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Vergissmeinnicht, USA 2004) ” , in: Decker 2007 b (ed.): 153 - 175. Decker, Jan-Oliver 2007 b (ed.): Erzählstile in Literatur und Film (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica 30, 1 - 2), Tübingen: Narr. Decker, Jan-Oliver und Krah, Hans 2011: “ Mediensemiotik und Medienwandel ” , in: Institut für Interdisziplinäre Medienforschung (ed.) 2011: 63 - 90. Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 - 171. Ende, Michael 1979: Die Unendliche Geschichte, Stuttgart: K. Thienemanns Verlag. Figal, Günter 2000: “ Hermeneutik 2 ” , in: Braungart et al (eds.) 2000: 29 - 31. Fricke, Harald 2003: “ Potenzierung ” , in: Jan-Dirk Müller et al. (eds.) 2003: 144 - 147. Genette, Gérard 3 2010: Die Erzählung, Paderborn: Fink. Gräf, Dennis et al. (eds.) 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren. Grimm, Petra 1997: Einführung in die Filmnarratologie, München: Diskurs Film. Hennig, Martin und Krah, Hans (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiel (= Reihe Game Studies), Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch. Hesse, Hermann1974: Der Steppenwolf, Frankfurt/ Main: suhrkamp 1974. [zuerst 1927] Institut für Interdisziplinäre Medienforschung (ed.) 2011: Medien und Wandel (= Passauer Schriften zur interdisziplinären Medienforschung, 1), Berlin: Logos Verlag. Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig. Kuhn, Markus 2013: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/ New York: de Gruyter. Kukkonen, Karin und Klimek, Sonja (eds.) 2011: Metalepsis in Popular Culture (= Narratologia 28), Berlin/ New York: de Gruyter. Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink. Martínez, Matías und Scheffel, Michael 12 2012: Einführung in die Erzähltheorie (12. überarbeitete u. erweiterte Auflage), München: C. H. Beck. Meister, Jan-Christoph (ed.) 2005: Narratology beyond Literary Criticism: Mediality, Disciplinarity, Berlin: de Gruyter. Müller, Jan-Dirk et al. 2003 (eds.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3: P-Z, Berlin/ New York: de Gruyter. Posner, Roland et al. (ed.) 2003: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin/ New York: de Gruyter. Scheffel, Michael 1997: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer. Schmid, Wolf 2 2005: Elemente der Narratologie, Berlin/ New York: de Gruyter. Titzmann, Michael 2003: “ Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik ” , in: Roland Posner et al. (ed.) 2003: 3028 - 3103. Wolf, Werner (2005). “ Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon: A Case Study of the Possibilities of ‘ Exporting ’ Narratological Concepts ” , in: Jan Christoph Meister (ed) 2005: 83 - 107. Weimar, Klaus 2000: Hermeneutik 1, in: Braungart et al (eds.) 2000: 25 - 29. 216 Jan-Oliver Decker (Passau) K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Jenseits der Relevanzphrase Was Selbstreflexivität in den Literatur- und Kunstwissenschaften leisten kann Christoph Rauen (Kiel) This article deals with recent scholarly contributions concerning the topic of selfreflexivity. It argues that it is right to criticize tendencies to overgeneralize the concept of self-reflexivity and thereby rob it of its significance, while still profiting from its prestige as an indicator of modernity. However, this argument should not be used against theoretical and systematical approaches that naturally and rightfully try to conceive of self-reflexivity in a more general way. Also, it is misleading to claim that deficits of the current practice of analyzing self-reflective artefacts are caused by a lack of theoretical specifications and subcategories that allow for a differentiated analysis. Furthermore, not solely foregrounded or functionally defined instances of self-reflexivity deserve scholarly attention. As recent research shows, structural and latent forms are often very promising subjects of inquiry, too. In fact, they lie at the very heart of literature, the arts, and culture. 1 Immer richtig, immer wichtig? Von Passepartouts und imposanten Begriffen Die Diskussionen im Rahmen der Tagung, aus der dieser Text hervorgegangen ist, machten eines ganz deutlich: Die Verwendung der Kategorie ‘ Selbstbezüglichkeit ’ in den Kulturwissenschaften löst zunehmend Unbehagen aus. Ein Grund dafür ist, dass sie in Forschungsbeiträgen und Hausarbeiten mittlerweile fast allgegenwärtig wirkt, während der mit ihr erzielte Erkenntnisgewinn abzunehmen scheint. Als besonders problematisch wird das empfunden, wenn unreflektierte Wertungen hinzukommen. Darauf geht ein 2015 publizierter Aufsatz ein: ‘ Selbstreflexiv ’ gilt als Gütesiegel gehobener Komplexität. Ausweis eines ästhetischen Mehrwerts, die nicht-künstlerischen Artefakten fehlen und mit deren Hilfe beliebige Objekte sowohl kunstfähig wie wissenschaftswürdig werden können. [. . .] Dabei genügt sich die Feststellung dieser Eigenschaft oft selbst so sehr, dass die Frage, was denn qua Reflexivität an Erkenntnis oder ästhetischer Komplexität gewonnen wird, gar nicht mehr gestellt zu werden braucht (Geulen/ Geimer 2015: 521 f.). Nun kann man blinde, weitgehend nutzlos gewordene Routinen und begriffliches Imponiergehabe gar nicht genug kritisieren. Wem fallen nicht zahlreiche Seminargespräche und Aufsätze ein, auf welche die erhobenen Vorwürfe zutreffen? Außerdem ließe sich die Liste der Monita mühelos um weitere Punkte ergänzen, z. B. um die Praxis, das jeweils tatsächlich vorliegende Ausmaß an Selbstbezüglichkeit zu übertreiben und den Befund zur Aporie zuzuspitzen, weil diese bekanntlich Aufmerksamkeit zu generieren vermag. Wohl deswegen stößt man immer wieder auf Aussagen wie die, ein Film oder Text sei ‘ ausschließlich auf sich selbst bezogen ’ , häufig begleitet von ebenso spektakulären zeitdiagnostischen Trendaussagen wie: “ advertising is no longer about products and services but about advertising ” (Nöth 2011: 200). Oder, in etwas ausführlicherer Fassung: The comic book is no longer about the comedies or tragedies of everyday life, but about making and reading comic strips. The theoretical separation of the levels in the hierarchy of language, metalanguage, and meta-metalanguage is disturbed by conflation, nesting, or mirror projections of the higher into the lower levels (Nöth 2011: 214). Meistens halten solche Behauptungen einer näheren Prüfung kaum stand, und es erweist sich, dass statt des beschworenen referentiellen Kurzschlusses eine Kombination aus auto- und heteroreferentiellen Bezügen vorliegt (der besagte Comic z. B. handelt, neben dem Anfertigen von Comics, auch vom urbanen Single-Leben). Bis hierher handelt es sich um missbräuchliche Verwendungsweisen, die für sich genommen nichts über den potentiellen Nutzen des verwendeten Konzeptes aussagen. Geulen/ Geimer (2015) machen vor allem die zu große Allgemeinheit und praktisch universelle Einsetzbarkeit der Kategorie ‘ Selbstreflexivität ’ dafür verantwortlich, dass deren Aussagekraft häufig gegen Null tendiere. Auf welchen Fall, so fragen sie, die Probe auf die unterscheidende Kraft und Signifikanz des fraglichen Begriffes machend, träfe der Befund ‘ Selbstbezüglichkeit ’ denn nicht zu? Denn wenn Selbstreflexivität [. . .] eine Eigenschaft und ein an Texten oder Bildern nachweisbares Merkmal darstellt, dann müsste man diese Eigenschaft nicht nur komplexen Werken zuschreiben, man müsste sie ebenso auch anderen, weniger komplexen Werken abschreiben können - also etwa postulieren, dieses oder jenes Gemälde eines akademischen Salonmalers des 19. Jahrhunderts besitze das Potenzial, seine eigene Gemachtheit zu thematisieren, definitiv nicht oder dieses Werk von Sophie Calle sei in hohem Maße selbstreflexiv, ein anderes Werk derselben Künstlerin hingegen schon etwas weniger. Wo genau wären die Kriterien für eine solche Skala aber zu finden? (Geulen/ Geimer 2015: 525 f., Hervorh. im Original). Richtig ist daran sicherlich, dass einem kaum Medien, Kunstformen oder Genres einfallen, die in den letzten Jahrzehnten nicht im Zeichen von Selbstreflexivität beschrieben und analysiert worden wären, von Popmusik, Malerei, Computerspielen und Comics über Film und Architektur bis hin zu Rollenspielen und Pornographie (Wolf 2009), um nur einige Beispiele zu nennen. Und auch in historischer Hinsicht wurde der Anwendungsbereich des Konzeptes beträchtlich ausgeweitet. Dies führt einerseits dazu, dass die Praxis, Perioden wie Romantik 1 und Postmoderne 2 durch Hinweis auf eine oft nicht näher erläuterte Affinität zur 1 Meier (2013: 229) spricht nicht mehr von Selbstreflexivität schlechthin als Differenzkriterium dieser Epoche, wie man das früher häufig lesen konnte, sondern formuliert etwas vorsichtiger, dass unter den romantischen Romanen keiner auf beständige Selbstthematisierung verzichte. 2 Die Aussage “ [t]he new trend since postmodernity has been that artists have begun to reflect programmatically about art in their art works ” (Nöth 2011: 200) lässt sich, wie jeder mit Kunst- und Literaturgeschichte 218 Christoph Rauen (Kiel) Selbstreflexion zu charakterisieren und darin ein distinktives Merkmal im Verhältnis zu anderen Epochen zu erblicken, mit einigem Recht als unzureichend kritisiert wird, ohne dass sie deswegen freilich zum Erliegen käme. Andererseits wird dadurch immer unklarer und fragwürdiger, ob und inwiefern sich Selbstreferenz überhaupt dafür eignet, literar- und kunstgeschichtliche Charakteristika zu erfassen. Hinzu kommt der Anreiz, die fragliche Auszeichnung historisch besonders weit zurückliegenden Epochen und/ oder aus westlicher Sicht besonders exotischen Kulturen zu verleihen und diese kontraintuitiv als modern zu beschreiben, weil Selbstreflexivität mit dieser Eigenschaft nach wie vor verknüpft wird. Und wer will es denn mit unmodernen Gegenständen zu tun haben? Altphilologen, Mediävisten und andere gelegentlich auch schon mal als Alteritätsforscher Etikettierte haben hier leichtes Spiel, denn natürlich sind und können ihre Gegenstände genauso reflexiv sein (Geulen/ Geimer 2015: 525). 2 Modelle und formalsystematische Bestimmungsversuche vs. Einzelforschung und Selbstreflexivität als Differenzqualität Offenbar haben die angesprochenen Probleme mit dem Verhältnis von formalsystematischen Definitionen und Typologien auf der einen und deren praktischer Verwendung im Rahmen der Analyse bestimmter Gegenstände auf der anderen Seite zu tun. Während erstere legitimerweise vor allem an einem schlüssigen Konzept von Selbstreferenz interessiert sind, das mehr oder weniger allgemein ausfällt und sich synchron wie diachron auf eine Fülle von Gegenständen beziehen lässt, streben letztere danach, den Informationsgehalt ihrer Aussagen im Gegenteil durch möglichst spezifische Einordnungen zu erhöhen. Deswegen zeichnet sich eine analytisch brauchbare Typologie durch Differenziertheit aus. Daran herrscht aber, ganz anders als die Autoren des zitierten Beitrags meinen, keineswegs ein Mangel. Wo finden sich Kriterien und Skalierungen der Selbstreferentialität, fragen sie; nun, eine mittlerweile fast fünfzigjährige, mit Namen wie Gérard Genette, Lucien Dällenbach, Werner Wolf und Michael Scheffel verbundene Forschungstradition hat davon reichlich hervorgebracht. Die Herausforderung besteht umgekehrt darin, aus dem hochgradig differenzierten Angebot jeweils geeignete und zielführende Instrumente auszuwählen. Dafür muss man die entsprechenden Vorschläge freilich erst einmal zur Kenntnis nehmen. Mit Blick auf die historische Dimension des Themas ist zu ergänzen, dass auch hier die relativ große Reichweite eines relativ basalen, allgemeinen und auf viele Fälle zutreffenden Begriffs von Selbstreferenz kein Hindernis für spezifische analytische Aussagen darstellt, sondern vielmehr die Voraussetzung dafür bildet, verschiedene Epochen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt in den Blick nehmen und vergleichen zu können. Man sollte nicht hinter die von zahlreichen historischen Einzelstudien bestätigte Auffassung zurückgehen, dass Autothematismus ein “ periodisch wiederkehrendes Phänomen ” (Hempfer 1982: 132) darstellt und sich durch “ transhistorische Konstanz ” (Zaiser 2009: 189) auszeichnet, dabei aber im Kopf behalten, dass die “ jeweils spezifische Ausprägung ” dieser Beschäftigte weiß, durch zahlreiche Belege werkinterner programmatischer Selbstreflexion aus früheren Epochen widerlegen. Jenseits der Relevanzphrase 219 Konstante von wechselnden historischen Kontexten, unter anderem “ von der Geschichtlichkeit des literarischen Systems abhängt, in dem es sich vollzieht ” (Hempfer 1982: 132; cf. Schmeling 1987: 88 f.). Die wenn, dann nur vordergründig plausible Forderung danach, anzugeben, wann definitiv nicht von Selbstbezüglichkeit die Rede sein könne, ist gut gemeint, impliziert bei näherem Hinsehen aber eine binäre Einteilung, die unterkomplex ist und literarischen und künstlerischen Gegenständen nicht gerecht wird. Realistisch und produktiv ist es hingegen, Autoim Verhältnis zu Heteroreferenz zu diagnostizieren und dieses Verhältnis als polar strukturiertes und skalierbares Kontinuum zu begreifen. Nichts spricht dagegen, dabei ein im Kern sehr allgemeines und deswegen extensives Konzept zugrunde zu legen, wie es etwa hier geschieht: Im Gegensatz zu Heteroreferenz bezeichnet Selbstreferenz (oder Autoreferenz) in Literatur und anderen Medien alle möglichen Bezüge, die innerhalb eines literarischen oder medialen Systems auftreten können, und zwar entweder, indem Elemente dieses Systems oder das System insgesamt auf sich selbst bezogen sind, oder so, dass ein Element des Systems auf ein anderes (ähnliches oder identisches) desselben Systems rekurriert. Wie der selbstreferentielle Satz ‘ Dies ist ein deutscher Satz ’ zeigt, kommt Selbstreferenzialität häufig im Verein mit Heteroreferenz ( ‘ deutsch ’ ) vor. Daher sollte, wie so oft bei typologischen Varianten, auch bei Hetero- und Selbstreferenz (einschließlich der Metaisierung) nicht von einer klassifikatorischen Opposition ausgegangen werden, sondern von einer bipolaren Skala, die ein Mehr oder Weniger an Übergangs- und Mischformen beinhaltet (Wolf 2007 a: 31 f.). Es bringt deshalb nichts, eine Art Nullstufe der Selbstreferenz einzufordern. Vielmehr sind verschiedene Komplexitätsniveaus (und, in Abhängigkeit davon, Verbreitungsgrade) zu unterscheiden, auf denen Selbstreflexivität angesiedelt sein kann. Entsprechend setzen verschiedene Disziplinen und Forschungsrichtungen das Phänomen bereits auf einer sehr elementaren Ebene menschlicher Kommunikation an, am bekanntesten vielleicht Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, derzufolge Einzelkommunikation, “ sonst würde sie so gar nicht vorkommen ” , immer in größere kommunikative Zusammenhänge eingebunden und “ in den Verstehensmöglichkeiten und Verstehenskontrollen eines Anschlußzusammenhangs weiterer Kommunikation rekursiv abgesichert ” ist (Luhmann 6 1996: 199). Luhmann spricht von “ basaler Selbstreferenz ” und meint damit, dass ein Kommunikationsprozess “ aus Elementen (Ereignissen) bestehen muß, die durch Einbeziehung ihres Zusammenhanges mit anderen Elementen desselben Prozesses auf sich selbst Bezug nehmen ” (Luhmann 6 1996: 199). Im gleichen Zusammenhang führt er aus, dass Selbstreferenz als metakommunikative Verständigung über Sendung und Erhalt von Mitteilungen realisiert werden könne, sei es mittels Sprache 3 oder nonverbal (z. B. durch ein Nicken). Derartige Rekursionsphänomene sind bereits in sehr einfachen Sozialordnungen nachzuweisen und dienen im weiteren Verlauf der kommunikationsgeschichtlichen Evolution komplexeren selbstreferentiellen Formen als Basis, wobei komplex hier wertfrei gemeint ist und vor allem ‘ voraussetzungsreich ’ bedeutet. Die komplexeren Formen also treten nicht etwa an die Stelle der simpleren, älteren, sondern integrieren diese und nehmen sie auf eine 3 Hier setzt Jakobsons (1960: 356) Konzept der metalingualen Verständigung an: Unstimmigkeiten zwischen Kommunikationspartnern, etwa in Bezug auf die Bedeutung bestimmter Äußerungen, lösen metakommunikative Klärungsversuche aus und leiten damit eine Differenzierung in Objekt- und Metasprache in die Wege. 220 Christoph Rauen (Kiel) spezielle Art in Anspruch (Luhmann 6 1996: 199). Lässt man sich auf die Voraussetzungen dieses Modells ein, wird man nicht bestreiten können, dass alle Kommunikation selbstreferentiell strukturiert ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen auch Ansätze auf semiotischer Grundlage: Every act of communication [. . .] has something self-referential at its root since communication is not only the transmission of a message but also communication about communication. Together with the message, every communicator conveys a self-referential metamessage that indicates so to speak, “ I am communicating ” (Nöth 2011: 205) 4 . Es sei noch einmal betont, dass eine solche Situierung des Phänomens an der Wurzel von Kommunikation dem weit verbreiteten und auch von dem oben zitierten Autorenduo am Leben gehaltenen Vorurteil widerspricht, Selbstreflexivität bedeute hohe Komplexität bedeute kultureller Wert. In den Fällen, in denen die kommunikations- und gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung tatsächlich komplexere, voraussetzungs- und vor allem auch informationsreichere Formen von Selbstbezüglichkeit hervorgebracht hat, scheinen diese vor allem dazu zu dienen, anspruchsvollere Verständigung über die Modi, Inhalte und Probleme von Kommunikation zu ermöglichen und funktional stärker ausdifferenzierte Kommunikationszusammenhänge gezielt einzurichten und zu steuern (Luhmann 6 1996: 199, 210). Dieser Entwicklungsschritt ist auf Sprache angewiesen, denn erst “ Sprache sichert Reflexivität im Sinne einer jederzeit vorhandenen, relativ problemlos verfügbaren, nicht weiter erstaunlichen Möglichkeit, den Kommunikationsprozeß auf sich selbst zurückzubeziehen ” (Luhmann 6 1996: 211). Wie es sich damit genau verhält und welche besonderen Leistungen das Speichermedium Sprache speziell für ausdifferenzierte Kommunikationsweisen wie Literatur bereit hält, soll an späterer Stelle thematisiert werden. Vorerst sei nur darauf hingewiesen, dass die aus soziologisch-kommunikationstheoretischer Perspektive vollzogene Unterscheidung zwischen eher einfachen und eher komplexen, informationsreicheren Formen von Selbstreferenz über eine Entsprechung auf Seiten der kunst- und literaturwissenschaftlichen Forschung verfügt; hier unterscheidet man ein “ bloßes systeminternes Verweisen ohne Implikation oder Thematisierung einer selbstreferentiellen Aussage und ein auf systeminterne Phänomene bezogenes Bedeuten ” (Wolf 2007 a: 33, Hervorh. im Original.). Bei dem Paar Verweisen/ Bedeuten handelt es sich um Begriffe von sehr unterschiedlicher Reichweite, denn unter das Verweisen als a-semantische Form der Selbstbezüglichkeit fallen z. B. auch Reflexivpronomen als Formen grammatischer Rückbezüglichkeit (Wolf 2007 a: 32), die praktisch überall zu finden sind, wo Sprache zum Einsatz gelangt. Hier wird noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, in Einzelanalysen die Extension des verwendeten Konzeptes von Selbstreflexivität gegenstandsadäquat und erkenntnisfördernd einzustellen. Will man in Erfahrung bringen, worin sich ein bestimmtes literarisches Bezugssystem in puncto Selbstreflexivität von anderen Systemen unterscheidet, ist es selbstverständlich unzureichend, sich dabei auf ein zu allgemein gewähltes Merkmal wie die erwähnte grammatische Rückbezüglichkeit zu beschränken, das sich in 4 Es stellt sich die Frage, wie sich heutige medienspezifische, hochkonventionalisierte Formen von Selbstreferenz wie zum Beispiel Senderlogos, Jingles und Hinweise wie ‘ Das waren die Nachrichten ’ in TV, Web und Radio (cf. Nöth 2011: 206) zu den beschriebenen, aller Kommunikation inhärenten Formen von Metareferentialität verhalten. Jenseits der Relevanzphrase 221 beiden Fällen nachweisen lassen wird. Ähnliches gilt für den Hinweis darauf, ein mediales Objekt stelle seine Medialität (Artifizialität, Konstruiertheit . . .) aus, der in dieser Allgemeinheit ebenfalls praktisch immer in einem gewissen Maß zutrifft. - Doch es bleibt dabei: Aus alledem lässt sich kein prinzipieller Einwand gegen einen formalsystematisch definierten Begriff von Selbstbezüglichkeit ableiten, der sich auf eine “ Fülle von Phänomenen ” (Wolf 2007 a: 32) beziehen lässt. 3 “ Wer mag, redet halt über Funktionen . . . ” Funktionalismus als Signifikanz- Garantie? Häufig stößt man auch auf die Empfehlung, nicht lediglich nach Formen und Modi selbstreferentieller Phänomene zu fragen, sondern auch und vor allem nach ihren Funktionen. Doch auch der Funktionsbegriff ist nicht davor gefeit, als beliebig einsetzbare Floskel zu fungieren, oder, wie Rüdiger Zymner es einmal rhetorisch formuliert hat: “ Wer mag, redet halt über Funktionen und trifft damit immer irgendeinen Nagel auf den Kopf ” (Zymner 2013: 75). Dem lässt sich entgehen, wenn man Funktion im Sinne der nachweislichen Eignung eines Werkes oder Werkelementes verwendet, Zusammenhänge mit anderen Elementen des gleichen Werkes oder mit dessen (kultureller, historischer usw.) Umwelt zu stiften, einschließlich der anvisierten (nicht: tatsächlich erzielten) Wirkung auf den Rezipienten und abgesehen von etwaigen Intentionen auf Produzentenseite (Fricke 1997: 643). 3.1 Illusionsstörung als Beispiel Dementsprechend wurde immer wieder nach werkinternen und rezeptionsbezogenen Funktionen von Selbstbezüglichkeit gefragt, etwa im Rahmen narratologischer sowie dramen- und fiktionstheoretischer Ansätze, wobei häufig die potentielle illusionsstörende Wirkung autoreferentieller Verfahren in den Mittelpunkt gestellt wurde. Ansgar Nünning (2004: 40) z. B. hat repräsentative Werke der neueren englischen Romangeschichte anhand ihres Illusionsstörungspotentials unterschieden und dabei eine Skala zugrunde gelegt, die sich zwischen diesen Polen erstreckt: Um den einen gruppieren sich Funktionen erzählerischer Autoreferentialität wie Authentifizierung des Erzählten, Kohärenzverstärkung oder auch Stärkung des Kontaktes zum Leser, die, wenn überhaupt, dann ein geringes Störungspotential aufweisen. Dieses fällt in der Regel größer aus, wenn selbstbezügliches Erzählen zur Unterstützung didaktischer und komisierender Strategien eingesetzt wird, und es erreicht Spitzenwerte, wenn die Zielsetzungen parodistischer, poetologischer oder metafiktionaler Art sind. Am anderer Ende der Skala findet sich schließlich eine dezidiert anti-illusionistische Verwendungsweise selbstbezüglichen Erzählens. Bei diesem und vergleichbaren Modellen ist freilich zu bedenken, dass man es in der Praxis für gewöhnlich mit Kombinationen von Funktionen zu tun hat, wobei es typischerweise zu wechselseitigen Verstärkungen und Abschwächungen kommt (Nünning 2004: 47). Außerdem spricht der Umstand, dass ein und dasselbe formal bestimmte Merkmal, in diesem Fall eine bestimmte Erzähltechnik, je nach Kontext sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen kann, grundsätzlich gegen ein allzu striktes “ form-to-function-mapping ” (Gymnich/ Nünning 2005: 10). 222 Christoph Rauen (Kiel) 3.2 Kulturelle Funktionen Auch zu den auf großflächigere mediengeschichtliche Kontexte bezogenen Funktionen von Autoreferenz liegen eine Reihe von Ausarbeitungen vor. So diskutiert Werner Wolf im Einleitungsaufsatz zum Sammelband The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media (2011) verschiedene Erklärungsansätze, die sich dem Verhältnis zwischen werkübergreifenden medial-selbstreferentiellen Strukturen und geschichtlichen Problemlagen widmen (cf. auch Zaiser 2009: 28 f. u. Zymner 2013: 78). In unserem Zusammenhang ist besonders relevant, dass sich diese Ansätze hinsichtlich der Reichweite ihres Geltungsanspruches in gewissen Grenzen typologisieren lassen, auch wenn externe Funktionen, gerade in historischer Sicht, aufgrund ihres konstitutiven Kontextbezuges nur bedingt verallgemeinerbar und systematisierbar sind. 5 So lassen sich zum Beispiel eher langfristige Verhältnisse zwischen Medienprodukten und ideen-, medien-, kultur- und sozialgeschichtlichen Kontexten, deren Korrelation nicht auf bewusste Anpassungsstrategien zurückzuführen ist, von gezielten Versuchen unterscheiden, auf kurzfristige Herausforderungen und Anreize in den Umwelten von Mediensystemen zu reagieren (Wolf 2011: 32). Was letztere angeht, hat man es häufig mit Konjunkturen und Rückkopplungsschleifen ungefähr in der Größenordnung von Dekaden zu tun, etwa wenn englische Romane der Nachkriegszeit gegen die Prädominanz eines Realismus zu Felde ziehen, der seinerseits einen Gegenentwurf zum Erfolg experimentell-selbstreferentieller Schreibweisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt hatte. Interessanterweise fragt Wolf auch nach dem Einfluss, den die intensive wissenschaftliche und kunstkritische Beschäftigung mit Selbstreferentialität und der damit verbundene Prestigegewinn dieser Kategorie auf die künstlerische Praxis ausgeübt haben könnten. Ist es Zufall, dass unter den Autoren metafiktionaler US- Romane der 1960er bis 1980er Jahre überproportional viele Literaturwissenschaftler zu finden sind (Wolf 2011: 32 f.)? Auch die zunehmende Verwendung autoreferentieller Techniken im Unterhaltungsbereich wird angesprochen und versuchsweise damit erklärt, dass der gute Ruf von Selbstreferenz dazu genutzt werde, dem Vorwurf der Seichtigkeit zu entgehen. Dass dieser Punkt recht ausführlich besprochen wird, spricht übrigens gegen den oben referierten Verdacht, auf Seiten der Wissenschaft sei man blind für die Wertungsimplikationen des Themas. Des Weiteren geht Wolf auf den Zusammenhang zwischen Medienwandel und Selbstreferenz ein, wobei unter anderem der in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Bedeutungszuwachs von Mediennutzung im Alltag großer Bevölkerungsteile in den Blick kommt. 6 Dieser habe zu einer wachsenden Sensibilität für die konstruktiven und medialen Aspekte des jeweiligen Realitätsverständnisses geführt, ebenso wie zu einer verschärften 5 Wolf selbst (2007: 59) schätzt die Spielräume für Typologisierungen, was die “ Erforschung von Funktionen der Metaisierung in verschiedenen Medien ” angeht, pessimistischer ein: “ Hier aber versagen Typologisierungen, denn Funktionen, zumal im Raum der Geschichte, bilden ein notorisch offenes Paradigma, das sich der Systematisierung entzieht. ” 6 Siehe auch Mertens (2010: 33), der narrative Selbstbezüglichkeit als Reaktion auf die durch Medienwandel bedingte Veränderung von Rezeptionsgewohnheiten thematisiert. Gottfrieds Tristan antworte, so Mertens, auf die Etablierung von Schriftlichkeit, während Fieldings Tom Jones auf neue Lesekonventionen reagiere. Cf. dazu auch Toepfers (2013) Rezension. Im Tristan spiele außerdem die literarische Bezugnahme auf andere Medien und Kunstformen eine große Rolle, etwa auf meisterliches Beherrschen des Kunsthandwerks, worin eine implizite Auseinandersetzung mit spezifisch literarischen Techniken zu erkennen sei. Jenseits der Relevanzphrase 223 Skepsis gegenüber einer simplen Gegenüberstellung von vermittelter und unvermittelter (authentischer) Realität (Wolf 2011: 27). Erwähnung findet auch die bekannte These, zunehmende Ausdifferenzierung und Autonomisierung hätten auf der Ebene des Kunstsystems insgesamt zu einem erhöhten Bedarf an Kriterienreflexion geführt (Wolf 2011: 30) und auf der Ebene einzelner Künste zu intensivierter Reflexion von Nachbarkünsten, wobei im 20. Jahrhundert vor allem die Zunahme intermedialer Stilanleihen auffalle, etwa der bildenden Kunst bei der Photographie (Wolf 2011: 27). In diesem Zusammenhang werden auch Überlegungen zur Neuordnung der Medienlandschaft während der letzten Jahrzehnte und den daraus resultierenden Konkurrenzverhältnissen zwischen verschiedenen Medien angestellt, z. B. zwischen Literatur einerseits und Photographie und Film andererseits. Literatur- Produzenten tendieren laut den von Wolf referierten Studien dazu, sich in puncto Mimesis einem direkten Leistungsvergleich mit den visuellen Medien zu entziehen und stattdessen auf eigene Stärken zu setzen, vor allem die Fähigkeit zur reflexiven Offenlegung von Konstruktivität und Medialität (Wolf 2011: 33). Wie in vergleichbaren Studien zu diesem Thema spielt der Zusammenhang zwischen dem Alter von Medien und Genres auf der einen und dem Ausmaß und der Intensität ihrer Selbstthematisierung auf der anderen Seite eine große Rolle, wobei Wolf die verbreitete Annahme, mit der Zeit nehme die Reflexion generell zu, zu Recht in Frage stellt: Die Literaturgeschichte kennt einige Beispiele für Pionierwerke, die scheinbar aus dem Stand ein ganzes Spektrum von Selbstbespiegelungstechniken entwerfen, wohl nicht zuletzt, weil es nötig ist, das Publikum mit den Gebrauchsmöglichkeiten eines neuen und unbekannten Genres bekannt zu machen (Wolf 2011: 27). Man denke an den Aufstieg des Romans und die Rolle, die der Don Quijote dabei spielte. Die früh entwickelten Instrumente der Selbstbespiegelung werden dann Teil des Repertoires der Gattung und stehen Autoren späterer Zeiten zur Verfügung, die sie weiter ausbauen oder demonstrativ darauf verzichten können, etwa im Namen einer realistischen Programmatik (cf. Wolf 2011: 38). Auch Rainer Zaiser hat sich mit dem Zusammenhang zwischen der Entstehung von Gattungen und den Varianten der Selbstthematisierung beschäftigt und an der Gelehrtenkomödie und dem Pastoraldrama der Renaissance demonstriert, wie fehlende Verankerung im antiken Gattungssystem und der aristotelischen Poetik zu einem Legitimationsdefizit führt, das durch werkimmanente Gattungsreflexion kompensiert wird, sozusagen an der dafür eigentlich zuständigen Traktaktliteratur vorbei (Zaiser 2009: 30 f.). Eingehend thematisiert Wolf die These einer Korrelation zwischen gesteigerter Selbstbezüglichkeit und historischen Phasen, die sich durch hohen ästhetischen Formverschleiß auszeichnen. Seit den späten 1960er und vermehrt seit den 1980er Jahren wurde u. a. von Umberto Eco die Annahme vertreten, die zeitgenössische Tendenz zur Metareferentialität sei darauf zurückzuführen, dass die Innovationskraft des Modernismus weitgehend erschöpft sei, aber nach wie vor ein allgemeines Originalitäts- und Neuheitsgebot gelte (Wolf 2011: 31). Eine darauf reagierende (mittlerweile ihrerseits historisch gewordene) Bewältigungsstrategie bestehe darin, verbrauchte Muster trotzdem weiterzuverwenden und das Fragwürdige daran von einer Metaebene aus kenntlich zu machen, um so den Vorwurf der Einfallslosigkeit und Rückständigkeit vorwegnehmend zu entkräften (cf. auch Wolf 2007 b). 224 Christoph Rauen (Kiel) 3.3 Metalepsen in der Bibel? Anachronistische Irrwege der Selbstreferenz- Forschung Ein Sonderproblem der kultur- und literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Selbstreflexivität, das die Kontextabhängigkeit der funktionalistischen Perspektive eindrücklich vor Augen führt, betrifft Forschungen zu Themen wie Metalepsen, paradoxes Erzählen und andere künstlerische Verwendungsweisen repräsentationslogischer Inkonsistenz, die auf selbstbezüglichen Strukturen beruhen (cf. Klimek 2010). In den letzten Jahren zeichnet sich eine Tendenz ab, Phänomene dieser Art bereits in vormodernen, zum Beispiel mittelalterlichen und antiken Texten nachzuweisen (Eisen/ Möllendorf 2013). Es ist aber fraglich, ob zu den entsprechenden Zeiten die epistemologischen Voraussetzungen gegeben waren, die für gewöhnlich als konstitutiv für die aufgezählten Phänomene angesehen werden. Dazu zählt vor allem eine eher strikte, an die neuzeitlichen Wissenschaften und ihren empirisierten Wahrheitsbegriff gekoppelte Unterscheidung zwischen der Kommunikation von nachweisbaren Fakten und von künstlerischen Erfindungen. Erst das Gebot einer strengen Separierung beider Bereiche schafft die Möglichkeit, gezielte metaleptische Grenzüberschreitungen durchzuführen, um damit Aufmerksamkeit zu binden, Adressaten zu vexieren, latente kulturelle Imperative und Denkgewohnheiten zu beleuchten sowie komische oder unheimliche Wirkungen zu erzielen usw. Für Zeiten und Kulturräume, in denen diese Konventionen so nicht galten (cf. Moers 2013), kommen Kategorien wie Metalepse deswegen nicht ohne Weiteres in Betracht. Dies gilt selbst dann, wenn sich Artefakte finden, die in formaler Hinsicht Ähnlichkeit mit modernen metaleptischen Strukturen aufweisen (Wolf 2013 a: 130), wie dies bei Leser- und Zuschauerappellen der Fall sein kann. Eine ausführliche Behandlung dieses Problemzusammenhangs, für den das historische Verhältnis zwischen Repräsentations-, Illusionierungs- und Paradoxierungstechniken, dem Konzept der Fiktionalität und verschiedenen Formen und Funktionen von Selbstbezüglichkeit zentral ist, 7 kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen. 4 Selbstreferenz und ästhetische Semantik 4.1 Geschichten vom Pferd: Einbettungsstrukturen und Vergegenständlichungen Stattdessen will ich abschließend auf einen weiteren literaturwissenschaftlichen Bereich zu sprechen kommen, für den Selbstbezüglichkeit relevant ist. Als Garantie eines aussagekräftigen, nicht beliebig einsetzbaren Begriffs von Selbstreferenz gilt häufig, dass man sich auf markierte und/ oder ungewöhnliche, kognitive Aktivität auslösende Formen von Selbstreferenz zu konzentrieren habe. Das mag zunächst einleuchtend klingen, erweist sich aber bei näherer Prüfung als fragwürdige Orientierungshilfe, denn es lässt sich keine überzeugende Begründung für die Behauptung finden, dass eher latente und/ oder strukturelle Formen von Selbstreferenz per se kein lohnenswertes Aufgabengebiet darstellen. In der aktuellen Forschung findet sich ein Beitrag, der das Gegenteil eindrücklich bestätigt, indem er Selbstbezüglichkeit als Strukturelement eines langfristigen kulturgeschichtlichen Prozesses begreift. Katja Mellmann (2014) hat einen Aufriss der Kom- 7 Auf Homer zurück geht Scheffel 2007, während Friedrich 2009 sich auf das 18. Jahrhundert konzentriert. Jenseits der Relevanzphrase 225 munikations-, Kunst- und Literaturgeschichte vorgelegt, innerhalb dessen gerade die elementaren und deswegen ubiquitären Erscheinungsweisen von Selbstreferenz zentrale Funktionen erfüllen. Sie entwirft einen Basis-Literaturbzw. Basis-Kunst-Begriff, der die Kluft zwischen Moderne und Tradition überbrücken soll, ähnlich wie das in der Vergangenheit bereits mit Unterscheidungen wie erhaltenswerte und ephemere (Pettersson 2006: 7) oder alltägliche und alltagsenthobene (Eibl 1971: 1102) Kommunikation versucht worden ist. Das dabei konturierte Literaturverständnis ist einerseits so breit angelegt, dass darunter auch “ systemhafte[] Konfigurationen ” (Mellmann 2014: 98) und kommunikative Praktiken wie “ Anbetung ” , “ Beschwörung ” oder “ Anrufung ” (Mellmann 2013: 71) fallen, ebenso Textsorten wie “ Ahnenregister, Gebete, Traktate, Deklamationsübungen, Poplyrics oder ein[] wissenschaftliche[r] Projektantrag ” (Mellmann 2014: 99). Zugleich ist es differenzierungsfähig genug, um den jeweiligen historischen Besonderheiten der darunter subsumierten Kommunikationsweisen gerecht zu werden. Damit soll verhindert werden, dass Literatur- und Kunstkonzepte jüngeren Datums, die beispielsweise auf Begriffen wie Fiktionalität, uneigentliche Rede, Literarizität oder Verfremdung beruhen (cf. Mellmann 2014: 99 f.), unkritisch auf vormoderne Zeiten projiziert werden, ganz zu schweigen von einer anachronistischen Verwendung des im 18. Jahrhundert geprägten Kollektivsingulars und “ Hochwertabstraktums ” (Zymner 2013: 9) Literatur bzw. Kunst. In diesem theoretischen Zusammenhang erweist sich Selbstreferenz als besonders nützlich, insoweit damit inhaltlich variabel besetzbare Metaisierungs- und Einbettungsstrukturen bezeichnet werden können, die eine Differenzierung von Meta- und Objektebene mit sich bringen. Von zentraler Bedeutung sind dabei die metakommunikativen Rahmungen und Adressierungen der fraglichen Kommunikationsakte, durch die kommunikative Besonderheiten und Erkennungsmerkmale hervorgehoben werden. Auf diese Weise lassen sich alle kommunikativen Ereignisse, welche eines oder mehrere gemeinsame Merkmale aufweisen, zu einer Einheit zusammenfassen. Hier kommt die bereits angesprochene sprachliche Dimension von Selbstreflexivität ins Spiel, denn mittels Sprache kann die metakommunikative Verständigung über bestimmte Kommunikationsmodi vergegenständlicht werden. Ein Beispiel: Fragt in einer oralen Kultur der Hüter der Traditionen den Bittsteller: “ Was für eine Geschichte willst du hören? ” , und dieser antwortet: “ Eine Geschichte vom Pferd. ” , dann liegt eine solche Vergegenständlichungsleistung vor. Die erzählte Geschichte selbst ist natürlich ebenfalls Kommunikation, aber entscheidend ist, dass auf diese narrative Kommunikation metasprachlich referiert werden kann, sie also nicht nur selbst Kommunikation, sondern zudem potentieller Redegegenstand ist und dieser Redegegenstand in einer für beide Gesprächspartner erwartbaren Form angesprochen werden kann (Mellmann 2014: 99). Es geht mit anderen Worten um sprachliche Verfestigung, kulturelle Tradierbarkeit und Institutionalisierung mittels kognitiver Rahmenkonzepte wie ‘ Geschichten vom Pferd ’ , ‘ Ahnenregister ’ , ‘ Kriminalroman ’ , ‘ Roman ’ , ‘ Literatur ’ , welche über besondere Strukturen, Inhalte, Modi und Funktionen des jeweils gerahmten Kommunikationsgeschehens informieren, eingeschlossen das erforderliche körperliche und geistigeVerhalten der Teilnehmer. Zu diesen Rahmenkonzepten zählen außerdem ‘ Fiktion ’ , ‘ ästhetische Illusion ’ und ‘ Kunst ’ , die nahelegen, dass es nicht um bloße Informationsübermittlung oder Handlungsanweisung geht, sondern um Versorgung mit Kontemplations- und Reflexionsvorlagen, die dem 226 Christoph Rauen (Kiel) Vergnügen oder der Erbauung dienen, die sich auf Subtexte und verborgene Lehren absuchen oder eigensinnig weiterdenken lassen (Mellmann 2013: 79). Wichtig vom Standpunkt eines modernen Kunst- und Fiktionsverständnisses sind dabei vor allem metakommunikative Signale, die anzeigen, dass man sich von den dargebotenen Repräsentationen ‘ illudieren ’ lassen solle, was bedeutet, unter Wahrung einer rationalen Distanz daran teilzuhaben und sich dazu physisch, nicht aber kognitiv und emotional passiv zu verhalten. 8 Selbstreflexivität im Sinne der Möglichkeit, sich auf eine Differenzierung von Objekt- und Metabzw. Rahmen- und Binnenebene zu stützen, ist dabei unverzichtbar, um das Kommunikationsgeschehen mit den nötigen Gebrauchsanweisungen zu versehen und das Vorwissen über die betreffenden Kommunikationskonventionen zu aktivieren. 9 Dabei ist es auf dieser Stufe der Modellbildung zweitrangig, ob es sich um einen professionalisierten Umgang mit solchen Kommunikationsweisen oder ein wenig ausdifferenziertes, z. B. spielerisches Verhalten im Alltag (Wolterstorff 1980: 233) handelt. Sekundär ist auch, inwiefern solche preface-Funktionen 10 sprachlich oder textuell Gestalt annehmen, als intrakompositionale (cf. Wolf 2013 a: 128, 130) oder paratextuelle Rahmungen in der Form einer Vorrede oder Gattungsbezeichnung im Titel etwa (cf. Dembeck 2007: 11). Als automatisierte kognitive Situationsdeutungen spannen sie einen Erwartungshorizont auf und wirken zurück auf die von ihnen gerahmte kommunikative Praxis. Von historischem Interesse ist u. a. die Frage, unter welchen Bedingungen im Kern simple Funktionen wie das Anzeigen von Autorschaft oder Gattungszugehörigkeit zu umfangreichen, intellektuell anspruchsvollen Reflexionen ausgebaut werden, wie das im 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der Romanvorrede der Fall war (Dembeck 2007: 54). Dieser Vorgang trug dann zur Erweiterung künstlerischer Möglichkeiten bei, indem Vorreden fiktionalisiert und als Herausgeberfiktionen in das ästhetische Formenspiel des Haupttextes einbezogen wurden, um so die übliche Hierarchisierung von Rahmen- und Binnentext zu überspielen (Konrad 2015: 4). 4.2 Metaisierung, ästhetische Semantik und Normativität Wenn Kommunikationstypen wiederholt in gleicher Weise adressiert und damit zu gesellschaftlichen Institutionen ausgebaut werden, kann sich eine eigens darauf bezogene Konzeptgeschichte entwickeln und in der Folge mehr und mehr verselbständigen. Mit Blick auf ästhetische Kommunikation sei auf ein für Neugermanisten einschlägiges Beispiel verwiesen, die im Rahmen der westlichen Moderne besonders wirkmächtige idealistische Kunst- und Literaturkonzeption des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, wie sie exemplarisch Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen umreißt. Die Möglichkeiten einer weitgehenden Abkopplung metakommunikativer Konzeptualisierungen von der kommunikativen Praxis werden hier weidlich ausgeschöpft. Dabei funktioniert Schillers Kunstbegriff nicht empirisch oder deskriptiv, sondern als “ engagierte Reflexion 8 Siehe auch Wolf (2013 b: 14 - 16) zu Illudierung als komplexer Mischung von Engagement und Distanz, sowie Zipfel (2013: 43) zum “ Sich-Einlassen[. . .] auf das Spiel einerseits und [. . .] Spielbewusstsein[. . .] andererseits ” . 9 Dazu mit Blick auf Fiktionalität: Zipfel 2013: 59. 10 Für Wolterstorff legt die Preface-Funktion vor allem nahe, dass zum eigentlichen Kommunikationsgeschehen eine Fiktionshaltung (fictive stance) einzunehmen sei: “ It ’ s as if every work of fiction were prefaced with the words ‘ I hereby present that . . . ’ or ‘ I hereby invite you to consider that . . . ’” (1980: 233). Jenseits der Relevanzphrase 227 über [. . .] Wirkungsmöglichkeiten ” der Kunst, die sich gleichwohl “ als eine Wesensbestimmung der Kunst ” versteht (Matuschek 2012: 403). Er dient vorrangig der Kommunikation von Hoffnungen darauf, dass Kunst zunächst dem einzelnen, dann mittelbar auch der Gesellschaft zu “ Vollkommenheit oder Freiheit oder Glückseligkeit ” (Matuschek 2012: 400) verhelfen könne, was durch eine bloße Änderung der äußeren Machtverhältnisse nach Art der Französischen Revolution nicht zu erreichen sei. Aufgrund einer hochgradigen Abstrahierung und Normativisierung von Rahmenkonzepten vermag es der entsprechende, ausdrücklich “ gegen die Erfahrung ” (Matuschek 2012: 403, Hervorh. im Original) gebildete Begriff, den Anspruch zu erheben und teils auch durchzusetzen, für Literatur und Kunst überhaupt zu gelten, ganz unabhängig davon, was faktisch an Kunst produziert und rezipiert wird. Metadiskurse dieser Art transzendieren kunstsystemspezifische Probleme, reagieren auf übergreifende gesellschaftliche Problemlagen und können ihrerseits zu wirkmächtigen historischen Faktoren avancieren, die z. B. die Bildungsinstitutionen und die staatliche Subventionspraxis nachhaltig beeinflussen. Diese bekannte, hier nur schlaglichtartig beleuchtete Entwicklung zeigt ferner, dass sich Intension und Extension des Rahmenkonzeptes Kunst in vergleichsweise kurzer Zeit grundlegend wandeln können. Anders als in der eben erwähnten idealistischen Phase hatte das frühe und mittlere Aufklärungsjahrhundert noch großen Wert auf eine hinreichende Korrespondenz zwischen Literaturbegriff und kommunikativer Praxis gelegt, Literatur meinte “ die komplette Überlieferung (historia litteraria) ” (Mellmann 2014: 100, Hervorh. im Original), einschließlich einer Vielzahl gelehrter Diskurse wie “ Geschichtskunde, Altertumskunde, die Philologien, Philosophie, Kunstkritik und alle rhetorischen Gattungen ” (Matuschek 2012: 412). Geht man noch weiter hinter den um 1800 stattfindenden konzeptuellen Vereinheitlichungsschub zurück, so zeigt sich, dass visual, verbal, and acoustic arts for a long time were not seen as three facets of one and the same phenomenon. Similarly, different poetic text types were not necessarily considered different ‘ genres of poetry ’ , or different musical forms different ‘ genres of music ’ , respectively. Rather, humans have long been content with open lists of traditions, styles, and exemplars. The quest for systematic genre categories is an utterly recent development in Western societies. And, interestingly, the emergence of a cultural concept ‘ art ’ did not at all start as an umbrella-term for aesthetic behaviours but rather for a quite diverse range of cultural activities and erudite traditions. The so called liberal arts in antiquitiy and medieval times, for example, still compromised elements that are not included in our concept of the arts today, like logic and mathematics. And until very recently, even the arts in a narrower sense did not exist as arts but as defined conventions within specific social contexts like religion (cathedral architecture, devotional tableaus, sacred music), politics (courtly ceremonies and pastimes), or education (rhetoric, school drama) (Mellmann 2013: 78, Hervorh. im Original). Literarische und ästhetische Semantiken unterliegen demnach einem erheblichen historischen Wandel und können nacheinander sehr unterschiedliche kommunikative Praktiken umfassen. Umgekehrt ordnen vergangene Epochen Praktiken, die wir heute mit Kunst assoziieren und dadurch in enger Nachbarschaft zu bestimmten anderen Praktiken verorten, unter Umständen anderen Feldern zu: [W]e might well call Shakespeare ’ s or Molière ’ s plays ‘ art ’ , for in today ’ s categories they are; but we should be aware that for their first audiences they were not. Shakespeare ’ s and Molière ’ s 228 Christoph Rauen (Kiel) contemporaries were just ‘ going to the Globe ’ or ‘ attending a theatrical presentation for the society of la cour et la ville ’ , both of which had very specific socio-semiotic implications (some of them perhaps even being identical with today ’ s implications of the ‘ art ’ -concept), but did not bear any apriori relations to, for instance, playing the lute, reading a novel, or attending the king ’ s ballet. (Mellmann 2013: 78 f., Hervorh. im Original) 5 Schluss Die zuletzt gegebenen Beispiele verdeutlichen, in welchen für die Kunst- und Literaturwissenschaften zentralen Bereichen das Thema Selbstreferenz heute relevant sein und fruchtbar gemacht werden kann, auch jenseits der Analyse von Einzelwerken. Es ging mir insgesamt darum, die aktuell zu vernehmende Kritik an der Verwendung der Kategorie Selbstreflexivität zu prüfen, um berechtigte Forderungen nach einer aussagekräftigen und reflektierten Anwendung zu unterscheiden von allzu pauschalisierenden Hinweisen auf Mängel, die auf mangelnder Kenntnis des reichhaltigen Angebotes an begrifflich differenzierten Systematisierungsvorschlägen zu basieren scheinen. Außerdem wollte ich auf wichtige aktuelle Arbeitsfelder wie zum Beispiel die Konzeptgeschichte des Literarischen hinweisen, für die Selbstreflexivität als Strukturelement eine wichtige Rolle spielt, die aber bei der vorherrschenden Fokussierung der Diskussion auf Selbstreflexivität als Differenzqualität erst gar nicht in den Blick kommen. Bibliographie Dembeck, Till 2007: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Texte im 18. Jahrhundert. (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin: De Gruyter. Eibl, Karl 1971: “ Ästhetische Rolle. 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Rather it suggests that the audience opens themselves to the play without prejudice. Vorbemerkung Ludwig Tieck kombiniert in seinem Drama Die verkehrteWelt (1797/ 99) die beiden Topoi des mundus inversus und des theatrum mundi. Diese Zusammenführung von verdrehter Weltordnung und Welttheater wird mit scharfzüngiger Zeit- und Kulturkritik verknüpft. Die dafür verwendete Fülle an Techniken und Effekten lässt das Kunstwerk immer wieder auf sich selbst reflektieren: Zuschauer greifen in das Bühnengeschehen ein; Schauspieler diskutieren mit ihren Schriftstellern und Theaterdirektoren das weitere Vorgehen oder reflektieren - wie der Wirt - die Funktion ihrer Rolle im Theaterbetrieb; auch rebellieren Charaktere gegen ihr vorgegebenes Verhaltensmuster oder werden nassgeregnet, nur weil das Publikum ein Gewitter wünscht. Von besonderer Bedeutung ist die Konstruktion des Spiels im Spiel: Ein Stück im Theaterstück wird aufgeführt, in dem wieder ein Stück aufgeführt wird etc. Dabei findet eine Durchmischung der verschiedenen diegetischen Ebenen statt, die eigentlich klar voneinander getrennt werden müssten. Gerade durch diesen Mangel einer scharfen Trennung wird jedoch ein Effekt erzielt, der dynamisch die verschiedenen Ebenen durchbricht, miteinander verbindet und - so meine zentraleThese - schlussendlich das realeTheaterpublikum und den Leser dazu zwingt, seine eigene Rolle zu reflektieren. Von der Forschung blieb Die verkehrte Welt weitgehend unberücksichtigt. Die vorhandenen, vor allem älteren, Publikationen unterstellen mangelnden künstlerischen Gehalt und werten entweder die frühen Dramen Tiecks insgesamt ab, 1 oder postulieren eine 1 Dominiert wurde die ältere Forschung von Haym, worin die Tieck ’ schen Dramen insgesamt eine Abwertung erfuhren (cf. 1961: 99 ff.). vermeintliche Nachrangigkeit der Welt gegenüber dem gestiefelten Kater. 2 Dieser Auffassung soll an dieser Stelle entschieden widersprochen werden, was auch die jüngere Forschung teilweise einsieht. 3 Insgesamt ist die Anzahl der Beiträge überschaubar, die erzielten Ergebnisse jedoch leider häufig widersprüchlich, was nicht zuletzt ungenauen Analysen zu Last gelegt werden muss. 1 Grenzen und ihre Überschreitbarkeit Das gesamte Werk wird von einer Vielzahl von Grenzen durchzogen: zwischen Bühne und Parterre, zwischen Zuschauern und Schauspielern, zwischen Schauspieler und Rolle oder den verschiedenen Lagern, die sich gegenseitig bekriegen. Diese Grenzen sind jedoch alles andere als starr, sondern werden die gesamte Handlung über auf mannigfaltige Weise verschoben, überschritten und verwischt. Dies ist deshalb bedeutungstragend, da innerhalb der Diegese Strukturen wiederholt werden, die für den Kunst- und Theaterbetrieb insgesamt relevant sind. Von der ersten Szene an wird dies durch die Inszenierung einer Aufführungssituation deutlich. 1.1 Die Spiegelung theatraler Grundstrukturen und ihre Verkehrung Die dargestellte Welt bildet ein Theater ab mit Bühne, Parterre, Theaterensemble und Publikum. 4 Auf der ersten diegetischen Ebene 5 findet sich die prinzipielle Trennung des Raumes in zwei disjunkte Teilräume: Zuschauerraum und Bühne. Was in der historischen 2 Cf. u. A. Strohschneider-Kohrs 1977: 321: “ [. . .] unter Anwendung der verschiedenartigsten Stilmittel und mit dem Hinzusetzen immer neuer Motive und Inhalte geht die Möglichkeit einer Intensivierung und Potenzierung des Spiels in der Ironie verloren. ” Sie resümiert: “ Auf diese Weise ist das Motiv des Spiels der Bühne mit sich selber nur zu Rede und Inhalt der Satire und Allegorie in der ‘ Verkehrten Welt ’ herabgesunken ” (ibid.: 223). 3 So etwa der sehr erhellende, allerdings auch bereits ältere Beitrag von Galaski (1984). Nur sehr knapp aber durchaus auch positiv urteilt Stefan Scherer (2003: 319 - 326). Der erst jüngst erschienene Beitrag von Anja Ohmer bezeichnet die Welt gar als “ großartige Komödie ” (Ohmer 2011: 28). Leider findet sich dort aber keinerlei neuer Erkenntnisgewinn. 4 Alfred Behrmann ist zuzustimmen, wenn er in der Bezeichnung “ das Theater stellt ein Theater vor ” (Tieck 1964: 9, Hervorh. im Original) bereits eine Vielzahl von Bedeutungen erkennt: “ Das Theater, das sich hier vorstellt, ist erstens der Spielort mit seinem Zubehör an Requisiten, Maschinen, Personal: der Apparat. Zweitens, mindestens in Teilen, das Abbild seiner derzeitigen Verfassung: das Institut. Drittens das Ensemble literarischer Theaterkonventionen: die literarische Komödie. Dies alles zugleich oder abwechselnd, durch-, in- oder übereinander, im allermuntersten Allegro ” (Behrmann 1985: 156, Hervorh. im Original) Die Einteilung in Apparat, Institut und Komödie wird an dieser Stelle allerdings nicht übernommen, sondern durch die wesentlich trennschärfere Unterscheidung der diegetischen Ebenen und semantischen Räume ersetzt. Sehr hilfreich sind aber in jedem Falle die von Behrman detailliert aufgezählten Verweise in der verkehrten Welt auf Texte der Weltliteratur (cf. Behrmann 1985: 158 - 161). 5 Verwendet wird die Terminologie von Schmid (²2008), die zur Analyse komplexer Texte wie Die verkehrte Welt geeignet ist. Schmid baut direkt auf Genette auf, umgeht jedoch dessen terminologische Unschärfe. Er unterscheidet einerseits diegetisch und nicht-diegetisch, also ‘ ist Teil der Handlung ’ und ‘ ist nicht Teil der Handlung ’ (Genette: homodiegetisch und heterodiegetisch) und nummeriert ansonsten die verschiedenen diegetischen Ebenen schlicht durch, also Sprecher der primären, sekundären, etc. Ebene. Bei Genette wird es spätestens ab der dritten diegetischen Ebene chaotisch. Eine Übersichtstabelle Genette-Schmid findet sich bei Schmid (2008: 89). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 233 Realität - abhängig freilich von der jeweiligen Theaterkonvention 6 - scharf voneinander getrennt ist und damit prinzipiell eine unüberschreitbare Grenze aufweist, wird gleich zu Beginn der Handlung als überschreitbar markiert: Der Schauspieler Pierrot hat keine Lust zu spielen und wechselt zu den Zuschauern: “ Ich will einmal über die Lampen hinweg den berühmten Sprung vom Felsen Leukathe in das Parterre hineinthun, um zu sehen, ob ich entweder sterbe, oder von einem Narren zu einem Zuschauer kurirt werde ” (Tieck 1964: 12) 7 . Grünhelm, einer der Zuschauer, möchte sich dagegen gerne einmal auf der Bühne versuchen und übernimmt die Rolle des Hanswurst. Die Grenze erweist sich durch das Hinwegsetzen zweier Figuren in beiden Richtungen als durchlässig, was durch die beständige Kommunikation zwischen Zuschauern und Theaterensemble die gesamte Handlung über verbal wiederholt wird. Zum Schluss stürmen die Zuschauer gar die Bühne und greifen somit massiv in die Handlung ein. Es entsteht eine verkehrte Welt also in dem Sinne, dass die für eine erfolgreiche Bühnenillusion notwendige Trennung zwischen üblicherweise passiven Zuschauern und Theaterensemble, das entweder nicht sichtbar (Souffleur, Theaterdirektor, Poet, etc.) oder mit einer Rolle bekleidet ist (Schauspieler), nicht aufrecht erhalten wird. Eine weitere übliche Trennung wird ebenfalls ganz klar und gezielt unterwandert, was in der Forschung gerne übersehen wird: 8 Die Unterscheidung zwischen Schauspieler und Rolle, bzw. zwischen Theaterrequisite und dargestellter Welt - in der hier verwendeten Nomenklatur also die Trennung der ersten von der zweiten diegetischen Ebene. Dies geschieht allein schon durch die logisch nicht trennscharfe Benennung der Sprecher: Pierrot ist eigentlich der Schauspieler X, der üblicherweise die Rolle des Pierrot übernimmt, während Scaramuz der Schauspieler Y ist, der für gewöhnlich den Scaramuz spielt - und diesmal gerne die Rolle des Apoll übernehmen möchte. ‘ Scaramuz spielt Apoll ’ ist im Rahmen einer allgemeingültigen Logik unzulässig, das Auslassen der eigentlich notwendigen Instanz des Schauspielers also bedeutungstragend. Gleiches gilt, wenn der Poet oder der Theaterdirektor mit Scaramuz einen Dialog führen: Sie müssten eigentlich den dahinterstehenden Schauspieler ansprechen. Erreicht wird hierdurch eine Übertragung der semantischen Merkmale der Rolle aus der commedia dell ’ arte bzw. théâtre italien auf die Zunft des Schauspielers: 9 Ihr Verhalten wird auch dann, wenn sie eigentlich nicht spielen, 6 Pestalozzi weist auf den Einfluss des Barocktheaters auf Tiecks Werk hin, insbesondere Christian Weises “ Lust Spiel/ Von der/ Verkehrten Welt ” (Pestalozzi 1964: 102 f.) 7 Zitiert nach Tieck/ Pestalozzi (1964). Die Ausgabe entspricht der Erstveröffentlichung von 1799 in den Bambocciaden. 8 Eine der wenigen Ausnahmen ist Galaski die es explizit anspricht und auch auf die Wichtigkeit dieser Vermischung hinweist: “ [Es] sind nun jedoch zumindest theoretisch zwei verschiedene Spielebenen unterscheidbar: die der fiktionalen Theaterwirklichkeit, auf der eine Figur als Darsteller mit Direktor und Publikum reden kann, und die des fiktionalen Bühnenspiels, auf der ein Darsteller seine Bühnenrolle spielt, wie er sie versteht ” (1984: 28). 9 Alfred Behrmann geht noch einen Schritt weiter und meint, in Scaramuz eine Anspielung auf Klopstock zu erkennen, was durchaus im Rahmen des Möglichen liegt, an dieser Stelle aber nicht weiter von Interesse ist (cf. Behrmann 1985: 139, 148). Karl Pestalozzi kann trotz seiner größtenteils sehr aufschlussreichen Analyse nicht zugestimmt werden: Er unterstellt eine “ Grundtorheit ” des Menschen, die in den commedia dell ’ arte Figuren lediglich besonders augenscheinlich sei. Daraus schließt er: “ Die Instanz, von der das Gelächter ausgeht und auf die es hinführt, kann einzig Gott sein ” (Pestalozzi 1964: 106). Diese Behauptung wird durch den Text nicht einmal ansatzweise gestützt. Ganz im Gegenteil distanziert sich die Welt viel mehr auf humoristische Weise 234 Michael Buhl (München) durch ihre Rolle dominiert. Sie stehen also exemplarisch für eine bestimmte Klasse von Schauspielern. Der etwas dümmliche, bornierte Scaramuz gestaltet die Theaterwelt nach seinen Vorstellungen um, während der intrigante Pierrot das Publikum aufstachelt und durch Vereinbarungen der Schauspieler untereinander Einfluss auf die Bühnenhandlung ausübt: “ [W]ir Schauspieler haben uns alle die Hand darauf gegeben, daß keiner von uns sterben will, folglich geht ’ s nimmermehr durch, wenn es auch der Dichter im Sinn haben sollte ” (Tieck 1964: 16). Ähnlich wie die Schauspieler eine gewisse semantische Aufladung erfahren, werden auch die Zuschauer einerseits durch ihre exemplarischen Vertreter, die die Handlung ständig kommentieren, und andererseits durch die Zuweisung des Prädikats “ Narr ” negativ semantisiert. Hierauf wird weiter unten noch näher eingegangen. Wesentlich offensichtlicher als bei der ungenauen Bezeichnung der Schauspieler wird die Vermischung der beiden Ebenen durch die unscharfe Dichotomie aus Theaterrequisite und Bühnenillusion: Gerade diskutieren Grünhelm und Scaramuz-als-Apoll mit den Zuschauern über den Fortgang des aufzuführenden Stücks, als im nächsten Moment ein Bote auftritt und in Blankversen über den Verbleib des bisherigen Apoll berichtet (cf. Tieck 1964: 15): Er verdinge sich als Schafhirte beim König Admet. Ohne die üblichen Techniken - Abdunkelung, Musikeinlage, Vorhang - also, wird von der fiktiven Theaterwirklichkeit (Diegese I) zu der dargestellten Welt übergeleitet, also der für das fiktive Publikum gespielten Handlung (Diegese II). Den gesamten Dramentext über changiert das Geschehen zwischen diesen beiden Ebenen, so dass die theoretisch voneinander getrennten Bereiche ständig vermischt werden und quasi zu einer einzigen verschmelzen. Ein auffällig hoher Grad der Vermischung findet sich vor allem in denjenigen Handlungssträngen, die auf Scaramuz zentriert sind, während der echte Apoll und die ihm zugewiesenen Figuren im Normalfall in ihrer Rolle verbleiben. Das Initialereignis der Diegese II ist demnach die Flucht des Apoll - die jedoch durch den Rollentausch des Scaramuz in der ersten diegetischen Ebene hervorgerufen wurde. Scaramuz-als-Apoll lässt sich den Parnass hereintragen ( “ Vier Statisten bringen den Parnaß herein ” , Tieck 1964: 16, Hervorh. im Original), setzt sich darauf und beginnt damit, sein neues Herrschaftsgebiet zu transformieren: “ Jetzt aber hat die Aufklärung um sich gegriffen, und ich regiere ” (ibid.). Wasser aus dem Castilischen Quell wird in Flaschen abgefüllt und verkauft, eine Hypothek auf den Berg aufgenommen, eine Brauerei und ein Backhaus errichtet, “ mit dem Pegasus und allem übrigen Vieh [. . .] wird die Stallfütterung eingeführt ” (Tieck 1964: 17) und von den Musen Miete verlangt. Nicht nur auf sprachlichmetaphorischer Ebene wird die Kunst in Gestalt von Parnass, Musen etc. monetären Zwängen unterworfen, sondern auch das Ende von Freibillets unter das gleiche Paradigma gestellt - die Vermischung der Ebenen legt hier also eine Analogie zwischen der Transformation des Raumes innerhalb der Dramenwelt, der Welt des Theaters und derjenigen der Kunst nahe. Das Schlagwort, unter dem diese Änderungen stattfinden, ist das der Aufklärung: Das Nützlichkeitsdenken steht im Vordergrund. Innerhalb der dargestellten von dem Komplex um Glauben, Gott, etc. Die Anmerkung Pestalozzis, die im Wesentlichen eine vermeintliche Grundposition romantischer Literatur widergibt, erstaunt umso mehr, da Pestalozzi selbst auf das Verhältnis Ludwig Tiecks zur Religion hinweist: Seine Hinwendung zur Religion erfolgt erst relativ spät, was auch die Überarbeitung in späteren Fassungen erklärt. Der junge Tieck steht der Thematik eher skeptisch gegenüber (cf. Pestalozzi 1964: 96). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 235 Welt gilt, was nützlich ist, das ist gewinnbringend. Damit wird in übertragenem Sinne auf die aufklärerische Forderung angespielt, Kunst solle eine Erziehungsfunktion übernehmen. Die Verwandlung von Pegasus in einen Esel gibt in nuce die Aussage des Textes über die Qualität der so entstandenen Kunst wieder. 1.2 Textstruktur: diegetische Ebenen Der Übersicht halber soll die Konzeption des Werks kurz dargestellt werden. Zu unterscheiden ist der nicht-diegetische Teil des Textes, also die Zwischenakte in Form von Verbalmusik, und der diegetische Teil. Innerhalb der Diegese finden sich wiederum vier verschiedene Ebenen: Die Diegese I, in der Publikum, Maschinist, Schauspieler, etc. agieren. Das darin aufgeführte Theaterstück Diegese II, in dem Scaramuz die Rolle des Apoll spielt, während der echte Apoll flieht und versucht, seine ursprüngliche Stellung zurückzuerlangen. Das darin wiederum aufgeführte Rührstück, Diegese III, das für Scaramuz-als-Apoll gegeben und von den Musen, Grünhelm und dem Fremden inszeniert wird. Darin eingebettet ist ein weiteres Stück: das Schäferspiel, Diegese IV. Das Stück der Diegese III wird aber nur vorgeblich zu Ehren von Scaramuz ’ Geburtstag aufgeführt. Eigentlich soll damit die Verheiratung der Muse Melpomene mit dem Fremden bewirkt werden: 10 Das heißt, die Aufführung findet nur vordergründig zur reinen Unterhaltung statt, bezweckt aber eigentlich etwas ganz Bestimmtes. Um dies zu erreichen ist zum einen eine komplexe Dramenkonstruktion nötig - es findet sich ja auch dort eine weitere Verschachtelung - zum anderen ein Durchbrechen der vorgeführten Illusion: Die Figuren fallen bei einem Zwischenruf Scaramuz ’ aus ihren Rollen und bitten nicht mehr als Emilie und junger Mensch, sondern als Melpomene und der Fremde um die Erlaubnis zur Heirat. Hier wird also das Prinzip, das Die verkehrte Welt insgesamt auszeichnet, auf das Stück im Stück übertragen. In beiden Fällen steht die eigentliche Handlung nicht im Vordergrund und in beiden Fällen - so ist zu schließen - wird etwas mit dem Werk bezweckt. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass Die verkehrte Welt nicht lediglich dem Prinzip l ’ art pour l ’ art folgt, sondern durchaus über sich selbst hinaus verweist, um beim Rezipienten etwas zu bewirken. Strukturen wiederholen sich auf den verschiedenen diegetischen Ebenen, wobei der Grad der Komplexität von Diegese IV zu I beständig zunimmt und die Realität - gewissermaßen als Ebene null - zumindest implizit in dem Modell enthalten ist. Scaramuz und sein Gefolge agieren als Publikum und kommentieren die Handlung des aufgeführten Rührstückes (Diegese III) ungeniert - genauso wie es das fiktive Theaterpublikum der Diegese I mit der Handlung der Diegese II macht. Das Rührstück (Diegese III) handelt von einem Vater, der die Verheiratung seiner Tochter nicht gestatten möchte. Um ihn doch noch umzustimmen, beschließen die beiden Verliebten ein Theaterstück aufzuführen: ein Schäferspiel - die Ebene Diegese IV - also eine erneute Wiederholung einer bereits bestehenden Situation. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, auf die genaue Konstruktion der einzelnen Stücke und die verschiedenen Rollenzuweisungen einzugehen. 10 Scaramuz verweigert die Hochzeit der tragischen Muse Melpomene mit dem Fremden, denn “ die Musenkompagnie darf nicht inkomplett werden. Wo sollten wir hernach die tragischen Scenen in unserem Stücke herkriegen, wenn sich Melpomene aus dem Stücke heraus verheiraten wollte? Das geht nimmermehr ” (Tieck 1964: 35). 236 Michael Buhl (München) Einen guten Überblick bietet Behrmann (1985: 145 f.). Untersucht werden soll hier der Zweck und die Funktion dieses Vorgangs: Zum einen wird durch die Aufführung weiterer Schauspiele eine Vielzahl semantischer Räume erschaffen, die ein komplexes Geflecht von Grenzüberschreitungen ermöglichen, zum anderen wird durch die Spiegelung der Aufführungssituation das Theaterpublikum zu einer Selbstreflexion gezwungen. Insgesamt weist das Stück damit beständig über sich selbst hinaus und evoziert ein dynamisches Bedeutungskomplex durch seine Form der Uneigentlichkeit. Die Welt ist also auf vielfache Art und Weise ‘ verkehrt ’ : Das Publikum ist selbst Bestandteil des Spiels, da die Theatersituation innerhalb der Diegese I abgebildet wird. Die strikte Trennung zwischen Zuschauern und Theaterensemble wird allerdings gezielt aufgehoben: Pierrot setzt sich ins Parterre, während der Zuschauer Grünhelm als Akteur auf der Bühne steht. Des Weiteren ist die Trennung von Schauspieler und der gespielten Rolle unscharf: Beides verschmilzt, wenn Scaramuz den Apoll spielt und mit dem Theaterdirektor und den Zuschauern das weitere Vorgehen diskutiert. Das Spiel der auf der Bühne dargestellten Welt (Diegese II) beginnt unvermutet mit der Meldung über die Flucht des bisherigen Apoll - noch bevor der Direktor die Bühne verlässt. Die gesamte Handlung über wechselt, deckt und überschneidet sich das topografisch übereinander liegende, topologisch aber grundsätzlich strikt getrennte Spiel der beiden diegetischen Ebenen I und II. Diese Tendenz wird in zwei Richtungen verstärkt: Zum einen werden weitere Spiele innerhalb des Spieles aufgeführt und damit neue, tiefere diegetische Schichten geschaffen. In entgegengesetzter Richtung zwingt diese Technik aber auch die fiktiven Zuschauer, ihre eigene Situation zu reflektieren, und wirkt damit über den Rahmen des Gesamtkunstwerkes hinaus bis zu dem realen, historischen Rezipienten. Dadurch wird eine Metaebene geschaffen, die zur Kunst- und Kulturreflexion führt. 1.3 Grenzüberschreitungen Die wohl wichtigste und offensichtlichste Grenzüberschreitung wurde eingangs bereits angesprochen: Der Rollentausch von Zuschauer und Schauspieler, von Grünhelm und Pierrot. Die semantischen Räume Bühne und Zuschauerraum sind räumlich durch eine physisch erkennbare Grenze - die Rampe - voneinander geschieden. Ein Hinwegsetzen über diese Grenze ist eine eindeutige Grenzüberschreitung und damit nach Lotman prinzipiell ereignishaft. Im Falle Grünhelms ist der Vorgang offensichtlich: Er wechselt hinüber in den Gegenraum der Bühne, agiert dort die meiste Zeit der Handlung über und kehrt schlussendlich in seinen Ausgangsraum zurück. Während seines Aufenthaltes auf der Bühne passt er sich so gut wie möglich den Gegebenheiten an, bis die Spannungen zu groß werden und er die Rückkehr vorzieht. 11 Das durch seinen Übertritt entstandene Ereignis wird also schlussendlich getilgt. Anders verhält es sich bei Pierrot: Auch er übertritt zwar die gleiche, physische Grenze, scheint aber in keinerlei Spannungsverhältnis mit dem neuen semantischen Feld Zuschauerraum zu stehen. Hinzu kommt, dass er sowohl seinen Namen Pierrot beibehält, als auch den Charakter seines Rollenfachs. Daraus folgt, dass der Text die 11 Cf. 89 f. Grünhelm ist nicht bereit, in der finalen Schlacht zwischen Scaramuz und Apoll teilzunehmen, sondern kehrt zurück zu seinem Dasein als Zuschauer. Hierdurch setzt er sich klar vom übrigen Publikum ab, deren Bewegung zwischen Parterre und Bühne sich ja genau gegenläufig vollzieht. Siehe hierzu auch unten. Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 237 fiktiven Zuschauer mit einer bestimmten Klasse von Schauspielern und einem bestimmten Teil des Theaterensembles korreliert. Es ist also zu hinterfragen, ob die physische Trennung in Zuschauerraum und Bühne mit der Trennung der semantischen Räume übereinstimmt. Wie bereits der Dramenauftakt deutlich macht, besteht innerhalb des semantischen Raums Bühne eine deutliche Spannung zwischen dem Poeten auf der einen Seite und Scaramuz und Pierrot auf der anderen: Die beiden Schauspieler aus dem Narrenfach widersetzen sich den Vorgaben, die der Poet als Verfasser des Stückes ihnen macht. Direktor Wagemann schlichtet den Streit zugunsten der beiden Darsteller: “ Sehn Sie, ich denke so: bezahlt haben die Zuschauer nun einmal, und damit ist das Wichtigste geschehn ” (Tieck 1964: 12). Auch in der Diegese I wird also auf Grund finanzieller Interessen entschieden und damit die Verkehrung der Theaterwelt überhaupt erst ermöglicht. Für diese Handlungsebene ist es demnach sinnvoller, die Unterteilung in Zuschauerraum und Bühne zu Gunsten der beiden semantischen Felder Kunst als Wert an sich und zweckgebundene, monetär nützliche Kunst zurückzustellen. Diese Dichotomie zieht sich in den verschiedensten Variationen durch die gesamte Welt. Auf der Ebene der Diegese I lassen sich die Narren, die Zuschauer, der Direktor und der Maschinist als Gruppe zusammenfassen. Sie alle versuchen, den Verlauf des Stücks ihren eigenen Interessen unterzuordnen: Die Schauspieler wollen ihre Eitelkeiten durchsetzen und nicht frühzeitig sterben; die Zuschauer wünschen Unterhaltung, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen; Wagemann achtet nur auf die Eintrittsgelder und der Maschinist möchte sich mit seinen technischen Spielereien profilieren. 12 Dem Poeten dagegen lassen sich noch diejenigen Schauspieler zuordnen, die den gesamten Handlungsverlauf über in ihrer Rolle bleiben, also alle diejenigen, die auf der Seite Apolls stehen und gerade dadurch auffallen, dass sie das nun in der Diegese I entstandene Problem - die Dominanz des semantischen Raums der monetär nützlichen Kunst - nur auf der Ebene der Diegese II bekämpfen: sie werden nicht als Schauspieler aktiv. Apoll ist es dann, der durch seine Flucht die Handlung auf eine andere Ebene verlagert: Direktor Wagemann muss noch abtreten und der Parnass hereingetragen werden, ehe Scaramuz mit der Transformation seines Herrschaftsgebietes beginnt. Apoll wird für seine Vergehen steckbrieflich gesucht, was unter anderen den Fremden nicht verwundert, “ da er sich durchaus auf keine ernsthafte Studien legen wollte. Das kömmt von der Belletristerei, wenn man sie nicht zum Nutzen der Menschheit anwendet ” (Tieck 1964: 30). Die gegen Apoll erhobenen Vorwürfe geben die Kunstauffassung deutlich wieder, die durch ihn repräsentiert wird: “ Er soll sich unterstanden haben, die Phantasterei einzuführen, hat Tragödien geschrieben [. . .], hat die moralische Tendenz durchaus vernachlässigt, in Summa, er hat der ganzen kultivierten Welt ein großes Ärgerniß gegeben ” (ibid.: 31). Diese Kunstauffassung wird durch einen hohen Sprachstil unterstrichen, wie bereits die ersten von Apoll geäußerten Verse verdeutlichen: “ Wie freundlich lächelt mir die stille Gegend,/ Die gern und liebevoll den Gott empfängt./ Hier hör ’ ich früh das lust ’ ge Lied der Lerche,/ Die sich mit ihren Tönen aufwärts schwingt [. . .] ” (ibid.: 22). Auch stammt das ihm 12 Der Maschinist empfiehlt sich nach dem Gewitter selbst: “ MASCHINIST. Recommandire mich, ich wohne hier gegenüber in dem großen Eckhause, wenn etwa Nachfrage nach mir seyn sollte. Ich verstehe es auch vortrefflich, Feuerwerke zu arrangiren und mit Geschmack eine Illumination einzurichten ” (Tieck 1964: 27). 238 Michael Buhl (München) zugeordnete Figureninventar aus der antiken Tragödie und trägt ähnlich klingende Namen: Admet, Alceste, Aulicus, Myrtill etc. Scaramuz dagegen fällt es schwer, in seiner Rolle zu bleiben. Sein Auftritt schillert gewissermaßen: Ständig wechseln die Ebenen Diegese I und Diegese II, was eine permanente Grenzüberschreitung zur Folge hat. Hier gilt es zu fragen, in wieweit diese Grenzüberschreitungen als Metalepsen aufzufassen sind. Einerseits folgt der Wechsel der diegetischen Ebenen an und für sich dem Prinzip der Metalepse - die Grenzüberschreitung ist eigentlich unzulässig. Andererseits geschieht sie so häufig, dass man die beiden Ebenen I und II eigentlich nicht als getrennt voneinander auffassen kann: Die Grenze an sich wird transformiert. Die Überschreitung wird irgendwann selbstverständlich und verliert damit ihre Ereignishaftigkeit. Darüber hinaus ist der Bruch durch die besondere Form des Theaters wesentlich weniger stark: Ein Schauspieler, der aus der Rolle fällt, bricht die Illusion weit weniger, als z. B. eine Romanfigur, die ihren Autor sucht. Von daher ist der Begriff der Metalepse meines Erachtens in diesem Werk eher ungeeignet, um den Vorgang zu beschreiben. Scaramuz hört sich dann die traurige Lebensgeschichte der Muse Melpomene an: Ihre Eltern sind früh gestorben und ihr Verehrer, der als der Fremde in die Handlung eingeführt wird, war zu arm, um sie zu heiraten, so dass sie “ aus Desparation unter die Musen gegangen ” sei (ibid.: 19). Als Scaramuz anschließend von Thalias Treue erfährt, die Melpomene seit der Zeit in ihrem Elternhaus begleitet, verspricht er: “ Warte den letzten Akt ab, so kann deine Treue unmöglich unbelohnt bleiben ” (ibid.). Was sich schlussendlich nicht erfüllt: Grünhelm, mit dem sie die meiste Zeit der Handlung über glücklich verheiratet ist, verlässt sie im letzten Akt. Den Regen, der auf Verlangen des Publikums einsetzt, kommentiert er ebenfalls auf der falschen Ebene: “ Wo Henker kommt denn das Gewitter her, davon steht ja kein einziges Wort in meiner Rolle. Was sind das für Dummheiten! ” (Ibid.: 25). Rechenschaft lässt er sich vom Maschinisten ablegen, der wiederum auf die Zuschauer verweist. Als im vierten Akt Direktor Wagemann kurz aus seiner Rolle als Neptun fällt und droht, Scaramuz zu entlassen - ihn also in der Diegese I anspricht, aber zu Gunsten des Fortgangs der Diegese II den Tadel abbricht - reagiert Scaramuz umgekehrt: “ Mir den Abschied? Einem Könige den Abschied? Nun hört nur Leute, welche revolutionäre Gesinnungen der Wassernix da von sich giebt ” (ibid.: 72) Scaramuz ist also so sehr von seinen egoistischen Interessen geleitet, dass es ihm unmöglich ist, sich an ein vorgegebenes Dramenkonzept zu halten. Vielmehr wählt er sich immer genau die Lösung, die ihm den größten Vorteil verspricht. Die Kosten dafür sind eine permanente Illusionsbrechung. Bedeutsam ist im Kontext der Grenzüberschreitung des Scaramuz die Figur des Direktor Wagemann, der zu Beginn ausschließlich als er selber auftritt und zunächst auf der Seite von Scaramuz steht. Seine ursprüngliche Auffassung darüber, wie er als Theaterleiter zu agieren habe, rechtfertigt seine Entscheidung: “ Ich sah mir das Ding ruhig mit an, weil es mir im Grunde gleichgültig ist, wer Apoll genannt wird. Ich spiele meine Stücke, wie sie das Zeitalter mit sich bringt, und weiter hab ’ ich mich auch nie darum gekümmert ” (ibid.: 79). Seine Entscheidung, sich dann gegen Scaramuz zu stellen, vollzieht sich in zwei Schritten: Die Ebene, in der er aktiv wird, wechselt von Diegese I zu Diegese II, indem er an der Verschwörung im Haus des Wirts teilnimmt und sich mit Poet, Schriftsteller, Admet, Alceste, den Schäfern und selbstverständlich Apoll berät. Zum anderen übernimmt er die Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 239 Rolle des Neptun, greift also auch aktiv in die Handlung der Diegese II ein. Damit begeht er eine entscheidende Grenzüberschreitung und wechselt vom semantischen Raum der monetär nützlichen Kunst zum semantischen Raum der Kunst als Wert an sich. Bevor das Verhalten des Publikums untersucht wird, das für den Ausgang der Handlung der vermischten Ebenen Diegese I/ II verantwortlich und insbesondere auch für die Aussage des Gesamttextes von fundamentaler Wichtigkeit ist, soll die Einteilung der beiden semantischen Konzepte Kunst als Wert an sich und monetär nützliche Kunst anhand der Figur des Apoll 13 nochmals genauer bestimmt werden. Erstaunlich ist, dass diese Figur, die in personam für die vermeintlich zu bevorzugende Kunstauffassung steht, selbst nicht durchweg positiv konzipiert ist: Auch Apoll hält sich nicht an seine Rollenkonzeption, gerade am Ende der entscheidenden Verschwörungsszene. Als er seine wahre Identität zu erkennen gibt, beginnt er mit einerAussage, die an Nonsense grenzt, 14 um dann aus der Rolle zu fallen: “ Ich bin ein Mann, vor dem sogar die Rezensenten einige Achtung hegen, ich habe alle Magister zu beschützen, ich bin oft in Stein gehauen [. . .] ” (Tieck 1964: 81). Hierzu passt auch die Dankesszene der Tiere im Wald: EIN LÖWE. Ich bin Ihnen unendlich verbunden, Herr Schäfer, Sie haben mit Ihrer vortrefflichen Kunst so lange an mir gezähmt, bis es Ihnen doch gelungen ist, etwas Bildung in mich hineinzubringen. APOLL. Ich freue mich, wenn ich Ihnen habe nützlich seyn können. LEOPARD. Ich bin auch gesittet und spüre ein ordentliches Verlangen nach den Künsten in mir, so wie nach guter Gesellschaft. EIN EICHBAUM. Ich fühle mich jetzt auch ganz menschlich, so viel hat Ihre Musik auf mich vermocht. TYGER. Wenn man mir jetzt eine Pension gäbe, wollt ’ ich mich nie mehr mit Würgen beschäfftigen. APOLL. Geht jetzt zu den Menschen, da Ihr veredelt seyd. Es ist leicht möglich, daß Ihr besser seyd, als sie (ibid.: 36). Die Ironie ist unübersehbar, selbst der Eichenbaum fühlt sich jetzt als Mensch. Die Veredelung der wilden Tiere hat aber ähnlich absurde Folgen wie ihre gesamte Verwandlung. “ Ihr Herren wollt also nützlich seyn? ” fragt Scaramuz, als sie an seinem Hof erscheinen. “ Ja mein König ” , entgegnet der Wolf, “ wir spüren eine unendliche Begierde nach einer guten Besoldung ” (ibid.: 40). Die Auswirkungen der apollinischen Kunst sind also nicht zwingend mit der positiv gesetzten Kunstauffassung vereinbar, was durchaus auch an der Beschaffenheit der Schüler liegen wird: Auch sie sind dem monetären Streben verfallen. Den deutlichsten Bruch mit der Bühnenillusion begeht Apoll, indem er einen Sprung über zwei diegetische Ebenen hinweg macht: Ganz am Ende stürmen die Zuschauer die Bühne 13 Von Interesse ist hier ausschließlich, wie die Figur des Apoll im Text Die verkehrte Welt semantisiert wird. Versuche hierin eine Karikatur Goethes zu entdecken, wie es Pestalozzi (1964: 120) macht, sind an dieser Stelle von keinem Wert für die Analyse. 14 “ APOLL. [. . .] Ich bin Apollo! ALLE. APOLLO? APOLL. Niemand anderes. Erschreckt nicht, meine Freunde, vor meiner Gottheit, denn im Grunde bin ich doch nur ein Narr, wie Ihr alle, selbst die Götter sind doch nur Götter, in so fern ihr keine seyd, und das ist immer noch blutwenig ” (Tieck 1964: 81). 240 Michael Buhl (München) und verhindern die Restitution des echten Apoll - der sich mit seinem Ausruf schlussendlich als unecht entlarvt: “ Aber meine Herren, Sie vergessen in Ihrem Enthusiasmus ganz, daß wir alle nur Schauspieler sind, und daß das Ganze nichts als ein Spiel ist. ” 15 Auch die fiktiven Zuschauer werden schlussendlich also als Schauspieler identifiziert und das von der Instanz, die sonst am stärksten dafür einsteht, an der überlieferten Dramenkonzeption festzuhalten und die Kohärenz der Handlungsstränge zu wahren. Die beiden semantischen Räume Kunst als Selbstzweck und monetär nützliche Kunst sind also nicht scharf voneinander getrennt: Die Grenze wird vielmehr diffus. Der Text hätte durchaus auch anders konzipiert sein können, so dass es sich hier um eine gezielte Textstrategie handelt. Der Effekt, der durch eine diffuse Grenze und der damit einhergehenden Auflösung einer klaren Semantisierung als wünschenswerte oder problematische Kunstform hervorgerufen wird, ist um ein Vielfaches subtiler als der ständige Ebenenwechsel des Scaramuz. Dies hat jedoch sehr ähnliche Auswirkungen, die sich auch in den tiefer verschachtelten diegetischen Ebenen wiederholen, die im Zusammenhang mit der Rolle des Publikums untersucht werden sollen. Die Unterscheidung der beiden semantischen Räume Bühne und Zuschauerraum tritt also wegen des Vermischens der beiden diegetischen Ebenen I und II in den Hintergrund. Viel wichtiger für den Text sind die beiden Kunstkonzepte, die sich gegenüberstehen. Bedeutsam ist dabei die Korrelation der fiktiven Zuschauer mit den Narrenfiguren um Scaramuz. Typisch für diese Gruppe ist ihre egoistische Handlungsmotivation: Sie verfolgen ihre eigenen Ziele, ohne sich dabei den Regeln des Dramas zu unterwerfen. Ihnen gegenüber steht die Gruppe um Apoll, die mit der antiken Tragödie korreliert und grundsätzlich nur in der Diegese II aktiv wird. Durch die Entscheidung des Direktor Wagemann entsteht zu Dramenbeginn eine Dominanz des semantischen Raums der monetär nützlichen Kunst, die Apoll in die Flucht zwingt und schlussendlich in der Verschwörung endet. Die permanenten Grenzüberschreitungen Scaramuz ’ führen dazu, dass für ihn die diegetischen Ebenen nicht klar voneinander getrennt werden können: Egal auf welcher Ebene er sich bewegt, die jeweils andere schimmert ebenfalls durch. Darüber hinaus lässt die sich wandelnde Konzeption Apolls auch die Unterscheidung der beiden Kunstkonzeptionen unscharf werden. Trotz unterschiedlicher Anlage und vermeintlicher Opposition der beiden zentralen Figuren wird mit beiden ein ähnlicher Effekt erzielt: Die verschiedenen Bereiche sind nicht klar voneinander abgetrennt. Die Grenzen sind vielmehr diffus. Dies lässt sich leitmotivisch im Gesamttext erkennen und wird auch nochmals im Spiel im Spiel vorgeführt: Durch die erneute Abbildung der Theatersituation werden weitere Grenzen geschaffen, überwunden und als unscharf markiert. Dies geschieht vor allem durch das Verhalten des fiktiven Publikums. 15 Galaski kommt zu dem Schluss, dass die Äußerungen Apolls und die theoretischen Erörterungen der Verbalmusik miteinander korrespondieren. Sie verweist darauf, dass Apoll es ist, der das Ende des Stückes proklamiert, während die Verbalmusik ein Ende voraussetzt, damit ein Kunstwerk überhaupt ein Kunstwerk sein kann. (Cf. Galaski 1984: 45). Hierin ist ihr sicherlich zuzustimmen, genauso wie dem Hinweis, dass Apoll mit dem Poeten einen Metadiskurs über Kunst eröffnet. Trotzdem wäre es zu kurz gedacht, Apoll direkt und ausschließlich positiv semantisiert zu sehen. Erst in dem Textganzen wird seine Rolle erklärbar - was allerdings auch für Scaramuz gilt. Beide Positionen sind notwendig und eine Bewertung bleibt schlussendlich unwichtig. Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 241 1.4 Die Rolle des Publikums Die Verschachtelung der verschiedenen diegetischen Ebenen führt beim fiktiven Publikum zu Verwirrung und schließlich zur Reflexion der eigenen Situation. Aus Sicht der Diegese I wurden drei weitere diegetische Ebenen vorgeführt: Die Auseinandersetzung zwischen Scaramuz und Apoll (Diegese II), das Rührstück (Diegese III) und das Schäferspiel (IV). 16 Einer der Zuschauer versucht das Problem mit dem Konzept des theatrum mundi zu fassen: Nun denkt Euch Leute, wie es doch möglich ist, daß wir wieder Akteurs in irgend einem Stücke wären und einer sähe nun das Zeug so alles durcheinander. In diesen Umständen wären wir nun das Erste Stück. Die Engel sehn uns vielleicht so[. W]enn uns nun ein solcher zuschauender Engel betrachtet, müßte es ihm nicht möglich seyn, verrückt zu werden? (Ibid.: 60) Die Metapher wird nicht weiter ausgeführt und auch im späteren Verlauf nicht wieder angesprochen. Entsprechend zielt diese Episode nicht so sehr darauf ab, eine metaphysische Komponente in das Werk einzuführen, sondern vielmehr durch die offensichtlich falsche Auslegung - anstelle der vermuteten Engel steht ja der reale Rezipient - das reale Publikum selbst zum Überdenken seiner Situation zu verleiten. Die komplexe Struktur der Welt wird also innerhalb der Diegese zur Sprache gebracht und die Möglichkeit eines außerhalb der Diegese I befindlichen Rezipienten direkt angesprochen. Das Werk selbst gibt Hinweise auf seine Gemachtheit und schließt auch die Position des Rezipienten mit ein. Eine ähnliche Reflexion vollzieht sich, wenn der Maschinist über den Grund der Illumination aufklärt: “ Die ganze Erleuchtung ist im Grunde zum Vergnügen eines verehrungswürdigen Publikums eingerichtet ” (ibid.: 45). Es hat also eigentlich keine Funktion für die Handlung der Diegese II. “ Es ist auch wahr, es ist bloß unseretwegen geschehen ” (ibid.), kommentiert der Zuschauer Wachtel, “ aber ich wäre in meinem Leben nicht darauf gekommen ” (ibid.). Das fiktive Theaterpublikum der Diegese I erweist sich als inkompetent, die Funktionsweise des Werkes selbst zu entschlüsseln. Es ist auf Hinweise angewiesen, die das Werk ihnen gibt. Auffällig ist daher, was nicht reflektiert wird: das Verhalten des Publikums der Diegese II und III. Scaramuz stellt ständig Zwischenfragen ( “ Wer hat das gemacht? ” , ibid: 48; “ Wer ist der junge Mensch? ” , ibid.: 49; “ Ist das Zeug da witzig? ” , ibid.: 55), da er die Handlung häufig nicht versteht, scheut sich aber nicht im geringsten, das Aufgeführte zu kommentieren. Gleiches geschieht mit den Zuschauern Fuchsheim und Sternheim in der Ebene III, die ebenfalls wenig Kompetenz vorzuweisen haben. Insgesamt werden die Zuschauer der Ebenen II und III negativ charakterisiert, was dem Publikum der Diegese I nicht aufzufallen scheint. Die Zuschauer der Ebene I kommen in ihrer Reflexion also nur so weit, wie es das Stück ihnen vorgibt: sie erfassen die Möglichkeit, selbst Teil einer Fiktion zu sein, oder aber sie geraten in metaphysische Fragestellungen. Was sie nicht überdenken, ist die Rolle, die sie im Theaterganzen spielen. Das heißt, obwohl ihnen negatives Verhalten vorgeführt wird und obwohl das Werk so konzipiert ist, dass es zum Nachdenken anregt - und damit prinzipiell die Möglichkeit enthält, nützlich zu sein, - ändern sie nichts an ihrem Verhalten. Die hier unter derÄgide der 16 “ Auszuhalten ist es nicht, das ist gewiß. Seht Leute, wir sitzen hier als Zuschauer und sehn ein Stück; in jenem Stück sitzen Zuschauer und sehn ein Stück und in diesem dritten wird denen dreifach verwandelten Akteurs wieder ein Stück vorgespielt ” (ibid.: 60) 242 Michael Buhl (München) Aufklärung geforderte Besserung tritt also nicht ein, ganz im Gegensatz zu dem, was die Kommentare der Zuschauer vermuten lassen. 17 Der Sprung Pierrots ins Parterre, der am Dramenbeginn steht, unterstreicht die Zuordnung des Publikums zum semantischen Raum der monetär nützlichen Kunst, wie oben bereits erwähnt. Von Bedeutung ist hierbei die Kategorie des Narren, die die gesamte Welt durchzieht und dazu beiträgt, das semantische Feld und damit auch das Publikum zu charakterisieren. Beim Wechsel von der Bühne ins Parterre kommt die Frage auf, ob Pierrot “ von einem Narren zu einem Zuschauer kurirt werde ” (ibid.: 12). Ganz offensichtlich bleibt er ein Narr und fühlt sich in seiner neuen Umgebung wohl: Narr und Zuschauer sind in diesem Fall miteinander identisch. Verfassern deutscher Lustspiele, so reflektiert das Menuett zwischen Akt IV und V, “ gerathen die Narren nicht, aber aus den Vortrefflichen und Verständigen die sie schildern, werden, ohne daß sie es merken, unvergleichliche Narren ” (ibid.: 83). Es gilt also grundsätzlich zu unterscheiden zwischen ‘ Narr sein ’ und ‘ Narr spielen ’ . Mit Ausnahme der Figuren aus der commedia dell ’ arte und théâtre italien, wie Scaramuz und Pierrot, bei denen Narr sein und Narr spielen identisch ist, was auch durch das Fehlen der Instanz des Schauspielers verdeutlicht wird, gibt es also sehr viel mehr Narren, die welche sind, ohne sich als solche auszugeben. Hierzu ist vor allem das Publikum der Diegese I zu rechnen, das sich neben der impliziten Charakterisierung auf Grund der Zuweisung semantischer Merkmale durch seine dümmlichen Kommentare ausweist. In Opposition dazu steht der Zuschauer Grünhelm, der vor allem auch durch seine entgegengesetzte Raumbewegung deutlich von den übrigen unterschieden werden kann. Während diese die gesamte Aufführung über außerhalb des Stücks bleiben und also nur von außen versuchen einen Bezug zum Dargestellten einzunehmen, wird Grünhelm Teil der Diegese: Er spielt einen Narren. In übertragenem Sinne ließe sich dieses Verhalten durch einen unterschiedlichen Grad an Involviertheit auslegen: Grünhelm nimmt von Dramenbeginn an bis hinein zur letzten diegetischen Ebene, wo er immer noch als Zuschauer anwesend ist, an dem gesamten Kunstwerk teil. Die übrigen Zuschauer bleiben die gesamte Zeit über außerhalb. Von dort aus kommentieren sie das vorgeführte Geschehen, obwohl sie über keinerlei Kompetenz in Sachen Kunst verfügen. Sie versuchen mehr noch, Einfluss auf die Handlung zu nehmen. Dabei geht auch die Art und Weise, wie sie das Geschehen kommentieren und die darüber ausgedrückte Kunstreflexion mit dieser Charakterisierung konform. Grünhelm dagegen entzieht sich der finalen Schlacht, in der die beiden semantischen Felder mit ihren jeweiligen Vertretern aufeinanderprallen - und also zwei Kunstauffassungen miteinander konkurrieren. Auf die letztgültige Entscheidung, welche von beiden Kunstformen schlussendlich dominiert, möchte er keinen Einfluss nehmen. Ihm gebührt das letzte Wort in Die verkehrte Welt: Er stellt fest, er sei “ der einzige Mensch ” (ibid.: 94) und beschließt nach Hause zu gehen um dort von seinen Erlebnissen zu erzählen. Grünhelm wird insgesamt vom Text als positiver und wünschenswerter Zuschauer gesetzt. Die übrigen Zuschauer der Diegese I um Scävola und Pierrot bleiben dagegen negativ charakterisiert. Das wird im Besonderen nochmals durch ihr Stürmen der Bühne am Ende 17 “ DER ANDERE zu Scävola. In dem Stück liegt viel Moral. SCÄVOLA. Gewiß, ich fange schon an besser zu werden ” (ibid.: 20). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 243 des fünften Aktes unterstrichen: Anders als Grünhelm lassen sie die Vertreter der verschiedenen Kunstauffassungen ihren Konflikt nicht intern lösen, sondern greifen in das Geschehen ein. Sie überstimmen damit das Ergebnis, das sich von selbst eingestellt hätte, indem sie die Wiedereinsetzung des echten Apoll verhindern. Dies hat verschiedene Auswirkungen: Zum einen erreichen sie erst hier einen hohen Grad an Involviertheit. Anders als Grünhelm, der sich nun zurückzieht, werden vor allem sie von dem Ausgang der Handlung mitgenommen. Das Ende widerspricht ihren Wünschen und Erwartungen und sie sind so empört, dass sie ein Eingreifen nicht unterlassen können. Zum anderen wird die Spannung der semantischen Felder und die dadurch entstandene Ereignishaftigkeit in Form einer Metatilgung aufgelöst. Die gesamte dargestellte Welt wird einer restlosen Transformation unterworfen, gegen die dieVeränderungen durch Scaramuz gering erscheinen. In dieser Form ist eine Aufführung unmöglich durchzuführen. Die gesamte Welt der Diegese I wird funktionsuntüchtig. Apolls Versuch, “ das Reich von neuem einrichten ” (ibid.: 93) zu wollen, wird vereitelt. Er gibt seine Bestrebungen schlussendlich auf und beugt sich dem Willen des Publikums: “ Ich wäre ja ein Thor, wenn ich es nicht thäte ” (ibid.: 94). Das Verhalten des Publikums bildet also das zentrale Problem des Textes, vor dem selbst Apoll als Inbegriff der höheren Kunst kapituliert. Zusammenfassend lässt sich zur Rolle der Zuschauerschaft sagen, dass der hohe Grad an Konstruiertheit, der die Welt auszeichnet, beim fiktiven Publikum der Diegese I in erster Linie Verwirrung stiftet. Obwohl negative Rollenbilder vorgeführt werden, gelingt es den Zuschauern nicht, ihre Situation insoweit zu überdenken, dass sie etwas an ihrem Verhalten ändern. Auch das Konzept des theatrum mundi ist diesbezüglich nicht förderlich. Vielmehr wird ihre negative Charakterisierung deutlich vor Augen geführt. Eine Abwertung des korrelierenden semantischen Raumes der monetär nützlichen Kunst insgesamt ist allerdings nicht die Folge: Auch die komischen Figuren haben selbstverständlich ihre volle Berechtigung auf dem Theater und müssen sich auch entsprechend verhalten. Die Zuordnung des Prädikats “ Narr ” ist nur für das Publikum negativ: Ohne tatsächlich Narren zu spielen, verhalten sie sich als solche. Das Gegenkonzept eines positiven Zuschauers wird anhand Grünhelms vorgeführt: Nicht nur seine Raumbewegungen laufen konträr zu denjenigen der übrigen Zuschauer, sondern auch die Art und Weise, wie er mit dem Kunstwerk umgeht: Von Beginn an ist er - wortwörtlich - in die Handlung involviert. Erst als es darum geht, kunsttheoretische Entscheidungen zu fällen, entzieht er sich und lässt die Kunstschaffenden das Problem unter sich lösen. Auch kommentiert er nicht ständig das Vorgeführte, sondern beschließt, erst zu Hause seiner Frau von seinem Theaterbesuch zu berichten. 1.5 Zwischenauswertung Die verkehrte Welt weist eine hoch komplexe Struktur auf. Vier verschiedene diegetische Ebenen überlagern sich, sind jedoch nicht scharf voneinander getrennt: ihre Grenzen sind vielmehr diffus. Ein Vermischen von Ebenen und die ständige Überschreitung ihrer Grenzen sind dabei bedeutungstragend. Information wird über das Prinzip der Uneigentlichkeit generiert. Hinzu kommt, dass die Ebenen von IV bis I zunehmend komplexer werden und auf die textexterne kulturelle Realität hinausverweisen. Gleichzeitig finden sich zahlreiche strukturelle Parallelen zwischen den Ebenen, die Selbstgleichheit erinnert 244 Michael Buhl (München) an fraktale Muster. Entsprechend ist der Versuch, Einfluss auf das Verhalten des realen Rezipienten zu üben, als Textstrategie zu verstehen, da der Zuschauer in die Konstruktion mit einbezogen wird. Neben der vertikalen Pluralität der verschiedenen Ebenen konkurrieren auf der Horizontalen zwei semantische Felder miteinander, die hier als semantischer Raum der Kunst als Wert an sich und semantischer Raum der monetär nützlichen Kunst bezeichnet wurden. Der Text wertet letztendlich nicht zwischen den beiden dadurch vertretenen Kunstauffassungen: Weder die durch Apoll vertretene hohe Kunst um ihrer selbst willen, die durch die antike Tragödie symbolisiert wird, noch das egoistische Narrenspiel des Scaramuz werden per se als positiv oder negativ semantisiert. Beide Formen haben ihre Berechtigung im Kunstbetrieb. Als problematisch wird gesetzt, wenn inkompetente Akteure das Geschehen dominieren: in diesem Falle anstelle des Poeten das fiktive Publikum der Diegese I. Hierdurch wird der reale Rezipient zur Kunstreflexion angeregt, was außerhalb der Diegese durch die Zwischenakte aufgegriffen und weitergeführt wird. 2 Rezeptionssteuerung durch Verbalmusik Die Zwischenakte haben eine kommentierende Funktion und befinden sich klar außerhalb der Diegese: Sie stellen eine sujetlose, nicht-diegetische Textschicht dar, die keine Handlung oder Ereignisse aufweist. Wie bis hierher gezeigt wurde, fordert Die verkehrte Welt durch die Art und Weise ihrer Konzeption zu Reflexion auf: über das aufgeführte, konkreteWerk, über das Theater im Allgemeinen und über die Bedeutung von Kunst überhaupt. Diese zumeist implizit enthaltenen Anregungen werden von den Zwischenakten aufgegriffen und explizit weitergeführt. Dabei wird die Tendenz beibehalten, immer wieder auf sich selbst zu verweisen und die eigene Gemachtheit offensichtlich werden zu lassen. Die Bemühungen um das fiktive Publikum der Diegese I scheitern offensichtlich, was unterstreicht, dass die realen Rezipienten durch das Stück nicht zur Nachahmung eines konkreten, vorgegebenen Verhaltens gebracht werden sollen, sondern dass eine eigene Reflexionsleistung erwünscht wird. Die Zwischenakte erfüllen eine Funktion, die diese Reflexion beim Zuschauer der Welt lenken und anregen soll, ohne auf die Diegese an sich Einfluss auszuüben. Dabei knüpfen sie direkt an den Topos des mundus inversus, der verkehrten Welt mit Hilfe von Musik aus Worten an, die sich dabei nicht einmal der Musikalität der Sprache bedienen. 18 Immer wieder werden die Musikeinlagen dabei selbst zum Thema, kommentieren das aufgeführte Schauspiel oder stellen allgemeine Betrachtungen über Kunst an. 19 Formal orientieren sich die Zwischenakte an musikalischen Strukturen. Sie weisen ein klares Thema auf: die Kunst und ihr Verhältnis zum Rezipienten in immer neuen Variationen. Zudem reflektieren sie immer wieder auf sich selbst. Die Fachbezeichnungen und Zwischentitel (Rondo, Menuetto, Adagio, etc.) geben Hinweise auf die Tendenz, die sprachlich zum Ausdruck gebracht wird. Exemplarisch soll der Beginn der Symphonie 18 Cf. Pestalozzi (1964: 125), der wiederum auf Oscar Walzel (1923: 366 f.) verweist. 19 Pestalozzi beschreibt es treffend: “ So ist einerseits die Zwischenaktmusik die Weiterführung der im Stück selbst angewendeten Mittel der Transzendierung der Bühnenwirklichkeit, und andererseits weist ihre paradoxe Eigenart als Wortmusik immer schon über sie hinaus ” (1964: 109). Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 245 untersucht werden, der nach Titel und Untertitel ( “ Die Verkehrte Welt. Ein Historisches Schauspiel in fünf Aufzügen ” , Tieck 1964: 5) auch den Beginn des Gesamttextes darstellt: SYMPHONIE A n d a n t e a u s D d u r . Wenn man sich einmal amüsieren will, so kömmt es nicht so sehr darauf an, auf welche Art es geschieht, als vielmehr darauf, daß man sich wirklich amüsiert. Man kann nicht beständig ernsthaft, man kann nicht beständig lustig seyn. Nimmt man es in beiden Fällen mit sich selber zu genau, so ist es gar leicht um den wahren Ernst, so wie um die wahre Lustigkeit geschehen. P i a n o . Gehören aber wohl moralische Betrachtungen in eine Symphonie? Warum soll alles so gesetzt anfangen, und warum lasse ich nicht lieber alle Instrumente durcheinander klingen? (Ibid.: 7). Ernsthaftigkeit und Lustigkeit werden einander gegenübergestellt. Das Andante versucht nicht eine von beiden als höher zu bewerten, sondern geht vor allem auf die Wichtigkeit der Rezeptionsleistung ein: “ daß man sich wirklich amüsiert ” (Hervh. v. mir, MB). Nur dann kann man den “ wahren Ernst ” und die “ wahre Lustigkeit ” erfahren. Diese wenig trennscharfe Behauptung wird jedoch nicht unmittelbar weiter geführt, sondern sogleich vom Piano durch eine Reflexion auf die Symphonie selbst unterbrochen: Es wird hinterfragt, inwieweit eine Symphonie mit einer solchen Betrachtung beginnen solle. Das Crescendo gibt darauf wiederum eine Antwort und steigert sich zum Fortissime, für dessen Lautstärke sich das Adagio wiederum entschuldigt, etc.: Keine fertige Meinung, sondern Reflexion im Vollzug wird dem Rezipienten vorgeführt. 20 Die Zwischenakte greifen also auf, was auch in der Diegese verhandelt wird: Was dort durch die Figuren, die Raumorganisation und die Spannung der verschiedenen semantischen Felder an Bedeutung transportiert wird, findet sich hier als theoretische Erörterung wieder. Gleich ist ebenfalls, dass eine Bewertung nachrangig behandelt wird und es vielmehr auf das Verhältnis des Rezipienten zum Kunstwerk ankommt. Auch wird keine fertige, gefestigte Position dargelegt, sondern die eigenen Äußerungen ebenfalls hinterfragt. Darüber hinaus thematisiert sich die Zwischenaktmusik nicht nur selbst, sondern geht auch auf das Schauspiel ein: Es findet also eine Kommentierung der Handlung statt, die an einen Erzählerkommentar erinnert. “ Wie es immer frischer und lebendiger im Schauspiele wird! ” (Ibid.: 38). freut sich das Allegro. “ O wie wird unsere Phantasie von Fröhlichkeit trunken, wenn immer neue Gestalten erscheinen und die alten nie alt wiederkehren ” (ibid.). Dabei wird auch der Zuschauer direkt angesprochen und zu einer bestimmten Art der Rezeption ermuntert: “ Ach! was war es, wenn es vorüber ist? oder wenn du es mit kunstrichterlichem Auge siehst? Lass dem magischen Feuer seinen Lauf [. . .] ” (ibid.). Kritisiert wird vor allem das Verlangen, hinter allem einen Sinn und logischen 20 Selbstreflexiv wird innerhalb der Symphonie auch durch das Violino Primo Solo argumentiert: “ Es ist nur Narrheit, daß man Symphonien in nichts als Noten schreiben will, man kann sie auch in Worte bringen, wenn man sich die Mühe gibt. Sind unsere Bücher etwas anders? Sind viele unserer Symphonien etwas mehr, als ein einziger armer Satz, der immer in Gedanken wieder kömmt, und sich nicht von andern Gedanken will verdrängen lassen? ” (Ibid.: 8). Außerdem auch durch die dritte Variation des Menuetto und das Rondo ( “ Von Banks Versen sagte man es sey prose run mad, so ist ein Rondo auch vielleicht ein toll gewordener musikalischer Satz. - Wer kann immer vernünftig seyn! vollends so ein armes Rondo wie ich bin! ” Ibid.: 61). 246 Michael Buhl (München) Zusammenhang finden zu wollen: “ Wißt Ihr denn, was Ihr wollt, die Ihr in allen Dingen den Zusammenhang sucht? [. . .] - was denkt Ihr da, und was vermögt Ihr da zu ordnen? Ihr genießt euch selbst und die hohe harmonische Verwirrung ” (ibid.). Gleichzeitig wird jedoch auch die Gegenposition des Vernünftigen vom Menuetto eingenommen, das versucht, mit der Komplexität des Werkes zurechtzukommen. “ Es ist höchste Zeit, Vernunft in das Stück zu bringen, [. . .] wäre es nicht besser, wenn dergleichen Zeug gar nicht geschrieben würde? ” (Ibid.: 82). Selbst das ursprüngliche Menuett kommt jedoch zu dem Schluss: “ Je nun, eine gute Verwirrung ist doch mehr werth als eine schlechte Ordnung ” (ibid.). Im Laufe der Variationen verschiebt sich die Position immer weiter, bis in Variazio III der Rezipient wieder direkt angesprochen wird: “ Aber Lesewelt, Zuhörerschaft, wenn Du dich etwa im Zustande des Nichtverstehens befinden solltest! Wenn der Teufel es ordentlich so veranstaltete, daß du dich zu klug fühltest, um klug zu seyn! ” (Ibid.: 83). Wieder geht es letztendlich also um die Rezeptionsleistung, die gerade nicht über den Verstand laufen soll. Auch hier findet sich damit eine Pluralität von Sichtweisen, die - in geänderter Form - auch innerhalb des Schauspieles zu finden ist. Wieder wird auf einer weiteren Ebene sehr ähnlich verfahren wie bisher gezeigt - das gleiche Thema also variiert. Das Kunstverständnis der Zwischenakte dreht sich, wie die Symphonie gleich zu Beginn erläutert, um die beiden Pole aus Freude und Trauer und stellt eine Verbindung zum menschlichen Leben her. Um “ wahre ” Trauer und “ wahre ” Freude erleben zu können, ist es notwendig, nicht alles mit dem Verstande fassen zu wollen. Darüber hinaus soll eine Mittelposition eingenommen werden: “ von gemeiner Freude und dem lastenden Trübsinne gleich weit entfernt ” (ibid.: 21) zu sein, schafft erst Zufriedenheit. Der Zuschauer muss sich ganz auf das Kunsterlebnis einlassen: Wenn Ihr Leben und Seele in doppelter Wirkung empfindet, und alle Schleusen Eures Wesens geöffnet sind, durch die das zurückgehaltene Entzücken mächtiglich hinbraust, wenn da die letzten Tiefen, in die noch kein Ton drang, wiederklingen, wenn alles sich in Eine Melodie gesellt und in der Luft verwandte Geister unsichtbare Tänze feiern, (ibid.: 38) dann erst würde man der Kunst richtig begegnen. Gleiches gilt für das Leben des Menschen: “ Ach du schwaches, leicht zerbrechliches Menschenleben! Ich will dich immer als ein Kunstwerk betrachten, das mich ergötzt ” (ibid.: 21). Der reale Zuschauer der verkehrten Welt wird also, während er das Stück betrachtet, dazu angehalten, nicht nur das Werk, sondern auch sich selbst und die Art, wie er rezipiert, zu beobachten. Es wird ihm allerdings auch hier nicht einfach ein fertiges Rezept vorgesetzt, sondern auch darin eine Eigenleistung von ihm verlangt. Es findet sich die Anleitung zu mannigfaltiger Reflexion auch in den Zwischenakten wieder. Die Verbalmusik wiederholt insgesamt damit in veränderter Form genau das, was auch innerhalb der Diegese vorgeführt wird: verschiedene Positionen - hier Trauer und Lustigkeit - werden einander gegenübergestellt. Es geht jedoch nicht darum, eine Rangordnung festzulegen. Erst in der Spielbewegung der verschiedenen Positionen konstituiert sich der Sinn von Kunst. Wichtig ist vor allem der Umgang des Rezipienten mit dem Kunstwerk, das ihn konfrontiert: Genauso wie innerhalb des Schauspiels sprechen sich auch die Zwischenakte gegen den Versuch aus, alles mit dem Verstand erfassen zu wollen. Sie fordern vielmehr dazu auf, sich dem Erlebten hinzugeben, was in der Metapher Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 247 des ‘ etwas in sich anklingen lassen ’ pointiert zum Ausdruck gebracht wird. Die Art und Weise, wie dies geschieht, korrespondiert ebenfalls mit der Struktur der Diegese: Keine fertige Meinung wird dem Rezipienten vorgeführt, die er lediglich noch übernehmen müsste, sondern der Prozess der Meinungsbildung wird mit einbezogen. Abgesehen von der geänderten Form findet sich also das gleiche Thema in den musikalischen Zwischenspielen wieder, das auch das Schauspiel dominiert. Hier wird der Rezipient nur sehr viel unmittelbarer zu Kunst- und Selbstreflexion aufgefordert. 3 Kunstreflexion vor dem Paradigma der ‘ Aufklärung ’ Der Begriff der Aufklärung und verwandte Wortfelder (Bildung, Nutzen, etc.) finden sich in allen Bereichen der verkehrten Welt. Damit ist aber weniger eine philosophische Position bezeichnet, als vielmehr eine kunsttheoretische: Explizit oder implizit wird dadurch zum Ausdruck gebracht, wie Kunstwerke beschaffen zu sein haben, auf welche Art sie wirken sollen und welches Verhalten der Rezipient ihnen gegenüber einnehmen soll. Die Semantisierung ist den Gesamttext über konstant negativ. Voller Ironie wird dies durch den Epilogus zum Ausdruck gebracht, der sich - selbstverständlich - vor der Aufführung an das Publikum wendet: Nun meine Herren, wie hat Euch unser Schauspiel gefallen? Es war freilich nicht viel, indessen da ihr alles zu nehmen gewohnt seyd, so war es doch immer des Annehmens werth. [. . .] Ihr müßt Euch übrigens nicht darüber verwundern, daß Ihr das Stück noch gar nicht gesehen habt, denn hoffentlich seyd Ihr doch in so weit gebildet, daß das bei Euch nichts zu Sache thut. [. . .] Ihr seyd hoffentlich schon geübt und habt im Urtheilen etwas gethan, daß Ihr also unsre Comödie gar nicht zu sehen braucht, um zu wissen, was an ihr ist. Der Name des Verfassers, wenn er berühmt ist, das Urtheil eines guten Freundes, dem Ihr Verstand zutraut, sind ja gewöhnlich die Wegweiser, die Euch leiten. [. . .] (ibid.: 9). Hier finden sich alle wichtigen der zugewiesenen Merkmale: Der Verstand als Werkzeug des Urteils, der kunsttheoretische Diskurs von vermeintlich Verständigen, deren Meinungen unreflektiert übernommen werden, und die Bildung, die als Grundlage des Urteilens herangezogen wird. Anstelle das Kunstwerk auf sich wirken zu lassen und sich selbst eine Meinung zu bilden, wirft der Epilogus den Zuschauern also vor, unreflektiert die Überzeugung anderer zu übernehmen. Wie gezeigt, entspricht das Publikum der Diegese I, das in diesem Falle der Adressat ist, den Vorwürfen voll und ganz. Auch die Zuordnung von Scaramuz unter das Paradigma der Aufklärung ist bereits angesprochen worden: Seine Herrschaft und die damit einhergehende Transformation des Raumes werden explizit miteinander in Verbindung gebracht. Darüber hinaus sind der tautologische Monolog über die Nützlichkeit wie auch seine Gerichtsurteile anzuführen. “ SCARAMUZ. Also doch nützlich? Ich mag die nützlichen Leute ungemein gern, denn warum? sie sind nützlich, und das Nützlichseyn selbst ist ungemein nützlich, folglich zwingt mich meine Vernunft zu dieser gegründeten Hochachtung ” (ibid.: 34). Die Schafe verklagen ihre Schäfer und lassen sich von Scaramuz das Recht zusprechen, nun selbst einmal die Schäfer zu scheren (Cf. Ibid.: 67 f.). Der Schäfer Myrtill macht dafür die Bildung verantwortlich: “ Es kam uns selber ganz vernünftig vor, und das ist eben das Nachtheilige bei der Vernunft, daß sie einen zu so dummen Sachen verführt ” (ibid.: 74). Das gleiche Prinzip wie bei Schafen und ihren 248 Michael Buhl (München) Schäfern wiederholt sich im Gericht bei Leser und Schriftsteller: Letzterer wird aus Vernunftgründen dazu verurteilt, das zu schreiben, was der Leser wünscht (cf. ibid.: 66). Der reale Rezipient wird sich allerdings ebenfalls angesprochen und herausgefordert fühlen, sein Verhalten entsprechend zu ändern. Hier findet schon vor Beginn der eigentlichen Handlung eine Rezeptionssteuerung statt. Einige Besonderheiten finden sich am Schluss des Stückes: Apoll erklärt das Ende, dann fällt der Vorhang, der Prologus spricht vor einem leeren Zuschauersaal und Grünhelm behält das letzte Wort. Damit ist das Werk zu Ende, der Schluss bleibt also offen. Dies macht in der Konzeption des Gesamttextes durchaus Sinn: Innerhalb der Diegese wird der Zuschauer zu Reflexion von Kunst angeregt, muss dabei allerdings eine Eigenleistung erbringen. Es wird ihm alles andere als leicht gemacht, eine eindeutige Textaussage zu identifizieren. Vielmehr wird im Grunde trotz der grundsätzlichen scheinbaren Opposition der semantischen Felder eine prinzipielle Gleichrangigkeit postuliert. Die Zwischenakte dagegen laufen Gefahr, einen performativen Selbstwiderspruch zu begehen: Sie führen dem Zuschauer eine explizite Kunstreflexion vor, die vom Rezipienten verstandesmäßig erfasst und unreflektiert übernommen zu werden droht. Dem wird zum einen durch die Konzeption der Verbalmusik entgegengewirkt: Sie ist selbst ebenso verkehrt wie die Welt innerhalb der Diegese und liefert außerdem keine fertige, gefestigte Meinung, sondern auch hier vor allem Fragen, Versuche und Anregungen. Zum anderen lässt der offene Schluss keine andere Wahl, als die Bildung einer letztgültigen Meinung selbst zu übernehmen. Verbalmusik findet sich vor und zwischen allen Akten, auffällig ist jedoch, dass es kein abschließendes Musikstück gibt. Insgesamt zielt das Werk vor allem auf den Rezipienten ab. Durch die Konstruktion des Dramas wird dieser selber als Zuschauer, der ein Stück beobachtet, zum Gegenstand der Kunst; was sich gleich mehrfach verschachtelt wiederholt. Dem realen Rezipienten wird ein negatives Bild seiner selbst vorgeführt. Ganz klar wird den Zuschauern in der Diegese I das Prädikat des Narren zugewiesen und ihnen darüber hinaus die Fähigkeit abgesprochen, ihre eigene Situation zu erfassen oder deswegen gar etwas an ihrem Verhalten zu ändern. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn ihnen selbst wiederum ein Publikum auf der Bühne vorgeführt wird, und diese sich zur Selbstreflexion als unfähig ausweisen. Der reale Rezipient soll nun aber gerade dazu angeregt werden. Die verkehrte Welt bemüht sich, das festgefügte und schematisierte Rollenverhalten der Theaterzuschauer unter der Ägide der ‘ Aufklärung ’ - in übertragenem Sinn der Rezipienten von Kunst insgesamt - aufzubrechen und zu verändern. Ziel ist es jedoch nicht, das angelernte Verhalten durch ein anderes Schema zu ersetzen, sondern die Zuschauer und Leser sollen vielmehr das Kunstwerk möglichst unvoreingenommen auf sich wirken lassen. 4 Fazit Um es abschließend noch einmal festzuhalten: Tiecks verkehrteWelt wird von drei zentralen Aspekten dominiert: Erstens findet ein expliziter wie impliziter Angriff auf die Aufklärung statt, deren Positionen beim zeitgenössischen Zuschauer vom Text vorausgesetzt werden. Die negative Semantisierung des Zuschauers geschieht vor allem innerhalb der Diegese durch paradigmatische Zuordnung und Gruppierung von Figuren und zieht sich durch alle Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 249 Ebenen bis hin zu den nicht-diegetischen Zwischenakten. Zweitens finden sich rekurrierende Reflexionen über Kunst: Wie funktioniert Kunst, wie entsteht sie, und was soll sie leisten? Offensichtlich ist es aber keine Absicht des Textes, hierüber eine abschließende Wertung zu präsentieren, sondern vor allem soll der Diskurs überhaupt erst eröffnet werden. Dies ist notwendig, damit drittens der reale, historische Rezipient über sich selbst und seine Beziehung zum Kunstwerk nachdenkt. Auch hier will die Welt keine einzige, zwingend richtige Lösung präsentieren, sondern in erster Linie Anregungen bieten und den Rezipienten auffordern, sich selbst eine Meinung zu bilden. Die Fülle an Techniken - vielfach verschachtelte diegetische Ebenen, diffuse Grenzen, Ebenenwechsel, der Topos des mundus inversus, die reflektierenden Zwischenakte etc. - haben demnach zwei Ziele: Einerseits soll das Werk unterhalten, wie explizit gefordert und zumindest aus Sicht des heutigen Rezipienten auch eingehalten wird; und andererseits soll der Zuschauer zum Überdenken seiner eigenen Situation angeregt werden. Damit ist die komplexe Konstruktion von Die verkehrte Welt sowohl Selbstzweck - nämlich Unterhaltung - als auch auf ein Ziel ausgerichtete Textstrategie. Der in der älteren Forschung zum Teil erhobene Vorwurf einer wie auch immer gearteten künstlerischen Nachrangigkeit muss definitiv zurückgewiesen werden. Die verkehrte Welt erweist sich als in höchstem Maße raffinierte und gekonnte künstlerische Komposition. Dabei gelingt es ihr gleichzeitig, sowohl Kunst zu sein als auch die Metaebene der Kunstreflexion mit einzubeziehen. Bei näherer Betrachtung erweist sich die scheinbare Verwirrung und das ständige In- und Durcheinander als stimmig. Die verschiedenen Facetten ergänzen sich trotz vermeintlicher Inkongruenzen zu einem kompositorischen Ganzen. Darüber hinaus setzt sich Die verkehrte Welt auf zweierlei Weise von der Aufklärungsliteratur ab: Zum einen durch ihre Kompositionsprinzipien, zum anderen durch die explizite Abwertung des Paradigmas Aufklärung auf diegetischer Ebene. 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Diffuse Grenzen: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt 251 K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreflexives Biedermeier: Kunstreflexion und Selbstreferenzialität in Friedrich Theodor Vischers Cordelia (1836) Stephan Brössel (Münster) The article focusses on the specific interrelation between the reflection of art and selfreferential structures within literary texts. As an example will serve Friedrich Theodor Vischer ’ s Cordelia (1836). This text shows a considerable tendency to not only broach the issue of artists producing and discussing several works of art but also to reflect on its own status as being an art work of the Biedermeierzeit. It is remarkable that it does so by interrelating two of the characater ’ s paintings in the story of Vischer with William Shakespeare ’ s King Lear (1604/ 5). The thesis is: Pronounced by the text on hand, the collapse of at least all characters in Cordelia is equivalent to the collapse of the literary system Biedermeierzeit, which constitutes the specificity of self-referentiality. 1 Zur biedermeierlichen Selbstreferenzialität in Cordelia Vischers Cordelia − verfasst in den Jahren 1830/ 31, publiziert im Jahr 1836 − ist dem Literatursystem des Biedermeier oder Vormärz zuzuordnen, 1 welches maßgeblich durch die Reflexion der eigenen Konstitution in Auseinandersetzung mit dem vorherigen Literatursystem Goethezeit gekennzeichnet ist. Vischers Text, der hier als Beispiel zur Illustration dieses allgemeinen Problemkomplexes dienen soll, kann als exemplarischer Fall gelten, der mittels einer zeitreflexiven Kodierung kunstästhetischer Ansätze im Allgemeinen und der intertextuellen Referenz auf und der Semantisierung von Shakespeares King Lear (1604/ 5) 2 im Besonderen Bedeutung aufbaut. Auf diese Weise formuliert Cordelia das Kernproblem der Übergangsphase zwischen Goethezeit und Realismus aus: die semantische Koppelung von Loslösungsprozess und Loslösungsschwierigkeiten von der Goethezeit sowie die 1 Biedermeier und Vormärz fasse ich als (oberflächlich) konkurrierende Literatursubsysteme eines übergeordneten Systems auf, das im folgenden Biedermeierzeit oder Zwischenphase genannt wird. Die als solche in Cordelia installierten semantischen Räume (Klassik, Romantik, Biedermeier) werden ihrerseits mittels einfacher Anführung als literarische Modelle literaturgeschichtlicher Phänomene markiert. 2 Gemeinhin wird die Entstehung von King Lear auf den Zeitraum zwischen 1604 und 1605, nach Hamlet und Othello und vor Macbeth, datiert. Eine erste Einzelausgabe im Quartformat erscheint 1608, die erste Folio- Gesamtausgabe 1623 (Cf. Proudfoot, Thompson & Kastan 1998: 631). daraus resultierende inkonsistente und instabile Konstitution von Welt und ihrer literarischen Repräsentation. Neben der Reflexion von Kunst, das heißt der Funktionalisierung von Kunst im Handlungskontext, der Verhandlung von Fragen der Kunstproduktion und ihrer Rezeption, dreht sich das Geschehen um das Problem der Paarfindung, an deren Scheitern der defizitäre Zustand der dargestellten Welt und ihrer Repräsentanten ersichtlich wird: Der junge Theobald und Cordelia lernen sich zufällig in einer Försterhütte in Deutschland kennen und verlieben sich ineinander. Während eines späteren Studienaufenthaltes in Rom schildert Theobald in einem Gespräch seine Liebeserfahrung und wird schließlich mit Hilfe seines Freundes Christoph erneut mit Cordelia vereint. Christoph war als praktizierender Arzt seinerzeit verantwortlich für Friederich - Cordelias Onkel − , als jener aufgrund des Verlustes seines Bruders und dessen aus Rom stammender Frau - Cordelias Eltern - dem Wahnsinn verfallen war. Die Hochzeitspläne des Paares jedoch werden jäh unterbunden durch Cordelias unglückliche Konfrontation mit Wilhelm, einem Freund Theobalds, der sich ebenfalls in sie verliebt hatte. Cordelia wird durch ein Messer tödlich verletzt, Wilhelm begeht Selbstmord und Theobald kehrt nach Deutschland zurück und fristet ein resigniertes Dasein in einem öffentlichen Amt. Als wünschenswerter Zustand und Problemlösungsstrategie gilt auf Figurenebene die Verbindung zwischen Cordelia und Theobald, die auf Textebene - so die These - einer harmonischen Vermittlung zwischen Klassik und Romantik im neuen Konzept Biedermeier äquivalent ist. Dass die Überführung in diesen Zustand jedoch scheitert, liegt in der in divergierenden Kunstauffassungen verankerten Anthropologie begründet. Friederich tritt als Sympathisant der Romantik, Wilhelm als Vertreter von Klassik auf, während Theobald zwischen beiden Positionen zu vermitteln sucht und als biedermeierliches Normalsubjekt inszeniert wird. Für das Scheitern ist primär Wilhelm verantwortlich, dessen Leidenschaften ein aggressives Potential entfachen und seine Handlung bestimmen. Sein Vorhaben, ein psychisches Ungleichgewicht ebenso wie Friederich durch Kunstproduktion zu kompensieren, misslingt. Er wird für sein soziales Umfeld unberechenbar und gefährlich. Sein klassisch-antikisierender Ansatz versagt ebenso wie der biedermeierliche Ansatz Theobalds, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass Wilhelm vom Text durch Tod getilgt wird und Theobald ein unerfülltes Leben führt, in dem ihm persönliches Glück versagt bleibt. Cordelia verfährt damit romantisierend, ist sich seiner Stellung als biedermeierlicher Text durchaus bewusst und erhebt ebendies zum selbstreferenziellen Spiel. Einerseits wird die Goethezeit auf Discours- und Histoire-Ebene fortlaufend perpetuiert, andererseits markiert der Text Romantik wie auch Klassik ebenfalls als vergangen und überholt und stellt ihnen ein nicht-goethezeitliches Konzept entgegen, das hier Biedermeier genannt wird. 2 Kunstreflexive Aspekte Fasst man mit Hans Krah Selbstreferenzialität auf “ als eine spezifische Kommunikationsform [. . .], bei der Strukturen auf sich selbst abgebildet werden ” (Krah 2005: 4), dann ist zunächst zu klären, in welchem Zusammenhang Selbstreferenzialität mit Kunstreflexion steht. Denn erste Beobachtungen zielen zunächst einmal darauf ab, dass wir es bei Cordelia Selbstreflexives Biedermeier 253 mit einem literarischen Erzähltext zu tun haben, der vielfältige Formen von Kunst, von Künstlern und von Kunstliebhabern modelliert. 3 Nicht nur, dass im Verlauf des Geschehens fortwährend über artifizielle Texte - seien es Gemälde, Erzählungen, Gebäude usw. - gesprochen und debattiert wird und Figuren wiederholt ihren Gefühlen durch die Rezitation von Liedern und Gedichten Ausdruck verleihen. Im Zentrum stehen darüber hinaus Friederichs künstlerische Erzeugnisse, die eine Verbindung zwischen der Protagonistin Cordelia und Shakespeares Drama King Lear herstellen und die Friederich, im Wahnsinn befangen, zur Verarbeitung und Bewältigung psychisch arg belastender Ereignisse produziert hat. Prinzipiell soll davon ausgegangen werden, dass eine Reflexion von Kunst (RK) im literarischen Text Grundlage für Selbstreferenzialität (Srf ) darstellen kann und hier tatsächlich darstellt. Demnach zu prüfen ist das Vorhandensein und die vorliegenden Mechanismen der Implikation ‘ RK → Srf ’ . Kunstreflexion ist ihrerseits dann gegeben, wenn Kunst in einem für den Bedeutungsaufbau relevanten Maß thematisiert und im Zuge dessen entweder durch Erzählinstanzen oder Figuren explizit diskutiert, problematisiert, kommentiert und/ oder bewertet wird oder aber implizit-strukturell realisiert und im Text paradigmatisch funktionalisiert ist: Kunst ist bedeutungstragende Größe eines Textsystems und entsprechend mit Relevanzsignalen wie bspw. Rekurrenz, Exponiertheit, Fokussierung, thematische Relevantsetzung versehen. (Narrative) Selbstreferenzialität - im Sinne von Selbstbezüglichkeit − findet wiederum dann statt, wenn ein solches Textsystem Kunstreflexion semiotisch an die (literarische) Verfasstheit bezüglich bestimmter Verfahren, Modelle und Muster des Erzählens des Textsystems selbst koppelt. Beides ist in Cordelia gegeben. Zum einen finden sich die angesprochenen thematischen Zusammenhänge rund um den Problemkomplex Kunst auf Ebene der Histoire, zum anderen adaptiert der Text selbst Verfahren, Denkmodelle und Techniken der Diskursivierung, die im Kontext der scheiternden Liebesgeschichte als überkommene, nicht mehr tragfähige Verfahren ausgestellt werden. Die diversen Textstrukturen der Kunstreflexion sind in einem ersten Schritt zu systematisieren. Grundsätzlich zu differenzieren sind (2.1) Künstlerfiguren und (2.2) artifizielle Artefakte. 2.1 Künstlerfiguren: Die Figuration als Gegenstand der Reflexion Mit Blick auf die Figurenebene können (a) mehr oder weniger vollständige Lebensdarstellungen von Künstlern vorliegen, von Malern, Schriftstellern, Schauspielern, Musikern, Bildhauern usw., und diese im Rahmen des aus der Goethezeit übernommenen Erzählmodells der Initiationsgeschichte entfalten (wie beispielsweise Mörikes Maler Nolten von 1832, Grillparzers Der arme Spielmann von 1848, Gutzkows Imagina Unruh von 1847). Daneben oder stattdessen finden sich (b) Darstellungen von Lebensausschnitten, die zwar ebenfalls im Kontext fiktionsintern soziokulturell-anthropologischer Initiationsprozesse 3 Eine Anmerkung zum verwendeten Textbegriff. ‘ Text ’ verstehe ich mit Michael Titzmann im weiten Sinn: “ Text benenne ich jede Äußerung, die sich einer natürlichen oder künstlichen Sprache bedient, ‘ Text ’ jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung, sie sei sprachlich oder nicht sprachlich ” (Titzmann 3 1993: 10, Hervorh. im Original). Da wir es darüber hinaus mit diversen Formen von Text-im-Text-Strukturen zu tun haben, verwende ich - wenn zur Unterscheidung notwendig - die Begriffe Kunstwerk, artifizielles Artefakt oder die spezifische Bezeichnung des jeweils vorliegenden Textes (wie bspw. Gemälde). 254 Stephan Brössel (Münster) stehen, im Gegensatz zu (a) jedoch keine Gewichtung auf den Prozess selbst, sondern auf einen bestimmten Lebensabschnitt legen, der wiederum als ein für den Protagonisten entscheidender markiert ist (wie etwa Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag von 1856, Büchners Lenz von 1839, Stifters Der Condor von 1840). Als dritteVariante (c) sind Figuren zu nennen, für die die Beschäftigung mit Kunst, die ästhetische Produktion oder die Rezeption von Kunst aus unterschiedlichen Gründen wichtig ist, ohne dass sie allerdings als Künstler im emphatischen Sinn gelten können. In Fontanes Geschwisterliebe (1839) fungiert der Gesang und die lyrische Verbalisierung als (von den Figuren angenommene) Problemlösungsstrategie: Alle schwerwiegenden psychischen Befindlichkeiten (wie der regressive Wunsch Rudolphs, im geschwisterlichen Idyll zu verweilen) und zwischenmenschliche Konflikte (entstehend durch das progressive Bedürfnis Claras, eine Liebesbeziehung zu einem anderen Mann einzugehen) werden nicht verbalsprachlich, sondern kompensatorisch im künstlerischen Ausdruck kommuniziert. Das gemeinsame Gespräch hingegen wird entweder gänzlich vermieden, führt zu Gewaltexzessen oder wird erst dann gesucht, als es um das persönliche und gesundheitliche Wohl der Figuren bereits schlecht gestellt ist. In Stifters Der Hochwald (1842/ 44) spielt Kunst zwar allenfalls eine marginale Rolle. Hier ist es aber ebenfalls ein Lied, das der im Dickicht verborgene Protagonist Ronald, anstimmt und damit Clarissa an ihre frühere gemeinsame Liebe erinnert. Es erweckt nicht nur ihre Gefühle aufs Neue, sondern führt die beiden erneut, zumindest temporär, zusammen. Auch dort fungiert Kunst als kommunikativer Schlüssel, ist zudem aber selbst konfliktauslösendes Element, das eine Aufarbeitung vergangener Zustände auf Ebene der Individualgeschichte anstößt. 4 Allen diesen Figurentypen gemein ist - und dies stellt überhaupt notwendige Grundbedingung für die Bezeichnung einer Figur als Künstler dar − , dass sie stets irgendeine Form der künstlerischen Tätigkeit erfüllen, ihre Arbeit initialisiert wird, irgendwie motiviert ist und Effekte auf den Ausübenden und sein soziales Umfeld hat sowie durch vom Text mehr oder minder spezifizierte Bedingungen und Modi ihrer Praxis charakterisiert ist. Die Darstellung künstlerischer Tätigkeit in der Biedermeierzeit ist zum einen - wie dies Maler Nolten, Der arme Spielmann oder Geschwisterliebe zeigen - häufig an dieTransformation und Bewältigung psychischer Krankheitserscheinungen oder zumindest emotional belastender Zustände gekoppelt. Folglich dient künstlerische Tätigkeit der Verarbeitung seelischer Leiden - der Kompensation, teilweise der Sublimierung − , die daraus hervorgehenden Produkte bilden ihrerseits diesen Verarbeitungsprozess semiotisch ab. Neben der psychologischen Funktion von Kunst ist die gesellschaftlich bedingte Restriktion des Kunstanspruchs eminent. 5 Deutlich wird: Romantische Künstler sind in die bürgerliche Gesellschaft nicht integrierbar und werden sozial ausgeschlossen; ihr ‘ Zuviel ’ eines exponiertemphatischen Kunstanspruchs muss reduziert werden, äquivalent zur Zähmung im anthropologischen Sinn (Lukas 2000: 338, 341 f.; Begemann 2002: 106; Lukas 2012: 162), die essentiell für die Zukunftssicherung einer gegebenen Figur im Kontext von Partnerschaft, Familie und ökonomischer Sicherung erscheint. Zum anderen steht Kunst vor 4 Zur Stellung von Stifters Hochwald im Kontext einer “ anthropologischen Restauration ” der Biedermeierzeit cf. Lukas 2006. 5 “ So wird [. . .] ein emphatischer Kunstanspruch aufrechterhalten, in seiner Reichweite und Verbindlichkeit jedoch zugunsten eines bürgerlichen ‘ Glücks ’ beschnitten ” (Begemann 2002: 97 f.). Selbstreflexives Biedermeier 255 allem in Relation zu erotischer Liebe, auf die mit Blick auf den vorliegenden Text noch einzugehen sein wird. 6 Dabei präsentiert Cordelia keine Lebensgeschichte eines im Zentrum des Geschehens stehenden Subjekts, sondern eine auf einen bestimmten Zeitabschnitt fokussierte und lediglich Lebensausschnitte mehrerer Protagonisten umfassende Handlung. Singuläre, für die Gegenwartshandlung entscheidende Geschehensmomente werden von Figuren retrospektiv nachgetragen, reichen aber nicht oder nur oberflächlich zurück in die Kindheit der Figuren. Auch über das vorliegende temporale Segment hinausweisendes, zukünftiges Geschehen wird am Textende nur angedeutet und nicht weiter ausgeführt. Vorwiegend, aber nicht ausschließlich, wird Theobald fokalisiert. Weiterhin macht der Text keinen Unterschied in Bezug auf die Kunsttätigkeit seiner Figuren geltend: Alle im Fokus der Erzählung stehenden Handlungsträger treten als Kunstschaffende in Erscheinung. Differenziert wird hingegen durchaus zwischen Künstlern im emphatischen Sinn und Gelegenheitskünstlern. Aufseiten der als emphatisch gekennzeichneten Künstler stehen Friederich, Wilhelm und Theobald. Zumindest gelegentliche Kunsttätigkeit ist bei Christoph und Cordelia zu beobachten. Sie alle vereint, dass sie mittels Kunstproduktion auf für sie entscheidende Geschehnisse oder Umstände ihres Lebensumfeldes reagieren und diese dadurch psychisch zu verarbeiten hoffen und in den geschaffenen artifiziellen Artefakten den adäquaten Ausdruck ihrer inneren Gefühlswelt suchen. Zwei Beispiele werden hier genauer ausgeführt: 1) Theobald entdeckt in der Wohnung des alten Christoph neben dessen philosophischen Aphorismen ein Blättchen, dessen Inhalt Hinweise auf eine erneute Zusammenkunft mit Cordelia enthält. Durch diesen Fund werden Reflexionen und Deutungsversuche ausgelöst, wie auch ein innerer Zwiespalt zwischen Sehnsucht und unerklärlicherAngst ( “ Zwei Geister kämpften in ihm, eine bis zum Äußersten gespannte Sehnsucht nach dem geliebten Wesen, das ihm so geheimnisvoll nahe gerückt schien, und eine unerklärlich, große Angst ” ; Vischer 1892: 111). Das Problem löst der Protagonist mittels Lektüre eines Gedichts, das er in einem ähnlichen Gemütszustand verfasst hatte. Darin reflektiert eine Sprechinstanz die Gründe für “ Todesangst ” und “ Fieberpein ” , fragt nach “ alte[r] Blutschuld ” und einem “ mörderische[n] Sünder ” unter ihren Ahnen und einer Strafe für “ kühnes Streben ” , “ Jugendstolz und Übermut ” (Vischer 1892: 112 f.) und endet schließlich in einer ambivalenten - zugleich als schrecklich empfundenen und Demut evozierenden - Hinwendung zu Gott. Im Traum begegnet ihm dann Cordelia. Die emotionale Hinwendung zur Geliebten verläuft glücklich. Der Gedichttext fungiert als therapeutisch-medizinisches Mittel, das Seelenqualen lindert: “ Unter einem Strome von Thränen löste sich die herbe Beklemmung, eine ungewohnte Weichheit ergoß sanfte Bäche durch sein Inneres ” (Vischer 1892: 113). Dahingegen verschafft Theobald nicht die eigene Auseinandersetzung mit dem psychischen Ungleichgewicht Ruhe, auch nicht das Gespräch mit Christoph und Friederich - beides wird von ihm zunächst unternommen. Motiviert wird die Anspannung aufgrund einerseits einer möglicherweise bevorstehenden und entscheidenden Wiederaufnahme eines Liebesverhältnisses, andererseits durch die Verrätselung eines Textes, den es zu dekodieren gilt. Gelöst wird sie mittels Kunst, die unmittelbar an das auslösende Moment angeschlossen 6 Grundsätzlich zum Komplex Kunst/ Liebe in der Biedermeierzeit cf. Begemann 2002: 96 − 106. 256 Stephan Brössel (Münster) produziert oder rezipiert wird. 2) Eine noch grundlegendere Korrelation lässt sich aus Friederichs künstlerischem Schaffen ableiten, der alle im Text auftretenden Figuren (mehr oder weniger deutlich) in ihrem Verhalten unterworfen sind: 7 Probleme in ‘ Realität ’ korr. Psychisches Defizit im Subjekt korr. ‘ Realität ’ ⇒ ‘ Kunst ’ korr. Behebung des Defizits ∧ Optimierung von ‘ Realität ’ Friederich gilt von Beginn seines Wirkens an als talentierter, aber verkannter Maler mit Hang zur ‘ Romantik ’ . Ein entscheidendes Problem in seinem sozialen Umfeld ergibt sich durch die Heirat eines Bruders mit einer Römerin, in die Friederich unglücklich verliebt ist. Er umgeht eine offene Konfrontation zugunsten eines introvertierten Kunstschaffens: “ Er vermied ihren Anblick [den der Römerin], er schien mit allen Kräften gegen seine Leidenschaft zu kämpfen und, indem er künstlerisch darstellte, wovon sein Inneres erfüllt war, von dem übermächtigen Eindrucke sich befreien zu wollen ” (Vischer 1892: 118). Das Schaffen selbst wird dann noch spezifiziert: Treffliche Kompositionen, auf deren jeder man die Züge erkennt, die sich seiner Phantasie so glühend eingeprägt hatten, stammen aus jener Zeit. Aber er vollendete nicht; er fieng an, unordentlich, unreinlich zu werden, und gegen diejenigen, die sein Talent zu verkennen schienen, zeigte er eine wilde Bitterkeit (Vischer 1892: 118). Es lässt sich daraus erstens erkennen, dass unerfüllte Liebe negativen oder hemmenden Einfluss auf künstlerisches Schaffen hat. Dies bestätigen ebenfalls Wilhelm mit seinen Werken wie auch in abgeschwächter Form Christoph und Cordelia. Theobalds Rekapitulation seiner Schwierigkeiten als Erzähler einer romantischen Geschichte während seines ersten Treffens mit Cordelia indessen ( “ Ich konnte nicht weiter erzählen; als wäre der Strom der erfindenden Phantasie durch ein plötzliches Wehr gehemmt, so stockten mir alle Gedanken ” ; Vischer 1892: 87) lassen diesen Befund zweitens noch weiter eingrenzen: Der Text funktionalisiert unerfüllte Liebe im Sinne einer unerreichten oder unerreichbaren Liebe für eine Restriktion künstlerischen Schaffen, wobei offensichtlich zunächst irrelevant ist, ob diese Liebe einseitig ist oder gegenseitig erwidert wird. Friederich wird ob des Todes von Cordelias Mutter wahnsinnig und leitet die erste Phase der Beschäftigung mit dem Gemälde König Lear mit dem Narren in der Sturmnacht ein. Die Kur, die Christoph als Arzt daraufhin ansetzt, besteht in der vorübergehenden Unterbindung der künstlerischen Produktion, “ denn fast aus jedem Blatte sah ihm ja seine 7 Diese Korrelation bestätigt Christian Begemanns These bezüglich des funktionalen Potentials von Kunst in der Literatur der Biedermeierzeit: “ Kunst erwächst nicht mehr wie bei Goethe und den Romantikern aus der Liebe, sondern reagiert auf diese und bewältigt sie in ihrer Defizienz oder ihrem Verlust ” (Begemann 2002: 98, Hervorh. im Original). Selbstreflexives Biedermeier 257 Vergangenheit, sein Wahnsinn entgegen ” (Vischer 1892: 119). Er initiiert dann gleichzeitig die Heilung Friederichs durch eine Rückstufung in den Kindstatus sowie eine pastorale Erziehungsmaßnahme. Die in anthropologischer Perspektive bemerkenswerte und für den Text bedeutungstragende Maßnahme der (Wieder-)Herstellung eines neuen Selbst mit vorangegangenem Selbstverlust glückt. Zwar überführt der Text die Figur mit der Rekonvaleszenz dann biologisch in die Altersstufe des Greisen ( “ Erbleichen seiner Locken ” ; Vischer 1892: 121). Doch heißt es auch: “ Friederich brannte vor Begierde, wieder zu malen; er wollte den Herbst seines Lebens noch recht als Künstler genießen und beschloß eine Reise nach Italien ” (Vischer 1892: 123). Die (vorläufige) Lösung des Problems der Paarfindung auf Ebene der jungen Generation besteht nun in der Verbindung zwischen Cordelia und Theobald, die in Opposition zur nicht realisierten Option einer Verbindung zwischen Cordelia und Wilhelm steht. Schon ein Blick auf die Figurensemantik offenbart dabei, welcher kunstästhetischen Linie der Text folgt: Oppositionell gegenübergestellt werden ein klassisches und romantisches Denkmodell, die durch Wilhelm auf der einen und Friederich auf der anderen Seite verkörpert werden. Das Gespräch lenkte sich auf den Gegensatz der klassischen und romantischen Richtung in der Malerei. Wilhelm kämpfte entschieden für die erstere, Friederich hielt zum romantischen Panier und Theobald suchte zu vermitteln. Als Friederich behauptete, die unbefangene Darstellung der reinen Natur sei für uns verloren, als er den Grund dieser Veränderung in dem Geiste der christlichen Religion nachzuweisen suchte und erklärte, daß seit dem einen Worte des Täufers ‘ thut Buße und gehet in euch ’ die klassische Naivität einfür allemal hinter uns liege, so brach Wilhelm aus: ‘ O Buße und Sünde! Was soll noch aus der Kunst werden, wenn sie Fleisch und Sinne verdammt, sehnsuchtsterbende, demutszerschmolzene Köpfe auf eingemummte Körper setzt und die klare Sicherheit der Gestalten zur abstrakten Durchsichtigkeit eines Elfenleibs verklärt! ’ (Vischer 1892: 69) Der Text etabliert demnach ein semantisches Feld mit disjunkten, abstrakt-semantischen Räumen und ordnet Figuren diesen Räumen zu. Dominierend ist die topologische Ebene des Textes, die durch Kunst konstituiert ist und in deren Rahmen die topographische Ebene funktionalisiert wird. So wird Rom dem klassischen, Deutschland dem romantischen Raum zugeordnet. Kunst separiert sich also in die Opposition ‘ Klassik ’ vs. ‘ Romantik ’ : Klassik und Romantik bilden semantische Teilklassen von Kunst. Ein entscheidendes Differenzierungsmerkmal zwischen beiden Teilklassen ergibt sich - so wird im Text deutlich - u. a. aus der jeweiligen Stellung zur christlichen Religion: ‘ Romantik ’ verfährt integrativ, ‘ Klassik ’ exklusiv im Umgang mit Religion. Diesen semantischen Räumen klar zugeordnet werden Wilhelm und Friederich, wie aufgrund ihrerÄußerungen und Ansichten deutlich wird. Christoph positioniert sich durch seine dem zitierten Schlagabtausch angeschlossene Elfen-Erzählung und seinen Ausspruch “ Apropos, Elfen gibt ’ s, [. . .] ich hab ’ einmal welche gesehen ” (Vischer 1892: 69) implizit im semantischen Raum ‘ Romantik ’ . Einen Sonderstatus nehmen Theobald und Cordelia ein. Wie es heißt, sucht Theobald zwischen Klassik und Romantik zu vermitteln und wendet sich in der prekären Situation seiner namenlosen Angst Gott zu. Cordelia ist die Tochter einer Römerin, deren “ Ebenbild ” (Vischer 1892: 118) sie verkörpert (= klassisch), und gelangt in die Obhut des Romantikers Friederich (= romantisch). Beide nehmen demnach eine Zwischenposition ein, und zwar indem sie die Grenze zwischen ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ 258 Stephan Brössel (Münster) nivellieren oder zu nivellieren anstreben. Die Möglichkeit ihrer Verbindung ist dann auch auf abstrakt-semantischer Ebene der Neuinstallation eines semantischen Raumes äquivalent, der die binäre Raumstruktur (in T1) durch eine triadische Struktur (in T2) zwischenzeitlich zu substituieren andeutet. Abbildung 1: Semantische Räume in Cordelia (1836) zu den Zeitpunkten T1 und T2 Allerdings wird ebendiese Möglichkeit in der Ereignisstruktur des Textes nicht nur als nicht realisierbar gekennzeichnet (Tod Cordelias und nicht-künstlerisches Leben Theobalds); vielmehr kommt es obendrein zu einer gänzlichen Ordnungstilgung (Wilhelms und Friedrichs Tod) und damit zu einem Metaereignis: ‘ Biedermeier ’ bleibt markiert als ( − künstlerisch) bestehen und verwaltet das Erbe von ‘ Romantik ’ ( “ Die beiden Gemälde Friederichs hatten sie mitgenommen ” ; Vischer 1892: 141). Abbildung 2: Semantische Räume in Cordelia (1836) zu den Zeitpunkten T1, T2 und T3 Die prinzipielle kunstreflexive Richtung des Textes kann wie folgt abgeleitet werden: Cordelia etabliert ausschließlich kunstschaffende Figuren, wobei der Text keinen Unterschied zwischen verschiedenen Kunstformen und der künstlerischen Motivation bzw. dem Verhältnis von Produzent und seinem Werk geltend macht, wohl aber zwischen romantischer und klassischer Einstellung des jeweiligen Künstlers und durch sie implizierte, anthropologische Muster unterscheidet. So ist von Bedeutung, dass sowohl die romantische Figur wie auch die klassische Figur für die Paarbildung entfallen: Friedrich liebt zwar in Cordelia das Ebenbild ihrer Mutter. Er ist aber eindeutig zu alt und übernimmt schließlich für sie die Rolle des Ziehvaters; Wilhelm kommt seinerseits aufgrund seines leidenschaftlich stark exponierten Verhaltens als Partner für Cordelia nicht in Betracht. Für die recht überschaubare Figuration ist die Installation der semantischen Räume ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ mithin sinnfällig und bedeutungstragend, dergestalt Formen und Funktionsweisen klassischer und romantischer Ästhetik aus ihrer theoretischen Formu- Selbstreflexives Biedermeier 259 lierung herausgelöst und in der Anthropologie des Textes semiotisiert werden. Der regressive Handlungsakt Wilhelms, der ordnungskonsolidierend (im Sinne der Ordnung in T1) zu deuten ist, ist zugleich ordnungstilgend, da neben Cordelia ebenfalls Wilhelm und Friederich sterben und mit ihnen auf abstrakt-semantischer Ebene ‘ Klassik ’ und (zumindest in kunstproduktiver Hinsicht) ‘ Romantik ’ (in T3) getilgt werden. Der dargestellten Welt liegt dabei aber ein Verhaltenssystem zugrunde, demzufolge alle Figuren in emotionalen Extremlagen malen, singen, dichten oder erzählen und damit artifizielle Artefakte hervorbringen, die wiederum von anderen rezipiert und gedeutet werden. Sie agieren so gemäß einer Art autotherapeutischen Vorgehensweise, kompensieren durch Kunst psychische Leiden und hoffen, auf diese Weise von diesen Leiden befreit zu werden. Maßgeblich ist hierbei die Relation zwischen Kunst und Liebe. Trotz oder aufgrund der Korrelation zwischen beiden Termen, erscheint ein Fortbestand der Ordnung wie auch eine Neuordnung zwar denkbar, nicht aber realisierbar. 2.2 Kunstwerke: Artifizielle Artefakte als Reflexionsgegenstand In literarischen Texten thematisierte artifizielle Artefakte sind nicht zwangsläufig an ihren Produzenten und/ oder den Prozess ihrer Herstellung gebunden. Zudem sind sie - sprachliche Kunstwerke ausgenommen - als semiotische Scheingebilde zu begreifen, die sich als in das Zeichensystem der natürlichen Sprache transformierte Texte manifestieren. Finden sich zugleich Werk und Produzent in einem Text, so wird vor allem die Relation zwischen beiden fokussiert. Abgesehen davon kann Kunst auch als autonomer Funktionsträger, zumeist als konfliktauslösendes oder - tilgendes Element, in die Handlung eingebunden sein. In Stifters Der Hagestolz (1845/ 50) trägt ein Bildnis Ludmillas nicht nur zur Lösung des Konfliktes zwischen dem jungen Victor und seinem Oheim, dem Hagestolz, bei, sondern ist ebenso ausschlaggebend für die Heirat zwischen Victor und seiner Ziehschwester Hanna. Ebenfalls konflikttilgende Funktion übernimmt ein Gemälde in Wilhelm Hauffs Das Bild des Kaisers (1827), indem durch dessen Rezeption maximal voneinander entfernte ideologisch-politische Positionen einander angenähert werden und so der zukunftsentscheidenden Hochzeit zwischen Robert und Anna den Weg ebnen. Konfliktauslösend hingegen fungiert eine Venusstatue in Franz von Gaudys Frau Venus (1838), welche - ganz nach goethezeitlichem Vorbild gestaltet - zum Leben erwacht und die junge Ehe zwischen den Protagonisten bedroht. Nun koppelt aber Cordelia Produzent und Werk ganz deutlich aneinander. Damit wird den Figuren auch im Rahmen der thematisierten Kunstwerke eine bedeutungstragende Funktion zugeschrieben: Kunst ist nur dann adäquat zu interpretieren, wenn die betroffenen Figuren dabei ebenfalls Berücksichtigung finden. Wilhelm vollzieht regressiv motivierte und massiv leidenschaftliche Handlungen, strebt die Konsolidierung einer bedrohten Ordnung an und versucht dadurch eine Neuordnung zu verhindern. Er produziert drei künstlerische Texte, die im Laufe der Handlung von Relevanz sind und ‘ Klassik ’ semantisch anreichern: 1) die mündliche Rekapitulation der Begegnung mit Cordelia in der Sixtinischen Kapelle, 2) eine illustrative Darstellung von Faust und Gretchen und 3) eine Skizze mit dem Titel Raub der Proserpina. Alle drei deuten aufgrund ihrer Verfasstheit auf psychische Defizite der Figur hin und geben gleichermaßen Aufschluss über die Anthropologie des klassischen Figurentypus. Wilhelm leidet unbewusst an 260 Stephan Brössel (Münster) seiner gegenwärtigen Situation, da Liebe für ihn vor allem eines impliziert: leidenschaftlichaffektiv überhöhtes Handeln - er ist zudem narzisstisch veranlagt und schätzt seine Umwelt in höchstem Maße fehl ein. Im Zuge des geselligen Austauschs über vergangene Liebeserlebnisse, eröffnet Wilhelm seine Erinnerung mit einem in isometrischem Strophenaufbau, vierhebigem Trochäus und durchgehendem Kreuzreim verfasstem “ Präludium ” - ein “ kleines Wanderlied ” (Vischer 1892: 74), das er einst auf seiner Reise nach Italien gesungen hatte. Wanderlied und Italienreise referieren natürlich auf die Goethezeit. Die Dominanz emphatischer Ausrufe schafft einen starken Gegensatz zu Cordelias Gedicht “ Mädchens Abendgedanken ” (Vischer 1892: 88 ff.), in welchem Fragensätze hervorstechen. Bezeichnend ist dabei im Präludium die Kopplung von Temporalsemantik an körperliche Leidenschaft: Ein ‘ Gestern ’ wird attribuiert mit Schweben (und damit einem topographischem Oben) und Tanz, mit weißen Brüsten, tiefem Atmen, heißen Küssen, weichem Mund, dem Zaubertrank süßer Liebe; ein ‘ Heute ’ hingegen mit Stock und Steinen, Wüste, rauen und groben Felsenblöcken, mit scharfer Dorne, wunder Hand und Wange, Kälte und topographisch mit Unten. Dabei ist sich die Sprechinstanz durchaus über die Opposition zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Klaren. Insbesondere der letzte Vers ( “ Heute darf nicht gestern sein! ” ; Vischer 1892: 75) verdeutlicht: Es herrscht nicht nur ein Bewusstsein für einen offensichtlich einschneidenden Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart vor - ein Wechsel von einem positiv evaluierten ‘ Früher ’ zu einem negativ erfahrenen ‘ Heute ’ − , sondern zudem für die Notwendigkeit der persönlichen Hinnahme eines solchen Wechsels. Während aber zumindest in diesem Text Wilhelms auf künstlerischem Wege ein solches Bewusstsein geschaffen wird, so macht Cordelia ebenso die Differenz einer solchen Aussage zum Verhalten der Figuren stark, die eben die Abkapselung der Gegenwart von der Vergangenheit zwar kognitiv-mental wahrnehmen, mit ihr psychisch-emotional aber nicht umzugehen wissen. Wilhelm spricht sich vehement gegen konventionelle Liebe, die Heirat und Familiengründung aus (Vischer 1892: 75) und agiert - unter dem Deckmantel platonischer Liebe verborgen, den er anderen gegenüber kommuniziert - massiv leidenschaftlich. Dies belegt denn vor allem der Bericht seiner Begegnung mit Cordelia, der mit Lexemen der Emphase, einem Madonnen-Vergleich, Bezügen zur Antike (Antigone, Aristophanes) und zur deutschen Mythologie durchsetzt ist. Ebenso wie Wilhelm sein Gegenüber beschreibt, seine eigenen Gefühle sprachlich zu fassen versucht und Liebe in ihrer “ maximale[n] goethezeitliche[n] Unbedingtheit ” (Lukas 2001: 54) und Ausschließlichkeit proklamiert, deutet er die Reaktion Cordelias fehl: Sie erwidert seine Leidenschaft ihrerseits eben nicht. Im Gegenteil: Sie fürchtet sich vor ihm. Leidenschaftlichkeit ist nicht allein prägendes Verhaltensmerkmal Wilhelms, sie wirkt sich offensichtlich ebenfalls negativ auf die zwischenmenschliche Wahrnehmung aus und stellt eine Gefahr für den leidenschaftlichen Menschen selbst wie auch für diejenige Person dar, für die Leidenschaft entfacht worden ist. Deutlich wird dies wiederum an den beiden anderen Artefakten Wilhelms. Die Herstellung des ersten Gemäldes zeigt “ Faust, wie er Gretchen auf der Straße seinen Arm anbietet ” (Vischer 1892: 114). Wie Friederich verfährt Wilhelm dabei so, dass er reale Personen in das Werk einarbeitet, mit dem Unterschied jedoch, dass er damit eine narzisstische Veranlagung offenbart wie auch das Produkt abermals eine mit Leidenschaft Selbstreflexives Biedermeier 261 korrelierte, prinzipielle Gefahr nahelegt: Denn Wilhelm zeichnet Faust wie auch den im Hintergrund beobachtenden Mephisto mit seinem eigenen Angesicht, Gretchen bekommt das Gesicht Cordelias. Damit schreibt er die eigene Wirklichkeit in die tragische Geschichte um Faust und Gretchen ein. Zum einen wird durch diese intertextuelle Referenz der Bezug zur Goethezeit untermauert. Zum anderen deutet die Referenz auf Goethes Faust das Schicksal der beiden Figuren proleptisch voraus. Wilhelm selbst scheinen diese Züge unzugänglich, nicht aber seinem Umfeld, in diesem Fall Theobald, dem es zwar ebenfalls unmöglich ist, einen Zusammenhang herzuleiten, der aber dennoch die Veränderung in Wilhelms Auftreten erkennt: “ Theobald konnte dem Bilde nur eine halbe Aufmerksamkeit schenken, die Erscheinung seines Freundes machte überhaupt in diesem Augenblick einen widerlichen, fast ängstlichen Eindruck auf ihn, ohne daß er sich den Grund dafür anzugeben wußte ” (Vischer 1892: 114). Mit der letzten Zeichnung, dem Raub der Proserpina nach Wiedererkennung Cordelias und vor Wilhelms Tod spitzt sich die Lage zu. Auch hierin findet sich der klassizistische Duktus wieder, den der Bezug zur römischen Mythologie offenlegt. Allerdings sind auch Unbedingtheit, Besitzwahn und körperlich-erotische Leidenschaftlichkeit in noch radikalerer Form erkennbar. Angesichts dessen fällt denn auch Theobalds Reaktion in diesem Fall sehr viel schärfer aus als zuvor. Zunächst: “ Daß ich ’ s nur gestehe [. . .], ich kann deine Leidenschaft für die Antike, für die sogenannte Form nicht ohne Ängstlichkeit betrachten. Ja, wenn ich glauben könnte, daß es eine reine Begeisterung für die Form ist -” (Vischer 1892: 130). Dann: “ Wilhelm, ist deine Seele rein? ” (ibid.). Und schließlich: “ Dich reißt dein antikes Wesen noch ins Verderben, ins gemeine Verbrechen! ” (ibid.) Die Zerstörung der Zeichnung versteht denn Wilhelm als Verdrängungsakt und Neuanfang, der die Trennung von Theobald vorsieht: “ Ach, warum, warum mußte es so kommen? Doch sei er abgeschüttelt, der wüste Traum dieser letzten Tage! Theobald, ich begleite dich und kehre nicht mit dir nach Rom zurück ” (Vischer 1892: 131). Offensiv und explizit repräsentiert wird auf der anderen Seite Romantik durch Friederich, auf dessen Gemälde noch näher einzugehen sein wird. Den als klassisch ausgewiesenen Werken Wilhelms entgegengestellt wird ebenfalls Christophs Elfen-Erzählung, die auf mehreren Ebenen auf das Zeichenrepertoire der Romantik zurückgreift. Wesentlich ist beispielsweise, dass Christoph mit seinem Ausruf “ Elfen gibt ’ s ” (Vischer 1892: 69) den ontologischen Status wunderbarer Wesen für die fiktionsinterne, nicht-wunderbare Realität konstatiert. Damit wird spielerisch-verbal zum Ausdruck gebracht, was die Romantik seinerzeit prinzipiell festgelegt hatte: die Auflösung der Grenze zwischen Imagination und Realität insbesondere in Bezug auf phantastische Elemente (cf. Lukas 1998 a: 401). Daneben findet sich die Thematik des Traums, der Phantasie und des selbstreflexiven Erzählens und der Rezeption von Gespenstergeschichten, die auf die Schauerromantik referiert, sowie die in einer Erzählung der dritten Ebene (Erzählung einer Elfe) aufgebauten semantischen Relationen von Mensch und Elfe, deren eine die geliebte Person zur Elfenkönigin erhebt und deren andere einen Bauern als Elfenquäler ausstellt (der bezeichnenderweise eine Elfe in ein Buch presst! ). Liebe ist auch hier zentral, denn die geliebte Jungfrau ist Initial für das Elfenerlebnis, sie bietet damit überhaupt erst die Möglichkeit zum wunderbaren Erleben und öffnet die Wahrnehmung für das Wunderbare. 262 Stephan Brössel (Münster) Theobald offenbart sich seinerseits auch mit Blick auf die von ihm produzierten Artefakte als Vermittler zwischen den beiden vorherigen Positionen und wählt dementsprechend in seiner Geschichte, die er Cordelia bei ihrem ersten Zusammentreffen erzählt, “ eine Art romantischen Ulysses ” (Vischer 1892: 86), ein figurales Hybrid stellvertretend für Klassik und Romantik. Cordelias Lied Mädchens Abendgedanken wiederum ist als Gegenstück zu Wilhelms Wanderlied zu lesen. Beide verbindet die Liebesthematik und die Funktionalisierung einer Temporalsemantik. Cordelias Text jedoch präsentiert eine gänzlich passive Sprechinstanz und konzentriert sich nicht wie Wilhelm auf die Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auf die Relation zwischen Gegenwart und Zukunft. Von höchster Relevanz dabei ist, wie die männlichen Figuren im Rahmen ihrer Kunstproduktion mit Cordelia umgehen. Dies führen zum einen Wilhelms Versuche vor, die leidenschaftliche Liebe zu Cordelia künstlerisch zu verwerten oder diese durch jene zu kompensieren. Dies zeigen zum anderen Friederichs Gemälde, die ihrerseits einen intertextuellen Bezug zu Shakespeare aufbauen. Festzuhalten ist aber auch, dass Theobald offensichtlich durch seine Liebe künstlerisch gehemmt wird, er gegenüber Cordelia ins Schwanken gerät und, nachdem der Hochzeit nichts mehr im Wege steht, keine Kunst mehr zu produzieren vermag; nach ihrem Tod verzichtet er gänzlich auf künstlerisches Schaffen. Als biedermeierlicher Repräsentant ist dies natürlich bezeichnend, steht er damit schließlich zeichenhaft für Vischers Text selbst, der ja ein literarischer Text der Biedermeierzeit ist - und der dadurch sein eigenes Scheitern in literaturgeschichtlicher Hinsicht reflektiert. 3 Shakespeares King Lear und Selbstreferenzialität in Cordelia: Die intertextuelle Bedeutungskomponente Im Zentrum stehen nun zwei Gemälde, die innerdiegetisch produziert und durch die Erzählinstanz narrativ-verbal und in direkter Figurenrede im Discours wiedergegeben werden. Im einen wie im anderen Fall wird auf Shakespeares King Lear referiert, und zwar jeweils auf entscheidende Szenen innerhalb des Dramas: König Lear wird nach der Teilung seines Landes und seinem Verstoß Cordelias von seinen beiden anderen Töchtern Regan und Goneril hintergangen und entmachtet. In einer Sturmnacht beklagt er seinem Narren, inzwischen wahnsinnig geworden, sein Leid (Bild 1: König Lear mit dem Narren in einer Sturmnacht, III. Akt, 2. Szene). Regan und Goneril verlieren am Ende selbstverschuldet ihr Leben, nicht jedoch ohne Edmund - einem Buhler, der mit beiden anbändelt - mit Cordelias Ermordung zu beauftragen. Die gutmütige Cordelia stirbt schuldlos, Lear aus Gram über ihren Tod (Bild 2: Lear mit der toten Cordelia in den Armen, V. Akt, 3. Szene). Semantisiert und funktionalisiert wird der intertextuelle Bezug auf Shakespeare im Rahmen der Novelle grundsätzlich auf zweierlei Weise: Zum einen reichert der Text mit ihm das Paradigma ‘ Romantik ’ an. Zum anderen nutzt er das Verfahren einer diegetischen Rückkopplung und generiert damit ein selbstreferenzielles Moment, das vor allem durch eine temporalsemantische Ebene getragen wird. Die Welt in King Lear ist eine aristokratische Welt, in der die Herrschaftsübergabe der alten Generation an die Kindergeneration als Marker für den Status eines Interims zu werten ist; der Text selegiert eben genau diesen Übergang vom Alten zum Neuen. Daneben Selbstreflexives Biedermeier 263 ist die Defizienz des Endzustands auffällig, denn ebenso wie sich das alte patriarchalische System in der Person Lears als überholt und nicht mehr tragfähig erweist, kann sich ein neues System unter der Führung der jungen Generation nicht etablieren, da es von radikalem Egoismus geprägt ist und anstelle von Zusammenhalt und Entdifferenzierung auf maximale Ausdifferenzierung abhebt. Signifikant ist, dass die Installation eines neuen Zustands (in Person Edgars) über das Textende hinaus lediglich in Aussicht gestellt wird und der Endzustand überdeutlich durch den Tod der Figuren geprägt ist. Besonders sticht in diesem Kontext Cordelias Tod hervor, verkörpert sie doch diejenige Figur, die nicht an den Intrigen der Schwestern und Ränken der anderen Figuren partizipiert und sich allein um das Wohl des Vaters sorgt. Durch die Tilgung dieser positiv konnotierten Figur mit dem Potenzial eines Hoffnungsträgers für eine bessere Zukunft offenbart sich die Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Verhaltens- und Regelsystemen als massiv instabile und unheilvolle Welt. Vor dieser Folie erscheint der intertextuelle Bezug, den Cordelia aufbaut, bedeutungskonstitutiv. Der Text projiziert das Wissen um die Handlung in King Lear auf die eigeneWelt - sowohl für die Figuren, die Shakespeare und dessen Drama selbstverständlich kennen und einzuschätzen wissen, als auch für den zeitgenössischen Leser, der Cordelia mit entsprechendem Wissen rezipiert und beide Texte zueinander in Beziehung setzt. Cordelia fungiert so als kultureller Speicher. Die Erzählung funktionalisiert King Lear darüber hinaus aber für die Charakterisierung der von ihr selbst dargestellten Welt: Wie bei Shakespeare ist diese mit den Merkmalen des Interims und der grundsätzlichen Defizienz und Instabilität versehen. Entscheidend ist dabei der Modus des intertextuellen Bezugs, der über die adaptive Transformation von Kunstformen durch Textinstanzen vonstatten läuft und mit Romantik und Klassik korreliert: Cordelia erscheint als narrativer Text, der auf einen dramatischen Text referiert. Diesen bindet jener aber nur mittelbar verbal-sprachlich ein, denn die Referenz wird in der erzählten Handlung von einer Figur übernommen, die den dramatischen Text Shakespeares adaptiert und in ein anderes Zeichensystem, das des gemalten Bildes, übersetzt. Damit werden die Szenen aus King Lear ikonifiziert 8 wie auch die Handlung der Vorlage ent-dynamisiert und in zwei Geschehensmomenten eingefroren wird. Diese Transformation wiederum ist auf der Oberflächenstruktur des Textes Cordelia 8 Von Ikonifizierung spricht Rudi Keller beim Vorgang der Simulation von Symptomen: “ Nur echte Symptome sind Symptome. Imitierte Symptome sind Symptomen ähnlich und sind somit Ikone von Symptomen. [. . .] Das ikonifizierte Symptom muß [. . .] zwei Aspekte haben, einen, der es als intentional hervorgebrachtes Zeichen erkennbar macht [. . .], und einen, der erkennbar macht, was der Zeichenbenutzer mit dem Zeichen mitzuteilen wünscht ” (Keller 1995: 162 f.). Tatsächlich ist der hier vorliegende Tatbestand ähnlich: Von Friederich wird ein Zeichenkonstrukt hervorgebracht, das ein anderes Zeichenkonstrukt medial transformierend adaptiert. Im Rahmen dieses Textes wird aber nicht nur auf Shakespeares Text referiert (Imitation), sondern darüber hinaus das mediale Potential der Adaption genutzt, um Realitätsaspekte einzubinden. Dadurch kommuniziert Friederich auf doppelter Ebene und veranlasst seine Rezipienten zu “ zwei hintereinandergeschachtelte[n] Interpretationsverfahren ” (Keller 1995: 162): Die Rekonstruktion der Handlung King Lears wird im Zeichensystem des gemalten Bildes reproduziert (erste Botschaft) und dadurch die Rekonstruktion der Verarbeitung von Realität semantisiert (zweite Botschaft). 264 Stephan Brössel (Münster) unsichtbar und wird abermals transformiert in die Sprache einer nichtdiegetischen, ekphrastisch verfahrenden Erzählinstanz oder die Sprachen der Figuren. Dem Text liegt folglich ein spezifischer idealgenetischer Transformationsprozess seines intertextuellen Bezugs zugrunde: Die Figur hatte in der dem Text vorgelagerten Vergangenheit Shakespeare in die Kunstform der Malerei übertragen. Im Zuge der narrativen Wiedergabe des Geschehens verzichtet die Erzählinstanz auf eine Zitation dieser Bildtexte zugunsten einer sprachlichen Repräsentation. Dies hat Re-Verbalisierung und Re-Narrativisierung, aber auch Verschleierung zur Folge - beides offensichtliche Signa von Cordelia: Rekapituliert wird etwas, das bereits in der Vergangenheit rekapituliert wurde. Jetzt wird es mit dem Anspruch einer neuerlichen Transformation in den Kontext einer Narration eingebunden und dadurch nur mittelbar wiedergegeben und nicht vollständig rekonstruiert. Im Rekonstruierten aber konstatiert der Text nicht nur eine Äquivalenz des in der eigenen Gegenwart Vorhandenen, sondern setzt diese realiter um: Ebenso wie die Figuren bei Shakespeare an der Welt scheitern, scheitern sie auch bei Vischer. Zusätzlich also zur Parallelführung der Handlungen wird durch die Referenz auf Shakespeare das spezifisch biedermeierliche Problem des scheiternden Interims kodiert, das kunstreflexiv verhandelt wird und implizit den eigenen kunstästhetischen Status bezeichnet. Nun handelt es sich bei Friederich eben um einen Repräsentanten von ‘ Romantik ’ , der Shakespeare im Rahmen eines Textes der Biedermeierzeit in die Malerei überträgt. Romantik setzt sich dadurch von Klassik ab, die ihrerseits nicht mit Shakespeare, sondern mit der Antike und Goethe attribuiert ist. Ebenso separiert wird jedoch ‘ Romantik ’ von ‘ Biedermeier ’ , denn ‘ Romantik ’ verfährt ästhetisch und funktional anders mit der Vorlage als ‘ Biedermeier ’ . Beide sind sich durch ihren Bezug zu Shakespeare näher als die deutlich differenzierte ‘ Klassik ’ . ‘ Klassik ’ : Antike vs. ( ‘ Romantik ’ : Shakespeare vs. ‘ Biedermeier ’ : Shakespeare) Während ‘ Romantik ’ einen innovativ-produktiven Transformationsprozess vollzieht, erscheint dieser im Fall des ‘ Biedermeier ’ lückenhaft, mittelbar, narrativ-dynamisiert und - mit Blick auf die Handlung - destruktiv. Zwar ist Friederich in seiner Rekonvaleszenz auf Geheiß des Arztes von seiner Kunstproduktion abgekapselt, er findet jedoch zur Kunst zurück. Dahingegen führt Theobald am Ende des Geschehens kein Dasein als Künstler, sondern ein bürgerliches Leben. Und auch Christoph - der andere Überlebende - nimmt lediglich die “ beiden Gemälde Friederichs ” (Vischer 1892: 141) mit nach Deutschland, bleibt selbst aber künstlerisch untätig. ‘ Biedermeier ’ - dies führt der Text als biedermeierlicher Text vor Augen - ist mithin äquivalent zu ‘ Entromantisierung ’ (cf. Lukas 1998 b: 265 − 270; Lukas 2001: 57, 60 f.). Bezeichnend ist aber auch, dass Vischers ’ Text mit Cordelia betitelt ist und der ‘ Romantiker ’ Friederich wie König Lear dem Wahnsinn verfällt und die Rolle des Adoptivvaters gegenüber Cordelia einnimmt, Cordelia ihrerseits einen zwar nicht grundlosen, aber vermeidbaren Tod stirbt. Beides unterstreicht die Äquivalenzbildung der Weltkonzepte wie auch die Privilegierung von ‘ Romantik ’ gegenüber ‘ Klassik ’ . Es belegt aber vor allem die Signifikanz der Vorlage für den Bedeutungsaufbau. Die tragende Korrelation nämlich, wie sie oben bereits aufgeschlüsselt worden ist, muss hier unter Berücksichtigung des intertextuellen Bezugs ergänzt werden: Selbstreflexives Biedermeier 265 Abbildung 3: Kodifizierung von Kunstproduktion durch sR ‘ Romantik ’ Friederichs transformative Adaption von Shakespeares Drama wird zunächst als Geheimnis inszeniert, über dessen Ursprung nur Christoph Bescheid weiß, nicht aber Theobald und Wilhelm. Diesen Freund [Christoph] besuchten jene beiden [Theobald und Wilhelm] eines Mittags, [. . .] ein schönes Gemälde [. . .] zu betrachten. Es war offenbar ein meisterhaftes Werk, vor das er den Erstaunten treten hieß: König Lear mit dem Narren in der Sturmnacht. ‘ Wie oft habe ich doch schon den Gedanken gehabt, ’ rief der freudig Überraschte, ‘ wie schön dieser Moment von einem Maler sich müßte darstellen lassen, und nun stehe ich vor einer Wirklichkeit, die alle meine Erwartungen übertrifft! Armer Greis, da stehst du, dem Toben der Elemente preisgegeben; der Blitz speit sein zackiges Feuer, der Donner rollt, der Regen stürzt in Strömen herab. Doch sie wollen nur wüten, sie sind ja nicht deine Töchter, ihnen gabst du kein Reich und nanntest sie Kinder! Der Sturm wühlt dir im weißen Barte und in den spärlichen Locken deines Hauptes, er will dir den Königsmantel vom Leibe zerren, dunkler Wahnsinn kräuselt bereits deine hohe Stirn in unheimliche Fältchen. Und doch bist du noch immer der größte König, vor dessen mähendem Schwerte einst die Feinde hüpften, immer noch jeder Zoll ein König! ’ [. . .] ‘ Der Narr gefällt mir auch besonders, sieh ihn einmal recht an, ’ bemerkte Wilhelm. Theobald konnte die Verbindung von Furcht und Schelmerei, von herzinniger Gutmütigkeit und dialektischem Verstande, von Sinn und Unsinn nicht genug bewundern, die in diesen Gesichtszügen geschrieben stand. [. . .] ‘ Er möchte weinen und scherzt, er denkt der guten Cordelia. Welche Wirkung hat der Maler besonders durch die Fältchen an den äußeren Winkeln der halbzugedrückten Augen hervorgebracht! [. . .] Wer diesen Narren und diesen König neben einander stehen sieht, der, meine ich, sieht nicht nur den Grundgedanken dieses Trauerspiels, sondern das Trauerspiel selbst verkörpert. ’ [. . .] Theobald ließ sich gerne unterbrechen, denn ein neuer Gegenstand hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Je genauer er die Physiognomie des Narren betrachtete, desto mehr drang sich ihm eine, nur wenig verdeckte Ähnlichkeit mit Christophs Zügen auf, er fixierte verwundert bald diesen, bald das Bild (Vischer 1892: 64 ff.). Realität und Tragödie werden im Bild semiotisch verschränkt: Friederich überführt die eigene Lage nach dem Verlust der unerreichbaren Liebe in die Sturmszene und zeichnet sich selbst (als Lear) und Christoph (als Narr) in die Darstellung ein. Auch im anderen Gemälde, 266 Stephan Brössel (Münster) das König Lear mit der sterbenden Cordelia zeigt, substituiert Friederich konsequent Lears Gesicht durch seine eigene Physiognomie, und Shakespeares Cordelia durch die reale Cordelia (auf die Theobald entsprechend reagiert) - allerdings mit einer signifikanten Änderung der literarischen Vorlage: Das Gemälde stellte König Lear vor, die sterbende Cordelia in den Armen haltend. ‘ Ich zähle mich ’ , bemerkte Friedrich, ‘ nicht zu denen, welche Shakespeare überzuckern, aber hier mußte denn doch der Künstler statt der Male um den Hals eineWunde in der Brust wählen. ’ Theobald betrachtete voll Bewunderung das Bild, in welchem er mit dem ersten Blick ein wahres Kunstwerk erkannte. Aber wie erstaunte er, als er nicht in Lears Zügen eine große Ähnlichkeit mit Friederich, sondern auch in dem Bilde der Cordelia seine Cordelia erkannte. Bleich, mit dem letzten feuchten Strahle im erlöschenden Auge, lag die zerknickte Lilie im Arme des greisen Vaters. ‘ Woher dies Bild? ’ stammelte Theobald, ‘ wer hat es geraubt aus dem verschwiegenen Heiligtum meiner Seele? Cordelia, meine, meine Cordelia! ’ (Vischer 1892: 115 f.). Das zweite Bild fungiert zu diesem Zeitpunkt des Geschehens als problemlösendes Element, da es für Friederich die Aufrichtigkeit Theobalds gegenüber Cordelia bescheinigt und nach einer Rezeption beide temporär zusammengeführt werden. Wie auch die Ikonifizierung der Figuren unterstreicht der proleptische Verweis auf Cordelias Tod die Verschränkung beider Welten. Diese Verschränkung wird - im Gegensatz zu Wilhelms Faust-Adaption, die lediglich den narrativen Frame der Vorlage mitschwingen lässt - durch jene semiotische Substitution der tödlichen Verwundung in der Adaption (Wunde in der Brust) gegenüber der Vorlage (Strangulationsmale) signalisiert und räumt gerade in der ‘ romantischen ’ Verarbeitung Shakespeares den hohen weltkonstitutiven Stellenwert in der Erzählung ein. Mit der diegetischen Rückkopplung von King Lear illustriert Cordelia mithin paradoxerweise einerseits den Bezug zur ‘ Romantik ’ , die der Text als eine Alternative neben der ‘ Klassik ’ präferiert. Er führt andererseits aber auch deren prädeterminiertes Scheitern im Kontext des eigenen Systems ‘ Biedermeier ’ vor. 9 Wiederholt wird Nicht-Künstlerisches (und zwar anthropologische Belange 10 ) in Kunstwerken semiotisiert, derAkt selbst zugleich 9 Cf. Jan-Oliver Deckers Feststellung zu Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder: “ Das Sprecher-Ich strebt damit letztlich ein Paradoxon an: 1. Das Sprecher-Ich versucht in der Nordsee und im BdL [Buch der Lieder], eine Summe goethezeitlicher Literatur abzubilden und in sich zu integrieren. 2. Das Sprecher-Ich versucht, diese goethezeitliche Literatur durch individuelle Um- und Neusemantisierung ihrer Elemente als herausragende Künstlerpersönlichkeit zu überwinden. Auf diese Weise konserviert das Sprecher-Ich die goethezeitliche Literatur, so dass im Prinzip eine Emanzipation von der goethezeitlichen Literatur gar nicht erreicht werden kann ” (Decker 2005: 61). 10 Mit meinem Verständnis einer Literaturanthropologie folge ich dem Konzept einer Literaturanthropologie II von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort: “ Zum einen bedeutet ‘ Anthropologie der Literatur ’ (genitivus objectivus, Literaturanthropologie I), daß sich die Literaturwissenschaft fächerübergreifend als eine ‘ Anthropologie ’ versteht, die den langfristigen Bestandserfolg von Dichtung in die Evolutionsgeschichte von Sozialität, Kommunikation und Symbolgebrauch einordnet und daraus - notwendig abstrakt - anthropologische Funktionskonstanten eines mimetischen und spielerisch fingierenden Weltbezugs ableitet. Der Gegenstand einer so verstandenen Literaturanthropologie I gehört genauso wie die körperlich-seelischen Grunderfahrungen des Menschen (Kindheit, Alter, Tod, Sexualität, Gewalt, Fremdheit) und die mit ihnen verknüpften Performanzen und Rituale (rites de passage) zum Objektbereich anthropologischer Forschung. Dieser fällt jedoch gerade nicht in den Zuständigkeitsbereich einer Literaturanthropologie II ( ‘ Anthropologie der Literatur ’ : genitivus subjectivus), der zufolge die Literatur selbst als Quasi- ’ Anthropologie ’ interpretiert werden kann. Für diese gilt nämlich erstens [. . .], dass sie, ‘ anders als der Name denken läßt, eine Art von Historie, nicht eine Art von Anthropologie ’ [Zit. Rüdiger Bittner] ist, und zweitens, dass sich ihr Erkennt- Selbstreflexives Biedermeier 267 rekurrent als künstlerischer Akt ausgestellt und damit zum Fundament der selbstreferenziellen Textkonstitution ( ‘ RK → Srf ’ ). Ähnlich wie Shakespeare verhandelt Vischer anhand seiner Figuren einen Umbruch von Welt. Im Gegensatz zu jenem aber bindet er Fragen der Kunst in diesen Umbruchsprozess ein und erhebt so seine Problemverhandlung zu einer Auseinandersetzung mit der Aufgabe und der Beschaffenheit von Kunst selbst und problematisiert die Transformation desjenigen Literatursystems, dem er selbst angehört. Mit der Tilgung von ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ wird beiden Systemen Inadäquatheit und Inkompatibilität attestiert. Als Problem bleibt indessen jedoch bestehen, dass ‘ Biedermeier ’ (in Person Theobalds) Kunst gänzlich entsagt und soziale Aufgaben übernimmt oder (in Person Cordelias) von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Ein entromantisierendes ‘ Biedermeier ’ unterscheidet der Text von ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ . In ihm werden ‘ Kunst ’ durch ‘ bürgerliche Arbeit ’ und ‘ partnerschaftliche Liebe ’ durch ‘ zweckökonomische Männerfreundschaft ’ oder eben ‘ Tod ’ substituiert. Die spezifische Relationierung der Welt in King Lear und der Welt in Cordelia hat nun also bezeichnenderweise zur Folge, dass neben der kunstschaffenden Figur ebenfalls der Text beide Welten äquivalent setzt. Er transponiert das Prinzip der funktionalen Semiotisierung der von ihm thematisierten artifiziellen Artefakte in die eigene Modellierung von Welt. Auf Discours-Ebene setzt er eine semiotische Transformation der King Lear-Gemälde um: Cordelia verfährt homolog mit der ‘ Romantik ’ . Auf der Histoire-Ebene findet sich eine Rückkopplung der dargestellten Welt an die in Friederichs Werken modellierte Welt, die ihrerseits vor der Folie von King Lear Wirklichkeit modelliert. ‘ Biedermeier ’ ist in Cordelia damit in zweifacher Weise einem Scheitern äquivalent: 1) Einmal im Hinblick auf das nisinteresse nicht auf die elementaren menschlichen Erfahrungshorizonte selbst richtet, sondern auf die Geschichte ihrer literarischen Diskursivierungen, darauf also, auf welche Weise die Literatur einer Gesellschaft die psycho-physischen Rahmenbedingungen menschlicher Verhaltens- und Handlungsalternativen narrativ, dramatisch oder ‘ lyrisch ’ konstruiert. Literatur fungiert somit als Speicher- und Verbreitungsmedium des gesellschaftlich kommunizierten anthropologischen Wissens und Selbstbildes einer raumzeitlichen Kultur (z. B. der ‘ Goethezeit ’ ) und kann zugleich als historische Quelle solchen Wissens wiederum zum Gegenstand einer ‘ historischen Ethnologie ’ (z. B. der ‘ Goethezeit ’ ) werden ” (Lukas/ Ort 2012: 4 f.). Abbildung 4: Selbstreferenzielle Struktur in Cordelia 268 Stephan Brössel (Münster) persönliche Glück von Theobald und Cordelia und 2) hinsichtlich des Loslösungsproblems von ‘ Romantik ’ und des in künstlerischer Hinsicht als unproduktiv markierten Endzustands. Angesichts dieses Befundes ergibt sich eine für die Dekodierung der Selbstreferenzialität des Textes aufschlussreiche Schlussfolgerung: Semantisiert wird der intertextuelle Bezug zu Shakespeare nicht allein als Kanal zum Ausdruck persönlicher Befindlichkeiten der Künstler und als Ausgangspunkt zur Austragung ästhetisch-programmatischer Debatten, sondern auch als Schnittstelle zwischen den Paradigmen ‘ Kunst ’ und ‘ Zeit ’ . Shakespeare wird im deutschsprachigen Raum bei Lessing, Herder, im Sturm und Drang und bei den Romantikern als zeitloser Klassiker aufgefasst - namentlich bei Friedrich Schlegel als “ Gipfel der modernen ‘ interessanten ’ Poesie ” bezeichnet (Hoffmeister 1994: 123) oder gar als “ romantische[r] Dichter überhaupt ” und damit in “ das Zentrum [. . .] der romantischen Phantasie ” (ibid.: 124) gerückt. Folgerichtig nutzt Friederich die Referenz zum Ausdruck persönlich-subjektiver - und eben dezidiert ‘ romantischer ’ - Befindlichkeiten. Zwar gelingt in seinem Fall die ästhetische Übernahme, im Fall von Cordelia allerdings nicht, weil Shakespeare reflexiv für den Gesamttext funktionalisiert wird. 11 Denn der Bezug wird gleichermaßen als Notwendigkeit und Unmöglichkeit vorgeführt und dies als dezidiert ‘ biedermeierliche ’ Problematik ausgewiesen: ‘ Biedermeier ’ orientiert sich an ‘ Romantik ’ , rekonstruiert und rekapituliert damit Kunst der Vergangenheit und scheitert, da offensichtlich adaptierte Muster keine Geltung mehr haben. Zugrunde liegt dem Text also ein temporales System, das aufgrund von Kunstreflexion überhaupt erst ersichtlich wird, das jedoch maßgeblich ist für den Status selbstreferenziellen Erzählens. Abbildung 5: Temporalsemantische Räume in Cordelia 4 Selbstreferenzielles Biedermeier: Cordelia als kunstreflexiver Metatext der Zwischenphase Das Literatursystem der Phase zwischen Goethezeit und Realismus zeichnet sich in hohem Grad als reflexives und selbstreferenzielles System aus: Literarische Texte weisen über sich selbst hinaus und verhandeln Regularitäten desjenigen Literatursystems, dem sie selbst angehören. Sinnfällig in dieser Hinsicht ist die funktionale Abhängigkeit der Biedermeierzeit vom zeitlich vorhergehenden System der Goethezeit, das als Reflexionsgegenstand auf verschiedeneWeise integriert ist. Funktionale Abhängigkeit gilt dabei als Voraussetzung für die spezifische Spielart von Selbstreferenzialität und Metafiktionalität (cf. Wünsch 2002: 279 f.): Das Literatursystem repräsentiert (mindestens) zwei Sets divergenter Regularitäten, 11 Damit steht Vischers ’ Text in Beziehung zu einer grundsätzlich reflexiven Tendenz der Shakespeare- Rezeption in der post-goethezeitlichen Phase insgesamt (Habicht 2011: 120 f.). Selbstreflexives Biedermeier 269 welche einander oppositionell gegenüber stehen. Während das eine Set mit goethezeitlichen Merkmalen versehen ist (+ goethezeitlich), ist für das andere vornehmlich die Absenz oder die Negation solcher Merkmale bezeichnend ( − goethezeitlich). Die Relation der Abhängigkeit des einen vom anderen ergibt sich also durch die Benennung einer semantischen Leerstelle ex negativo − und nicht etwa durch das Merkmal (+ biedermeierlich). Selbstreferenzialität und Metatextualität können folglich als Signifikanzen der Biedermeierzeit angenommen werden (cf. Lukas 2001: 49 ff.; Lukas 2002: 154). Eine solche Spezifik weist auch Cordelia auf und verhandelt damit die eigene Verfasstheit und Bedingungen seiner Entstehungskontextes. Folgende Eigenschaften selbstreferenziellen Erzählens des vorliegenden Falls sind hervorzuheben: 1) Der Text ist in hohem Maß angereichert mit kunstreflexiven Strukturen. Cordelia etabliert kunstschaffende Figuren: Künstler im emphatischen Sinn und Gelegenheitskünstler. Der Text thematisiert deren Artefakte, Lieder, Gemälde, Erzählungen etc., indem er Figuren über sie sprechen lässt oder in Form einer nichtdiegetischen Erzählinstanz selbst deskriptiv (und nicht explizit evaluativ) verfährt. Die Erzählung installiert eine Reihe von intertextuellen Verweisen (so auf Goethe, Hegel, Platon, Aristophanes u. v. m.), die auf irgendeine Weise mit Kunstproduktion oder der Betrachtung von Kunst in Beziehung stehen. Korreliert sind diese Strukturen mit anthropologischen Aspekten der Realitätsbewältigung in Form einer Verarbeitung unerreichter und unerreichbarer Liebe. 2) Kunstreflexion ist Implikat der Opposition ‘ Klassik ’ vs. ‘ Romantik ’ vs. ‘ Biedermeier ’ . Mit Wilhelm auf der einen und Friederich auf anderen Seite liegen Repräsentanten der abstrakt-semantischen Räume ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ vor, die Teilklassen von Kunst figurieren und aufgrund des Umgangs mit christlicher Religion (Inklusion vs. Exklusion), durch verschiedene intertextuelle Bezüge (Antike vs. Shakespeare) und divergierende anthropologische Konzepte des jeweiligen Vertreters (extrovertiertnarzisstisch vs. introvertiert-altruistisch) als disjunkte semantische Räume benannt werden konnten. Beide verbindet die Produktion von Kunst. Beide fokussieren das Problem der Paarfindung und -bildung. Gerahmt wird dies wiederum vom biedermeierlichen Muster der präsentierten Geschehnisse des Textes Cordelia. Es liegt keine Kunstreflexion im Allgemeinen vor, die sich mit grundsätzlichen Fragen der Formgebung und des Funktionspotentials von Kunst auseinandersetzt, sondern eine Kunstreflexion im Besonderen, die Subsysteme der Goethezeit substantiiert und reflexiv gegeneinander abwägt - und dies explizit aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen den Figuren und implizit aufgrund ihrer Handlungen vollzieht. 3) Die Opposition ‘ Goethezeit ’ vs. ‘ Biedermeier ’ impliziert Metatextualität. ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ werden durch ‘ Biedermeier ’ in Person Theobalds und Cordelias ergänzt, die als Vermittler zwischen beiden Modellen konzipiert sind. ‘ Romantik ’ wird vom Text gegenüber ‘ Klassik ’ präferiert, insofern über sie das Liebes-Problem temporär gelöst wird. Jedoch steht ‘ Romantik ’ ebenfalls in Opposition zu ‘ Biedermeier ’ und zwar hinsichtlich des zentralen intertextuellen Bezugs zu Shakespeares King Lear. ‘ Romantik ’ appliziert Shakespeare innovativ und produktiv, indem sie eine mediale Transformation vornimmt und die Grenze zwischen Kunst und 270 Stephan Brössel (Münster) Realität (im romantischen Sinn) optimal nivelliert. Homolog dazu überträgt Cordelia dieses romantische Prinzip auf die vom Text dargestellte nicht-romantische Welt und inszeniert ein Scheitern: Die Rekonstruktion von Friederichs Gemälden verläuft mittelbar und fragmentarisch. Der romantische Ausdruck im thematisierten artifiziellen Artefakt der Gemälde wird an die Diegese des Textes selbst rückgekoppelt. Am Ende wird eine künstlerisch unproduktive Welt vorgeführt, die allein das Erbe der Romantik verwaltet. Dieses ‘ Sich-Abarbeiten ’ an der Goethezeit, an goethezeitlichen Verfahren, Mustern und Denkmodellen kommt mentalitätsgeschichtlich der Auseinandersetzung mit einem “ literaturgeschichtliche[n] Trauma ” (Decker 2005: 61) gleich und ist Signum des Literatursystems ‘ Zwischenphase ’ insgesamt. Der Text Cordelia ist mithin als Metatext des Biedermeier zu klassifizieren. 4) Kunstreflexion impliziert Selbstreferenzialität; Selbstreferenzialität impliziert Zeitreflexion. Cordelia kann daher als kunstreflexiver Text verstanden werden, der metatextuell-selbstreferenziell operiert. Dies alles bestätigt einmal mehr Krahs These, dass Selbstreferenzialität gerade dann in den Fokus rückt, wenn “ es nicht als strukturelles, sondern als literaturhistorisches beziehungsweise denkgeschichtliches Phänomen betrachtet und dabei als quasi ‘ exklusiv ’ und ‘ definitorisch ’ an spezifische Strömungen beziehungsweise Richtungen gekoppelt gedacht wird ” (Krah 2005: 12). Selbstreferenzialität indiziert demnach vor allem “ programmatische Probleme einer Ästhetik oder eines Theoriediskurses ” (ibid.). Denn Spezifikum des vorliegenden Textes ist weiterhin die Verschränkung dieses Komplexes mit der Verhandlung von Zeit und Zeitlichkeit. Eine über den Endzustand hinausweisende Zukunft ist die eines maximal eingeschränkten Glücks resultierend aus Konflikten, die die Gegenwartshandlung der dargestellten Welt bestimmen: die heterogene, an goethezeitliche Muster gekoppelte Anthropologie sowie die Handlungsunfähigkeit der Vertreter von ‘ Biedermeier ’ . Dabei erweist sich das Erbe der Goethezeit als Fluch und Segen zugleich. Denn einerseits gewährleisten Friederich und insbesondere die von ihm produzierten Werke die Zusammenführung der beiden Protagonisten, die selbst gänzlich inaktiv in Erscheinung treten. Andererseits unterbindet diese Verbindung ‘ Klassik ’ in Person Wilhelms. ‘ Zeit ’ wird hier also auf spezifische Weise kodiert und in den selbstreferenziellen Prozess eingebunden: ‘ Gegenwart ’ (T2) ist an ‘ Vergangenheit ’ (T1) orientiert und zeigt sich als heterogenes Weltsystem bestehend aus der semantischen Verschränkung einer restaurativen Fortführung und Re-Installation von Vergangenheit und einer biedermeierlichen Neuausrichtung (T2 = T1 ’ vs. T2), was wiederum negativ auf ‘ Zukunft ’ einwirkt (T3 = ? ). Cordelia verhält sich zu diesen Zeitsegmenten wie das Literatursystem der Biedermeierzeit zum literaturhistorischen Wandel. Bibliographie Begemann, Christian 2002: “ Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus ” , in: Titzmann (ed.) 2002: 79 - 112. Decker, Jan-Oliver 2005: “ Selbstreflexion literarischen Wandels. Zu Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder (1844) ” , in: Zeitschrift für Semiotik 27.1 − 2 (2005): 45 − 64. 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The paper aims at a brief outline of the theoretical backgrounds of narrative self-reflexivity and tries to illustrate it through some examples from texts of authors of the literary historical period of Early Modernity. 1 Meta-Erscheinungen in narrativer Kommunikation Meta-Erscheinungen, verschiedene Formen und Arten der mit einem zusammenfassenden Terminus bezeichneten Metaisierung sind in der narratologischen Forschung in den letzten Jahren intensiv untersuchte Erscheinungen. 1 Michael Scheffel bestimmt - in Anlehnung an Werner Wolf - Metaisierung als ein Phänomen, zu dem neben einem bestimmten semiotischen System (verstanden als ein Werk, eine Gattung oder ein Medium) eine Metaebene gehört, von der aus Metareferenz erfolgt (verstanden als eine besondere Art von Selbstreferenz, bei der Aussagen über das System als solches oder auch Teilaspekte von ihm gemacht oder impliziert werden (Scheffel 2007: 155). ‘ Metaisierung ’ in literarischen Texten - so Scheffels Meinung - bezieht sich auf verschiedene Ausprägungen selbstreflexiven Erzählens; diese werden in narratologischen Untersuchungen mit Begriffen wie Metanarration, Metafiktion, Metalepse bezeichnet, und es wird verschiedentlich versucht, sie zu systematisieren und in einen gemeinsamen theoretischen Rahmen zu stellen. 2 1 Als zusammenfassende Übersicht über theoretische Probleme, Formen, Typologien wie auch über bestimmte historisch feststellbare Varianten der Metaisierung cf. Hauthal et al. 2007. 2 Cf. dazu außer Scheffels hier zitierter Arbeit Werner Wolfs Untersuchungen, so u. a. Wolf 1993, 2007. Wolf erweitert seine Untersuchungen allerdings auch auf transgenerische und transmediale Formen des Erzählens. Bei näherer Betrachtung handelt es sich bei den erwähnten Erscheinungen um unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Formen narrativer Selbstreflexion, die verschiedene Elemente und Ebenen der mehrschichtigen narrativen Kommunikation zwischen Autor-Erzähler-Figur-Rezipient ins Spiel bringen und historisch auch wandelbare besondere Varianten selbstreflexiven Erzählens prägen. Literarische narrative Texte - im Weiteren geht es um solche - sind mehrschichtige komplexe Textstrukturen, die in einem Modell narrativer ‘ möglicher Welten ’ beschrieben werden können. Die Anwendung des Begriffs der ‘ möglichen Welt ’ in der Analyse literarischer narrativer Texte wird in den sogenannten “ neuen Narratologien ” 3 neuerdings mit einer erhöhten Aufmerksamkeit aufgenommen. 4 Diese Auffassung versucht, narrative Texte grundsätzlich - teilweise auch die Erkenntnisse anderer Auffassungen, so z. B. die wichtigsten Ansichten der klassischen Narratologie Todorovscher oder Genettescher Art integrierend - in einem integrierten Modell zu konzipieren: Als eine Deskription der erzählten Welt, ein Handlungsmodell, das sowohl die referentiellen Relationen (Fiktionalität) als auch die internen semantischen Bezüge der erzählten Welt beschreibt sowie als eine Deskription des Erzählens, des Erzählmodells/ der Erzählwelt, das heißt der Charakteristika des Erzähldiskurses, der spezifischen (text)pragmatischen Eigenschaften literarischer narrativer Texte (spezieller Kommunikationsakt, Präsentation durch einen fiktiven Erzähler). Das Konzept der ‘ möglichen Welt ’ erlaubt zugleich die Möglichkeit zur Öffnung der Textwelt, das heißt eine komplexe und systematische Beschreibung von intertextuellen Relationen 5 und vermag auch die Besonderheiten literarischer Kommunikation zu erfassen. Die Textwelt, die auf diese Weise in eine erzählte Welt und eine Erzählwelt gegliedert werden kann, 6 etabliert eine mehrschichtige Kommunikation, deren Ebenen miteinander in vielfältigen Beziehungen stehen können. Im Falle von literarischen narrativen Texten handelt es sich um eine mehrfach zusammengesetzte, “ sowohl [. . .] reale wie [. . .] imaginäre ” Kommunikation (Klein/ Martínez 2009: 2): Hier gibt es eine Kommunikationsebene zwischen einem den Text produzierenden Autor und einem Leser, die als reale Instanzen vielfach in die von vornhinein eigenartige literarische Kommunikation eingebunden sind. Diese wird durch die zeitliche und räumliche Getrenntheit von Autor und Leser, die Fiktionalität und die spezielle sprachliche Ausgestaltung der Nachricht (des literarischen Textes) charakterisiert. Innerhalb der Textwelt entwirft der Erzähler, der - aus dem fiktionalen Charakter folgend - ein fiktiver ist, einem fiktiven (oft nicht spezifizierten) Gegenüber/ einem Leser eine erzählte Geschichte/ erzählte Welt, in der die die Handlungen/ Ereignisse tragenden Figuren ebenfalls miteinander vielfach in kommunikative Beziehungen treten. 3 Cf. dazu u. a. die Arbeiten von Lubomir Dole ž el oder Marie-Laure Ryan Dole ž el; 1998 a, 1998 b, 2010; Ryan 1991. 4 Cf. Surkamp 2002. Für eine kurze Übersicht der Ergebnisse der ungarischen Theoriebildung in der sog. “ Szegeder Schule ” cf. Kerekes/ Orosz/ Teller 2004. 5 Für einen Ansatz zur Beschreibung von erzählter Welt und Erzähldiskurs sowie Intertextualität im Rahmen einer ‘ möglichen-Welt ’ -Theorie cf. Orosz 1996, 2003. Hier verzichte ich auf eine ausführliche Darstellung unterschiedlicher Auffassungen, die ich andernorts mehrmals diskutiert habe. 6 Die verschiedenen Ausprägungen der klassischen Narratologie verwenden dabei unterschiedliche Ebenengliederungen, die die narrative Struktur in unterschiedliche Ebenen einteilen, die aber grundsätzlich diese binäre Gliederung in Erzähltes und Erzählen gegebenenfalls weiter untergliedern; zu einer Übersicht der Konzeptionen cf. Martínez/ Scheffel 1999: 25 f. 274 Magdolna Orosz (Budapest) Die einzelnen Varianten dieser allgemeinen Struktur narrativer Kommunikation erlauben, je nach der Art des Erzählers, das heißt seiner Stellung im Verhältnis zur erzählten Welt als Außen- oder Innenstehender bzw. Beobachter/ Berichterstatter oder Teilnehmer/ Mitwirkender, 7 unterschiedliche Kombinationen, und sie können auch Grenzüberschreitungen zwischen Erzählwelt und erzählter Welt generieren. So kann eine Figur der erzählten Welt zum Erzähler seiner eigenen Geschichte oder der einer anderen Figur werden (homodiegetisches Erzählen mit extra- und intradiegetischer Variante) oder ein außerhalb der erzählten Welt befindlicher Erzähler (als Teil der Erzählwelt) kann auch unterschiedliche Beziehungen und Bezugnahmen zur von ihm erzählten Welt unterhalten, wodurch auch selbstreflexive Momente entstehen können. Diese selbstreflexiven Bezugnahmen können zusammenfassend - unabhängig von der Position des Erzählers als hetero- oder homodiegetischer Erzähler - als Erzählerinterventionen betrachtet werden. Die in den Erzählerinterventionen zustande kommende Reflexion/ Selbstreflexion unterliegt den unterschiedlichen Bezugnahmen auf Elemente der erzählten Welt und/ oder der Erzählwelt. Die grundlegenden Formen dieser Erzählerinterventionen können sich auf a) semantischreferentielle, b) formal-syntaktische sowie semantische und c) erzählpragmatische Elemente/ Momente beider Ebenen reflektieren. So kommen - in meiner eigenen Systematisierung 8 - drei Relationen zustande, die metafiktionale und metanarrative Selbstreflexion generieren. 1) Die erste Relation (R1) besteht in der Thematisierung einer potentiellen Beziehung der erzählten fiktiven Welt bzw. ihrer Figur zur außerfiktionalen Welt, die eine (scheinbare/ vorgetäuschte) Referenzrelation zwischen erzählter Welt und außertextueller realer Welt zustandebringt, wodurch das Problem der Fiktionalität hervorgekehrt werden kann. 2) Die zweite Relation (R2) kehrt die syntaktischen und semantischen Eigenschaften der erzählten Welt(segmente) explizit hervor, so werden die Identität(en) und die Eigenschaften der (fiktiven) Figur(en), die Einrichtung der erzählten Welt, die Anordnung und Verknüpfung der erzählten Ereignisse thematisiert, wodurch sowohl die Fiktionalität als auch die narrative Einrichtung durch den jeweiligen Erzähler verdeutlicht wird. 3) Die dritte Relation (R3) weist Bezugnahmen auf bestimmte, das Erzählen/ die Erzählwelt beeinflussende (literarische) Konventionen und Bezugnahmen auf den Prozess der Textproduktion sowie auf die erzählpragmatische Funktion des Erzählers auf. Die in den verschiedenen narratologischen Überlegungen vielfach diskutierten Begriffe von Metafiktion und Metanarration hängen mit diesen selbstreflexiven Relationen eng zusammen. Birgit Neumann und Ansgar Nünning bestimmen beide Bezeichnungen als “ umbrella terms designating self-reflexive utterances ” (Neumann/ Nünning 2009: 204) und betonen auch ihre enge - gegenseitige - Verbindung, denn “ they are related and often used 7 Cf. dazu den hetero- und homodiegetischen, bzw. extra- und intradiegetischen Erzähler in der Genetteschen Terminologie, die auch vielfach diskutiert, ergänzt oder modifiziert wird; cf. dazu u. a. Martínez/ Scheffel 1999: 80 ff.; Lahn/ Meister 2008: 67 ff.; Köppe/ Kindt 2014: 94 ff.; für einen Erweiterungsvorschlag mit einem peridiegetischen Erzähler cf. Lang 2014. 8 Cf. dazu als einen frühen Beitrag Orosz 1984; hier wird auch die Bezeichnung Erzählerintervention eingeführt. Für weitere Ausführungen dieser Systematisierung cf. auch Orosz 2001. Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne 275 interchangeably ” (Neumann/ Nünning 2009: 204). Sie werden aber zugleich auch voneinander unterschieden: “ metanarration refers to the narrator ’ s reflections on the act or process of narration; metafiction concerns comments on the fictionality and/ or constructedness of the narrative. ” (Neumann/ Nünning 2009: 204). Die Metafiktion, die “ als Strategie der Bewusstmachung der Fiktionalität eines Textes aufgefasst wird ” (Köppe/ Kindt 2014: 254) 9 und somit auch Kommentare über die Fiktionalität und/ oder die Konstruktion der Textwelt beinhalten kann, könnte auf Grund dieser Überlegungen den beiden Relationen R1 und R2 zugeordnet werden, wobei hier sowohl referentielle Bezüge als auch semantische Beziehungen in der dargestellten Welt (also beide Aspekte semantischer Zeichenrelationen) sowie auch der Aufbau und die strukturellen Eigenarten der erzählten Welt in Betracht gezogen werden. Die Metanarration, die bei Neumann und Nünning die Kommentare des Erzählers über die Narration selbst bezeichnet, wäre dann mit Relation R3 in Verbindung zu bringen. Allerdings soll hier betont werden, daß alle drei Relationen und damit die Metafiktion und die Metanarration gleichermaßen mit der Narration einer Erzählinstanz zusammenhängen und eine solche voraussetzen, dadurch miteinander in der narrativen Kommunikation verbunden sind sowie vielfältige Abhängigkeiten und Übergänge ihrer Ebenen zwischen Autor-Erzähler-Figur-Rezipient etablieren, so dass sie auch nicht strikt zu trennen sind. 10 Weiterhin lassen sich enge Verbindungen zu Formen metaleptischer Grenzübertretungen behaupten, indem Metalepse innerhalb der narrativen Kommunikation als ein Ineinanderrücken ihrer möglichen einzelnen Ebenen verstanden wird 11 und metafiktionale sowie metanarrative Beziehungen stiften kann. Die hier aufgeführten Relationen, dieVarianten der sogenannten Erzählerinterventionen, das heißt Metafiktion und Metanarration und Selbstreflexion sind theoretisch betrachtet in allen Erzählungen möglich, ihr Vorkommen zeigt aber auch gattungsmäßige, erzählerabhängig-kommunikative wie historische Unterschiede auf. Die Untersuchung von Erzähltexten der Romantik - so u. a. von Tieck, Brentano und vor allem E.T. A. Hoffmann 12 - zeigt eine intensive Reflexion der Möglichkeiten des Erzählens selbst auf, was auch in den verschiedenen Ausprägungen metanarrativer, metafiktionaler und metaleptischer Bezüge solcher Texte nachgewiesen werden kann. In den romantischen Texten von Brentano und Hoffmann lässt sich eine intensive - oft ironische, selbstreflexive - Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Erzählens, mit den narrativen Instanzen und ihren Rollen, Funk- 9 Eine kurze Auseinandersetzung mit den Definitionen von Metafiktion(alität) liefert Köppe, um zu einer möglichen Bestimmung der Metafiktionalität zu gelangen, die er interpretationstheoretisch bestimmt, indem er behauptet, “ [w]er von einem Text sagt, er sei metafiktional, nimmt nicht nur auf eine (primäre) Eigenschaft des Textes [. . .] Bezug, sondern meint vielmehr, dass sich der Text plausibel im Hinblick auf Aspekte seiner Fiktionalitätsdimension interpretieren lässt ” (Köppe 2010: 121; Hervorh. in Original). Köppe legt sich auf keine strenge Definition fest und plädiert auch dafür, Metafiktionalität graduell einzuordnen, so “ dass die Metafiktionalitätsdimension des Textes mehr oder minder zentral/ wichtig für dessen Interpretation sein kann ” (Köppe 2010: 126). 10 Es wäre zu bedenken, ob Metafiktion und Metanarration nicht unter den zusammenfassenden Begriff von Selbstreflexivität zu subsumieren wären. So funktionierte Selbstreflexivität als ein umfassende(rer) Sammelbegriff; Scheffel gebraucht auch eine Terminologie, die auf Selbstreflexion gebaut wird; cf. dazu Scheffel 1997. 11 Zur Frage der Metalepse und ihrer theoretischen Bezügen cf. Nünnig 2001 sowie die Beiträge in: Pier/ Schaeffer 2005. 12 Cf. dazu die Analysen zu E.T. A. Hoffmann in Orosz 2001. 276 Magdolna Orosz (Budapest) tionen und Übergängen feststellen, die teilweise auch auf die romantische Ästhetik, ihre Konzeption vom Kunstwerk und vom Autor, der “ sich eine Autor(Künstler)Natur, aus [bildet] ” (Novalis 1968: 365, Hervorh. im Original), zurückzuführen ist. Mit der Transformation des Romans und des Erzählens im 18. Jahrhundert öffnet sich nämlich ein breites Experimentierfeld literarischen Erzählens. Der lange Ausdifferenzierungsprozess der Elemente der Narration wie des Autors und des Erzählers 13 kommt in eine Phase, die einen spielerischen Umgang ermöglicht. Dieser spielerische Umgang selbst wird zum Bestandteil einer Poetik gemacht, die den Akzent auf Originalität und Autonomie des Kunstwerks und damit des Autors legt, der seine Rolle vielfach thematisiert. Die Romantik “ gilt nicht nur als die Geburtsstunde des modernen Autors, sondern markiert zugleich den Höhepunkt auktorialer Selbstermächtigung ” (Heinen 2005: 8 f.). DieVarianten der Erzählerinterventionen als Formen metafiktionaler wie metanarrativer Bezugnahmen deuten im allgemeinen eine Typologie solcher Formen an, indem sie die referentiellen, die syntaktisch-semantischen und die literarisch-ästhetischen pragmatischen Relationen der erzählten Welt und der Erzählwelt thematisieren. 14 Solche Hervorkehrungen der Grenzen von Erzählwelt und erzählter Welt, das heißt ähnliche metanarrative Erzählerinterventionen, die metafiktionale und/ oder metaleptische Züge haben können, kommen auch bei anderen Autoren und in anderen literaturhistorischen Perioden vor. So kann eine Untersuchung der Metanarration bei bestimmten Autoren und in einzelnen Epochen sowie ihre jeweiligen Funktionalisierungen in Hinsicht auf literatur- und gattungsgeschichtliche Fragestellungen aufschlussreich sein. 15 Im Folgenden werden einige Beispiele für die Verwendung verschiedener selbstreflexiver Verfahren der narrativen Kommunikation aus der Literatur der Frühen Moderne 16 aufgeführt. 2 Narrative Selbstreflexion als poetologisches Prinzip Die Literatur der Frühen Moderne sieht sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert, die sich auch in den literarischen Texten vielfältig artikulieren: unter dem Einfluss philosophischer Überlegungen (Nietzsche, Mach), der Psychoanalyse von Freud, der Sprachkritik (Mauthner) sowie künstlerisch-ästhetischer Innovationen (Impressionismus, Symbolismus) tauchen vielfältige Spuren einer Sprachkrise und Identitätskrise, somit einer Krise des Schreibens und Erzählens auf, die bei verschiedenen Autoren der Jahrhundert- 13 Die früheren Formen der Herausbildung von Erzähler und Autorschaft und somit der mehrschichtigen narrativen Kommunikation etwa im Mittelalter lassen auf solche Prozesse schließen, cf. Glauch 2009: 77 ff. Ansätze zu einer historischen Narratologie, die die historischen Ausprägungen möglicher narrativer Formen und Verfahren untersucht, sind in den letzten Jahren vermehrt zu finden; cf. dazu z. B. Haferland/ Meyer/ Stange 2010. 14 Nünning bemängelt das Fehlen einer Typologie der Formen metanarrativer Bezugnahmen: „ they [the few studies devoted to metanarration] neither attempt to define the phenomenon of metanarration or to differentiate between the different types, nor do they consider which functions such expressions could fulfil in individual cases ” (Nünning 2004: 14). Meine Unterscheidung von R1, R2, R3 stellt immerhin eine Typologie dar, die ich schon früher festgelegt hatte, cf. Orosz 1984, 2001. 15 Für eine kurze Diskussion einiger selbstreflexiven Formen in und nach der Romantik cf. z. B. Orosz 2014. 16 Zum Begriff der ‘ Frühen Moderne ’ cf. Wünsch 1991: 200 f.; Titzmann 1989; Titzmann 2002: 183. Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne 277 wende/ der Frühen Moderne diagnostizierbar sind und auch zu Reflexionen möglicher Auswege führen können. Im Folgenden werden Texte von drei Autoren untersucht, deren Werke die Problematik des Erzählens in der Frühen Moderne sozusagen emblematisch aufzeigen: Dies geschieht in unterschiedlichen narrativen Formen, jedoch verbinden diese Texte ihre selbstreflexiven narrativen Bezugnahmen auch mit der Artikulierung poetologischer Fragen und Prinzipien. 17 2.1 Robert Musils Erzähler und die Suche nach dem verlorenen Faden Die Problematik von Erzählen, Identität und Geschichte erscheint in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften als allgemeines Krisenbewusstsein, das sich als “ die Relativität und der Zerfall der Werte sowie eine komplexe, mehrdimensionale Identitätskrise: in individuelle-existentieller, geschlechtsspezifischer und ethnisch-nationaler Hinsicht ” (Goltschnigg 1996: 176) artikuliert. Der Roman gab und gibt zu verschiedenartigen Analysen Anlass, Magris spricht hier von einer “ alle Maße sprengenden, vielflächigen geistigen Enzyklopädie ” (Magris 2000 331), die - wie dies oft betont wird - auch das Problem des Erzählens in ein besonderes Licht zu stellen vermag. Der Roman verzichtet auf eine lineare narrative Zeitdarstellung, eine zusammenhängende Handlung (gewissermaßen auf “ Handlung ” überhaupt) sowie auf kohärentes Erzählen. 18 Musil schreibt selbst dazu: “ Erzählungstechnik. Der übliche Ablauf längs der Zeitreihe ist eigentlich ein Zwang ” (Musil 1976, 583). Bei all dieser Auflösungsphänomene traditionellen Erzählens bleibt in der Textwelt ein heterodiegetischer, kommentierender Erzähler erhalten, der sich immer wieder zu Wort meldet und die erzählte Welt deutet, Figuren einführt, Umstände erklärt, auf Widersprüche und Unzuverlässigkeiten hinweist, das heißt erzählerische Traditionen scheinbar weiterführt, sie aber auch ironisch konterkariert. Gleich am Anfang lässt sich dieser Erzähler nach der unpersönlichen meteorologischen Einleitung erkennen, indem er sich auf literarische Konventionen des Erzählanfangs ironisch beruft (R3): “ Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913 ” (Musil 1990: 9). 19 Ähnlich verfährt der Erzähler bei der Beschreibung des Handlungsorts, den er nachdrücklich nennt und damit eine außerfiktionale Entität fiktionalisierend in die erzählteWelt einführt, ihre Funktion aber gleichzeitig relativiert (R1/ R2): An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. [. . .] Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. [. . .] Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden (Musil 1990: 9 f.). 17 Da es mir hier vor allem um das Aufzeigen verschiedener Formen selbstreflexiven Erzählens geht, werden die analysierten Werke nicht in der Reihenfolge ihres Entstehens behandelt. 18 Jonsson betont auch diese Charakteristika: “ The laws of causality are suspended. The temporal structure is blurred. The absence of a subordinate narrative and temporal order creates the impression that everything happens more or less simultaneously: the narrative creates an achronic space ” ( Jonsson 2000: 124 f.). 19 Zur Frage der Bedeutung der Ironie im Roman cf. Hüsch 2002: 21 f. 278 Magdolna Orosz (Budapest) Scheinbar wird die auktoriale Tradition auch bei der Einführung der (fiktiven) Figuren fortgesetzt, indem der Erzähler zwei Personen genau vorstellt, deren Identität dann gleich verunsichert wird (R2): Die beiden Menschen, die darin eine breite, belebte Straße hinaufgingen, hatten natürlich gar nicht diesen Eindruck. Sie gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins, wußten sie, wer sie seien und daß sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden. Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien (Musil 1990: 10). Der Erzähler spielt somit mit den Traditionen des auktorialen Erzählers, der sich in der erzählten Welt auskennt und sie sozusagen regiert; 20 gewissermaßen taucht hier auch der Erzählgestus des auktorialen heterodiegetischen Erzählers in Goethes Wahlverwandtschaften auf intertextuell verkehrte Weise auf, der seine Figuren mit einer selbstverständlichen Sicherheit als Regisseur der erzählten Welt einführt. 21 Damit entsteht bei Musil eine die eigene Erzähltätigkeit, aber auch die Möglichkeit des Erzählens selbst problematisierende Variante heterodiegetischer Selbstreflexion, die an entscheidender Stelle diese Problematik thematisiert, wobei hier die Reflexion in die Welt der Figur (in ihre Gedanken) delegiert wird. Es geht dabei um die Überlegungen Ulrichs zum “ Faden der Erzählung ” : Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: “ Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet! ” Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten “ Faden der Erzählung ” , aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann “ als ” , “ ehe ” und “ nachdem ” ! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen (Musil 1990: 650). Die Betrachtungen kreisen um die Frage der Strukturiertheit von literarischen Texten (R3, teilweise R2), indem auch kontrastive Verbindungen zur außertextuellen Welt (R1) angedeutet, diese aber gleich als poetologisches Problem interpretiert werden: 20 “ The Man Without Qualities is narrated by a disembodied and placeless voice whose irony cuts in all directions. [. . .] the narration refuses to give any authoritative accounts of events, objects, and characters ” ( Jonsson 2000: 124.). 21 “ Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen. ” (Goethe 1998: 242). Es könnte hier bemerkt werden, daß die Selbstsicherheit des Erzählers auch auf die Figur übertragen wird, die seine Tätigkeit mit einer Sicherheit ausübt, die in der erzählten Welt erst später verunsichert wird. Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne 279 Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste “ perspektivische Verkürzung des Verstandes ” nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig “ weil ” und “ damit ” hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen “ Lauf ” habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem “ Faden ” mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet (Musil 1990: 650). Wichtig ist hier, daß die sich zum poetologischen Essay 22 erweiternde Überlegung zwar dem heterodiegetischen Erzähler zugeschrieben werden kann, sie aber an die fiktive Figur Ulrich delegiert wird, indem sie als sein Gedankengang erscheint. Somit changiert das Erzählen zwischen hetero- und homodiegetischen Momenten: Die Verknüpfung mit der Figur lässt die fiktive Lebenswirklichkeit hineinspielen, wogegen die betonte Literarisierung des Problems, die Hinweise auf Gattungskonventionen (R3) das Ganze als Literatur und die Frage des Erzählens sowohl im Leben als auch in der Literatur als poetologische Fragestellung postulieren. Dafür werden die Gegenpole ‘ Faden ’ vs. ‘ Fläche ’ als metaphorische Konstruktionsprinzipien traditionellen und modernen Erzählens implizit suggeriert. Die Textwelt des Romans Der Mann ohne Eigenschaften generiert somit selbstreflexiv ihr eigenes Strukturmodell. 2.2 Fragmentierung der Welt und die Suche nach dem Erzähler Der einzige Roman von Rainer Maria Rilke Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, der nach langjährigen Auseinandersetzungen des Autors mit der narrativen Gestaltung 1910 erschien, 23 geht zeitlich dem Musilschen Roman vor, artikuliert aber auch - auf eine als homodiegetischer Erzähler funktionierende Figur fokussierend - die Problematik des Erzählens, und bedeutet einen der ersten Versuche, den “ Bruch des traditionellen literarischen Genres und des klassischen Menschenbilds des 19. Jahrhunderts ” (Magris 2000: 331) herauszustellen. Die sich mehrere Jahre hinziehende Ausarbeitung des Textes und die von Rilke vorgenommenen Änderungen der Erzählinstanzen 24 zeugen auch von Übergängen und bewussten Akzentverschiebungen hinsichtlich der narrativen Möglichkeiten einer “ innovativen Erzähltechnik ” (Lauterbach 2004: 318). 22 Musils Roman wurden oft essayistische Eigenschaften zugeschrieben, cf. dazu z. B. Niefanger: “ In diesen Texten stellt der Essay in der Regel nicht [. . .] eine eigenständige Stimme im polyphonen Erzählkonzept dar, sondern wird strikt den Figuren zugeordnet. So erscheinen diese als paradigmatische Träger von Ideen und kulturellen Konzepten der Zeit ” (Niefanger 2007: 290). 23 Zur Entstehung des Werkes cf. den Kommentar von August Stahl (Rilke 1996: 866 - 882). 24 Cf. dazu den Kommentar über die Entstehung in Rilke 1996. Für die Frage der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte und der Reihenfolge der Aufzeichnungen cf. die Anmerkungen von Engel (Rilke 1997). Die verschiedenen Textanfänge werden u. a. bei Wiele diskutiert, cf. Wiele 2010: 85 ff. 280 Magdolna Orosz (Budapest) Als Erzähler funktioniert hier die Figur Malte Laurids Brigge, “ der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß ” (Rilke 1996: 468), der seine eigenen Eindrücke, Wahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen registrierend nach einer Möglichkeit sucht, dies alles zu einem Werk zusammenzufügen, zu erzählen. Daneben verschwindet eine nur in Ansätzen (in spärlichen Randbemerkungen und Anmerkungen) auftauchender Herausgeber (quasi als Reminiszenz der Suche des Autors Rilke nach einer entsprechenden Form) fast völlig, die Stimme der Figur als gleichzeitigen Erzählers seiner Geschichte wird dominierend. 25 Diese Erzähler-Figur beschwert sich immer wieder über die Unmöglichkeit seines Unternehmens, sich als Dichter durch die Konstruktion einer Erzählung zu behaupten. Die fragmentierte Wahrnehmung der Pariser Eindrücke und der Kindheitserinnerungen ist eine Herausforderung, der Malte einerseits durch das Sehenlernen zu entsprechen versucht: Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. (Rilke 1996: 456) Das Gesehene sollte durch die neue Art von Sehen in einer anderen Perspektive erscheinen, wie z. B. die Frau, deren “ Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form ” (Rilke 1996: 457), oder die Häuser, deren “ hohle Form ” an den abgerissenen Mauern sichtbar wird: Aber, um genau zu sein, es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Häuser, die danebengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. [. . .] Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. [. . .] Am unvergeßlichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fußböden [. . .]. Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden [. . .] stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte (Rilke 1996: 485 f.). Die so wahrgenommenen Bilder zeigen eine verkehrte Sicht der Welt, und die erzählende Figur wird durch die Angst, die sowohl die Pariser Gegenwart als auch die Kindheitserinnerungen bestimmt, 26 zugleich gelähmt: “ Nun von dieser Mauer spreche ich fortwährend. [. . .]. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir ” (Rilke 1996: 487). Die andere (aber mit dem neuen Sehen verbundene) Perspektive sollte zur künstlerischen Sicht beitragen. Die Problematik von Kunst und vor allem von Erzählen wird durch die Figur ständig reflektiert: In Anlehnung an die intertextuell evozierten vorbildlichen Künstlerfiguren (Baudelaire, Francis Jammes, Ibsen) konturiert sich eine Vorstellung von Kunst und Schreiben, dem Malte, dem eigenen Ermessen nach, nicht gewachsen ist: 25 Wiele betont außerdem auch die Nähe des Autors Rilke zu seiner Figur: “ Die Künstlerfigur des Malte Laurids Brigge wird somit zu einer Kombination aus inszeniertem Autor-Ich und fiktiver Person ” (Wiele, 2010: 82). 26 Die Angst ist (mit weiteren wie Krankheit, Tod und Selbstverlust) eines der grundlegenden Motive in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, cf. dazu u. a. Orosz 2013. Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne 281 Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das ‘ Ehe ’ heißt und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse (Rilke 1996: 466). Das bedingt auch die Suche nach literarischen Schreib- und Ausdrucksmöglichkeiten, die Malte in seiner Suche nach einem Erzähler und nach dem Erzählen unterschiedlich thematisiert. Einerseits versucht er seine Erinnerungen in kleinen Episoden erzählerisch zu fixieren und reflektiert dies gleichzeitig mit: “ Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden war war ich nahe daran, Maman von der ‘ Hand ’ zu erzählen: in diesem Augenblick hätte ich es gekonnt [. . .] ” (Rilke 1996: 518). Dabei stellt sich ein Bewusstsein der Unfähigkeit beim Malte der Kindheit ein, der die Unmöglichkeit, das Erlebte in Worte zu fassen, schon erkennt. Der sich erinnernde Malte fasst dies auf einer Reflexionsebene zusammen: Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr (Rilke 1996: 520 f.). Die Situation, dass der sich künstlerisch behaupten wollende Malte nicht erzählen kann, wiederholt sich in seinen poetologisch gefärbten Reflexionen über das Erzählen: “ Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne. Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will aufschreiben, was sie davon wußte ” (Rilke 1996: 557 f.). Das in die Erinnerungen projizierte Dilemma erfährt jedoch eine zumindest partielle Auflösung, indem Malte “ das kleine grüne Buch wieder eingefallen ” (ibid.: 585) ist, das ihm “ wichtig war ” , denn “ [e]s war durch und durch voller Bezug ” (ibid.). Die Bezüge, das heißt die erzählerischen Zusammenhänge tauchen in der Reproduktion mancher Geschichten aus dem Buch 27 zeitweilig auf: Das Buch funktioniert als Kristallisationspunkt, als eine Art Spiegelung - mise en abyme - der erzähltechnischen Probleme der Erzähler-Figur und kann als poetologisches Prinzip gedeutet werden: Das Erzählen bestünde somit in den - immerhin fragmentarischen - Nacherzählungen erinnerter Lektüren, die auch die Pariser Erfahrungen und die Kindheitserlebnisse bzw. ihre Momente und Probleme (Angst, Krankheit, Tod, Identitätsverlust) in einem narrativen Spiegel konzentriert reflektieren. Diese Reflexion vom Buch im Buch findet eine selbstreflexive Parallele im Bild, das Malte beim Besuch im Musée de Cluny evoziert. Hier werden durch das Anschauen der Teppiche einerseits die Modalitäten der Wahrnehmung und vor allem die Rolle des Sehens konzentriert aufgenommen. Andererseits kommt es zu einer Thematisierung des zentralen poetologischen Problems: Durch die Einbildung von Abelones Gegenwart im Museum 28 und ihres Begreifens 29 entsteht eine Projektionsfläche des Erzählens, deren metaphorische 27 “ Das Ende des Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen Untergang ” (Rilke 1996: 586). 28 “ Ich bilde mir ein, du bist da, [. . .] komm, laß uns langsam vorübergehen ” (ibid.: 544). 29 “ Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich denke, du mußt begreifen ” (ibid.: 546). 282 Magdolna Orosz (Budapest) Qualitäten im Spiegel der Dame mit dem Einhorn die selbstreflektierenden Momente der erzählten Welt und der Erzählwelt in einer Ebenen überschreitenden mise an abyme verbinden: 30 Wir haben sie [die Frau] noch nie müde gesehen; ist sie müde? oder hat sie sich nur niedergelassen, weil sie etwas Schweres hält? Man könnte meinen, eine Monstranz. Aber sie neigt den andern Arm gegen das Einhorn hin, und das Tier bäumt sich geschmeichelt auf und steigt und stützt sich auf ihren Schoß. Es ist ein Spiegel, was sie hält. Siehst du: sie zeigt dem Einhorn sein Bild - (Rilke 1996: 546). Auf diese Weise entsteht ein hochkomplexes System metanarrativer (teilweise metafiktionaler) Erscheinungen, die die Momente der Textwelt, trotz ihrer dezidiert betonten Zerstückelung, vielfach vernetzen. 2.3 Verflechtung von Kunst und Leben in narrativer Reflexion Arthur Schnitzlers erst aus dem Nachlass herausgegebene Erzählung Der letzte Brief eines Literaten exemplifiziert andere Aspekte von Selbstreflexion (Metanarration) in einer Hetero- und Homodiegese verbindenden Form. Die Erzählung ist in einem längeren Schreibprozess entstanden: Nach ersten Einfällen von 1910 arbeitete Schnitzler 1916 und 1917 am Text und schloss ihn im Mai 1917 ab. Er wurde aber erst nach seinem Tod im Januar 1932 in der Neuen Rundschau veröffentlicht. 31 Die Textwelt zeigt typische Probleme der Frühen Moderne, die Gegensätze von Leben und Kunst, Krankheit und Tod, ethischmoralischer Einstellung und künstlerischer Durchsetzung und ihre verwickelten Übergänge auf. 32 Die Textwelt artikuliert thematisch wie auch reflexiv die Motive Krankheit und Tod und macht den Tod zum zentralen Moment der Selbstreflexion, indem hier der homodiegetische Erzähler als Literat mit dem eigenen Tod - das heißt auf der Handlungsebene der erzählten Welt (R2) - sowie auch mit dem ‘ Tod ’ als literarischem Diskurselement 33 - in der Erzählwelt/ Erzähldiskurs (R3) - auseinandersetzt und einen Tod des Autors (bzw. Erzählers) narrativ in Szene setzt. Der letzte Brief eines Literaten spielt mit der Gattung des (literarischen) Briefes: der Text besteht aus dem Abschiedsbrief eines nicht genannten Schriftstellers, dem am Ende eine Erklärung eines namenlosen Herausgebers folgt, der seinerseits die Zeilen eines Arztes, des 30 Eilert verbindet auch den Spiegel der Dame mit dem durch das Buch und die Bibel evozierten Erzählens, jedoch eher aus dem thematischen Aspekt der objektlosen Liebe, was hier nicht behandelt werden konnte: “ Das Spiegel-Bild, das die Dame des sechsten Wandteppichs dem Einhorn entgegenhält, entwirft Maltes Deutung zufolge zunächst ein gleichnishaftes ‘ Bild ’ Abelones [. . .]; es verweist darüber hinaus auf das zentrale, in der abschließenden Parabel vom verlorenen Sohn kulminierende Thema des ganzen Romans [. . .]; zugleich aber versinnlicht es Gestaltungsintentionen und Verfahrensweisen des Erzählers selbst [. . .] ” (Eilert 1991: 314). 31 Für die Angaben zur Entstehung cf. die Kommentare von Urbach (1974: 128) sowie die Ausführungen von Aurnhammer zur Textgenese (Aurnhammer 2013: 134 - 143). 32 Titzmann sieht im Text ein Beispiel für die typischen Veränderungen der Grenzziehungen innerhalb der Textwelt in Erzählungen der Frühen Moderne, indem hier “ [n]ur eine qualitativ-disjunkte Grenzziehung wird anerkannt: die Opposition von ‘ Leben ’ vs. ‘ Tod ’” (Titzmann, 2002: 191). 33 Matthias nennt dies “ [d]ie fraglos deutlichste Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von literarischer Produktion und Tod ” (Matthias 1999: 173). Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne 283 ursprünglichen Adressaten des Abschiedsbriefes hinzufügt, in dessen Nachlass der Brief des Literaten gefunden wurde: Hier bricht der Brief ab. Der deutsche [. . .] Arzt, in dessen Nachlass er gefunden wurde, hat einige Zeilen beigefügt, die seinerAbsicht nach gewiss zugleich mit dem Manuskript der Veröffentlichung übergeben werden sollten. Hier sind sie: [. . .] (Schnitzler 1961: 228). Diese Rahmenkonstruktion erinnert auch an die der Weissagung, einer früheren Novelle Schnitzlers, in der es auch um Schreiben, inszenierten Tod und nichtexistierenden Nachruhm geht. Beim Letzten Brief eines Literaten entsteht ebenfalls eine mehrschichtige narrative Struktur, in der drei Erzählinstanzen einander ergänzen und auf eigentümliche Art konterkarieren - das Ganze dadurch unzuverlässig machen 34 : Der nicht genannte Literat als homodiegetischer Selbsterzähler, der Arzt Vollbringer mit dem symbolhaften Namen, der seinerseits zehn Jahre später ebenfalls homodiegetisch über den Tod des Literaten berichtet und der namenlose Herausgeber, der beide Briefe veröffentlicht und damit erst das Ganze (metanarrativ verfahrend) literarisiert. 35 In der erzählten Welt geht es um die Liebes- und Todesgeschichte des homodiegetischen Erzählers, eines zwar erfolgreichen, aber nicht richtig wertvolle, ihn aber “ über Nacht berühmt ” (Schnitzler 1961: 208) machende Werke produzierenden Dramatikers, der sich in eine todkranke junge Frau verliebt, die (teilweise wegen der Liebeserregung) an ihrer Herzkrankheit bald sterben soll. In dieser Thematik wird selbstreferenziell und intertextuell die frühe Erzählung Sterben evoziert, 36 deren Figurenkonstellation (sterbender Mann vs. überlebende Frau) hier umgekehrt und, den Topos der sterbenden femme fragile der Jahrhundertwende zum Äußersten treibend, 37 zugleich ironisch verkehrt wird. Die Krankheit und der Tod wären literarisch zu verwerten, die sterbende Frau und ihr Tod sollten den Literaten zu einem richtigen großen Werk inspirieren und ihn von seiner literarischen Mittelmäßigkeit befreien: Und dann erst, wenn ich diesen Schmerz durchfühle, werde ich der geworden sein, zu dem mich Gott geschaffen hat. [. . .] Daß ich den Schmerz bisher nicht gekannt habe, das ist die Schwäche meines Wesens, das Grundübel meiner Kunst. Darum fehlt allem, was ich bisher versucht, allem, was mir bisher bis zu einem gewissen Grad gelungen, Leidenschaft und Tiefe. Darum ist alles so kühl, so glatt - so leer, wie meine Feinde sagen. [. . .] Und weil ich, bei aller Leichtigkeit und Begabung, so kühl bleibe, daher entbehrt auch meine Laune, die man mir wohl zugestehen mag, jener Heiterkeit des Herzens, die nur aus dem Leid erblüht. Erst wenn ich mein Schicksal mit dem Marias verbunden haben werde, in unserer Liebe, in ihrem Tod, in meinem Schmerz, wird meine Sendung sich erfüllen können (Schnitzler 1961: 213). 34 Zur Unzuverlässigkeit der Erzählinstanzen in der Novelle cf. Aurnhammer 2013: 143 ff. 35 Diese Eigenschaft hebt auch Kuttenberg hervor, ohne die narrative Struktur genauer zu beschreiben: “ [. . .] the playwright blurs the boundary between narrative voice, narrator, and narrated event and seamlessly steps into and out of his narrative frame ” (Kuttenberg 2003: 341). 36 Cf. dazu Fliedl 2005: 223. 37 Das Motiv wird vom Literaten selbstreflexiv ebenfalls als potentielles Kunstwerk evoziert: “ Welch ein wunderbares Bild. Ich sehe es so deutlich, als wäre ich im Zimmer bei ihnen. Die blonde, schöne, ins Leben blühende Schwester regungslos auf dem Sessel zu Häupten des Betts, in dem die dunkelhaarige, blasse, dahinsterbende Frau ruht. Oh, was für ein Bild, und es ist am Ende noch ein Glück, daß ich nicht zudem noch ein Maler bin! ” (Schnitzler 1961: 214); cf. auch Fliedl 2005: 223 f. 284 Magdolna Orosz (Budapest) Die romantische Vorstellung von der Verbindung von Liebe, Tod und Künstlertum wird hier ebenfalls ironisch gebrochen, 38 indem die sich demaskierenden Beteuerungen des Literaten seinen Mangel am richtigen Talent bloßlegen und seinen romantisch anmutenden Entschluss, der Geliebten nachzusterben, bloßstellen: Ja, ich weiß es jetzt, und in diesem Augenblick gibt es keinen Irrtum, das Ungeheure würde, so wie ich es einst erwartet, wie ich es gewünscht, wie ich bereit gewesen, es auf mich zu nehmen, dieses Ungeheure würde mich zum Dichter machen und ich bliebe auf Erden, um meine Sendung zu erfüllen. Und das Werk ohnegleichen, das, mit dem ich gerechtfertigt wäre vor Gott, vor mir selbst und vor der Welt - ich würde es schaffen. Und das soll nicht sein. Das darf nicht sein. Maria ist ein Totenopfer wert, wie es noch keinem sterblichen Wesen dargebracht wurde. Ich lösche mich aus, eh ’ ich mich vollende. Darum habe ich mich entschlossen - - - (Schnitzler 1961: 228). Der Literat erweist sich durch seine Bemerkungen über das Verhältnis zum Jugendfreund als eifersüchtig auf seine menschlichen und beruflichen Qualitäten 39 und damit als ein unzuverlässiger Erzähler, 40 der sein eigenes Versagen zu verheimlichen sucht: Ich weiß nicht, ob gerade deine Person an dem neuen Entschluß, dem letzten, dem unumstößlichen, den ich faßte, irgendwie beteiligt ist. Unmöglich scheint es mir nicht, denn gerade von dem Augenblick an, da du zum ersten Male hier gewesen warst, mißtraute ich meinem Vorsatz, meinem Leben nach Marias Hinscheiden ein Ende zu machen (Schnitzler 1961: 228). Der Briefschreiber-Schriftsteller reflektiert mehrfach seine Motivation im Abschiedsbrief. Er unterstellt sich selbst moralisch korrekte Beweggründe gegenüber dem ihm mit “ unwillkürliche[m] Grauen ” (ibid.: 209) begegnenden Arzt: “ Ja, ich schreibe dir diesen Brief am Ende nur, um mit dem mir eigenen, durch die Nähe der großen Stunde wahrscheinlich gesteigerten Edelmut dir auch die geringfügigste peinliche Erregung zu ersparen ” (ibid.). Gleichzeitig ist er sich aber auch seiner aus dem sich selbst literarisierenden Gestus stammenden Unzuverlässigkeit bewusst, indem wiederum die Gattung des Abschiedsbriefs als Lebensbeichte und die literarisch-philosophische Tradition der confessiones thematisiert und deren Aufrichtigkeit in Frage gestellt wird: “ Ich habe meinen Brief abzufassen, eine Beichte abzulegen, vielleicht auch nur eine letzte Komödie zu spielen, was weiß ich ” 41 (ibid.). Dabei wird die Frage der narrativen Konstruktion der Konfessionen wiederholt betont, wodurch in der Figur der Autor in Erscheinung tritt, der seine Schrift als Werk konzipiert: Aber wo beginne ich? Als wäre es so leicht zu sagen, wo eine Geschichte anfängt. [. . .] Es hätte seine Schwierigkeit, so weit auszuholen, als man eigentlich müßte - besonders, wenn einem die Zeit so karg bemessen ist wie mir. Daher sei nach der Art gewiegter Novellisten bei der Stunde der Anfang 38 Zu den romantischen Bezügen dieses Motivs cf. auch Fliedl 2005: 223, außerdem Aurnhammers Hinweis auf E.T. A. Hoffmanns Rat Krespel als intertextuelle Vorlage (Aurnhammer 2013: 150 ff.). 39 Eine frühere Analyse des Textes weist schon darauf hin: “ This analysis reveals the Literat rationalization as masking a feeling of insurmountable inferiority toward the man Vollbringer, whose life he considers more worthwhile than his own ” (Reid 1972: 458). 40 Als homodiegetischer Erzähler wäre er bis zu einem gewissen Grad von vornherein unzuverlässig, hier können aber dem Erzähler-Literaten auch verdrängte Gefühle der Konkurrenz und Minderwertigkeit bzw. Einsichten in seine eigene Motivation zugeschrieben werden. 41 Mit dem ‘ Komödie spielen ’ wird gleichzeitig auch auf ein Motiv Schnitzlerschen Schreibens bzw. der Literatur der Jahrhundertwende intertextuell angespielt. Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne 285 gemacht, in der wir beide einander begegneten, Maria und ich; vielmehr bei der, da wir einander Schicksal wurden, im Gewirr dahinschwebender Paare unter Flöten- und Geigenklang (ibid.: 209 f.). Diese Überlegungen konterkarieren den Beichtcharakter und die Spontaneität des Geschriebenen, sie weisen auf die Konstruiertheit und die Berechnungen des Briefschreibers hin, wodurch das Erleben mit der Reflexion verbunden wird, die das Erlebte ins Geschriebene transponiert: So und nicht anders dachte ich, während ich neben ihr saß, mit ihrem kleinen weißen Fächer spielte und mit den Blicken an ihren blassen, leise bebenden Lippen hing, wie ich niemals an volleren und glühenderen Lippen mit den meinen gehangen war. Ich liebte sie - sie war das erste Geschöpf, das ich liebte - und dachte an ihren, nein, ich rechnete mit ihrem Tod und liebte sie gerade darum noch tausendmal mehr (ibid.: 213). Die letzte verzichtende Geste auf “ das Werk ohnegleichen ” (ibid.: 228) und die Vollendung der schriftstellerischen Karriere erscheint schließlich ambivalent: Die verschiedenen Reflexionen auf der ersten Ebene der Homodiegese haben unzuverlässige Momente, sie wiedersprechen einander gerade in Hinsicht auf die Absichten des Erzählers. 42 Auf der Ebene des anderen homodiegetischen Erzählers, des Arztes, der kaum richtig Einsicht in die Hintergründe haben konnte, wird seine wahre Motivation gerade wegen seinerAntipathien gegenüber dem Literaten verunsichert: Indem er eine “ wahre Sittlichkeit ” als Voraussetzung für “ das versprochene Wunderwerk ” (Schnitzler 1961: 229) hinstellt und deren Mangel als Ursache für den Selbstmord des Literaten betont, stuft er potentielle unlautere Momente seinerseits - die Verabreichung einer “ zu starke[n] Injektion ” (ibid.), die Annahme eines “ ziemlich reichlich bemessene[n] Honorar[s] ” (ibid.) - ohne weiteres als bloße Anschuldigung ein und betont mit einer eindeutigen Genugtuung, daß “ sich keine der Komödien [des Literaten] auf den Bühnen zu erhalten vermocht ” (ibid.: 230) hat. Somit sind zwei homodiegetische Erzähler mit ihren einander widersprechenden Reflexionen gegenübergestellt (ganz symbolhaft der Schriftsteller, der das große Werk nicht vollbringt und der dem Literatentum fern stehende Arzt mit dem zeichenhaften Namen Vollbringer) - der Widerspruch löst sich durch den Eingriff einer allwissenden narrativen Instanz nicht auf, sondern er wird durch die nur aufs Technische bezogenen Kommentare des Herausgebers aufrechterhalten. Somit entsteht eine Textwelt, ein Werk, das die erzählten Widersprüche durch die narrative Konstruktion selbstreflexiv aufzeigt. 3 Funktionalisierung der Selbstreflexion in narrativen Texten der frühen Moderne Die drei analysierten Texte verwenden unterschiedliche Varianten metafiktionaler und metanarrativer Selbstreflexion: In Anbetracht des Problems der Erzählbarkeit von Erfahrungen, Wahrnehmungen, Erlebnissen und Ereignissen wird die Literatur der Frühen Moderne mit der Aushöhlung traditionellen Erzählens, mit dem Verschwinden von 42 Der gekünstelte/ künstliche Charakter stellt sich auch heraus: “ Since the symbolic act is ‘ eine Form, nicht mehr ’ and re-enacts a previously staged exit, the Literat ’ s final words, ‘ Ich lösche mich aus, eh ’ ich moch vollende. Darum habe ich mich entschlossen -’ are an empty gesture perfectly disguising the eloquence on would expect from a playwhright ” (Kuttenberg 2003: 340). 286 Magdolna Orosz (Budapest) erzählbarer, kontinuierlicher und kohärenter Geschichte in der erzählten Welt konfrontiert. 43 Das Verschwinden der erzählten Geschichte, dessen Ursache “ die neuen Probleme im Umgang des Subjekts mit sich selbst [. . .] ” sind, und die - nach Wünsch - “ notwendig annähernd nur in uneigentlich-tropischer Rede dargestellt werden können, [. . .] d. h. die Texte zu bestimmten Formen auf der Ebene des discours zwingen [. . .] ” (Wünsch 1989: 169), 44 lösen die erzählte Geschichte auf und metaphorisieren sie. Dies führt in den untersuchten Texten zu selbstreflexiven poetologischen Überlegungen über die Textwelt, über ihre Konstruktion als Text, als (literarisches) Werk: Musils heterodiegetischer Erzähler in Der Mann ohne Eigenschaften verbindet die Konstruktion der modernen Welt mit Prinzipien der Narration, die in die Welt der Figur projiziert werden. Da die heterodiegetische Erzählerstimme gleichzeitig beibehalten wird, fungieren diese Projektionen gleichzeitig als Reflexionen in der erzählten Welt wie in der Erzählwelt, die somit auf sich selbst bezogen thematisiert werden. In Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werden durch die Bemühungen des homodiegetischen Erzählers die Modalitäten der Wahrnehmung und der Erinnerung durchgespielt und in mehreren Anläufen im narrativ evozierten Bild der Teppiche, der Pariser Eindrücke, der Kindheitserinnerungen sowie in den nacherzählten Episoden des grünen Buchs auf das Erzählen bezogen im selbstreflexiven narrativen Diskurs fokussiert. In Schnitzlers Der letzte Brief eines Literaten wird die erzählte Geschichte als tragische Liebesgeschichte zwar scheinbar (romantischen narrativen Modellen folgend und sie aushöhlend) erhalten, das Aufeinanderprojizieren verschiedener Erzählinstanzen (der zwei homodiegetischen Erzähler und des heterodiegetischen Herausgebers) und ihrer Aussagen sowie die Unzuverlässigkeit beider homodiegetischer Erzähler lösen die erzählte Geschichte auf und machen sie zu einem narrativ, produktionswie genreästhetisch vielfach reflektierten Werk, dessen Entstehen in sich selbst aufgezeigt wird. Damit liefern die drei Texte von Musil, Rilke und Schnitzler Beispiele für die Möglichkeiten narrativer Selbstreflexion der Frühen Moderne. Bibliographie Aurnhammer, Achim 2013: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen, Berlin/ Boston: de Gruyter. Bareis, J. Alexander & Grub, Frank Thomas (ed.) 2010: Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Berlin: Kadmos. Dole ž el, Lubomir 1998 a: “ Possible Worlds of Fiction and History ” , in: New Literary History 29.4 (1998): 785 - 809. Dole ž el, Lubomir 1998 b: Heterocosmica: Fiction and Possible Worlds, Baltimore/ London: The John Hopkins University Press. Dole ž el, Lubomir 2010: PossibleWorlds of Fiction and History: The Postmodern Stage, Baltimore/ London: The John Hopkins University Press. Eilert, Heide 1991: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900, Stuttgart: Steiner. Engel, Manfred (ed.) 2004: Rilke-Handbuch, Stuttgart/ Weimar: Metzler. 43 Das Problem ist zwar nicht neu, das Erzählen wird auch schon bei romantischen Autoren problematisiert, jedoch wird die erzählte Geschichte dort - mit ihrer reflexiven Thematisierung - nicht völlig ausgehöhlt, sondern eben auch oft mit autoritativer metafiktionaler und metanarrativer Nachdrücklichkeit konstruiert. 44 Unter Realität sollte immer fiktive - erzählte - Realität verstanden werden. 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Fulfilment and female identity are to be found in maternity and self commitment to the male. Silvia ’ s process of writing reflects on this goal. Her writing does not only help her to cope with the crisis she is going through. First and for all it gives evidence of her mastering the crisis successfully. Silvia ’ s interpretation of an emphatic life amounts to an erosion of the ‘ Weg-Ziel-Modell ’ and a turning away from the paradigm of the ‘ Frühe Moderne ’ . Relating to literary history the combination of an individual life-story and collective demands as it is demonstrated in Liebe beginnt is symptomatic for the transitional period of the early 1930 ’ s. 1 Vorbemerkungen Über die frühen Werke von Marie Luise Kaschnitz ist in Walter Killys Literaturlexikon zu lesen: Unpolitisch im Sinne eines idealistischen Beharrens auf der ‘ reinen ’ , der Wahrheitssuche dienenden Kunst sind nur die frühen, unter der Bedingung der Inneren Emigration entstandenen Arbeiten (Killy 1990: 249). Zu Liebe beginnt, ihrem ersten Roman, wird bezüglich seines Genres spezifiziert, er sei eine “ psychologisch motivierte Liebesgeschichte[. . .] ” (ibid.). Nun handelt Liebe beginnt tatsächlich von einer Liebe, die aber, wie der Titel schon vorgibt, nicht nur narrativ eine Liebesgeschichte bedingt, sondern die vor allem diskursiv hinsichtlich ihrer sie tragenden Konzeption reflektiert wird. Diese Reflexion artikuliert sich über die Erzählsituation, die sich als Schreibakt eines weiblichen Ich bestimmt, das die eigene, existentielle Befindlichkeit mitteilt. Sie ist im Kontext der Paradigmen der Frühen Moderne zu sehen. 1 1 Siehe hierzu im Allgemeinen, grundlegend wie einführend, Titzmann 2009: 275 - 574 und Wünsch 2012: 9 - 377; zu einer ersten Orientierung cf. Titzmann 2002: 191 f. Das Erscheinungsdatum 1933 ist signifikant, da die politische Veränderung, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, mit einer textinternen Veränderung koinzidiert. Auch im Text vollzieht sich eine Wandlung, die als solche nicht nur selbst wahrgenommen wird, sondern, wie wiederum der Titel indiziert, programmatisch als Neuanfang erscheint. Diesem Neuanfang, der zunächst und explizit nur bezüglich einer neuen Liebeskonzeption postuliert wird, ist gleichzeitig, wie der Obertitel meines Beitrags pointieren soll, eine bestimmte ideologische Richtung inhärent. Dies möchte ich im Folgenden anhand einer detaillierten Analyse des Textes aufzeigen. Die der konkreten Textarbeit zugrunde liegende literarhistorische These ist, dass die in Liebe beginnt vorgeführte Engführung von Individualgeschichte und kollektiver Erneuerung und die dabei vorgenommene Instrumentalisierung des zentralen Erzählmodells der Frühen Moderne zugleich symptomatisch für diese Übergangszeit zu sein scheinen. 2 Wenn auch eher nebenbei, so sollen durch die zu leistende Analyse zudem selbstreflexiv literaturwissenschaftliche Narrative beleuchtet werden, wozu das Eingangszitat Anlass gibt: Inwieweit die hier vorgeführte Geschichte eine “ psychologisch motivierte ” ist, und was als Zuschreibung eines Textes als “ unpolitisch im Sinne eines idealistischen Beharrens auf der ‘ reinen ’ , der Wahrheitssuche dienenden Kunst ” gelten kann - zur Beantwortung solcher Fragen sollen Textbefunde geliefert werden, die zur Diskussion solcher Positionen nicht nur herangezogen werden können, sondern heranzuziehen sind. 2 Das Weg-Ziel-Modell: Bewusstwerdung/ Umweg/ Neues Leben Das Weg-Ziel-Modell dient in der Frühen Moderne als narratives Erzählmuster (wie als sprachliche Metaphorik) und bildet den personinternen Prozess einer Selbstfindung ab. Diese, die Identität der Person, zeigt sich als Erreichen emphatischen Lebens. 3 2.1 Ausgangssituation Paareinheit Liebe beginnt führt als Ausgangspunkt bereits das vor, was sich üblicherweise erst als Ergebnis einer - auf dem Weg-Ziel-Schema basierenden, individuell vollzogenen - geglückten Selbstfindung darstellt. Anhand des Paares Silvia und Andreas wird eine absolute und unbedingte Paareinheit vorgestellt, die sich in einer sich selbst genügenden Liebe von allem übrigen abschottet und die Umwelt ausblendet. So heißt es, “ was ging uns im Grunde alles an. Nichts ” (Kaschnitz 1933: 11), und “ Wir sprachen nur einer für den 2 Für Karl Aloys Schenzinger und seine Romane habe ich dies in Krah 2005 aufzuzeigen versucht. Die Ausführungen zu Schenzinger können die hier zu Liebe beginnt ermittelten Befunde konturieren und rahmen, wie diese dann auch wieder die vorherigen stützen. Neben dieser allgemeinen literarhistorischen Relevanz lässt sich Liebe beginnt zusätzlich in einem Diskurskontext Liebe verorten, der zeitgleich Kennzeichen der frühen 1930er Jahre ist, wie er sich in Titeln wie Wieviel Liebe braucht der Mensch (Gerhard Menzel, 1932) oder Wiedergeburt der Liebe (Frank Thiess, 1931) artikuliert. In diesen Texten, ob literarischer oder theoretischer Provenienz, fungiert Liebe als Vehikel und Träger, von dem ausgehend eine generelle Wertediskussion (und damit eine Reflexion/ Revision frühmodernen Denkens und neuer Positionen) installiert wird. Auch in Menzels Text ist dabei das Thema an den Erzählakt eines weiblichen Schreibens gebunden, so dass er in gewisser Weise als Negativfolie zu Liebe beginnt gelesen werden kann. Siehe hierzu auch Anmerkung 23. 3 Siehe hierzu etwa Wünsch 1983 und 1989 (wiederabgedruckt in Wünsch 2012), Titzmann 1989 (wiederabgedruckt in Titzmann 2009). 292 Hans Krah (Passau) andern ” (ibid.: 9). Diese Liebe organisiert das gesamte Leben, alle anderen Bereiche sind ihr untergeordnet, alles ist auf sie hin ausgerichtet und wird von dieser Perspektive aus interpretiert: Aber wie alles, ordnete ich auch dies nur ein in das Spiel der Liebe (ibid.: 11). Die Bilder, die wir mit hinübernahmen in unsere Träume waren düster, aber eine schmerzliche Süße entstieg ihnen, ein Hauch von Endlichkeit, Gefahr und Tod. So dienten alle Dinge unserer Freude (ibid.: 12). Das Paar ist Raum wie Zeit enthoben. Insbesondere für Silvia gilt, dass auch ihre personelle Vergangenheit vollständig gelöscht ist: “ Ich hatte vergessen, daß ich ein Kind gewesen war ” (ibid.: 15). Von ihrer Familie ist sie getrennt, “ Ich war nicht mehr zu Hause gewesen, seit ich mit Andreas zusammen lebte ” (ibid.: 67). 4 Diese Liebe ist zudem nicht gesellschaftlich legitimiert oder konform, sie ist eine nicht-eheliche und sie macht das Paar zu einer hermetischen Einheit: 5 “ Wir gehörten keiner Klasse an, wir paßten in keine Gemeinschaft, wir hatten kein Vaterland ” (ibid.: 15). 2.2 Reise und Bewusstwerdung von Differenz und Defizienz Insofern nun diese emphatische Paareinheit “ Alltag ” (ibid.: 19) geworden ist, ergibt sich aus der Logik frühmodernen Denkens die Notwendigkeit der Erneuerung. Genau dies ist Erzählgegenstand. Eine Reise dient als Aufbruch, durch den diese selbstgenügsame und auf sich selbst bezogene Beziehung selbst wieder einem Wandlungsprozess unterzogen und schlussendlich in eine stabile Beziehung überführt wird. Retrospektiv kann es dann über den Zeitpunkt, an dem die ReiseThema wird, heißen: “ Von diesem Abend an veränderte sich alles ” (ibid.: 7). Der Text, der in 15 Kapitel untergliedert ist, 6 folgt in seinem Discours der Struktur des Modells (cf. Abb. 1): Kap. 1 skizziert die Ausgangslage, in Kap. 2 bis 6 befindet sich das Paar auf der Reise, die als Grenzüberschreitung in einen fremden Raum Bewusstwerdungsprozesse und Fremdheitserfahrungen initiiert und katalysiert. Kap. 7 bis 11 widmen sich dem Ziel der Reise, Neapel, das als Extremraum fungiert, an dem die Entfremdung des Paares kulminiert und sich in einer als existentiell gesetzten Krise manifestiert. 7 In Kap. 12 4 Cf. auch: “ Er hatte sich gelöst von der Vergangenheit, und er verlangte, daß auch ich mich löste, ohne Geständnisse ” (Kaschnitz 1933: 81). 5 Diese Einheit artikuliert sich auch deutlich in der Kommunikationsstruktur: Alles, was nicht gemeinsam erlebt wird, muss dem anderen erzählt werden, um so die Einheit zumindest symbolisch (wieder) herzustellen. Dementsprechend wird das Sprechen mit Dritten (über sich selbst) als Verrat interpretiert, cf. ibid.: 142 (als Essenz des Kap. 9). 6 Die Kapitel, die nicht durchnummeriert sind, tragen folgende Titel: 1: “ Liebe - ein Spiel ” (ibid.: 5), 2: “ Erste Station ” (ibid.: 21), 3: “ Spiegelwelt ” (ibid.: 42), 4: “ Das andere Reich ” (ibid.: 70), 5: “ Neue Verbundenheit ” (ibid.: 85), 6: “ Die steinernen Mütter ” (ibid.: 96), 7: “ Die Stadt des Lebens und des Todes ” (ibid.: 108), 8: “ Wege und Wandlungen ” (ibid.: 122), 9: “ Der Verrat ” (ibid.: 136), 10: “ Worte wider Willen ” (ibid.: 143), 11: “ Andreas, mein Feind ” (ibid.: 156), 12: “ Dieses Land war zu schön ” (ibid.: 192), 13: “ Die letzte Nacht ” (ibid.: 203), 14: “ Heimkehr im Traum ” (ibid.: 213), 15: “ Liebe beginnt ” (ibid.: 245). 7 Signifikant ist, dass keine der Stationen der Reiseroute explizit benannt wird, selbst Italien wird an keiner Stelle explizit als Italien bezeichnet. Dennoch lassen sich einige Stationen durch kulturelles Wissen durchaus referenzialisieren (wie eben Neapel über die geographische Lage), wobei auf Verweise auf die eigentlichen bekannten touristischen Sehenswürdigkeiten eher verzichtet wird. Rom wird zum Beispiel nur durch die Bezeichnung “ Hauptstadt ” (ibid.: 94) signifiziert (und ist narrativ wenig relevant, da nur Durchgangsstation). Diese Strategie verleiht Italien durch diese Dereferentialisierung der konkreten Orte sowohl eine eher Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 293 und 13 eskaliert diese in einem Naturraum in der Nähe Neapels. In Kap. 14 findet die zweite, zentrale Bewusstwerdung statt, wobei der Modus des Traumes als todesähnlicher Zustand funktionalisiert wird. Kap. 15 bringt schließlich die Rückkehr in den Ausgangsraum und die Wiedervereinigung unter neuen Vorzeichen, das neue Leben. Abb. 1: Raumbewegungen und Weg-Ziel-Modell im Discours von Liebe beginnt Die Reise nach Italien und die damit einhergehende Konfrontation mit dem Fremden führen die Aufspaltung von Andreas und Silvia vor, wobei die topografische Fremde Katalysator für die Bewusstwerdung der Differenz des Paares ist. Diese Spaltung des Paares geht zunächst anhand der (erst jetzt) relevant gesetzten Kategorisierungen ‘ Mann vs. Frau ’ und ‘ jung vs. repräsentative als auch eine utopische Komponente, die generalisierend als wünschenswerter Zustand dann auch auf das eigene Land übertragbar ist. Identifizieren lassen sich im Übrigen die titelgebenden steinernen Mütter des Kapitel 6, die Silvia “ [e]ine Stunde vor unserem eigentlichen Ziel ” (ibid.: 96) wie zufällig allein in einem eher abgelegenen Museum findet - eine zentrale Begegnung, die für ihren Bewusstwerdungsprozess mit bestimmend wird. Hierbei handelt es sich um die Matres Matutae im Museo provinciale campano di Capua. Die Darstellungen der säugenden Mütter, teilweise hyperbolisch als Frauen mit acht Brüsten wahrgenommen, verweisen auf den zentralen Aspekt der natürlichen Fruchtbarkeit, vor dem Silvia zunächst noch Scheu empfindet, sich dann aber immer mehr auf diese Körperlichkeit einlässt. In der anfänglichen Ablehnung folgt sie der Sicht Andreas, der vor allem Kreatürlichen Abscheu empfindet, eine Einstellung, die gleichzeitig an die Angst vor einer gefährlichen weiblichen Körperlichkeit gebunden zu sein scheint; diese Implikationen werden jedenfalls angesichts Theweleits Männerphantasien konnotativ aufgerufen. 294 Hans Krah (Passau) alt ’ vonstatten. 8 Die zentrale Differenz, die sich artikuliert und in die diese Aspekte integriert sind, ist aber diejenige, die sich auf die jeweilige Lebenseinstellung der beiden bezieht. Für Andreas, der als “ ein Büchermensch. Ein Theoretiker ” (ibid.: 71) bezeichnet wird und ein Intellektueller ist, ist seine Ich-Bezogenheit wesentlich. Diese äußert sich darin, dass er frei sein und deshalb keine Kinder haben will. Er denkt individualistisch, daher haben für ihn Normverstöße gegen den Staat eine durchaus positive Qualität. Korreliert wird dies zum einen mit einer negativen Grundeinstellung. Andreas ist deutlich als “ Pessimist ” (ibid.: 200), als Skeptiker gezeichnet. Silvia fasst es zusammen: “ Was kannst du alles nicht leiden ” (ibid.: 200). Zum anderen wird er mit einer ihm innewohnenden Morbidität, einer ideologischen Nähe zu Tod, Verfall und Unfruchtbarkeit semantisiert. Dem Land Italien bringt er Interesse für Kunst und Sehenswürdigkeiten entgegen, nicht aber für das Land und seine Ordnung. Er hängt am Alten, wobei dieses generell nicht als Ordnung erscheint, sondern selbst als eher anarchischer Zustand an sich. Diese Einstellung kongruiert mit der skizzierten Liebeskonzeption der Ausgangssituation, die von Andreas getragen und weiter getragen wird, während sich Silvia immer mehr davon zu lösen scheint. Für sie wird immer mehr etwas bestimmend, das sie als Leben setzt, so dass als zentrale Konfliktlinie diejenige zwischen Liebe und Leben fungiert. Die frühmoderne Liebeskonzeption steht dem Leben, wie es Silvia für sich definiert, oppositionell gegenüber. Silvia öffnet sich dem Land, seinen Bewohnern und seiner neuen Ordnung, sie zeigt Interesse an Vorstädten und Müttern mit Kindern. Kunst affiziert sie nur als Abbildungsdimension von Leben. Immer mehr kristallisiert sich ein Kinderwunsch als ihr Weg heraus. Kennzeichnend und korrespondierend zu dieser gesetzten Opposition von Leben und Liebe, eine Opposition, die während der Reise immer deutlicher zu Tage tritt, werden Andreas und Silvia auch oppositionell gesetzten Räumen zugeordnet. Operiert wird mit einem Gegensatz von Meer und Land, wobei das Meer Andreas repräsentiert und für Unfruchtbarkeit ( “ Wasser [. . .] mit dem Geruch seiner eigenen, schwimmenden, faulenden Pflanzenwelt ” , ibid.: 202) und vor allem für Perspektivlosigkeit steht: “ Wer das Meer so liebt, der liebt die Zukunft nicht ” (ibid.: 208). Silvia dagegen sind das Land, der Boden, die Erde und die Semantik des Festen, Fruchtbaren und Kultivierten zugeordnet: “ Ich habe die Gärten gern und die Ordnung: das Leben, das weitergeht, und den Boden, der trägt ” (ibid.: 208). 8 So heißt es etwa bezüglich der nun als relevant gesetzten Geschlechtergrenze von Andreas: “ Natürlich, so seid ihr, das gefällt euch ” (Kaschnitz 1933: 24), wobei das “ ihr ” die Frauen meint, Silvia einschließend, die dieses hier noch thematisiert: “ Warum sagst du ‘ Ihr ’” (ibid.: 24). Aber auch sie argumentiert in der Folge vor der Folie der Geschlechterdifferenz und integriert sich in das Paradigma Frauen: “ Wir auch, dachte ich nach einer Weile - und zum ersten Male trat ich in die schwesterliche Gemeinschaft der Frauen - wir auch können einen Weg gehen, der euch verwehrt ist ” (ibid.: 79). Ebenso akzeptiert und setzt sie die Grenze zum Männlichen: “ Und ich fühlte, daß dieses Leiden etwas Nur-männliches sein mußte und daß ich es niemals teilen konnte ” (ibid.: 25; analog wird von der “ männlichen Lust der Vernichtung ” gesprochen, ibid.: 162). Bezüglich des Alters wird nun hervorgehoben, dass Andreas älter ist. Die Grenze wird hierbei zum einen daran festgemacht, dass Andreas Kriegsteilnehmer war (ibid.: 93), was einer anderen Lebensperspektive entspricht. Es heißt: “ Er hatte schon vor dem Krieg begonnen zu leben ” (ibid.: 47). Damit korreliert zum anderen, dass er mit dem Alten kooperiert und dem Neuen gegenüber nicht aufgeschlossen ist. So begründet er sein beiseite Stehen bezüglich der bevorstehenden neuen Ordnung nicht ideologisch, sondern biologisch mit “ Ich bin nicht jung genug ” (ibid.: 92). Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 295 2.3 Krise/ eigentliche Bewusstwerdung/ Opfer Im Laufe der Reise wird sich Silvia dieser Ausgangslage immer mehr bewusst. Die Paareinheit wird als Defizienz und Fremdbestimmtheit wahrgenommen. Als Quintessenz heißt es über Andreas: Ich dachte, er hat zugegeben, daß ihm das Leben nichts gilt. Niemals wird er mich heiraten und Kinder haben wollen und ein Haus, niemals wird er sich einordnen in die große Gemeinschaft der Menschen seines Landes. (Ibid.: 209 f.) In Neapel, dem Ziel der Reise, vollzieht sich die Entfremdung der beiden insbesondere deshalb, da Silvia immer mehr einen eigenen Weg gehen will und eine weibliche Emanzipation anstrebt: “ Aber etwas war aufgewacht in mir, das ich das Eigene nannte ” (ibid.: 198). Im Naturraum in der Nähe von Neapel kommt es zur Eskalation. Silvia versucht, Andreas mit einem Stein zu erschlagen und sich vollends von ihm zu lösen, stürzt dabei aber und verliert das Bewusstsein. In ihrem Traum, der Inhalt von Kap. 14 ist (mit dem Titel “ Heimkehr im Traum ” ), werden anhand einer Rückkehr zu ihrer Familie ihre zukünftigen Wünsche repräsentiert. Das Elternhaus mit Eltern und Geschwister wird als semantischer Raum, als Macht des Lebenswillens präsentiert. Dies korreliert für Silvia damit, sich einem ihr Fremden, der von der Familie für sie bestimmt ist, hinzugeben, was wiederum die Integration in eine neue Gemeinschaft (der Lebenden) bedeutet. All dies ist explizit gegen das Konzept Liebe und damit Andreas gerichtet, impliziert also dieses und diesen zu opfern. Der Traum ist dabei insofern ein Extremraum, als er ihr allein gehört und nur ihr zugänglich ist. Andreas ist hier maximal exkludiert. Wenn es inhaltlich darum geht, sich einem Fremden hinzugeben und mit ihm Hochzeit zu halten, dann kommt dies letztlich einer metaphorischen Tötung Andreas ’ gleich. Gleichzeitig verdeutlicht der Traum aber auch, dass es Silvia nicht um eine Emanzipation an sich geht, da sie sich vollständig dem Vater fügt und das von diesem für sie Vorgesehene wie selbstverständlich akzeptiert. Das Zuhause bildet dabei die mit diesem Leben notwendig verknüpfte Gemeinschaft im Kleinen homolog ab, wobei diese Gemeinschaft eine ist, die durch Uniformen gekennzeichnet ist (cf. ibid.: 233, 237). Mit dem Erwachen aus dem Traum erfolgt nun aber eine zweite Bewusstwerdung Silvias. Der Traum fungiert als Katalysator, ihr Erwachen entspricht einer Wiederauferstehung. So sehr Silvia das im Traum durchlebte Lebensmodell schätzt, so sehr gelangt sie dennoch zur Erkenntnis, dass sie nicht dafür bestimmt ist. Der Weg zur Familie erweist sich als Umweg, der ihr ihre eigentliche Bestimmung vor Augen führt: Ich wußte in diesem Augenblick, daß ich niemals reif sein würde, an ihr [der Gemeinschaft, HK] teilzuhaben, ehe ich nicht mein eigenes Schicksal erfüllte, das darin bestand, zu lieben . . . “ (ibid.: 241). Silvia leistet Verzicht. Nun wird vollständige Hingabe und Preisgabe propagiert. Im Sinne der bisherigen Liebeskonzeption heißt es: Ich wollte es hinnehmen, dass ich altern würde ohne das Leben weiterzugeben, ohne teilzuhaben an der großen Gemeinschaft. Ich hatte erkannt, daß mir nur galt zu lieben. Und was ich in all dieser Zeit als das Leben empfunden hatte, gab ich freudigen Herzens hin (ibid.: 255). 296 Hans Krah (Passau) 2.4 Neue Liebe und neues Leben Silvias Opfer wird nicht nur symbolisch belohnt, insofern es als Selbstfindung und Wiedergeburt ausgegeben wird, 9 diese Einstellung führt paradoxerweise genau dazu, dass sie ihre ursprünglichen Ziele tatsächlich erreicht. Denn mit dieser postulierten Verzichtsleistung gehen zentrale Veränderungen einher. So hat erstens ihre Positionierung auf Seiten der Liebe keine Konsequenzen mehr für ihre Person. War zuvor im Denken von Silvia die Opposition von ‘ Liebe vs. Leben ’ etabliert und Liebe mit Tod und Unfruchtbarkeit äquivalent, “ Weil ich dich liebe, werde ich nie empfangen können ” (ibid.: 58) hieß es, so löst sich diese Opposition nun auf: “ Aber die Liebe war nicht, wie ich geglaubt hatte, des Lebens Feind. In der Stunde, in der ich mich der Liebe verschwor, hat Andreas sich hingegeben an das Leben ” (ibid.: 255). Schlussendlich wird sie schwanger. Impliziert ist zweitens zudem eine Transformation auch von Andreas; die Problemlösung erscheint als gegenseitiger Austausch. Nun hat er keine Probleme mehr mit Schwangerschaft und Heirat ( “ wir sprachen auch davon, daß wir nun heiraten sollten. Es war alles selbstverständlich und leicht ” , ibid.: 259) und dies korreliert mit einer neuen Sicherheit bezüglich seiner Arbeit (cf. ibid.: 261). Drittens geht damit einher, dass die Exklusivität der Liebesbeziehung aufgehoben wird. Als weitere Veränderung findet eine Öffnung zur Umwelt statt: Denn wie ich so alles, das ich verließ, noch einmal umfaßte, erkannte ich, daß ich nicht mehr blind und taub durch dieWelt ging. Ich dachte nur an Andreas, aber meine Augen sahen, und ich verstand die Sprache aller Wesen, ich liebte ihn, aber nun durfte ich alle Dinge lieben (Ibid.: 242). Zurückgekehrt in den Ausgangsraum wird Kontakt zu Nachbarn gesucht, gibt es Interesse an Mitmenschen und deren (alltäglichen) Problemen. Nun impliziert Liebe also keine Paareinheit ohne Umwelt mehr, bei der alles, was nicht sie ist, ausgeblendet wäre. So sehr sich also Silvia auf der Oberfläche der durch Andreas getragenen Position wieder anzunähern scheint, werden aber gerade ihre Vorstellungen von der Gemeinschaft und deren zentralen Status nicht relativiert, sondern bestätigen sich. Wenn dabei das letzte Kapitel den Gesamttitel “ Liebe beginnt ” aufnimmt und damit mit der neuen Liebeskonzeption identifiziert, dann wird das Vorherige dadurch als Nicht-Liebe klassifiziert und qualifiziert. Die Ausgangskonzeption wird nicht nur in der Sukzession abgelöst, sondern zudem auch qualitativ auf eine andere Stufe gesetzt; indem sie als Spiel tituliert wird (Titel des ersten Kapitels: “ Liebe - ein Spiel ” ), erhält sie den Status des Artifiziellen, Künstlichen und anthropologisch den des Kindlichen, Unreifen. 3 Die Semantik der Gemeinschaft und der ‘ neuen ’ Beziehung Die Öffnung des Paares zur Umwelt korrespondiert mit dem Wunsch nach Integration ins Kollektiv. Waren Silvia und Andreas zunächst als Paar narzisstisch auf sich bezogen und egozentriert, so beinhaltet die neue Liebeskonzeption eine soziale Komponente und wird wesentlich durch diese Komponente mitgeprägt. 9 Mit dieser Wiedergeburt wird alles, was sie bis dahin gewollt hatte und sich bewusst geworden war, ihre Defizienz also, nun als scheinbar irrelevant ausgewiesen; aus dem Text heraus ist dies nicht hergeleitet, es wird, wie das obige Zitat zeigt, einfach als intuitives Wissen gesetzt. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 297 3.1 Vorbild Fremde und Feindbild Fremder Die raumzeitliche Situierung des Geschehens weist dieses als Gegenwartsgeschichte aus. Wie aus spezifischen Beschreibungen der Lebenssituation zu schließen ist, 10 muss sie zu Beginn der 1930er Jahre spielen. Die zunächst rein abstrakt formulierte Gemeinschaft lässt sich inhaltlich-semantisch füllen. Das Kollektiv, das als wichtig erachtet wird, ist eines im Sinne der Gemeinschaft des Nationalsozialismus. Dies wird umso deutlicher, da das als Vorbild ausgewiesene Italien eindeutig als das faschistische Italien Mussolinis zu identifizieren ist, das selbst als neue Ordnung erscheint und gegenüber den Resten eines alten, als negativ gesetzten Zustands abgegrenzt und favorisiert wird. 11 Genau dieses neue Italien ist Vorbild für das eigene Vaterland, ja mehr noch: diese Fremde ist Spiegel des Eigenen. 12 Das, was als neue Identität der Person ausgegeben wird, ist damit im Kontext einer spezifischen Ideologie verortet: Sie ist eine genuin faschistische und nazistische. Dies zeigt sich an den Merkmalen, die der Fremde, also dem neuen Italien, zugewiesenen werden, und dies zeigt sich an dem Fremden, auf den das von diesem Programm Abweichende appliziert ist. Die Fremde zeichnet sich, außer, dass es sich um das faschistische Italien im Allgemeinen handelt, durch zentrale Semantiken aus, die im Text fokussiert und betont werden und denen als den positiven Effekten des Neuen gehuldigt wird: Wir reisten durch das fremde Land. Wir sahen immer Neues, aber gewisse Bilder wiederholten sich immer. Es hingen überall dieselben Fahnen, und viele Soldaten durchzogen die Städte. So schien alles einbezogen in eine große Ordnung, auf die jeder einzelne stolz war. Ich konnte wohl sehen, daß es viel Armut gab. Aber ich hatte den Eindruck, daß die Menschen hier ihre Armut ebenso wenig fühlten, wie etwa Andreas und ich die unsere gefühlt hatten. Sie waren zufrieden mit sich und voller Hoffnung. Wenn die jungen Soldaten durch die Straßen marschierten, lachten sie und 10 Referiert wird auf Arbeitslosigkeit und Straßenkämpfe. So heißt es als Kommentar dazu, dass nachts Schüsse und schnelle Schritte zu hören sind: “ Solche Dinge geschahen häufig, die Zeit war unruhig. Es kamen viele Arbeitslose und wir gaben ihnen oft etwas ” (ibid.: 12). 11 Neapel, eine Stadt, die Silvia von vornherein nicht mag, erscheint als Extremraum dieses Gegenraumes: “ Es gibt doch eine Entwicklung, einen Fortschritt. Im ganzen Land ist er zu spüren, nur hier nicht. Es ist ein Zustand der Ruhe, in dem sich doch alles langsam einer Besserung nähert. Aber in dieser Stadt spricht jedes Ding dieser Entwicklung Hohn. Und es sollte mich nicht wundernehmen, wenn hier die Zelle wäre, von der aus alles wieder zerstört und aufgewühlt wird ” (ibid.: 178); analog wird Neapel als “ eine dämonische Stadt ” (ibid.: 110) bezeichnet und damit wiederum dem Fremden semantisch angenähert (siehe im Folgenden). Das Sprichwort “ Neapel sehen und sterben ” ( “ vedi napoli e poi muori ” ), von Goethe in seiner italienischen Reise aufgegriffen (II., 3. 3. 1787), scheint hier als eine Art Leitmotiv zu fungieren, allerdings durchaus ins Negative verkehrt; auffällig ist, dass der metaphorische Tod eben in der Nähe von Neapel situiert wird, ganz im Sinne der Lesart: Neapel sehen und dann Muori (ein Ort in der Nähe Neapels) sehen. 12 So heißt es etwa: “ Ich dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht an ihn. Ich reihte mich in Gedanken ein in eine Gemeinschaft von Menschen, die der entsprach, die wir hier erlebten. Ich erfand sie und wußte doch, daß es sie schon gab. Ich dachte an unser eigenes Land, in dem wir gelebt hatten wie Fremde ” (ibid.: 88). In dem ansonsten sehr brauchbaren Lexikon zur Literatur in Nazi-Deutschland heißt es hierzu: “ Der Roman erzählt eine Liebesgeschichte in einem faschistischen Italien, das Kaschnitz mit Zügen des nationalsozialistischen Unterdrückungsstaats ausstattete. Dennoch konnte der Roman 1933 in der Vossischen Zeitung abgedruckt werden ” (Sarkowicz/ Mentzer 2000: 228). Richtig ist hier nur, dass Italien tatsächlich mit diesen Merkmalen ausgestattet wird. An keiner Stelle des Romans wird dies aber mit einem kritischen Potential versehen, wird also dieses faschistische Italien kritisiert. Im Gegenteil: Genau dies, der Unterdrückungsstaat, wird als der wünschenswerte Zustand gesetzt! Im obigen “ Dennoch ” ist also eine vollständige Verkennung der Semantik des Textes und damit seiner ideologischen Ausrichtung zu konstatieren. 298 Hans Krah (Passau) schwatzten miteinander. Sie hörten nicht auf, Menschen zu sein, und niemand sah sie feindlich an. Sie waren die Söhne und die Hoffnung, und viele von ihnen hatten schon Kinder, die die winzigen Soldaten einer großen Armee waren. So wie der Boden reich war in diesem Land und Ernte brachte ohne zu ermüden, wie die Frauen fruchtbar waren und gut nähren konnten, so schien mir auch diese Art zu leben einer Kette gleich, die sich abrollte, ohne sich je zu verschlingen oder zu reißen. Zum erstenmal dachte ich an das Leben, das sich fortpflanzt, nicht durch Gedanken und die Erinnerung an Taten, sondern durch den ewigen Willen der Natur, und es war wichtig und schön (ibid.: 48 f.). Das Land erscheint als Gemeinschaft, durch die soziale Unterschiede und Missstände, die es weiterhin gibt, im Denken relativiert werden. Die Ideologie dominiert die soziale Praxis und wird zur sozialen Praxis. Diese Gemeinschaft ist vor allem eine Ordnung. Sie ist als grundlegend strukturiert gedacht, wobei die Repräsentation dieser Ordnung sie als grundsätzlich soldatische ausweist. Sie zeichnet sich zudem durch eine positive Grundeinstellung aus und ist technikaffin, wobei diese Technik wesentlich der Urbarmachung des Bodens und seiner Fruchtbarkeit dient. 13 In der Parallelisierung von Raum und Mensch, die Silvia dabei euphorisch vornimmt, kommt dies dem sehr nahe, was als Blut- und Bodenideologie benannt und bekannt ist. Das alte und ewige Menschenwerk der Urbarmachung, der Verwandlung von Wildnis in brotgebendes Land lag vor meinen Augen. Ich begriff, daß die Menschen dieses Landes sich eins fühlten in ihrer gemeinsamen Arbeit, die ihrer Erde galt, der Erde, auf der sie lebten wie eine große Familie, die sie umgrenzten gegen die übrige Welt. Es kam mir vor, als hätte ich lange Zeit geschlafen. Ich vergaß, daß es die Liebe gewesen war, die mich umfangen hatte wie eine Muschel, in der die Geräusche der Welt nur ein schwaches gleichmäßiges Getön sind. Ich war erwacht und sah mich um. Ein fremdes Land umgab mich, aber ich dachte an das unsere, und in Gedanken nannte ich es Vaterland (ibid.: 87 f.). Diese Kultivierungsleistung wird selbst als Tat eines Einzelnen gesetzt und entspringt aus einem (genialen) Geist: “ Ein Wille hatte all dies geschaffen ” (ibid.: 89). Diesem einen hat sich alles unterzuordnen. Diesem einen kann Kraft seines Willens, so ist präsupponiert, auch keine Kritik entgegengebracht werden. Auch Umsiedlungen größeren Ausmaßes und Ansiedlungen von Soldaten sind keine ethisch zu reflektierenden Gegebenheiten, sondern Ausdruck von Größe. Schließlich zeichnet sich dieses Neue durch Einfachheit und Eindeutigkeit aus, es ist also für jeden nachvollziehbar und kann Orientierung bieten. Insofern die Gesetze des neuen Staats als “ die neuen einfachen Gesetze des Lebens ” (ibid.: 179) bezeichnet werden, impliziert dies zudem eine Natürlichkeit dieser staatlichen Ordnung. Dagegen kulminieren die Merkmale des Bereichs, der als noch dem Alten (und damit als dem Italien vor Mussolini) verhaftet den früheren Zustand repräsentiert, topografisch in Neapel. Sie werden personell von dem Fremden getragen, mit dem Andreas in Neapel ein geradezu konspiratives Treffen hat. Dieser Fremde trägt dabei das Merkmal des Fremden nicht als relationales, sondern es ist ihm wesentlich inkorporiert: Das von und mit diesem 13 Im Text artikuliert sie sich im Besonderen in einer Begeisterung für Dampfpflüge und Dampfmaschinen im Allgemeinen, ibid.: 86 f.; zu diesem Aspekt, der eine deutliche Affinität zum NS-Denken aufweist, cf. etwa den Film Die goldene Stadt, siehe auch Krah 2017 und, bezogen auf Schenzinger, Krah 2005. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 299 Fremden transportierte Denken ist fremd, egal, wo man sich befindet. So heißt es über ihn schon bei seiner Beschreibung: Welche Farbe die Augen hatten, weiß ich nicht, ich glaube, daß sie sich veränderten und bald grau waren, bald von einem gelblichen Braun. Obwohl er ziemlich ausgesprochene Züge hatte, war es unmöglich, ihn irgendeiner Nation einzuordnen, und merkwürdigerweise behauptete auch Andreas später, er wisse nicht, was für ein Landsmann er sei. Jedenfalls sprach er so gut deutsch wie wir (Ibid.: 169 f.). Der Fremde erscheint als nicht eindeutig und nicht einfach. Bereits seine physiologische “ Unübersichtlichkeit ” (ibid.: 169) verwirrt. Er steht für Rückwärtsgewandtheit und Intellektualität, die sowohl Komplexität als auch Distinktion signifiziert und damit als Negativfolie der neuen Ordnung erscheint. Dieser Fremde ist ontologisch fremd, er wird als “ Teufel ” (ibid.: 182) apostrophiert. Er gehört nicht dazu und ist nirgends dazugehörig. Silvia registriert dies instinktiv seismographisch ( “ Ich weiß ja jetzt, daß es nur das Nicht-einfache, das Zwiespältige war, das mich erregte ” , ibid.: 173) und fasst es in ein Bild: Es war sehr dumm und sicher sehr weiblich, daß ich in diesem wichtigen Augenblick an etwas anderes, nämlich an einen Bahnhof denken mußte, an einen Zug, dessen Lokomotive so wie Kinderlokomotiven den Preis umgehängt tragen ein Schild mit den Namen unseres Landes trug. Und während wir einstiegen, blieb der Fremde draußen stehen und es war aus irgendeinem Grunde unmöglich, daß er auch mit einstieg, obwohl er es wollte (Ibid.: 181). Dass dieser Fremde dann auch mit Zuhälterei in Verbindung gebracht und damit sexuell konnotiert ist, dass er als diabolisch, als gesteigert unmoralisch gesetzt wird, da sein Verhalten gegen das Wohl von Gemeinschaften gerichtet ist ( “‘ Das ist wohl die höchste Unmoral ’ , sagte ich streng, ‘ wenn jemand nicht ertragen kann, ein ganzes Volk zufrieden zu sehen ’” , ibid.: 180), ergibt mit der Semantik des Gemischten, Uneindeutigen und Hässlichen ein semantisches Konglomerat, das auch in anderen Texten der Zeit Verwendung findet, wenn es darum geht, Figuren zu stereotypisieren und durch kulturelles Wissen eine Zuordnung als ‘ jüdisch ’ nahezulegen und bereits dadurch zu disqualifizieren. 14 Hier im Text muss diese Eigenleistung der Identifizierung allerdings nicht erbracht werden, hier wird sie von Silvia expliziert: “ Ich beschloß den Fremden herauszufordern, den alten schmierigen Juden, der so häßlich seinen Kaffee schlürfte ” (ibid.: 174). 3.2 Erneuerter Mann und erdende Frau Bezüglich der individuellen Selbstbestimmung der Frau und des Verhältnisses der Geschlechter ist zu konstatieren, dass keine emanzipatorischen Momente in der favorisierten Lösung zu erkennen sind. Die propagierte harmonische Lösung, der Ausgleich zwischen den Geschlechtern und letztlich auch die Selbstfindung, also die Inszenierung eines Werts 14 So etwa in Josefa Behrens-Totenohls Der Femhof von 1934, wo die Figur des Robbe auf genau diese Weise des Gemischten charakterisiert wird. Weder diese Semantisierung an sich noch ihre textinterne argumentative Funktion bei der Sympathielenkung sind neu in den beginnenden 1930er Jahren. So wird sich etwa in Kellermanns Der Tunnel schon 1913 dieser Strategie bedient, wenn es um die Disqualifizierung der Figur S. Woolf geht (cf. Krah 2017). In diesen frühen Texten ist das semiotischeVerhältnis aber noch umgekehrt: Hier werden diese Merkmale an bereits eindeutig als jüdisch ausgewiesene Figuren zusätzlich als Signifikat herangetragen, während später sich diese Semantik als Wissenselement verselbständigt und selbst zum Signifikanten wird, der nun auf die Bedeutung ‘ jüdisch ’ verweist. 300 Hans Krah (Passau) des Ich, sind nicht Ausdruck einer tatsächlich modern-zukünftigen, gegenwärtige Strukturen überwindenden Orientierung, sondern Oberflächenphänomene und Argumentationshilfen eines konservativen Denkens. Denn das eigentliche Ziel weiblicher Individuation ist im Text die Ausrichtung auf den Mann und die Aufrichtung des Mannes, letzteres wiederum sozial funktional. Andreas ist Kriegsteilnehmer des 1. Weltkriegs, und als solcher, so kann aus dem Text geschlossen werden, traumatisiert. Seine Skepsis, sein Nihilismus, seine Abgrenzung gegenüber anderen werden subtil mit seiner Generation verknüpft, sind also nicht ursächlich in einer subjektiv-individuellen Verfasstheit seiner Psyche und der Psyche der Person im Allgemeinen zu suchen. Der Frau obliegt es nun, therapeutisch den Mann wieder für die Gemeinschaft und die Arbeit für die Gemeinschaft tauglich zu machen. Genau darin, und nur darin, äußerst sich die Transformation des Mannes, die ihn zurück zu dem ihm anthropologisch-natürlich angestammten Platz in der Ordnung führt, den er wieder einzunehmen hat. So kann es heißen: “ War es [Andreas Antlitz, HK] nicht ernster denn je und in völliger Männlichkeit mir entrückt? ” (ibid.: 259). Diese Veränderung geschieht mit der Mitteilung, dass er Vater wird (ibid.). 15 Entsprechend artikuliert sich die Rücknahme der Frau zugunsten dieses Mannes. Eine Emanzipation der Frau, ihr Aufbegehren und ihre individuelle Selbstfindung münden in eine rein mediale Funktion und werden als Konzepte negiert. Sie dienen nur Mann, Sohn und Gemeinschaft. Als einziger Wert für die Frau erscheint die Mutterrolle. 16 Selbst diese ist aber nicht als Selbstverwirklichung der Frau zu deuten; gerade dies, der Weg, den die Frauen gehen können, wird als Irrweg erwiesen. Kinder zu gebären ist nur dann legitim, wenn dies in den ideologischen Rahmen integriert ist: In jener Stunde, da jeder von uns sich um des anderen willen vergaß, ist ein Wesen zum Leben erwacht. Und ich weiß: es ist nicht das Geschöpf meines blinden und bösen Wahns, nicht das Kind, das mir allein gehören sollte und mit dem ich mir die irdische Unsterblichkeit erzwingen wollte. Es 15 Ausgedrückt wird dies im Text mit folgender Formulierung: “ Während er noch hastig ungläubige Fragen stellte, glaubte er doch schon und wehrte sich nicht ” (Kaschnitz 1933: 258). Glauben ist etwas, was im Text als positiv gesetzt wird, und was Andreas zuvor, noch in der Rolle des Intellektuellen, als Konzept negiert. Was hier im Text allerdings als Glaube erscheint, hat weniger etwas oder nichts mit Glauben im engeren christlichen Sinn zu tun, sondern manifestiert sich abstrakt als Glaube an die Zukunft. Dieses Konstrukt findet sich in elaborierter Ausformung dann als zentrales Element im Film des Nationalsozialismus. So wird etwa in Mutterliebe dem zum Zyniker gewordenen Paul durch seine Heilung dieser Glaube wieder gegeben, so wird in Heimkehr die Unfähigkeit des “ Schwarzsehers ” Fritz (an die Hilfe durch Hitler-Deutschland) zu glauben narrativ sanktioniert. Auch die Restituierung des Mannes (oder der Männer) ist eine gängige Strategie in NS- Texten. Gerhard Menzels Flüchtlinge (1933) führt dies als Plot vor, wenn der zum Führer prädestinierte, aber durch die Erfahrungen im ersten Weltkrieg traumatisierte Offizier sich wieder mit der Masse der verängstigten Deutschen vereint, diese zu einer Volksgemeinschaft nach dem Modell von Führer und Geführte formt und dadurch selbst sein Trauma überwindet. Ähnlich, ohne direkten Bezug zum 1. WK, führt eine solche Restituierung der Film Mutterliebe vor, wo es die Mutter ist, die durch ihr Opfer dem erblindeten und zynischungläubig gewordenen Sohn wieder zum Augenlicht verhilft und dieser, dadurch sehend geworden, nun als Arzt seiner Bestimmung für die Gemeinschaft nachgehen kann. 16 Diese Rolle ist eine, die oberflächlich sogar noch konservativer als diejenige ist, die in NS-Texten der 1930er Jahre propagiert wird. Hier wird regelmäßig die Frau als Kameradin vorgeführt, als Syntheseleistung eines modernen Frauenbildes, das aber vollständig auf den Mann ausgerichtet ist. Die Mutterrolle spielt hier keine Rolle. Der Herrscher und Serenade seien als filmische Beispiele genannt, Detatom als Science-Fiction-Roman. Weniger konservativ ist dies aber nur auf einer Oberflächenebene, denn hier wird nur eine andere Strategie gefahren, der Frau ihr emanzipatorisches, individuell-selbstbestimmtes Potential zu nehmen. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 301 ist Andreas, der heranwachsen wird in verwandelter Gestalt. Er selbst hat sich mir so geschenkt, und er ist es, den ich lieben werde in meinem Kind. Sein Wille zum Leben hat es erweckt (ibid.: 255 f.). Deutlich impliziert ist hier die Ungleichrangigkeit bezüglich der Geschlechterrollen. Die Schwangerschaft ist nicht funktional für Silvia gedacht, als Weg der Frauen, für ihre, so gesetzten egoistischen Interessen, sondern nun gibt es Einsicht und Ausrichtung auf den Mann. Sie definiert sich nur als Trägerin seines Sohnes (mit einer Gewissheit bezüglich des Geschlechts des Kindes, die nur ideologisch zu verstehen ist). 17 Die Dominanz des Mannes wird, als genuine Aufgabe der Frau, perpetuiert, zumal der Mann in dieser Zeugungsvorstellung Leben aktiv schafft, während sie als Frau nur das passive Gefäß ist. 18 Sie gibt die Nahrung, er den Willen (der männlich ist): “ So wie es eingeschlossen ist in den Kreislauf meines Blutes und sich nährt von meiner Nahrung, so zehrt es von Andreas Willen, von der neuen Zuversicht, die ihn erfüllt ” (ibid.: 256). Was Silvia leisten darf, ist also die Erdung des Intellektuellen, und zwar in der verwendeten Metaphorik ganz wörtlich: 19 wenn er wirklich nahe dran gewesen war, mich um eines höheren, mir verborgenen Zieles willen für lange Zeit zu verlassen, so fand er doch in der Nacht, die unsere letzte war an dem südlichen Meer, leidenschaftlicher denn je zu mir, und in mir zur Erde zurück (ibid.: 255). Waren Silvia und Andreas zuvor ein individuelles Paar, so erscheinen sie nun in der Argumentation wie in den verwendeten Metaphoriken weniger als subjektiv-individuelle Größen, sondern selbst nur als Repräsentation allgemeiner Gender-, Lebens- (und damit Sozial-)gesetze. 4 Der Erzählakt als ideologische Schließung Nun gibt es eine Eigenständigkeit von Silvia, die von diesen Rücknahmen scheinbar nicht betroffen ist, nämlich den Text selbst. Im Schreibakt artikuliert sich eine Eigenständigkeit Silvias und auf dieser Ebene eine Dominanz gegenüber Andreas. Sie ist es, die reflektiert. 17 Die Relevanz eines Kindes für eine stabile Beziehung im Rahmen der Regeln erotischer Beziehungen im Kontext frühmodernen Denkens konstatiert Wünsch 1990: 147 f. Allerdings gehen die ideologischen Implikationen des Kindes, wie sie hier in Liebe beginnt installiert sind, deutlich über jeden dort skizzierten semantischen Funktionskontext (etwa dem des Umwegs, cf. ibid.: 156 f.) und damit über die Paradigmen frühmodernen Denkens hinaus. 18 Die Vorstellung, dass Beitrag der Frau bei der Zeugung ist, als passives, Gestaltung empfangendes Prinzip zu dienen, geht auf aristotelische Vorstellungen zurück. Mit der Frau als Gefäß in Kombination mit der Lehre der Präformation, dass der männliche Zeugungsstoff die Gesamtanlagen des werdenden Menschen bereits in sich trägt, bemüht der Text hier ein Wissen (und überspitzt es zusätzlich, da es ja Andreas selbst ist, der hier quasi in geklonter Form wiedergeboren wird), das um 1930 als seit hundert Jahren gründlich als veraltet gelten kann: 1827 entdeckt Karl Ernst von Baer die Existenz des weiblichen Ovums, die Grundlage für die sich in der Folge schnell durchsetzende Kenntnis über die tatsächlichen Gegebenheiten bei der Zeugung. Siehe etwa Rutke 2007. 19 Dass dann diese Metaphorik von Wasser und Erde als sprachlicher Euphemismus auch beibehalten wird, wenn Silvia auf der Ebene der Sprechsituation uns erzählt, wie das Kind gezeugt wird, und zwar anstatt dass sie auf der Ebene der besprochenen Situation Andreas erzählt, was sie geträumt hat, ist da schon konsequent: “‘ Ich will dir erzählen ’ , murmelte ich. Aber er schüttelte den Kopf. Er warf sich an meine Brust, wie die Wellen sich in die Bucht werfen, wie der Regen niedergeht auf die warme offene Erde ” (Kaschnitz 1933: 248). 302 Hans Krah (Passau) Wie lässt sich also die Erzählsituation beschreiben und deren Implikationspotential offenlegen? Gegeben ist eine Ich-Erzählsituation von Silvia, die sich als expliziter Schreibakt setzt. Nach den Geschehnissen, wenn die beiden wieder zuhause sind, wird über mehrere Nächte hindurch retrospektiv dieses Geschehene niedergeschrieben. Der Ausgang steht demgemäß fest. Allerdings hält sich die Erzählung in ihrer Gliederung an die Chronologie, der Ablauf wird nachexerziert. In das Erzählte wird im Erzählen wenig eingegriffen. 20 Geschrieben wird tendenziell also vergegenwärtigend, im Nachvollzug der Geschehnisse, ohne große Reflexion und Kommentierung, als ob alles im Fluss und offen wäre, unter Betonung des Prozesscharakters des Ablaufenden. Generell kaschiert der Erzählakt damit als pseudoreflexive Ebene die oben offen gelegten Grundkonzeptionen des Textes, weil sie als eigene Erkenntnisse inszeniert sind, die in einem Prozess gewonnen werden und damit diese Normen nicht dogmatisch von außen als ideologische gesetzt erscheinen, sondern als individuell-subjektiv erfahrbar behauptet werden. Dabei leistet das Erzählen gerade die Nachvollziehbarkeit und das Verstehen dieser Erkenntnis. Der Erzählvorgang ist in sich schlüssig, nicht fragmentiert oder gebrochen, narrativ wird einem bekannten Modell gefolgt. Das Erzählen spiegelt gerade nicht einen subjektiven, psychischen, sprunghaften Prozess wider, sondern ist in seiner sprachlichen Gestaltung wie seiner Anordnung wohlgeordnet. Die Sprache hält sich an vorgegebene Ordnungen der Syntax wie der Semantik und bedient sich kultureller Metaphoriken oder Vergleiche, die in ihrer Explizitheit mögliches Individuelle formatieren und für Sinn sorgen. Insofern ein solcher Akt des Erzählens überhaupt als relevante Textdimension erscheint, wird an einem zentralen Diskurs der Moderne partizipiert - das Ich kann als modernes Ich erscheinen. Der Erzählakt fungiert damit, homolog zur Rolle der Frau im Erzählten, ebenso als intellektuelle Erdung: Intellektuell, da Wahrheiten nicht dogmatisch gesetzt, sondern erst im Akt der kommunikativen Aushandlung als Wissen generiert werden, wobei die Anbindung aber eine solche ist, dass sie eben für alle verständlich ist. 21 Anlass des Erzählens ist die festgestellte Schwangerschaft. Statt Andreas diese gleich mitzuteilen, beginnt der Schreibprozess. Dieser ist dabei in doppelter Weise mit der Schwangerschaft verbunden: Ein neues Leben begann, aber ich trug vieles mit mir herum, das nicht zu ihm gehörte [. . .] Da öffnete ich mich endlich ganz der Erinnerung. Ich begann das aufzuschreiben, was ich sah und wieder fühlte, ich schrieb nun an jedem Abend (ibid.: 252). Das Schreiben ist funktional für das neue Leben, Silvias Kind, und entspricht einer Art Reinigungsakt. Impliziert ist, dass sich Silvia von ihrer falschen ideologischen Einstellung symbolisch befreien muss (nämlich von ihrer dominanten, auf eigene Selbstbestimmung gerichteten Art), dass der Schreibakt also einer Veräußerlichung und Abspaltung von 20 Es gibt nur einige wenige Bewertungen ihres Verhaltens ex post, insbesondere bezüglich des Traumes, Kap. 14. Diese Ansätze von Reflexion beziehen sich aber nie auf Vorwegnahmen, was den Ausgang betrifft. 21 Ein Nebeneffekt der rekurrenten Verwendung von “ Ich weiß ” (statt ‘ Ich wusste ’ ) ist zudem, dass diese als Wissen ausgegebene Erkenntnis nicht als historisierbar und damit veränderbar gesetzt wird, sondern als außerzeitlich. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 303 fremdem Inneren gleichkommt; gleichsam in eugenischer Absicht, da sonst dem Kind Schaden zugefügt werden könnte. Darüber hinaus dient der Schreibakt aber auch gerade dazu, die Inhalte innerhalb des Paares zu kommunizieren. Sie gibt Andreas ihre Aufzeichnungen zu lesen; die Einheit ist wiederhergestellt: Als diese Nacht zu Ende ging, gab ich Andreas die Blätter, auf denen ich alles aufgeschrieben habe, die Geschichte einer Reise, die Geschichte von Tod und Beginn der Liebe. Und so nahe waren wir uns in dieser Stunde [. . .] (ibid.: 262). Diese Formulierung stellt eine Wiederaufnahme dar. Zu Beginn im Text heißt es über den Zeitpunkt des Schreibaktes: “ Es liegt nicht sehr viel Zeit zwischen dem Damals und dem Tage, an dem ich dies aufschreibe, die Geschichte von Tod und Auferstehung der Liebe ” (ibid.: 7). Etabliert werden zunächst sprachlich also ein Rahmen und damit ein Ende. Indem die Aufzeichnungen zudem eine kommunikative Öffnung erfahren, wird das zuvor subjektiv Geschriebene einer Außensicht als Prüfung unterzogen und damit autorisiert. Was rein subjektive Sicht und Silvias psychischer Disposition entsprungen sein könnte, gerade was ihre Wertungen und Bewertungen betrifft, wird durch einen Beteiligten beglaubigt. Denn Einwände von Andreas auf diese Version der Geschichte existieren nicht. Dies ist ein durchaus signifikantes Datum. Denn nicht nur bezüglich der Inhalte kaschiert der vorliegende Text seine Programmatik, dies gilt auch für die Erzählsituation selbst. Wie aus dem obigen Zitat zu rekonstruieren ist, lässt sich der Text mit der bisherigen Beschreibung noch nicht kohärent fassen, da über die Tempusverwendung eine weitere Erzähldimension indiziert ist. Die Formulierung “ Es liegt nicht sehr viel Zeit zwischen dem Damals und dem Tage, an dem ich dies aufschreibe ” weist durch die Deixis “ dies ” und das Präsens “ aufschreibe ” diesen Satz als der Erzählebene des Schreibaktes zugehörig aus. Diese Ebene des unmittelbaren Schreibens festigt sich, insofern während des Discours immer das Präsens benützt wird, wenn es um die Sachverhalte geht, die sich auf den Zeitpunkt des Schreibakts beziehen, etwa “ Ich weiß ja jetzt ” (ibid.: 173). 22 Wenn es am Ende aber heißt “ ich schrieb nun an jedem Abend ” , “ Ich schrieb bis in die Nacht hinein ” (ibid.: 252) und sie ihm “ die Blätter ” “ gab ” (und nicht gibt oder geben wird und nicht diese Blätter), dann artikuliert sich darin nicht mehr der Schreibakt, sondern eine Reflexion über den Schreibakt und über das eigene Schreib-Handeln. Dies impliziert zum einen Zeit, die vergangen ist, und zum anderen eine Differenz im Medium. Die Blätter, die Silvia Andreas gibt und in denen sich ihr Verschriftungsakt dokumentiert, und der vorliegende Text können eigentlich nicht identisch sein. Sie werden aber als identisch gesetzt. Obwohl also auf eine weitere Ebene des Erzählakts geschlossen werden muss, die 22 Siehe auch: “ ich erinnere mich sehr gut ” (ibid.: 5), “ Ich weiß noch ” (ibid.: 5), “ Aber ich weiß noch ” (ibid.: 19), “ Ich erinnere mich sehr gut ” (ibid.: 30), “ Ich weiß nicht mehr ” (ibid.: 83), “ Ich weiß nicht mehr, was mich damals bewog ” (ibid.. 103), “ Jetzt, in der Erinnerung kommt es wieder ” (ibid.: 113), “ ich entsinne mich ” (ibid.: 122), “ Es kommt mir vor, als sei damals ” (ibid.: 133), “ Oder scheint es mir nur so in der Erinnerung ” (ibid.: 142), “ Ich erinnere mich ” (ibid.: 143), “ Jetzt weiß ich es wohl ” (ibid.: 213), “ Manchmal glaube ich jetzt noch, ich sei wirklich fortgewesen ” (ibid.: 213), “ Jetzt, da alles so klar vor mir liegt ” (ibid.: 226). 304 Hans Krah (Passau) sich als übergeordnete etabliert, wird diese im Text selbst nicht thematisch, sondern auf die bisherigen Strukturen projiziert und damit unsichtbar gehalten. Das leistet erstens Beglaubigung des Erzählten. Diese steht mit dieser Strategie dann ja nicht noch aus, so ist impliziert, sondern ist in den Text hereingeholt. Würde sich der Text als Teil einer Kommunikationssituation setzen, wäre er als dieser Text auch nur ein Teil und damit wäre eine Offenheit seinen Inhalten gegenüber möglich. So aber wird eine solche mögliche Diskussion seiner Positionen, eine kritisch-rationale Beurteilung aufgrund eines (intellektuellen) Leseaktes ausgeblendet, die Möglichkeit eines solchen negiert. Die Beglaubigung wird durch diese Projektion also zweitens auf den Text zurückgeworfen und ergibt sich quasi unmittelbar von selbst, zudem wird der kommunikative Aushandelsprozess als abgeschlossen deklariert. Diese Rückbindung auf sich selbst schließt den Text auch ideologisch und immunisiert ihn. 23 23 Hier sei ein kleiner Exkurs zu Gerhard Menzels Wieviel Liebe braucht der Mensch eingefügt. Auch in diesem Text geht es um eine Liebesbeziehung, die allerdings deutlich facettenreicher ausgestaltet ist und bei der die Konflikte gerade nicht aus einer hermetischen Zweisamkeit resultieren, sondern im Gegensatz durch den Kontakt mit der Umwelt. Die Protagonistin Hela verlässt, durch ihre Liebe zu Alexander bedingt, mit diesem die Kleinstadt und gerät im großstädtischen Berlin an eine Gruppe, die laut Herausgeber den “ Pseudo- Zeitgeist ” (Menzel 1932: 12) repräsentiert, wodurch Hela moralisch auf Bahnen geleitet wird, die zu verschiedenen sexuellen Beziehungen führen, die schlussendlich wieder zu Alexander zurückführen und in einem gemeinsamen Liebestod enden. Sie tötet Alexander und dann sich. Im Gegensatz zu Liebe beginnt ist hier der Fokus also nicht auf das gelingende Neue gelegt, sondern auf das Alte, Gegenwärtige, das eben, aus der ideologischen Sicht des Textes (die dann von derjenigen von Liebe beginnt nicht allzu weit entfernt ist), nur in einer Katastrophe enden kann. Hierbei wird diese Ablehnung aber nicht nur durch den einleitenden Kommentar des Herausgebers deutlich, der die interpretatorische Hoheit über die Deutung der Geschehnisse hat, sondern bereits durch Hela selbst. Denn auch hier geht es wie in Liebe beginnt um einen expliziten Schreibakt, den Hela zwischen Tötung und Selbstmord verfertigt, und in dem sie sich “ Klarheit ” (ibid.: 19, 38, 155) verschaffen will. Dabei wird auch hier diese Klarheit ganz deutlich nicht erst durch den Schreibakt geschaffen, sondern sie ist dem Schreibmodus letztlich von vornherein inhärent. Nicht umsonst ist das Schreiben explizit an ein Du adressiert, und zwar an Louis, der als das Zentrum dieses nicht individuell gesetzten Generationenproblems erscheint ( “ Aber das ist nicht die Schuld eines einzelnen, sondern schon die Schuld einer ganzen Generation, als deren Vertreter ihr euch fühltet ” ibid.: 27 f.). Louis wird gleichermaßen als Dämon wie Zyniker stilisiert, dem die Verantwortung für das Geschehene zugesprochen wird. Helas Manuskript soll ihm gewissermaßen den Spiegel vorhalten, doch Louis verweigert die Kommunikation und damit eine Anerkennung seines Anteils, was seine Fremdheit bezüglich der konstatierten Problematik unterstreicht. Hier findet eine ganz eindeutige Abgrenzung statt, die als Selbstausgrenzung ausgegeben werden kann. Dementsprechend ist es der männliche Herausgeber, der die Mittlerrolle einnehmen und den weiblichen Text als authentisches Exempel und Warnung funktionalisieren kann: “ Ich wünschte, daß recht viele die warnende Stimme dieser Frau hören möchten, eines Geschöpfes, das ein Opfer des Pseudo- Zeitgeistes geworden ist ” (ibid.: 11 f.). Die Herausgeberfiktion erscheint für diesen Text durchaus notwendig, um die von Hela beschriebenen Sachverhalte und ihr Schreiben in das gewünschte Deutungssystem zu integrieren. Diesees ist eben eines, das in Richtung einer Überwindung derjenigen Zustände zielt, die mit einer negativen, da freizügigen Moderne verknüpft werden (und genau an die Weimarer Republik gebunden sind, beginnen die Kontakte mit dieser Generation doch gerade 1921). Ansonsten könnte der Text nämlich durchaus auch als pathologisch gelesen werden. Sich durch normalen Beischlaf am Abgrund befindlich zu stilisieren, ein Kind als Kind eines Mannes zu imaginieren, von dem es definitiv nicht ist, und schließlich um der Liebe willen einen Mord zu begehen, der aber als das ausgegeben ist, was Hela angeblich ohne Liebe geworden ist, sind Beispiele einer Weltsicht, die die Grenzen des einigermaßen Nachvollziehbaren verlässt. Dies mag daran liegen, dass hier eben deutlich konstruierter und durchschaubarer als bei Kaschnitz eine weibliche Sicht fingiert wird. Dass der weibliche Schreibakt etwa permanent mit militärisch-männlichen Metaphoriken operiert, konterkariert das Konstrukt, das um der Inszenierung von Unmittelbarkeit, psychischem Erleben und Ich-Identität eingeführt ist, nicht wenig. Eine geradezu gegenläufige Funktionalisierung eines weiblichen Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 305 Insgesamt bleibt durch diese Strategie einerseits die Relevanz von Unmittelbarkeit und Subjekt im Sinne eines Festhaltens an Paradigmen des Denkens der Frühen Moderne erhalten. Andererseits wird ausgeschlossen, dass es irgendwelche Reaktionen gegeben hat oder überhaupt geben könnte. Das bisher ideologisch Ausgewiesene bleibt als Wahrheit bestehen und wird Wissen. 5 Psychologie einer Wandlung - Fazit Gezeigt werden sollte, wie unter Anwendung des Weg-Ziel-Modells das schussendlich erreichte emphatische Leben im Aufgehen in einer und für eine Gemeinschaft besteht und als Glück und (weibliche) Identität Mutterschaft und die Ausrichtung auf den (nun selbst geläuterten) Mann propagiert werden. Dies kommt einer Pervertierung und Erodierung des Modells und der Abkehr von den Paradigmen der Frühen Moderne gleich. Der weibliche Schreibakt begleitet dies, wobei der selbstreflexive Erzählakt gerade dazu beiträgt, die notwendig zu durchlebende Krise nicht nur zu bewältigen, sondern vor allem die geglückte Bewältigung zu dokumentieren. Er dient nicht einer Vergegenwärtigung und eigenen Rekapitulierung vergangenen Geschehens als Erinnerungsleistung, aus der sich mosaikhaft ein Sinn der eigenen Existenz ergeben würde, sondern erscheint selbst als Selbstvergewisserung eines nicht zu reflektierenden neuen, allgemeingültigen Zustands; 24 die Frau fungiert als Medium diese Erkenntnis zu bewahren und zu tradieren. Was Silvia darf, ist Sprachrohr und Medium der Ideologie zu sein. Dies darf sie mit dem Text insgesamt, wie sie es immer wieder bereits im Text praktiziert, wenn sie Aussagen über die Menschen im Allgemeinen formuliert und als Wahrheiten verkauft, etwa: Die Menschen wollen [. . .] nur das Allereinfachste, essen, Ruhe haben, feste Gesetze. Sie wollen ehrenhaft und fleißig sein und sich sicher fühlen in dem, was alle verstehen und fühlen können und nicht nur ein paar Gebildetere, die so klug sind, daß sie an gar nichts mehr glauben (ibid.: 183). In Hinblick auf den Übergang frühmoderner Denkkategorien in solche, die neutral formuliert als Kennzeichen einer synthetischen Moderne gelten können 25 und weniger Tagebuchs führt im Übrigen Mechtilde Lichnowskys Delaïde (1935) vor. Hier wird gerade dadurch, dass das Tagebuch der durch Suizid gestorbenen Protagonistin nur diegetisch gelesen wird, diese Lektüre dem Rezipienten aber vorenthalten wird, auf tatsächlich psychisch motivierte Dispositionen und individuelle Problematiken der Person verwiesen, die sich eben nicht einfach durch Verschriftung klären und verallgemeinern lassen. Durch die Verweigerung des Tagebuchs kann nur durch eine Außensicht versucht werden, die Geschehnisse, die schlussendlich zum Suizid und vorher zu ihrerAufnahme in eine psychiatrische Klinik führen, zu rekonstruieren. Man weiß zwar, dass es die Beziehung zu ihrem Mann ist, aber was genau daran nun die Ursache ist, bleibt offen bzw. muss selbst in ein System zusammengeführt werden. Gerade die Distanz schafft hier Nähe, nicht zum Subjekt, aber zur Problematik der Identitätsfindung. 24 Wie in Wieviel Liebe braucht der Mensch, wenngleich dort etwas weniger subtil, wird Erzählen als Vergewisserung und Fixierung funktionalisiert. Als Anlass wird zwar eine außergewöhnliche Situation inszeniert, über die es gilt, sich Klarheit zu verschaffen, allerdings ist diese Klarheit schon von vornherein gegeben. Nicht das Schreiben, das Erinnern ist es also, was Identität fördert, wie dies etwa in Leo Perutz St. Petri Schnee vorgeführt wird. Hier (re-)konstituiert sich das Ich gerade in der Erinnerung durch den Erzählakt, und zwar auf eine radikal-subjektivistische Weise, unter Ausblendung der Umwelt. Bei Kaschnitz passiert gerade das Gegenteil. 25 Cf. zu diesem Konzept Frank und Scherer und Palfreyman 2005 b. 306 Hans Krah (Passau) neutral formuliert solche der NS-Ideologie sind, zumindest diese vorbereiten oder stützen, lassen sich folgende Aspekte auswertend resümieren: Wie das obige Zitat zeigt, artikuliert und manifestiert sich eine zentrale neue Leitkategorie, die den Rahmen der propagierten Semantik vorgibt, einer Semantik, die sich durch Technik, Kultur und Kultivierung (der unfruchtbaren Natur), durch Ordnung, Bewegung und Fortschritt auszeichnet und sich abgrenzen will von dem, was als unfunktionale Unruhe und destruktive Bewegung ausgegeben wird. Diese neue Leitkategorie ist Einfachheit, die einem semantischen Feld um Komplexität, Differenzierung, Problematisierung gegenübergestellt wird und verspricht, als heilsbringende Lösung sämtlicher Probleme zu dienen. Insbesondere eine politische Diskussion um Fortschritt im Besonderen und damit letztlich über den Staat im Allgemeinen wird als destruktiv, als “ geistige[. . .] Überheblichkeit ” (ibid.: 182) gesetzt und als rein “ ästhetische[r] Gesichtspunkt[. . .] ” (ibid.: 182) abgewertet, da, so ist unterstellt, solches notwendigerweise nicht das Wesentliche der Allgemeinheit tangiert. Propagiert wird stattdessen ein Konzept von Leben, das einem solchen, als Elitarismus, Intellektualismus und Ästhetizismus verbrämtem Denken entgegengesetzt wird und als körperlich, weiblich, mütterlich und damit als wirklich und einzig lebensrelevant mystifiziert wird. 26 Ebenso wird versucht, eine Neujustierung dessen, was ein (männliches und weibliches) Ich auszeichnen darf, zu implementieren. Der Text ist also im Diskurs einer Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Kollektiv/ Gemeinschaft zu situieren. Im Text bleibt zwar das Ich zentral, aber er zeigt, wohin dies führt, zu führen hat, nämlich zur Gemeinschaft, und zwar als Ziel und Bedürfnis des Ich. Geht es zunächst noch um eine private, individuelle Geschichte, so geht diese in eine typische, verallgemeinerbare über. Für das weibliche Ich ergibt sich eine neue Rolle der Frau, die zwar zu alten Denkmustern zurückkehrt, diese aber als neu ausgibt. Dies wird zudem als selbstbestimmt vorgeführt. Die Funktion der selbstreflexiven Erzählsituation ist ja gerade auch, dass keine fremde Beeinflussung von außen entscheidend ist. Die rein subjektive Sicht heißt: Sie selbst bestimmt und reflektiert darüber, die Entscheidung ist demnach auch nicht zufällig-beliebig, sondern bewusst gefällt und damit selbst ein emanzipatorischer Akt. Diese Subjektivität geht gleichzeitig aber wieder auf in ein Paradigma, denn Silvia agiert als Frau, nicht als Person. Schließlich sind hierbei insbesondere die Kategorien eigen und fremd funktional, deren Verhältnis einer Neubestimmung zugeführt wird. Andreas ’ anfängliche Position: “ Er konnte nichts Großartiges daran finden, daß die Menschen ihre Eigenart preisgäben, um dem Staate zu dienen ” (ibid.: 90), wird als veraltet ausgewiesen. Denn gesetzt wird zum einen, dass das Fremde gar nicht so fremd ist und nur so erscheint, während es eigentlich 26 Einfachheit und ihre Derivate Eindeutigkeit und Klarheit erscheinen als die zentralen Denkkategorien, unter die alles übrige subsumierbar ist, und damit als Maßstab der Welt ( “ ein junger Mann mit einem einfachen, klaren Gesicht ” , Kaschnitz 1933: 230) und Zugang zu ihr: “ Ich hatte recht gehabt, es gab eine Gemeinschaft, die sich zusammengefunden hatte unter den eindeutigen und klaren Gedanken, den Zielen, die ich verstehen konnte und die allen Menschen gemäß waren ” (ibid.: 233). Einfachheit scheint ein Spezifikum der synthetischen Moderne (siehe Anm. 25) und für deren Denken grundlegend zu sein: Bis in die 1950er Jahre wird als Lösung kultureller Probleme nicht nur eine komplexitätsreduzierende Sicht auf Realitäten wie Wissen angeboten, sondern auch diese Vereinfachung statt als Abstraktionsprozess als natürlich gegeben und Rechtfertigung aus sich heraus gesetzt; cf. zu Einfachheit bezüglich der Popularisierung eines Spezialdiskurses Krah 2001: 93 f., 103, insbesondere Anm. 42 und 43. Von der ‘ narzisstischen ’ zur ‘ nazistischen ’ Identität 307 doch Spiegel des Eigenen ist ( “ Das fremde Leben war für mich nur ein Spiegelbild unseres eigenen Lebens ” , ibid.: 43; Kap. 3: “ Spiegelwelt ” ). Da dies damit korreliert, dass das eigene Selbst in einen größeren, eigentlich fremden Rahmen integriert ist, wird damit ein individueller Abgleich des Individuums hinsichtlich der Kategorien Selbstbild und Fremdbild obsolet. Diese scheinbare Aufhebung der Kategorien ‘ eigen vs. fremd ’ wird zum anderen aber dadurch ausgeglichen und stabilisiert, dass eine neue zentrale Grenze installiert wird. Alles das, was nicht sein soll, wird angelagert an ein wirklich Fremdes, das konstruiert wird, und hier, wie das Bild des Zuges verdeutlicht, ist keine Harmonie und Synthese vorgesehen oder wird als möglich erachtet, sondern hier bestimmt fundamentale Ausgrenzung das Denken. Die Vorstellung vom neuen Menschen, der hier als quasi notwendig für die neue Realität gesetzt wird, artikuliert sich zwar sprachlich: Andreas lebt, ich lebe. Aber die beiden Menschen, die die Stille der nächtlichen Wohnung immer wieder durchbrachen mit den Rufen ihrer glücklichen Unruhe, sind tot. Die Reise wurde Wirklichkeit, während das vorherige Leben versank. (Ibid.: 20). Das Konzept des neuen Menschen verbleibt dabei aber auf dieser metaphorischen Ebene. Insbesondere die Veränderung von Andreas wird letztlich nicht als wesensmäßig gesetzt, sondern mit dem Lebensalter korreliert ( “ Ich sah nicht ohne Wehmut, daß er wirklich ein Lebensalter überwunden hatte ” , ibid.: 261). Radikal erscheint dieses Denken nur insofern, als als Preis für die eigene Unzulänglichkeit das Kind als Pfand für die Synthese der Generationen zu fungieren hat: Ich dachte: Unser Leben geht weiter und vielleicht, wenngleich wir noch jung sind, können wir uns doch nicht mehr völlig wandeln. Aber Andreas[ ‘ ] Sohn wird in einer Gemeinschaft aufwachsen. Er wird ihr angehören (Ibid.: 261 f.). Für diese neuen Ideologeme wird also das Weg-Ziel-Selbstfindungs-Modell nicht als Konzept problematisiert, sondern als tragfähiges Modell benützt. Der Text operiert mit ihm, um semantisch dagegen zu opponieren. Was als neue Liebeskonzeption und Wert-/ Weltvorstellung als Ergebnis erscheint, ist wenig individuell: Emphatisches Leben ist nicht mehr emotionales, intensives Erleben des Einzelnen, sondern Integration in eine Kollektivgemeinschaft. Dabei wird aber vordergründig nicht mit einer Abkehr vom Gegebenen oder einem Bruch mit der Vergangenheit argumentiert, sondern das Ergebnis als harmonische Lösung, und in gewisser Weise als Synthese, postuliert. Vorgeführt wird die Bewahrung der Beziehung, zwar unter neuer ideologischer Ausrichtung und damit einem impliziten Bruch, dieser wird oberflächlich aber kaschiert. Ob die aufgezeigten Befunde wirklich in Kategorien des Unpolitischen oder des Psychologischen auch nur annähernd adäquat zu fassen sind, wenn es um wissenschaftliche oder auch nur wissenschaftsvermittelnde textanalytische Reflexion und Diskussion von Textstrukturen geht, ist mehr als zu bezweifeln. Insofern sind solche Setzungen selbst wieder nur Symptom eines spezifischen Denkens, das wissenschaftshistorisch zu rekonstruieren wäre. Nur in einem solchen Sinne sollten solche Forschungspositionen tradiert werden. Mit dem Modus des weiblichen, selbstreflexiven Schreibens partizipiert der Text zwar oberflächlich an modernen Paradigmen, ebenso wie durch das Aufgreifen von 308 Hans Krah (Passau) Trauminhalten scheinbar Unbewusstes und psychoanalytisch Relevantes integriert wird. Deshalb eine Geschichte aber als psychologisch motiviert zu bezeichnen dreht die Verhältnisse um. Diese Dimensionen fungieren nicht als Motivation, sondern werden maximal als Zeichen funktionalisiert. Bibliographie Berens-Totenohl, Josefa 1934: Der Femhof, Jena: Eugen Diederichs Verlag. Frank, Gustav und Rachel Palfreyman und Stefan Scherer (eds.) 2005 a: Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur 1925 - 1955, Bielefeld: Aisthesis. 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Veauthier (Mainz) While communication may seem to rely on verbal messages, words can become more than mere graphic signs. The subsequent analysis of contemporary US-American prose combining both mainstream American and Mexican-American cultural elements, shows on the one hand that language can carry a deeper meaning which only the cultural context will reveal. On the other hand, words can also conjure up images which may help to understand one ’ s reality or change it to create a new reality. The analysis of the Chicana novel So Far From God aims to prove the thesis that the author Ana Castillo uses language as an instrument of power, thus blurring the boundary between real and imagined, authentic and performed, verbal and visual worlds and the mental frames that go with it. 1 Sprachliche Inszenierung mentaler und kollektiver Bilder Sprachliche Äußerungen lassen sich zunächst als Kommunikationsangebot einordnen und im Sinne der Verständlichkeitsforschung auf Struktur und Sinngehalt untersuchen. In literarischen Texten erschließen sich bei näherer Betrachtung weitere Aspekte, die häufig erst im Zusammenhang mit einem ganzen Kulturraum ihre volle Bedeutung erkennen lassen. Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit zeitgenössischer US-amerikanischer Prosa, die die Lebenswelten von Latinos und Latinas darstellt. Dabei soll die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion, mit der eigenen Fiktionalität, mit Authentizität und Repräsentation herausgearbeitet werden. Als Primärwerk wurde Ana Castillos Roman So Far From God gewählt, der in seiner Vorgehensweise an die in antiken Texten häufig eingesetzten Ekphrasen erinnert, die zumeist ein nur in der textuellen Fiktion existierendes Kunstwerk beschreiben. Castillo verwendet inszenatorische Strategien, um mentale Bilder sprachlich zu evozieren und nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Identitätsmuster vor deutlichen Alteritätsfolien zu entwerfen. Die bikulturelle Verortung der Hauptfiguren scheint an den gewählten Bildern, den Handlungen und der sprachlichen Umsetzung auf und wird nur mit Hilfe des kulturellen Kontextes verständlich. Die Untersuchung soll aufzeigen, wie die medialen Wahrnehmungsmuster genutzt werden, um die Visualisierung und Verknüpfung von fiktiven mit fiktionalisierten historischen oder quasi-historischen Figuren als Schlüsselmetaphern einzusetzen. Diese Augenzeugenschaft dient zugleich als Authentisierungsformat. 1 Die Analyse geht von der These aus, dass die semiotischen Grenzen diffuser werden und mit der Vermischung von sprachlichen und bildlichen Elementen angedeutet wird, wie sich verbal eingebettetes Denken in einer immer stärker bildbestimmten Umgebung der Macht der Bilder zuneigt. Dabei bleibt die durch Bildlichkeit erzeugte Authentizität ein wichtiger Faktor, der den Bildern ihre Macht verleiht. 2 Ikonen der Populärkultur Am Beispiel von Ikonen der Populärkultur lässt sich herausarbeiten, wie in den untersuchten Prosatexten die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion, mit der eigenen Fiktionalität, mit Authentizität und Repräsentation dargestellt wird. Ana Castillos Roman So Far From God gewährt Einblicke in das Leben der Protagonistin Sofia, die mit ihren vier Töchtern Esperanza, Caridad, Fe und La Loca in dem kleinen Ort Tome in New Mexico lebt und in ihrem bikulturellen Umfeld verwurzelt ist. 2.1 Männlichkeitsideale und Beziehungskonzepte Die Hauptfigur Sofia spielt auf weithin verbreitete Männlichkeitsideale an, wenn sie sich an die ersten Begegnungen mit ihrem späteren Ehemann Domingo erinnert, der das Aussehen von gleich zwei großen Idolen in sich vereint, da er sowohl Clark Gable als auch Frank Sinatra ähnelt (cf. Castillo 1993: 104 - 106). Dieses Idealbild bleibt dabei nicht eindimensional und distanziert, wie es etwa die Abbildung von Ikonen wie Clark Gable oder Frank Sinatra auf Filmplakaten ist, sondern die in Sofias Lebenswelt zur Realität gewordenen Traumbilder üben eine spürbare Macht aus: “ There was a time when Domingo had only to look at Sofi and she would go to him, dissolving in his embrace like liquid gold ” (Castillo 1993: 110). Durch den Vergleich mit dem Edelmetall Gold, das erst bei Temperaturen über eintausend Grad Celsius zu schmelzen beginnt, wird die dramatische Wirkung spürbar, die von einem männlichen Idealbild ausgeht, das durch die bloße Nennung des Namens im Bewusstsein der Leserschaft heraufbeschworen wird. Zugleich verdeutlicht diese Erinnerung den nostalgischen Blick der Protagonistin auf ihr eigenes, durch die männliche Dominanz bestimmtes Leben und damit ebenso die idealisierte, verklärte Wahrnehmung des Gegenübers. Männliches Handeln und Sein erscheint deutlich überhöht, da es auf die Ebene der Ikone gehoben wird. Diese Idealisierung von Männlichkeit erfährt in So Far From God jedoch noch eine Steigerung. Die Protagonistin Sofia muss sich, als sie Domingo kennenlernt, zunächst auf die Schilderungen von Freunden verlassen, die das Idol Frank Sinatra beschreiben, seine Musik für sie abspielen und damit ein mentales Bild verbunden mit positiven Emotionen entwerfen. Sofias Eltern verhindern, dass sie mit Abbildungen des Originals oder den Kinofilmen in Berührung kommt, so dass ihr nur ihre innere Visualisierung zur Verfügung steht. Diese Gleichsetzung des eigenen Verehrers mit dem weithin idealisierten Star verinnerlicht Sofia so umfassend, dass ihr Akt der subversiven Resignifikation logisch und 1 Der Begriff der Authentisierung wird in diesem Beitrag durchgängig im Sinne einer Herstellung von Authentizität verwendet, so wie Bergmann (1998) es in seiner Untersuchung darlegt. 312 Ines E. Veauthier (Mainz) folgerichtig erscheint: “ Since once Sofi got to see what the gangly Frank Sinatra looked like she decided her querido looked more like what the singer should look like than what he actually did ” (Castillo 1993: 112). Domingo soll für die Protagonistin nicht nur einen blassen Abklatsch der Ikone darstellen, sondern wird im Gegenteil zu deren Verbesserung herangezogen. Das Bedürfnis, ein makelloses äußeres Erscheinungsbild zu erzielen, entspricht wiederum den gesamtgesellschaftlichen Tendenzen zur persönlichen Optimierung und perfekten Eigeninszenierung und verweist zugleich auf das Postulat der dominanten Populärkultur, nach dem der eigene Körper, etwa durch Sport, Ernährung und plastische Chirurgie, beliebig konstruierbar ist: Popular culture does not apply any brakes to these fantasies of rearrangement and selftransformation. Rather, we are constantly told that we can ‘ choose ’ our own bodies. [. . .] Of course, the rhetoric of choice and self-determination and the breezy analogies comparing cosmetic surgery to fashion accessorizing are deeply mystifying. They efface not only the inequalities of privilege, money, and time that prohibit most people from indulging in these practices, but also the desperation that characterizes the lives of those who do (Bordo 1997: 337). Die Kluft zwischen dem Anspruch und den Möglichkeiten zur Verwirklichung wird im Roman So Far From God beispielsweise daran erkennbar, dass die finanziellen Mittel der Protagonistin sehr begrenzt sind, sie den Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder mit der Arbeit in einer Metzgerei bestreiten muss und nur ein einziges Mal ein festliches Kleid kauft, um ihre Vorzüge herauszustreichen und sich selbst in Szene zu setzen (cf. Castillo 1993: 111 - 113). Die subversive Resignifikation wiederum beschränkt sich nicht auf eine idealisierte Männlichkeit, sondern dient auch dazu, den eigenen Lebensentwurf der Protagonistin erträglich zu machen. Nach etwa fünfzehn Jahren Ehe geht ihr Mann Domingo eigene Wege und lässt sie mit den vier gemeinsamen Töchtern alleine, so dass sie als “ la pobre Sofi ” allseits bedauert wird (Castillo 1993: 135). In ihrem Umfeld wird Sofia übereinstimmend als ‘ la abandonada Sofi ’ angesehen und sie selbst identifiziert sich auch mit dieser Bezeichnung, da sie von ihrem Mann verlassen wurde (cf. Castillo 1993: 134). Auch als Domingo nach zwanzig Jahren Abwesenheit ohne weitere Erklärung plötzlich zurückkehrt, bleibt Sofia ‘ La Abandonada ’ . Dieser Begriff des oder der Verlassenen besitzt im deutschen oder auch amerikanischen allgemeinen Sprachgebrauch keine besondere Bedeutung, doch ‘ la abandonada ’ ist im Roman bereits durch die Wahl der spanischen Sprache im mexikanischamerikanischen Kulturraum zu verorten. Entsprechend sind das mit dem Begriff verknüpfte Bild und die damit einhergehende emotionale Aufladung nur zu verstehen, wenn diese Facette der Chicanokultur etwas eingehender beleuchtet wird. El Abandonado ist der Titel und auch Teil einer Strophe aus einer bekannten Ballade der Vaqueros oder Charros. Vaqueros weisen Parallelen zum nordamerikanischen Cowboy auf. Sie sind auf die Arbeit mit Pferden spezialisiert und führen ihr Können bei Rodeos oder Charreadas vor. Bestimmte Aspekte dieser Figur werden hervorgehoben und idealisiert, erlangen im Lauf der Zeit nationale Bedeutung und bedienen die nostalgische Vorstellung von mexikanischer Männlichkeit: “ After the Mexican Revolution the charro image became a national symbol reinforced by literature, by becoming the national costume of mariachi (singing musicians) groups, and by a nationalism that evoked a romantic regional cultural Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 313 history of Mexico ” (Castro 2001: 51, Hervorh. im Original). Die Balladen der Vaqueros zeichnen melancholische Bilder von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, so auch in der Version von El Abandonado, die West anführt (1988: 130). Verlassen zu sein bedeutet hier den Verlust von Lebensfreude und Unbeschwertheit und somit eine Einschränkung der eigenen Persönlichkeit. Entsprechend bedeutet die Festlegung auf den Lebensentwurf ‘ La Abanonada ’ für Sofia einen gewissen Druck zur Rollenkonformität und eine eingeengte Eigeninszenierung. 2 Im Falle der Protagonistin stellt sich die Festlegung auf ein eingeschränktes, aber gesellschaftlich sanktioniertes Leben als ‘ La Abandonada ’ als eine subversive Inszenierung und damit auch zunächst bewusste Resignifikation heraus. Diese Zusammenhänge dienen als Anschauungsbeispiel des Inszenierungsbegriffs, wie er von Erika Fischer-Lichte definiert wird: Als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht wird - auf Prozesse, welche in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen “ (Fischer-Lichte 1998: 88). Als ein bedeutender Faktor ist hierbei anzusehen, dass möglicherweise verborgene positive Aspekte vorgegebener Leitbilder ins Gewicht fallen. Sie können auf Grund ihrer festen kulturellen Verankerung umfassende soziale Akzeptanz bieten, woraus wiederum folgt, dass eine unangepasste Lebensweise verbunden mit veränderten Leitbildern auf Ablehnung stößt und schlimmstenfalls soziale Ausgrenzung zur Folge hat. Nach den tradierten Vorstellungen, die für den Zeitraum der Romanhandlung Gültigkeit besitzen, erfährt eine mexikanisch-amerikanische Frau durch ihre Mutterschaft Akzeptanz in der Gesellschaft und sollte ihren Selbstwert an ihrer Stellung in der Familie ausrichten: “ A Chicana is usually devoted to the care and rearing of children, with tendencies towards overprotectiveness. More often than not she lives through the accomplishments of her sons and daughters ” (Solís 1977: 88). Während der jahrelangen Abwesenheit ihres Mannes verdrängt Sofia die Einzelheiten der Trennung und arrangiert sich mit ihrem neuen Selbstbild. Erst als Domingo wieder zurückkehrt, nach einiger Zeit in seine alten Gewohnheiten verfällt und sogar das gemeinsame Haus verspielt, erinnert sie sich genauer daran, dass seine zunehmende Spielsucht zwanzig Jahre zuvor der eigentlicheTrennungsgrund gewesen war: [H]ow back in those early days Domingo was little by little betting away the land she had inherited from her father, and finally she couldn ’ t take no more and gave him his walking papers. Just like that, she said, “ Go, hombre, before you leave us all out on the street! ” Yes! It had been Sofia who had made Domingo leave. Believe it or not, comadre. But for twenty years, everyone (starting with Sofia herself ) had forgotten that one little detail, calling her la “ Pobre Sofi ” y la “ Abandonada ” (Castillo 1993: 214 - 215). Für Sofia entsteht eine eigene Wirklichkeitsform, in der die Trennung von Elementen der Realität und der Fiktion nebensächlich wird. Bereits Nietzsche stellte die Objektivität und eindeutige Wahrnehmbarkeit von Realität grundlegend in Frage: 2 Wie wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, geht mit diesen Zusammenhängen unweigerlich eine psychische und physische Belastung einher (cf. Andersen 1988: 77). 314 Ines E. Veauthier (Mainz) Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, daß es einen wesenhaften Gegensatz von “ wahr ” und “ falsch ” gibt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesamttöne des Scheins - verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht - nicht eine Fiktion sein? (1984: 46). Mit seiner Frage zweifelt Nietzsche die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung an. In ähnlicher Weise erscheint für die Protagonistin in So Far From God nicht die Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Einbildung lebenswichtig, sondern eine Form der authentischen Lebenswirklichkeit, die die äußeren Umstände erträglich macht. Die Gründe für Sofias Auslegung der Wahrheit sind wiederum in ihrem Umfeld und ihrer Sozialisation zu finden. Die Chicanokultur zeichnet sich insbesondere durch ihren Synkretismus und den sogenannten folk Catholicism aus. Historisch lassen sich diese Strömungen überwiegend zurückführen auf das vorkoloniale aztekische Weltbild und dessen Vermischung sowohl mit den katholischen Glaubenslehren der Missionare und spanischen Conquistadores, die ab dem 16. Jahrhundert das Leben im Gebiet des heutigen Mexiko bestimmten, als auch mit den Formen des Aberglaubens, die zugleich mit den Glaubensformen aus Kastilien eingeführt wurden. 3 Unter Chicanos findet sich die Tendenz, Traditionen zu achten und der älteren Generation Respekt entgegenzubringen. Entsprechend kommt der Einhaltung gesellschaftlicher Sitten und Gebräuche und religiöser Vorschriften besonders in festgefügten Gemeinschaften ein hoher Stellenwert zu. Sich scheiden zu lassen widerspricht für die Protagonistin von Castillos Roman nicht nur der katholischen Lehre, sondern würde das Verhältnis zu ihrer Mutter zerstören. Daher sieht Sofia zu Lebzeiten der Mutter die heimliche Trennung von Domingo und damit die Schaffung einer neuen Lebenswirklichkeit für sich selbst als einzigen Weg an, in ihrer Umgebung akzeptiert zu bleiben. Zwanzig Jahre zuvor, als Sofia eine Entscheidung treffen musste, hätte das Zulassen einer anderen Realität zur Folge gehabt, dass der jungen Frau die Position einer klaren Alterität zugewiesen worden wäre: But back then, to be excommunicated was more fearful to Sofia than the thought of destitution; not to mention that her mother was still alive then, and her mother had been like the Church ’ s conscience incarnated to her daughter. If anything ever brought the fear of God to Sofi even more than the thought of being excommunicated it was her mother ’ s disapproval, so divorce had been out of the question (Castillo 1993: 218). Trotz ihres starken Willens und ihrer eigenständigen Denkweise schreckt die Protagonistin vor einer alteritären Lebensgestaltung zurück. So entsteht durch ihre Inszenierungen eine Dynamik zwischen den konkurrierenden Bildern von idealer Männlichkeit und Weiblichkeit und den Bedingungen und Wirkungen von Identitätsrestriktionen. 2.2 Einflüsse von Werbung und Medien Die aufgezeigten Darstellungen idealisierter Bilder der traditionsgeleiteten und der populären Kultur illustrieren auch den großen Einfluss, den Werbung und Medien ausüben. Ana Castillos Roman So Far From God entspricht durch seine Inszenierungen den Konventionen einer im mexikanisch-amerikanischen Kulturraum angesiedelten Seifen- 3 Umfassende Ausführungen zu diesen Zusammenhängen finden sich u. a. bei Baumgartner 1971, Briesemeister und Zimmermann 1996, Nebel 1992 und Rodriguez 1994. Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 315 oper, was im Klappentext des Romans als Chicana telenovela bezeichnet wird. Dieses Genre entwickelte sich aus europäischen Traditionen der Fortsetzungsgeschichten im 19. Jahrhundert und ist überwiegend als Serie im Fernsehen anzutreffen. 4 Das Fernsehen wiederum wird durch seine Darstellung der Welt als Metapher einer ganzen Kultur angesehen. Besonders deutlich erscheint der Kontrast zwischen den Medien Fernsehen und Buch, die als Wort oder Bild jeweils ganz eigene, prägende Spuren im geistigen Leben hinterlassen: “ Das ist der Unterschied zwischen dem Denken in einer wortbestimmten und in einer bildbestimmten Kultur ” (Postman 1988: 80). Der Roman So Far From God entspricht zwar äußerlich den Kriterien des wortbestimmten Denkens, aber er neigt sich durch die bild- und emotionsfokussierte Inszenierung dem anderen Ende des Spektrums zu. 3 Bildgewalt - Ekphrasis - Schlüsselmetaphern Ana Castillo präsentiert ihren Roman ohne jegliche Abbildungen, Illustrationen, Diagramme oder Fotos, und doch gelingt es ihr, den Leserinnen und Lesern Bilder zu übermitteln. Mit ausschließlich sprachlichen Mitteln kreiert die Autorin mentale Welten, die sehr bildgewaltig sind und an die in der Antike häufig eingesetzte Technik der Ekphrase erinnern. Der Begriff der Ekphrasis bezeichnet eine sehr anschauliche und daher eindringliche Erzählform, die Zeugnis “ von der Bildkraft der Sprache ” ablegt (Boehm 2014: 15). Auch die Macht aufgrund des Wahrheitsanspruchs einer ekphrastischen Darstellung besitzt eine lange Tradition (cf. Brinker-von der Heyde 2009: 219 - 246). 3.1 La Malogra Die Wirkmacht einiger Bilder ist in So Far From God etwa an ihrer geballten Kraft zu erkennen. Caridad, die zweitälteste Tochter der Protagonistin, wird Opfer eines Überfalls, der durch seine Brutalität und Rohheit menschliches Vorstellungsvermögen schier übersteigt (cf. Castillo 1993: 33). Es findet geradezu eine Negation des Menschlichen statt, die an den Wunden und Verstümmelungen des Opfers zu erkennen ist. Damit entsteht eine sekundäre Sichtbarkeit des Täters, für den als Erklärungsansatz eine übernatürliche Macht, La Malogra, angenommen wird: And they three knew that it wasn ’ t a man with a face and a name who had attacked and left Caridad mangled like a run-down rabbit. [. . .] It was not a stray and desperate coyote either, but a thing, both tangible and amorphous. A thing that might be described as made of sharp metal and splintered wood, of limestone, gold, and brittle parchment. It held the weight of a continent and was indelible as ink, centuries old and yet as strong as a young wolf. It had no shape and was darker than the dark night, and mostly, as Caridad would never forget, it was pure force (Castillo 1993: 77). Diese Beschreibung wiederum entspricht dem Phänomen La Malogra, dessen Bild in das kollektive Weltverständnis von Chicanos und Chicanas eingebettet ist und nur unter Berücksichtigung der kulturellen Wurzeln verständlich ist. So wird La Malogra beispielsweise in folkloristischen Erzählungen aus New Mexico folgendermaßen visualisiert: “ [An] 4 Ausführliche Untersuchungen dieser Zusammenhänge bieten beispielsweise Grafs Literary Translations: Telenovelas in Contemporary Chicana Literature (2011) sowie der Sammelband Soap Operas and Telenovelas in the Digital Age: Global Industries and New Audiences (Ríos und Castañeda 2011). 316 Ines E. Veauthier (Mainz) evil spirit which wanders about in the darkness of the night at the crossroads. It terrorizes the unfortunate ones who wander alone at night, it has usually the form of a large lock of wool ” (Cobos 1983: 104). Caridads jüngste Schwester sieht genau diese Materialisierung von La Malogra in einer Traumvision, “ the shape of sheep ’ s wool, large, voluminous, not in animal form but something just evil ” (Castillo 1993: 78). Die Gefühle von Ohnmacht bei dem Anblick einer derartigen Schreckgestalt, ob in einer selbst erlebten Begegnung oder indirekt durch die heraufbeschworenen Bilder, werden durch die kulturellen Erklärungsmuster so stark rationalisiert, dass sie einen Teil ihres Schreckens verlieren. In der mexikanischamerikanischen Tradition sind diese Bilder und Erfahrungsberichte fest verankert und sollen eine belehrende Funktion übernehmen. Mit Hilfe von gruseligen und angsteinflößenden Szenarien sollen vor allem Kinder Gehorsam gegenüber ihren Eltern verinnerlichen. Je nach Region variieren die Einzelheiten der Phänomene, deren übereinstimmende Funktionen darin bestehen, Kinder zu beschützen, von Gefahren fernzuhalten und sie zu Hygiene und Disziplin zu erziehen (cf. Torres 2009: 75 - 77). 3.2 La Llorona - La Malinche Eine solche doppelte, zugleich sozialisierende und beschützende Funktion findet sich in der Chicanokultur ebenfalls in der Legende von La Llorona. Die Erzählungen zur Figur La Llorona sind noch bekannter als die zu La Malogra und in weitaus mehr Varianten anzutreffen. Zumeist wird diese Frauengestalt mit der historisch belegten Figur La Malinche verbunden, die im Zusammenhang mit der Conquista steht und in der traditionellen Sichtweise als Verräterin angesehen wird. Neuere Lesarten hingegen zollen La Malinche Respekt für ihre Friedens- und Vermittlungsbemühungen. 5 Unabhängig davon, ob La Malinche und La Llorona als unterschiedliche Figuren oder als identisch gesehen werden, bleibt die moralische Einordnung die gleiche. Ebensowenig ändern die Abweichungen der regionalen Varianten die Botschaft der beharrlichen Abgrenzung gegen diese mythischen Gestalten, wodurch die Ablehnung unerwünschter Weiblichkeit offengelegt wird. Die historischen Belege zu La Malinche dienen im allgemeinen Diskurs als Untermauerung des Wahrheitsanspruchs der Aussagen und damit einerseits als Rechtfertigung von Ausgrenzungsakten. Andererseits wird eben durch die Nachweisführung mit Hilfe geschichtlicher Fakten die Zuschreibung von Alteritätspositionen zu weiblichen Lebensentwürfen als essenziell festgelegt. Damit wirken diese Zusammenhänge nicht mehr nur auf vergangene, sondern gleichermaßen auf gegenwärtige Identitäten. Die Historizität der Figur La Malinche wird als gleichbedeutend mit der Augenzeugenschaft angesehen, wodurch ein klares Authentisierungsformat und damit die Legitimation für entsprechende Handlungen geschaffen wird. Eine wissenschaftliche Hinterfragung der Legitimation setzt etwa bei der Ausgangssituation von La Malinche an. Sie wurde dem Conquistador Hernán Cortés, der im 16. Jahrhundert im Auftrag der spanischen Krone das aztekische Reich eroberte, als Geschenk übergeben und war damit nach der damals gültigen Gesellschaftsordnung gezwungen, sich seinem Willen unterzuordnen. Diese Unterordnung wird ihr jedoch als 5 Ausführlichere Untersuchungen zu den Mythen, ihren historischen Bezügen und ihrem Stellenwert im gegenwärtigen Alltag von Chicanos bieten u. a. Gish 1996, Candelaria 1980 und West 1988). Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 317 Verrat vorgeworfen. Die einseitige Schuldzuweisung und Sündenbockfunktion wird auf vielen Ebenen perpetuiert, wobei es auch seit geraumer Zeit Studien dazu gibt, dass literarische Werke und ihre Autoren eine Mitverantwortung tragen: “ Octavio Paz, Samuel Ramos, Carlos Fuentes and many other writers, both Mexican and foreign, have made this one woman, Doña Marina (La Malinche) the symbolic object of all their negative feelings about the conquest and Mestisaje ” (Cotera 1976: 32). Wenn wissenschaftliche Quellen fehlen oder nicht bekannt sind, stehen dennoch subversive Strategien zur Verfügung, um sich gegen die Bildgewalt zur Wehr zu setzen. Die Protagonistin Sofia ist deutlich von ihrer bikulturellen Verortung geprägt und betrachtet etwa übernatürliche, amorphe und damit geschlechtslose Schreckgestalten wie La Malogra als unvermeidlichen Teil ihres Alltags. Eine alteritäre Frauenfigur wie La Llorona dagegen will sie nicht als Bild in den Köpfen und Herzen ihrer Töchter verankern. Sofias Weg, die gesellschaftliche Ächtung nicht nur dieser legendenumwobenen, sondern damit jeder real existierenden Frau zu unterwandern, ist die konsequente bildliche und sprachliche Ausblendung von La Llorona: La Llorona was a bad woman who had left her husband and home, drowned her babies to run off and have a sinful life, and God punished her for eternity, and she refused to repeat this nightmare to her daughters. Sofia had not left her children, much less drowned them to run off with nobody. On the contrary, she had been left to raise them by herself. And all her life, there had always been at least one woman around like her, left alone, abandoned, divorced, or widowed, to raise her children, and none of them had ever tried to kill their babies (Castillo 1993: 161). Die positiven Gegenbeispiele aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit bestärken die Protagonistin darin, die Legende und ihren Wahrheitsanspruch anzuzweifeln. Indem Sofia die Bilder und das damit verbundene Gedankengut ausblendet, durchbricht sie die Traditionen ihrer Kultur und entzieht daher sowohl den Bildern als auch den Kulturträgern die Macht, mit der sie weibliche Konformität erzwingen wollen. Bezogen auf beide im Kontext des Romans So Far From God untersuchten Beispiele der Bildgewalt, La Malogra und La Llorona, lässt sich resümieren, dass es der Protagonistin gelingt, mediale Wahrnehmungsmuster in ihrem Sinne zu nutzen, um die Visualisierung und Verknüpfung von fiktiven mit fiktionalisierten historischen oder quasi-historischen Figuren als Schlüsselmetaphern einzusetzen. Durch die Verbildlichung ebenso wie durch die Verweigerung einer Visualisierung lässt sich Handlungsraum für den konkreten Lebensalltag der vorgestellten literarischen Figuren schaffen. 4 Authentisierung und Performativität Eine genaue Abgrenzung von wahrhaftigen Begebenheiten, Erlebnissen und Gefühlen gegen nur als solche ausgegebene zu ziehen liegt oftmals im Auge des Betrachters. Ähnlich verhält es sich mit der Visualisierung im Zusammenhang mit Bildbeschreibung. Die Argumentationskette ‘ Cogito, ergo sum ’ ließe sich entsprechend ummünzen in ‘ Video, ergo sum ’ oder ‘ Ich habe es erlebt, also ist es wahr ’ . Die Objektivierbarkeit und eindeutige Wahrnehmbarkeit von Realität lässt zurückerinnern an Nietzsches Ausführungen zu den Stufen der Scheinbarkeit oder valeurs. Dies wirft die Frage auf, was letztlich das Maß sein 318 Ines E. Veauthier (Mainz) soll, an dem der Sinn des Lebens auszurichten ist oder wessen Erinnerung letztlich den Anspruch auf Wahrheit erheben darf: “ Why this obsession with identity and difference, much of which involves a preoccupation with cultural traditions and cultures of memory, in other words: with versions of the past? ” (Sielke 2011: 294). Die objektive Wahrheit mag je nach Situation schwer festzulegen sein. Was jedoch erkennbar an Tragweite gewinnt, sind die Auswirkungen von bedeutungstragenden Bildern: die Anziehungskraft eines Menschen aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Ikonen der Populärkultur, die Verringerung von Ohnmachtsgefühlen durch die Rationalisierbarkeit der Gewalt, indem die Geschehnisse in kulturell vorgegebene und abgesegnete Muster passen. Solche kulturellen Vorgaben und Konventionen zu durchbrechen und zu einer neuen Realitäts- und Eigenwahrnehmung zu gelangen, ist ein wichtiger und schwieriger Schritt. Für die Protagonistin Sofia ist dies, wie zuvor analysiert, die Erkenntnis, dass sie nicht mehr das Bild von La Abandonada verkörpern muss. Hier erfolgt eine Befreiung von “ ikonoklastischen Bilder[n], die andere Bilder überlagern oder gar im wörtlichen Sinn beschreiben, indem sie sie überschreiben ” (Nöth 2009: 57, Hervorh. im Original). Die Loslösung von solchen Zwängen ist wiederum nicht nur ein individueller Akt, sondern bewirkt auch eine kollektive Entwicklung zu mehr Selbstbestimmung: “ Following this route they become women who transgress all borders, the re-conquistadoras of their cultura ” (Zygad ł o 2007: 105, Hervorh. im Original). Allerdings veranschaulicht diese über viele Jahre beibehaltene Lebensgestaltung auch eine extreme Form der Performativität. Die literarische Figur Sofia macht sich alle Aspekte von La Abandonada zu eigen und vollbringt damit einen jahrelangen, tagtäglich gelebten künstlerischen Akt oder performance art, um glaubhaft und authentisch zu sein (Mechelen 2006: 127 - 128). Zugleich bieten die gleichsam abgesegneten Identitätsentwürfe eine Schutzfunktion innerhalb der Chicanokultur. Damit einher geht eine Balance zwischen Authentizität und Performativität. 4.1 Glaube - Phantasie - Selbstreflexion Im Zusammenhang mit der gelungenen Befreiung der Protagonistin von den bisherigen Selbst- und Fremdbildern steht auch ihre Entscheidung, als Bürgermeisterin oder “ la Mayor of Tome ” Verantwortung für die Dorfgemeinschaft zu übernehmen, wobei sie sich “ community improvement ” als Ziel vorgibt (Castillo 1993: 130, 138). Indem sie sich selbst vor ihrem inneren Auge als Bürgermeisterin sehen kann, visualisiert Sofia nicht nur ihren individuellen Lebensentwurf, sondern auch die kollektive Entwicklung ihrer Schicksalsgemeinschaft in der GemeindeTome. Eine Freundin zweifelt Sofias Ambitionen an und wirft ihr vor, zuviel Phantasie zu besitzen. Diese Reaktion entspricht der althergebrachten Haltung ihres Kulturkreises, verweist jedoch gleichzeitig auf den Konflikt, der sich durch die gegenläufigen gesamtgesellschaftlichen Werte ergibt: In my culture, selfishness is condemned, especially in women; [. . .]. If you get above yourself, you ’ re an envidiosa. If you don ’ t behave like everyone else, la gente will say that you think you ’ re better than others, que te crees grande. With ambition (condemned in the Mexican culture and valued in the Anglo) comes envy (Anzaldúa 1987: 18, Hervorh. im Original). Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 319 Dem Vorwurf ihrer Freundin begegnet die Protagonistin, indem sie ihr Lebensgeheimnis verrät. Es ist ihr Glaube, der ihr immer wieder weitergeholfen hat: “‘ It ’ s not ‘ imagination ’ that I ’ ve always had, comadre, it ’ s faith! Faith has kept me going, ’ Sofi said [. . .] ” (Castillo 1993: 138, Hervorh. im Original). Sofias selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion, darunter auch der Schaffung einer Fiktion als Realität, ähnelt bekannten Slogans im Stil des Spruchs “ If you can dream it, you can do it ” , der Walt Disney zugeschrieben wird. Im Lebensentwurf der Protagonistin von So Far From God vermischen sich die Ebenen von Authentizität und Performativität, was auch auf den Faktor Glauben zutrifft, den sie selbst als ihre Hauptantriebsfeder bezeichnet. Als Beleg für das Verschwimmen der Ebenen kann auch die Namensgebung der Hauptfiguren im Roman angeführt werden. Zwar ist der ursprüngliche Vorname der jüngsten Tochter so vollständig aus dem Alltagsgebrauch verschwunden, dass sie nur noch unter einem Spitznamen bekannt ist (cf. Castillo 1993: 25). Die Namen der drei älteren Töchter werden aber häufig genannt und lauten Esperanza, Fe und Caridad. Die Bedeutungen der Namen stellen gewissermaßen ein Lebensprogramm dar, da sie die drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe verkörpern, die vornehmlich aus dem 1. Korintherbrief des biblischen Textes bekannt sind. Glaube, Hoffnung und Liebe sind hier personifiziert und stellen daher gelebte und lebendige Sprache dar, die “ selbstreferentiell [ist], insofern sie das bedeute[t], was sie tut[t], und sie [ist] wirklichkeitskonstituierend, indem sie die sozialeWirklichkeit herstell[t], von der sie sprich[t] ” (Fischer-Lichte 2004: 32). Jede von Sofias Töchtern wächst in ihren jeweiligen Namen hinein und erleidet ein Martyrium, das ihr Leben im Diesseits beendet. Ihre Präsenz wird jedoch auch nach dem Tod noch als deutlich spürbar beschrieben, wodurch sowohl Realität und Fiktion als auch Performativität und physische Authentisierung unterwandert werden. 4.2 Beglaubigung des Erzählten durch die Erzählerstimme Als letzter Aspekt des Authentisierungsformats soll die im Roman verwendete Erzählstimme angeführt werden. Die erzählende Person wird nirgends benannt oder angesprochen, so dass ungeklärt bleibt, ob es sich um einen Mann oder eine Frau, um jemanden aus der Verwandtschaft der Protagonistin oder aus dem Freundeskreis handelt. Deutlich wird jedoch zum einen, dass der oder die Erzählende aus nächster Nähe berichtet. Das wird an vielen kleinen, scheinbar belanglos hingeworfenen Bemerkungen offenbar, etwa “ Sofi seemed a little absentminded about things like that lately, you know? ” (Castillo 1993: 131). Auch beschränkt sich das Insiderwissen nicht auf Sofia und ihre Familie, so dass noch viele weitere Geschichten enthüllt werden könnten: “ But how Loretta came upon this ancient wisdom is another secret, and yet another story ” (Castillo 1993: 193). Zum anderen ist die Erzählstimme darauf bedacht, das Publikum immer wieder in das Geschehen hineinzuziehen. Auch dazu werden Bemerkungen wie in einem persönlichen Gespräch eingeflochten, beispielsweise “ you could bet ” (Castillo 1993: 27) oder “ Doña Felicia will tell you ” (Castillo 1993: 59). Gleichermaßen verweist die erzählende Figur von Zeit zu Zeit darauf, dass ihr die unterschiedlichen Perspektiven bewusst sind. So lässt sie Kritik an Fes Brautjungfernwahl einfließen, “ the three gabachas (my term, not Fe ’ s) she had chosen from the bank as her bridesmaids, instead of her sisters ” (Castillo 1993: 29) oder die eigene Berichterstattung wird nachkorrigiert “ But then I shouldn ’ t have said that no one 320 Ines E. Veauthier (Mainz) saw her ” (Castillo 1993: 81) oder “ I will do my best from here on to keep this story to the telling of the events of that day ” (Castillo 1993: 124). An anderer Stelle wird der eigene Auftrag klar formuliert “ one final rumor I would like to dispense with ” (Castillo 1993: 251). Durch die Strategie der Einweihung der Lesenden werden sie selbst zu Insidern und damit zu einem Teil der Handlung: “ Loca would not say a third of an inch, of course, but for our purposes here, I am adding specific measurements myself ” (Castillo 1993: 167). Entsprechend kann die Erzählstimme einen klaren Dialog anstoßen: “ But, you and I both know ” (Castillo 1993: 219), womit sie verdeutlicht, davon auszugehen, dass der Gesprächspartner mit ihrer Haltung übereinstimmt. Die potenzielle Metalepse durch die Fiktion der Leseransprache wird hier eingesetzt, um den Ebenenwechsel zwischen verschiedenen diegetischen Welten zu vollziehen. Er bewirkt damit zugleich die Authentisierung der Geschichte. 6 Ana Castillo nutzt hier Strategien ähnlich wie in einem Interview, bei dem die Zitate in ihrem direkten Wortlaut eine Art lebendiger Begegnung mit der befragten Person anbieten. Daher gehören nach dem Verständnis von Journalisten Authentizität und Spontaneität zu den wesentlichen Charakteristika von Interviews (Döhring 2010: 6). Allerdings wird das Interview von kritischen Stimmen als Kunstprodukt bezeichnet, das immer der Gefahr einer Verfälschung des Originals unterliegt (Schneider und Raue 1999: 71, 75), was der suggestiven Vorgehensweise der Erzählstimme in So Far From God entspricht. Die Einbindung der Lesenden suggeriert, dass das Gegenüber wahrgenommen wird, dass ein Dialog stattfindet und entsprechend die Handlung wiederum an Wahrheitsgehalt gewinnt. Die damit erreichte “ Augenzeugenschaft ” dient als Authentisierungsformat, weist allerdings auch manipulative Züge auf: “ The mass media act like communication technologies of the past, including writing, art and architecture, in having to construct communication exchanges that bind distant participants into an effective community, so that they can be subject to effects of power ” (Hodge and Kress 1988: 46). Mit Hilfe dieser Strategien kann derjenige, der den geschriebenen Text des Buches liest, zugleich mithören und mitsehen, was die Erzählstimme mitteilt, und wird zudem in das Geschehen mit einbezogen. Damit verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen außen und innen, zwischen aktiv und passiv, zwischen sehen, hören und erleben. 5 Mentale Bilder - kulturelle Kontexte Castillo nutzt in ihrem Roman So Far From God Inszenierungen, um mentale Bilder zu kreieren. Dazu verwendet sie eine Sprache, die durch die Vermischung von Englisch und Spanisch im Tex-Mex-Stil geprägt ist. Der Roman stellt individuelle Lebensentwürfe ebenso vor wie kollektive Vorgaben in Verbindung mit den kulturell verankerten Alteritäten. Ein tieferes Verständnis dieser Zusammenhänge erschließt sich nur unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes. Im Roman erfolgt die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Realität und Fiktion und deren Inszenierbarkeit. Die untersuchten Formen der Inszenierung zeigen die Auseinandersetzung zwischen akzeptierten und gesellschaftlich mit Abwertung verbundenen Per- 6 Zur Metalepse in modernen Medien s. a. Thoss 2015 und Häsner 2001. Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder 321 sönlichkeitsgestaltungen. In Verbindung damit steht die Analyse der dynamischen Interaktion zwischen Identitäts- und Alteritätskonstruktionen, wie sie durch die Abgrenzung zu abgelehnten Identitäten besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Es werden verschiedene Strategien aufgezeigt, die zurAuthentisierung von Personen und Begebenheiten dienen. Hierbei wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Wort und Bild ebenso verschwimmen wie diejenigen zwischen Bewertungskategorien wie Innen- oder Außenperspektive, aktiver oder passiver Publikumseinbindung, der Wahrnehmung und Bewertung durch bestimmte Sinneskanäle. Damit wird die These bestätigt, dass in dem untersuchten US-amerikanischen Prosawerk die semiotischen Grenzen unschärfer werden und sich das verbal definierte Denken durch immer stärkere Bildpräsenz auf die Macht der Bilder und die damit verknüpften mentalen Strukturen hinbewegt. Bibliographie Altnöder, Sonja et al. (eds.) 2011: Identität in den Kulturwissenschaften. Perspektiven und Fallstudien zu Identitäts- und Alteritätsdiskursen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag (= Giessen contributions to the study of culture 5). Andersen, Margaret L. 2 1988: Thinking about women. Sociological perspectives on sex and gender. New York: Macmillan. Anzaldúa, Gloria 1987: Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute. 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Veauthier (Mainz) K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Medialität der Literatur Textbegriff, Intertextualität, Intermedialität, Hypertextualität, Digitale Poesie Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) The paper reflects the mediality of literary texts, serving as a terminological foundation for the analysis of aesthetic objects of whatever medium. After reconstructing the notions of ‘ text ’ in language and literature (in textual linguistics, literary theory, intertextuality), it looks at its use in media theory (intermediality, hypertextuality), and summarizes the historical development of the notion of ‘ hypertext ’ as a prerequisite for the analysis of Hyperfiction as well as the structural and aesthetic implications of Digital Poetry (net literature, cyberfiction etc.). Nach einem kurzen Rückblick auf die Forschungsgeschichte der Reflexion auf die Medialität des (literarischen) Textes versichert sich der Beitrag zunächst des begrifflichen Fundamentes, indem er die Textbegriffe der Sprach- und Literaturwissenschaft rekonstruiert (Textlinguistik, Literaturtheorie, Intertextualitätstheorie), dann ihren Gebrauch in den Medien(text)wissenschaften betrachtet (Intermedialität, Hypertextualität) und - als Voraussetzung von Hyperfiction - die Entwicklung des Hypertext-Konzeptes in genetischer, struktureller und ästhetischer Perspektive nachzeichnet. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf Ansätze der Digitalen Poesie (Netzliteratur, Hyperfiction, Cyberfiction). Textbegriffe, Intertextualität, Intermedialität, Hypertextualität, Digitale Poesie, Netzliteratur, Hyperfiction, Cyberfiction 1 Sprache - das Medium der Literatur. Zur Entwicklung der Fragestellung Konzepte und Aspekte der Medialität sind Gegenstand zahlreicher Disziplinen, darunter z. B. Sprach-, Literatur-, Text-, Medien-, Kommunikations-, Kultur-, Zeichen-, Technik-, Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Hess-Lüttich 1981: 289 - 318). 1 Die Literatur ist mittlerweile freilich unüberschaubar geworden, was heute einen transdisziplinär- 1 Eine gekürzte Fassung des folgenden Beitrags erscheint unter dem Titel “ Medialität ” als Handbucheintrag in Anne Betten, Ulla Fix & Berbeli Wanning (eds.) 2017: Handbuch Sprache in der Literatur (= Handbücher Sprachwissen 17), Berlin / Boston: de Gruyter, 272 - 289. - Gemäß altrömischem Rechtsgrundsatz ( “ Pronuntiatur sermonis in sexu masculino ad utrum sexum plerumque porrigatur ” ) und in vager Erinnerung an holistischen Zugang zum Thema erschwert. Ein möglicher Ausweg wäre ein metatheoretischer Ansatz zur Reflexion auf Medialität im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Medien (Genz & Gévaudan 2016) oder einer zeichen- und kulturwissenschaftlichen Fundierung medialer Kommunikation (Hess-Lüttich 2016). Über die semiotische Explikation des Begriffs wäre vielleicht noch eine Einigung zu erzielen, denn er zielt (i. d. R.) auf die Übermittlung von Zeichen in Zeichenprozessen (Semiosen) zum Zwecke der Verständigung über Inhalte oder Sachverhalte (Dialogizitätsprinzip). Aber schon die Pluralität der Medienbegriffe wirft Fragen danach auf, wie ihr Verhältnis zur Codierung der Zeichenensembles und zu Kanälen ihrer Übertragung zu bestimmen ist und welche Sinnesmodalitäten dabei involviert sind, inwiefern und inwieweit (Multi-)Medialität Codevielfalt impliziert oder nicht, ob es medieninvariante bzw. kanalinvariante Codes gibt oder nicht, wie plurimediale Semiosen klassifizierbar und typologisierbar sind und wie sie von unimedialen abzugrenzen wären, sofern es solche im strengen Sinne überhaupt gibt (Hess-Lüttich 2004). Das Ambivalenz-Problem aspektheterogener Basisbegriffe wie solchen der Medialität und des Mediums kann man schematisch lösen, indem man die Bedeutung nach Kriterien der Materialität und Codierung einerseits, der Konventionalität und Individualität andererseits heuristisch aufspaltet und auf diese Weise zu vier Medienbegriffen gelangt (Genz & Gévaudan 2016: 19), was aber nicht automatisch ihre empirische Bewährung in der konkreten Analyse garantiert. Für Leser eines Handbuchs zur Sprache in der Literatur bietet sich daher statt des theoretisch-systematischen eher ein wissenschaftshistorischer Zugang an, der die Entwicklung und Ausdifferenzierung des Interesses an Medialität nachzuzeichnen und es für die Betrachtung medialer Aspekte von Literarizität (am Beispiel aktueller Phänomene etwa digitaler Poesie) fruchtbar zu machen strebt. - Das Medium der Literatur ist Sprache. Sprache manifestiert sich in Texten. Texte sind Gegenstand der Textwissenschaften (Wagner 2016; van Dijk 1980). Sie definieren den Text strukturell als Superzeichen, kulturell als Organisationsform sozialer Erfahrung, funktional als Gemeinschaftshandlung zum Zwecke der Verständigung (Hess-Lüttich 2016). Im Zentrum steht die Beschreibung des Sprachgebrauchs, seiner Strukturen, Varietäten und Entwicklungen, in kulturellen, ästhetischen, fachlichen Kontexten, in Gruppen, Medien, Institutionen, in Literatur, Film und anderen Künsten. Solcher prima facie einfacher Festlegungen gilt es sich in Zeiten erneut vergewissern, in denen der Umfang des Gegenstands strittig ist ( ‘ Entgrenzung ’ versus ‘ Re-Philologisierung ’ ), in denen das institutionalisierte Gespräch zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft abzubrechen droht und Textwissenschaften als ‘ Medienkulturwissenschaften ’ neu konzipiert und zugeschnitten werden (cf. Schmidt 1996; Liebrand et al. eds. 2005). Diese Entwicklung hatte einen längeren Vorlauf, der im Rahmen eines kurzen Kapitels nur stichwortartig in Erinnerung gerufen werden kann. Nachdem Norbert Wiener (1964! ) das “ Zeitalter der Nachrichtentechnik ” ausgerufen hatte, begannen Literarhistoriker über einen Paradigmenwechsel in ihrem Fach nachzudenken. Sie plädierten dafür, die sich abzeichnenden “ Veränderungen des Literaturbegriffs ” im Umfeld der Medienkonkurrenzen systematisch zu reflektieren (cf. Kreuzer dereinst geltende Regeln auch der deutschen Grammatik möge die generisch gebrauchte maskuline Form in diesem Beitrag Personen jedweden Geschlechts bezeichnen. 326 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) 1975). Walter Höllerer widmete ein Sonderheft der (Literatur-)Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter 1975 dem Thema “ Multimediale Kommunikation ” , das den durch Gerold Ungeheuer kommunikationswissenschaftlich sensibilisierten Germanisten Ernest Hess-Lüttich, ernüchtert vom damals vorherrschenden linguistischen Reduktionismus einerseits (zu dessen Kritik cf. Posner 1980) und vom literarhistorischen Kulinarismus andererseits (zu dessen Kritik cf. Kittler 1985), dazu inspirierte, in der gleichzeitig gegründeten Deutschen Gesellschaft für Semiotik eine gleichnamige Sektion ins Leben zu rufen und ihr ein ambitioniertes Forschungsprogramm zu entwerfen (Hess-Lüttich 1978) - lange bevor “ multimedia ” als Werbebegriff der Computerindustrie in aller Munde war und ‘ multimodale Partituren ’ zum elementaren Instrumentenbesteck empirischer Gesprächsanalyse avancierten. In schneller Folge widmeten sich in den 80er und 90er Jahren dann zahlreiche Fachtagungen der Frage, welche Rolle künftig die “ Germanistik in der Mediengesellschaft ” einzunehmen gedenke ( Jäger & Switalla eds. 1994). Zeit-Zeugen der mittlerweile “ dritten industriellen Revolution ” wagten an der Schwelle zum aufziehenden “ Telekommunikationszeitalter ” den Blick über ihre philologischen Umfriedungen hinaus und beobachteten, wie Autoren den primären Text “ durch beliebig zu öffnende Fenster nach allen Seiten hin austiefen, ergänzen, umstellen - und vor allem auch verstellen und verändern ” (Lämmert 1995: 19) und wie die “ Affinität von poiesis und techné ” in einer Weise wuchs, dass “ ein exklusives Beharren auf natürlicher ‘ Originalität ’ zwangsläufig unter Ideologieverdacht ” zu geraten drohte (Söring 1997: 43). Intellektuell vorausgedacht wurden die Veränderungen längst, wenn auch nicht im technischen Detail, so doch in ihren Strukturen, Tendenzen, Konsequenzen, Perspektiven: Walter Benjamin, Marshall McLuhan, Lars Gustafsson, Roland Barthes, Jacques Derrida, Jean Baudrillard. Ihre theoretischen Überlegungen eröffneten im Zeichen der Digitalisierung gegen Ende des 20. Jahrhunderts Fragen nach der Rück-Wirkung der ‘ Automaten ’ auf Literatur und Sprache und neue Perspektiven auf die “ Literatur im technischen Zeitalter ” (Elm & Hiebel eds. 1991: 11 f.): Welche sprachlichen Muster und welche literarischen Formen generierte der Buchdruck? Welchen Einfluß nahm die Entwicklung der Briefpost [und dann der Telegraphie] auf die Struktur literarischer Werke? [. . .] Welche Effekte zeitigt die phonographische Fixierung gesprochener Sprache (Schallplatte, Tonband, Tonfilm, Videoband), welche die Möglichkeit drahtlos-telegraphischer (funkischer) und telephonischer Tele-Kommunikation? In welcher Weise beeinflußt der [. . .] Rundfunk die Schreib- oder Buchstaben-Kunst? Verändern die Schreibmaschine und schließlich der elektronische Textautomat bzw. der Personal Computer die Struktur des literarischen Textes? Deshalb erforderte der Blick auf die neuen ‘ Medientextarten ’ wie bei vergleichbar polysem gebrauchten Grundbegriffen à la ‘ Medium ’ (Posner 1985) oder ‘ Code ’ (Hess-Lüttich 1994) eine genauere terminologische Bestimmung und Festlegung des linguistischen wie des literaturwissenschaftlichen Textbegriffs, um dem zeitgemäß neu zu justierenden Verhältnis von Literatur und Medialität gerecht zu werden. Medialität der Literatur 327 2 Text in der Sprach- und Literaturwissenschaft Das Nachdenken über ‘ den Text ’ hat eine lange Tradition in der Literatur- und Sprachtheorie (natürlich auch in der Zeichen-, Medien- und Kulturtheorie). Dennoch ist bis heute strittig, was genau unter ‘ Text ’ zu verstehen sei (Fix et al. eds. 2002; Hess-Lüttich 2006; Wagner ed. 2016). Im Sprachgebrauch des Alltags wie in dem der Literaturwissenschaft wird ‘ Text ’ meist mit Schriftlichkeit assoziiert. Es wurden Gründe geltend gemacht, es auch in der Sprachwissenschaft dabei zu belassen, wenn man als “ Kriterium für die Kategorie ‘ Text ’ [. . .] die Überlieferungsqualität seiner sprachlichen Handlung ” ansieht, also jene materiale Eigenschaft, die überlieferungsfähige und tradierenswerte Rede zu bewahren erlaubt (Ehlich 1983: 32). Allerdings sei das Sprechen gegenüber dem Text als Aufgeschriebenem systematisch und historisch prioritär, insofern es auch in schriftlosen Kulturen Überlieferung gegeben habe und immer noch gebe: “ Mündliche Kulturen verfügen demnach über Texte ” (ibid.: 33; cf. Ong 2016). Die Skepsis gegenüber der Bezeichnung von Formen gesprochener Sprache als Arten von ‘ Texten ’ richtet sich zuweilen auch gegen den Aspekt des miteinander Verfertigens der Rede, also das dialogische Konstituens des Sprechens. ‘ Texte ’ zeichneten sich durch die Gleichgerichtetheit ihrer primären Ziele, Funktionen, Finalisierungen aus, von der bei einer Dualität oder gar Pluralität der Text-Produzenten keineswegs zwingend auszugehen sei (Rolf 1993: 27 ff.). Aufgrund neuer technischer Entwicklungen in der Übermittlung von Informationen gewinnt die Reflexion des Textbegriffs heute neue Aktualität (cf. Antos & Tietz eds. 1997; Fix et al. eds. 2002; Adamzik 2004; Grucza ed. 2006; Wagner ed. 2016). Allerdings gehört er, ähnlich wie die Begriffe ‘ Satz ’ oder ‘ Wort ’ oder ‘ Zeichen ’ , zu jenen Grundbegriffen der Sprach- und Literaturwissenschaft, die als heuristische kaum abschließend zu definieren, dafür aber je fachsystematisch zu axiomatisieren sind (Knobloch 1989: 113 - 126). Zudem konkurrieren sie mit dem alltagspraktischen Vorverständnis ihres Gebrauchs. Die historische Entwicklung des Textbegriffs kann hier nicht nachgezeichnet werden; es muss in diesem Zusammenhang genügen, ihn als potentiellen master term zu verstehen: “ ein gebietskonstitutiver Grundbegriff einer Kulturwissenschaft, die sich als allgemeine Kultursemiotik versteht. Sein Thema ist die (Un-)Wiederholbarkeit von Sinn ” (Knobloch 2005: 26). 2.1 Text in der Textlinguistik Innerhalb des damit gezogenen Rahmens kann es sich als sinnvoll erweisen, zwischen linguistischen, literarästhetischen bzw. literarhistorischen und semiotischen Textbegriffen (neben anderen) zu unterscheiden. Schon innerhalb der Linguistik ist die Bandbreite zwischen engen und weiten, alten und neuen Textbegriffen enorm (Coseriu 1981). Man hat ihn ursprünglich verstanden als “ die grundsätzliche Möglichkeit des Vorkommens von Sprache in manifestierter Erscheinungsform ” , als “ das originäre sprachliche Zeichen ” schlechthin (Hartmann 1971: 10), oder als transphrastische Einheit einer Textgrammatik (cf. Schecker & Wunderli eds. 1975), reserviert für schriftliche Zeugnisse überlieferten Wissens (Ehlich 1983) oder für die bei verschiedenen Übermittlungsformen gleichbleibenden lokutiven und illokutiven Konstanten (Ehlich 1984). Im ersten Falle könnten wir für unsere Zwecke davon ausgehen, dass, “ wenn überhaupt gesprochen wird, nur in Texten 328 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) gesprochen wird ” (Hartmann 1968: 212). Im anderen Falle würden wir in der Tradition von Zelig Harris (1952) unser Augenmerk auf die trans-sententiellen Einheiten des Diskurses richten und die typologischen Kriterien der Klassifikation seiner Erscheinungsformen. Unter angelsächsischem und romanophonem Einfluss werden die Begriffe ‘ Text ’ und ‘ Diskurs ’ oft (wie bei van Dijk 1980) synonym gebraucht oder ihre Abgrenzung voneinander vermag nicht zu überzeugen. Die Frage, ob damit eine sinnvolle Möglichkeit terminologischer Differenzierung nicht unnötig verschenkt wird, muss hier nicht entschieden werden (van Dijk 1977: 3; cf. Bartoszéwicz 2006). Jedenfalls wurden im Bezirk zwischen den damit markierten (linguistischen) Traditionslinien sprachliche Texte meist als materiale Substrate dialogischen Handelns in Form relationaler Strukturgefüge verbaler Elemente beschrieben und durch Kategorien wie Extension und Delimitation, Kotext und Kontext, Struktur und System definiert (cf. Plett 2000). Von den seit de Beaugrande & Dressler (1981) immer wieder als für Textualität konstitutive Merkmale genannten Kategorien der Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität 2 hält Vater (2006: 65) das der thematischen Kohärenz für dominant, wobei er mit Schmidt (1980: 149) zwischen textbezüglichen (Regeln der syntaktisch-semantischen Verkettung) und textnutzerbezogenen Kohärenzbedingungen (Sinnerstellungsoperationen und -prämissen der Rezipienten) unterscheidet. Von textlinguistischem Interesse im engeren Sinne waren dabei besonders die allen Texten inhärenten referentiellen, temporalen, modalen, colligativen, collocativen und typologischen Relationen (van Dijk 1977; Halliday 1978; Hess-Lüttich 1981; Tannen ed. 1982). 2.2 Text in der Literaturtheorie Der linguistische Textbegriff wurde jedoch schon früh zeichentheoretisch elaboriert später auf Codes nahezu beliebiger semiotischer Struktur und Modalität bezogen. Das wiederum kam der schon in der Prager Schule geläufigen und in der Tartuer Schule systematisch ausgebauten Unterscheidung zwischen praktischen und poetischen Texten entgegen. Der poetische Text wurde dabei im Sinne der kultursemiotisch orientierten Studien von Lotman (1972; id. 1973) in der neueren Literaturtheorie als “ semiotisch gesättigtes ” “ System von Systemen ” aufgefasst, dessen Bedeutung einerseits aus der Spannung zwischen seinen Subsystemen, durch Serien von Ähnlichkeiten, Oppositionen, Wiederholungen, Parallelismen etc. erwachse, andererseits durch Relationen zu anderen Texten, Codes, ästhetischen Normen, literarischen Konventionen, sozialen Prämissen im ‘ Dialog ’ mit dem Leser entstehe (Bachtin 1981; id. 1986; Eagleton 1988: 79 - 109). Beide Komplexe werden heute im literaturtheoretischen Programm “ semiotischer Diskursanalyse ” anspruchsvoll integriert, indem die Frage nach der semiotisch spezifischen Struktur des literarischen Textes mit der nach der Hierarchie seiner kulturellen Einbettungskontexte und intertextuellen Verweisungsbezüge verbunden und Literarizität aus der Spannung zwischen immanenten (graphemischen, phonemischen, morphemischen, lexemischen, syntaktischen, suprasegmentalen) (Sub-)Systemen und externen (diskur- 2 Der hier aufgeführte Begriff der ‘ Intertextualität ’ hat nota bene nichts zu tun mit dem gleichzeitig in der Literaturtheorie (s. u.) seinerzeit popularisierten poststrukturalistisch-psychoanalytisch inspirierten Konzept von Julia Kristeva (mit ihrer Bachtin-Rezeption), sondern orientierte sich an den corpus-basierten Ansätzen des britischen Linguisten Randolph Quirk. Medialität der Literatur 329 siven, sozialen, funktionalen, kulturellen, institutionellen) Faktoren abgeleitet wird (cf. Link & Parr 1990). Dem trägt - noch diesseits literatur-, sprach- oder medientheoretischer Relevanznahmen - eine texttheoretische Modellierung Rechnung, die den Text als ‘ konstruktive Gestalt ’ bzw. als Zeichengefüge (oder ‘ Superzeichen ’ ) bestimmt, nicht als lineare Kette von Zeichen (cf. Hess-Lüttich 1981: 324; id. 2016). Eine solchermaßen im Prinzip bereits ‘ holistische ’ Modellierung des Textes ist kategorial hinlänglich komplex für die Integration auch nicht-linearer, mehrfach-codierter, multi-medialer Texte in den Gegenstandbereich der Texttheorie. Sie kann die Zeichendimensionen des Textes auf der Ebene des Superzeichens analytisch entfalten und sie etwa (primär) als syntagmatisch-colligatives Objekt der Textsyntaktik oder als referentiell-signifikatives Objekt der Textsemantik oder als dialogisch-funktionales Objekt der Textpragmatik thematisieren, solange bewusst bleibt, dass Textualität - als Manifestationsmodus (als ontisches Strukturmerkmal) kommunikativer Prozesse zwischen (hypothetisch) handelnden sozialen Subjekten - sich erst im Zusammenwirken der semiotischen Dimensionen verwirklicht als kommunikative Sachverhalte vermittelnde Semiose, die im Falle poetischer Texte noch überlagert wird durch in der Literaturtheorie genauer beschriebene “ sekundär modellbildende Systeme ” (Autofunktionalität, Aktualisierung, Desautomatisation, Konnotativität, Polyisotopien, Ikonizität: Lotman 1973; Link & Parr 1990; Nöth 2000: 391 ff.). Im Rahmen eines solchermaßen grob skizzierten texttheoretischen Programms lassen sich empirisch Alltagsklassifikationen, Systeme ästhetischer (literarischer) Gattungen und Textmusterbeschreibungen, Textsorten, Texttypologien miteinander vergleichen im Hinblick auf ihre jeweiligen Leistungen, um zu ermitteln, wie wir im Alltag Gespräche einteilen und Gesprächstypen zuordnen (cf. Gülich 1986), welchen rhetorischen Traditionen unsere Unterscheidung ästhetischer (literarischer) Textgattungen dabei Tribut zollt (cf. Raible 1980), nach welchen Bewertungskriterien und Zweckbestimmungen wir (gesprochene) Texttypen unterscheiden (cf. Isenberg 1984). 2.3 Text in der Intertextualitätstheorie Auf ein weiteres Teilstück der Texttheorie, das in den letzten Dekaden besondere Aufmerksamkeit erlangte, kann im hier gegebenen Rahmen ebenfalls nur knapp verwiesen werden: das Konzept der ‘ Intertextualität ’ (s. dazu Redder, in diesem Band). “ Das Phänomen der Vernetzung von Texten ” ist “ keine Entdeckung der zeitgenössischen Literaturtheorie; Rhetorik und Poetik thematisieren dieses schon lange ” (Holthuis 1993: 2). In der Tat gehört “ die Frage des Verhältnisses zwischen Texten seit jeher zum Kernbereich philologischer Diskussion ” (Hess-Lüttich 1987: 9), da kein Text als creatio ex nihilo zu verstehen ist (cf. Stierle 1984). Was aber ist ein ‘ Intertext ’ ? Ein Text “ zwischen ” anderen Texten, wie das Wort suggeriert? Und was unterscheidet ihn dann von diesen? Gibt es (autonome) Texte ohne jede Intertextualität, wie Vater (2006) unterstellt? Oder gar Intertexte, die keine Texte sind? Solche Fragen sind seit den 1980er Jahren intensiv erörtert worden (cf. Ette 1985; Broich & Pfister eds. 1985; Worton & Still eds. 1990; Plett ed. 1991; Fix 2000), ohne dass sich ein allgemein akzeptierter terminologischer oder konzeptueller Konsens hätte durchsetzen können. 330 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Hier geht es diesseits der Verzweigungen, die die Diskussion in der Text- und Literaturtheorie mittlerweile erfahren hat, zunächst nur um die Formenvielfalt der Bezüge zwischen (ästhetischen oder nicht-ästhetischen) Texten (Zander 1985), also nicht nur die syntaktischen Verweise von Texten auf Prätexte (wie Zitate, Anspielungen, Parodien), nicht nur die strukturellen Homologien, die Texte einer Gattung oder Textsorte zuweisen, nicht nur semantische Relationen, die Gegenstand der Topos-, Motiv-, Stoff- und Quellenforschung sind, sondern im zeichentheoretisch reflektierten Sinne János Petöfis um die Summe der Relationen zwischen “ dominant verbalen semiotischen relationalen Objekten [. . .] ” (Holthuis 1993: 249). Dieser semiotisch präzisierte Begriff von Intertextualität “ merely indicates that one text refers to or is present in another one ” (Mai 1991: 51) und grenzt sich mithin von dessen Globalverständnis in psychopoetologisch-poststrukturalistischen Ansätzen (in der Nachfolge von Julia Kristeva) ebenso ab wie von linguistisch-reduktionistischen Konzepten, die Intertextualität als dem Text inhärente Eigenschaft zu bestimmen suchen, die durch explizite Merkmale intersubjektiv nachweisbare Verweisrelationen konstituiert: “ Any merely inter-literary, inter-linguistic taxonomic attempt will serve mainly archival purposes and even these in a slightly antiquated fashion ” (Mai 1991: 52). Die Instanz zur Herstellung dieser Bezüge ist vielmehr der Leser, für den es allerdings m. E. nicht völlig belanglos ist zu wissen, ob ein Autor einen Prätext gekannt hat oder nicht, ob er über das gleiche Textrepertoire verfügt wie dieser oder nicht, ob er dessen Verweis-Instruktionen im Text zu folgen weiß oder nicht. Die traditionellen Skalierungen von Intertextualität nach Maßgabe von Kriterien der Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität, Dialogizität (cf. Pfister 1985: 25 - 30; Plett 1991; de Beaugrande & Dressler 1981: 188 - 215) und Typologisierungen ihrer Transfer-Formen im Hinblick auf Sprache (z. B. Übersetzungen), Sprachstufe (z. B. mittelhochdeutsche Epen in modernen Fassungen), Sprachvarietät oder Sprachregister (z. B. Dialektfassungen klassischer Balladen; populärwissenschaftliche Sekundärinformation), auf Gattung oder Textsorte (Parodien, Gegendarstellungen, Rezensionen), auf Medien nicht zuletzt, finden nun im ‘ Hypertext ’ -Konzept ihre logische Fortsetzung, Anwendung und Ausweitung. Denn die Herstellung intertextueller Bezüge ist das zentrale Kennzeichen von Hypertext, mittels dessen etwa ein Primärtext als digital gespeicherte Textbasis ergänzt wird durch weitere ‘ Fenster ’ mit Textvarianten, Worterklärungen, Kommentaren, Literatur- und Quellenverweisen, Bild- oder Tonmaterial, Inszenierungsbeispielen, Filmversionen. Mai erachtet deshalb Hypertext-Systeme als prädestiniert für intertextuelle Analyse, denn sie repräsentierten “ a viable technical solution for those intertextualists interested in pointing out interconnections in large archives of diverse kinds of text (verbal, visual, aural) as it allows the construction of comprehensive informational networks ” (Mai 1991: 50). Medialität der Literatur 331 3 Text in den Medien(text)wissenschaften 3.1 Intermedialität Damit rückte ein Typus von Intertextualität ins Zentrum des Interesses, der die (linguistische wie literarische) Texttheorie befruchtet hat: die ‘ Intermedialität ’ . Da moderne Kommunikationsverhältnisse sich zunehmend “ durch mediale Verbundsysteme, intermediale Fusionen und Transformationen ” auszeichnen (Müller 1992: 18), war die Forderung nach einer Theorie der Intermedialität die logische Folge (Müller 1996). Ihre Aufgabe ist die Konstruktion des intermedialen Regelsystems, das den Übergang von Texten eines Mediums in Texte eines anderen mit ihren jeweils medienspezifischen Coderelationen zu beschreiben erlaubt. Die Forderung einer systematischen Medienkomparatistik ist schon älter (Faulstich 1982: 46 - 58); eine Fülle von Fallstudien und Überblicksarbeiten belegt seither ihre Berechtigung in den Textwissenschaften (Hess-Lüttich & Posner eds. 1990; Paech ed. 1994; Helbig ed. 1998; Wolf 2002; Rajewski 2002; Wirth 2005; Paech & Schröter eds. 2008; Genz & Gévaudan 2016). Vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung im Bereich multimedialer Kommunikation gewinnt sie noch einmal an Zugkraft (Hess-Lüttich ed. 1982; id. 2004). Wie kann die Repräsentation von Wissen in multimedial zusammengesetzten Texten kulturtypisch optimiert werden? Welchen Veränderungen unterliegt die Information beim Transfer von einem Medium ins andere? Welche Wirkungen hat die Transformation seriell-deduktiver Wissensverarbeitung in linear strukturierten Texten zu assoziativ-konzeptueller Wissensverarbeitung in mehrfach-codierten Textensembles auf deren Rezeption (z. B. in Hypertext- Programmen autonomen Lernens)? Welche Folgen hat der Übergang von der linearen Textstruktur zur ‘ holistischen ’ für die Unterscheidung zwischen ‘ Autor ’ und ‘ Leser ’ im Falle von potentiell beliebig expandierbaren, modifizierbaren, manipulierbaren Hyperdokumenten? Welche kognitiven Gefahren birgt intermediale Dauerreizung durch hypertextuelle Text-Räume (Spitzer 2015)? 3.2 Hypertextualität Theodor Holm Nelson definierte ‘ Hypertext ’ bekanntlich als “ non-linear text ” (Nelson 1967: 195). Was wäre demgegenüber ein ‘ linearer Text ’ ? Als im traditionellen Sinne ‘ linear ’ gelten Texte, deren Materialität eine feste Folge ihrer seriellen Elemente bedingt. Natürliche gesprochene Sprache etwa sei durch ihre zeitlich-lineare Lautfolge ohne räumliche Extension charakterisierbar, natürliche geschriebene Sprache durch die räumlich-lineare Abfolge ihrer Segmente (Phoneme, Moneme, Sätze, Paragraphen, Kapitel etc.) - und diesem Gliederungsprinzip unterliege zwangsläufig auch der Hörer/ Leser von Texten (Nöth 1994). Das traf schon immer nur bedingt zu, Hypertexte heben es auf. Den nicht-linearen Aktivitäten des Text-Rezipienten wird der semiotische Textbegriff deshalb eher gerecht als der linguistische. Wer den Text von vornherein als ‘ konstruktive Gestalt ’ , als Gefüge, Gewebe, Geflecht, eben als Netzwerk auffasst, statt nur als Kette, Linie, Sequenz, Syntax von Zeichen, für den verliert der Übergang vom ‘ analogen ’ zum ‘ digitalen ’ Text, vom Text zum Hypertext, die heute oft behauptete Qualität des ‘ Quantensprungs ’ . Multimodal konzipierte Textbegriffe, die verbale, para-verbale und non-verbale Codes (Sprache, Graphik, Farbbilder, Bildanimation, Töne, Klangsynthese, Film etc.) textuell 332 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) integrieren und intertextuelle Anschlussstellen in potentiell beliebiger Zahl bieten, reichen übrigens weit in vorelektronische Zeiten zurück (s. u. 5.1). Vannevar Bush schwebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Maschine vor (Memex), die Informationen nach einer anderen als der den Regeln formaler Logik und starrer Indexierung folgenden Methode zu speichern und abzurufen erlaube. Nach dem Modell assoziativer Denkprozesse sollten einzelne ‘ Dokumente ’ zu einem netzartig verknüpften Informationssystem verbunden werden: die Keimzelle des heutigen Internet und WorldWideWeb (cf. Krol 1992: 227 - 242) und ein zugleich semiotisches Konzept von Text-Netzwerken avant la lettre, das in der terminologischen Metaphorik das neuro-physiologische Modell des eher assoziativ-parallel als deduktiv-seriell funktionierenden Gedächtnisses antizipierte. Der 1945 in The Atlantic Monthly publizierte Vorschlag zur Entwicklung von Text-Automaten “ that serve a man ’ s daily thoughts directly, fitting in with his normal thought processes, rather than just do chores for him ” (Bush 1967: 76), wurde später von Douglas Engelbart und Theodor Holm Nelson aufgegriffen, verfeinert und fortentwickelt. Beide folgen Bushs Assoziationsansatz zur Textvernetzung. Engelbart konzentriert sich dabei auf die maschinelle Simulation heuristischen Problemlösungsverhaltens und schlägt damit die Brücke zwischen Kognitionspsychologie, Linguistik und Computerwissenschaft. Seine Anregungen sollten einen nicht unerheblichen Einfluss gewinnen auf neuere geisteswissenschaftliche Ansätze texttheoretischer Modellbildung. Theodor Holm Nelson schlägt noch expliziter die Brücke von der Technologie der Automaten zur Textwissenschaft, als er (unabhängig von Gérard Genette und mit ganz anderen Intentionen als dieser in seiner späteren Transtextualitätstheorie 3 ) bereits in den 60er Jahren den Begriff Hypertext prägt und in seinem Hauptwerk mit dem programmatischen Titel Literary Machines (Nelson 1987) von der Prämisse seinen Ausgang nimmt, “ that hypertext is fundamentally traditional and in the mainstream of literature ” (Nelson 1987: 1/ 17). Literatur ist dabei für ihn der sich in historischer Tradition entfaltende Umgang mit Texten fiktionaler oder nicht-fiktionaler Art. Was diese Texte jedoch von Hypertext unterscheide, sei ihre Struktur der linearen Sequenz, der inhaltlichen Organisation des Darstellungsverlaufs und der semiotischen Modalität der Präsentation. Hypertext erweitere die Freiheit des Lesers im Umgang mit dem Text entscheidend (Nelson 1987: 1/ 195): elektronische Anschlussstellen ( “ links ” ) erlaubten ihm (durch Verzweigung “ into trees and networks ” ) den Zugriff auf andere (räumlich noch so weit entfernte) Texte, er bestimme den Detaillierungsgrad der Darstellung ( “ multiple levels of summary and detail ” ), er entscheide über die Darbietungsform der Information in Wort und Schrift, in Bild oder Ton, in Graphik oder Film oder allem zusammen, er werde vom passiv rezipierenden Leser zum aktiv in den Textprozess eingreifenden Co-Autor, der den Text in seinen Teilen ergänzt, verkürzt, verändert, manipuliert, destruiert nach seinem Gusto und Interesse. Hypertext werde so nachgerade zum methodischen Instrument der Dekonstruktion schlechthin (cf. Landow 1992: 5). 3 Der von Genette im Rahmen seiner Intertextualitätstheorie (1982: 7) gebrauchte Begriff von Hypertextzur Bezeichnung des Rückverweises eines Posttextes auf einen Prätext ( “ hypotexte ” ) ist demgegenüber eine rein literaturtheoretische Kategorie, die er z.T. in kritischer Auseinandersetzung mit narratologischen Ansätzen von Mieke Bal entwickelt (cf. auch de Saussures “ Hypogramme ” ): Genette 1982: 11, 469; cf. id. 1998: 243; cf. Bal 1997. Medialität der Literatur 333 Dies wirft Fragen auf, die eine Neukonzeption der traditionellen Texttheorie erfordern. Welches ist die Einheit des Textes, wenn seine Gestalt frei manipulierbar ist? Welches sind seine Segmente, wenn der Wechsel zwischen den Codes semantisch Gewinne oder Verluste der Informationsstruktur bedingt? Was sind die ‘ nuklearen ’ , nicht weiter reduzierbaren oder transformierbaren Einheiten? Welches sind die Grenzen des Textes, die ihn von anderen Texten, Kontexten, Ko-Texten trennen? Verändert sich Textualität beim Übergang vom analogen zum digitalen Medium? Welche Bedeutung transportiert ein Text, der sich im Prozess jeweiliger Lektüren erst konstituiert? Wie steuern die audio-visuellen Codes diesen Prozess? Welche Anwendungsperspektiven eröffnen die beliebige extensionale Expandierbarkeit und plurimediale Transformierbarkeit des Konzeptes für die Textwissenschaft? Es ist kein Zufall, dass Poststrukturalisten wie Roland Barthes, Dekonstruktivisten wie Jacques Derrida, Rezeptionstheoretiker wieWolfgang Iser oder Semiotiker wie Umberto Eco die text- und diskurswissenschaftliche Tradition des Konzeptes gegen dessen Usurpation durch die Automaten-Ingenieure der Informationswissenschaften zu verteidigen suchten, zumal seine “ praktische Umsetzung in Anwendungszusammenhängen [. . .] bisher im wesentlichen dem Bereich der Ingenieur- und Naturwissenschaften zugute gekommen [sei und] von einer erfolgreichen Anwendung und Übertragung dieser Ansätze im Bereich der Geisteswissenschaften bisher nicht die Rede sein ” könne (Rieger 1994: 376 f.). Das hat sich seither im Zeichen von Digital Humanities in den letzten 20 Jahren gründlich geändert. Um Hyperfiction und Digitale Poesie wissenschaftshistorisch angemessen einordnen zu können, bedarf es daher einiger Vorüberlegungen zur ‘ Textualität von Hypertext ’ in historischer, struktureller und ästhetischer Perspektive. 4 Die Textualität von Hypertext 4.1 Die historische Perspektive: Von der Turing-Maschine zum multimedialen Text-Generator Nach den Medien-Epochen der Oralität und der Literalität (Ong 2016) erreicht die Wissensgeschichte des Menschen die der Digitalität (Kaeser 2016: 27). Die Hypertext- Historiographie (Kuhlen 1991; Nyce & Kahn eds. 1991; Fendt 1995) unterscheidet Phasen der Mechanisierung (1932 - 1967), Digitalisierung (1961 - 1985), Spezialisierung und Kommerzialisierung (1985-? ). Wie wäre die gegenwärtige Phase zu etikettieren? Ludifizierung? Indifferenzialisierung? Infantilisierung? In seinen “ Thesen zur Geburt der Hypermedien ” rekonstruiert der Informatiker Coy (1994) die historischen Bedingungen der heute (im Zeichen von Google, Facebook, Twitter etc.) zur vollen Entfaltung gelangenden “ kulturell subversiven ” Kommunikationsrevolution durch die Omnipräsenz leistungsstarker Medienvernetzung. Den entscheidenden Schritt von Gutenbergs artificialiter scribere zur algorithmischen Programmierung der Automaten und damit zur “ Maschinisierung der Kopfarbeit ” (Nake 1992: 181 - 201) vollzog der (1954 von einer homophoben Justiz in den Selbstmord getriebene) geniale Mathematiker Alan M. Turing. Durch die mit der ‘ Turing-Maschine ’ eröffnete Möglichkeit der digitalen Codierung von Texten beliebiger semiotischer Struktur und Modalität finden die Umwandlung mechanischer, elektrischer, thermodynamischer, biochemischer Impulse und die sensuelle Kontingenz optischer, akustischer, gustatorischer, olfaktorischer, haptischer Signalwerte qua 334 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Digitalisierung erstmals ein gemeinsames Medium ihrer einheitlichen, präzis kopier- und reproduzierbaren maschinellen Speicherung, Übertragung und intermedialen Übersetzung. An den daraus folgenden Wandel unserer tradierten Kommunikationskultur (mit den entsprechenden Folgen für die überlieferten Muster vertrauter Textstrukturen und Textsorten-Gliederungen, für die Sicherheit im Urteil über ‘ Original ’ und ‘ Kopie ’ , über authentisches Bild und photographisches Negativ) haben wir uns innerhalb mediengeschichtlich kürzester Zeit gewöhnt, wenn wir statt Briefen und Billetten e-mails oder sms- Notizen versenden und tweets ‘ posten ’ , wenn wir transkontinental statt telegraphische Depeschen zu übermitteln per skype mit Bild telefonieren, wenn wir Filme aus den Netzen laden statt klobige Disketten einzulegen, wenn wir Musik aus den i-pods im Ohr stereoskopisch zum Klingen bringen statt Schallplatten aufzulegen, wenn wir bei Facebook schnell wachsende Listen von ‘ Freunden ’ führen (die bei suboptimalem Einsatz genauso schnell wieder de-friended werden), wenn wir im Angebot von zig-Tausenden Apps (applications) im handlichen i-phone-Format die Übersicht verlieren, wenn wir via Twitter aus der global community allerlei news blogs aufschnappen über eine gleichzeitige (vermeintliche) Wirklichkeit, die real sein mag oder auch ‘ virtuell ’ , wenn wir in den social networks mit unsern Identitäten kokettieren, wenn wir Bibliotheken im handlichen Kindle, i-pad oder Android Tablet gespeichert herumtragen, wenn wir in Werbe-, Fernseh- oder Kinofilmen (mit fließendem Übergang dazwischen) eintauchen in die fantasy world der durch 3D-Computeranimation technisch manipulierten Wahrnehmung. Die medientextintegrierenden Maschinen eröffnen “ durch ihre algorithmische Programmierbarkeit neue Möglichkeiten der interaktiven Nutzung ” (Coy 1994: 73), aber eben auch des Missbrauchs. Unser Umgang im Alltag wird längst durch multimediale Kommunikation bestimmt, unsere Wahrnehmung durch die Automaten verändert: “ Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte der Wahrnehmungsmuster ” (Bolz 1990: 134). Der ‘ holistische ’ Zeichengebrauch im Umgang mit Konzepten wie Hypertext erfordert neue Seh-, Sprech-, Denkweisen. Sind wir dafür kognitiv gerüstet (cf. kritisch, aber kontrovers: Spitzer 2015)? “ Werden wir die Sprache des Computers sprechen? ” (Gauger & Heckmann eds. 1988). Wenn ja, werden wir dann auch in den Bahnen denken, die die Maschine uns vorgibt? Was wird aus den im individuellen “ Leseerlebnis von Texten gemachten (emotionalen, intellektuellen, sozialen) Erfahrungen von interpretierter Welt ” , wenn sie vollends ersetzt werden durch die “ Sensationen der via Bildschirm erlebbaren Mensch-Mouse- Manipulationen ” (Rieger 1994: 401)? Wird Kreativität dann an die Apparatur delegiert und der Mensch zum “ Angestellten des Gestells (Heidegger) ” (Söring 1997: 41)? Kurz, es stellt sich die Frage: vollzieht sich nicht im Vordringen einer computergerechten Sprache lautlos eine Kulturrevolution, deren Folgen kaum schon abzusehen sind? Bringt der expandierende Umgang mit Computern eine ähnliche Bewußtseinsänderung mit sich, wie sie seinerseits [sic] die Einführung der Schrift, der Übergang von einer oralen zu einer skripturalen Kultur mit sich brachte? Hat hier nicht, mit Thomas Mann zu sprechen, etwas begonnen, “ was zu beginnen kaum schon aufgehört hat? ” (Heckmann & Gauger 1988: 9). Medialität der Literatur 335 4.2 Die strukturelle Perspektive: Systemaufbau der multimedialen Textintegration Für das texttheoretische Interesse sind vor allem die technologisch bedingten Veränderungen geltender Prinzipien der Textkonstitution, Textproduktion, Textrezeption, Texttransformation, Textdistribution bedeutsam, die sich mit dem Hypertext-Konzept in praktisch unbeschränkter Variabilität und Anwendbarkeit abzeichnen und deren Rückwirkungen auf die kommunikativ-medialen Funktionen bzw. die sprachlich-textuellen Formen traditionell linearer Textkonstitution Kontur gewinnen. Der Systemaufbau basiert - noch diesseits jeder informationstechnisch akzeptablen Standardbeschreibung - auf der Kombination weniger Elemente (cf. Rieger 1994: 390 ff.; Fendt 1995: 53 - 77). Die elektronische Verknüpfung von Datenbasen unterschiedlicher Struktur und Funktion (Texte, Graphen, Tabellen, Bilder, Videos, Töne, Geräusche, musikalische Sequenzen) mit Bearbeitungsinstrumenten (Textverarbeitung, numerischer Kalkulation, Bildbearbeitung, Graphik- und Statistik-Programmen) durch Zeigerstrukturen (pointers bzw. anchors) oder Bildsymbole (icons) läßt sich durch die heute gängige ‘ Fenstertechnik ’ herstellen, darstellen, verändern, wiederholen. Jedem ‘ Fenster ’ auf dem Bildschirm korrespondiert ein ‘ Knoten ’ (node) in der Datenbasis, der durch entsprechende Verknüpfungen (links) aufgerufen, ‘ geöffnet ’ und mit anderen Knoten verbunden werden kann. Knoten und Verknüpfungen, also Texte als informationelle Einheiten (units of information) und intertextuelle Verweisfunktionen (Lesezeichen, Annotationen, intra-/ extratextuelle Verbindungen), sind die Elemente, die die Netzwerk-Struktur des Hypertextes ermöglichen, bei dessen ‘ Lektüre ’ der ‘ Leser ’ den vom ‘ Autor ’ in den Text eingeschriebenen Verknüpfungsinstruktionen folgen oder selbst zum ‘ Autor ’ werden kann, indem er neue Verknüpfungen herstellt und Knoten der Datenbasis manipuliert oder ergänzt oder kreïert (cf. Suter 2000; Simanowski 2002). DieVerknüpfungen bzw. Verweisfunktionen können über mehrere Ebenen hinweg erfolgen und zu einem assoziativ verzweigten Lektüreprozess führen, der den ‘ Leser ’ wie beim Blättern in einer Enzyklopädie möglicherweise weit vom Ausgangstext fortführt. Je nach Verweisebene entscheidet der ‘ Leser ’ selbst über seine Lesestrategie nach Maßgabe seiner Interessen und Relevanznahmen. Die Freiheit im Umgang mit Texten wird einerseits erkauft mit der Gefahr der Orientierungslosigkeit und Überinformation ( “ Datenmüll ” ), die die ‘ Aktivität ’ des Lesers in Passivität umschlagen lässt, wenn nicht wirksame Navigationshilfen dem Leser/ Autor (reader/ writer) die Orientierung in der Netzwerk-Struktur von Hypertexten erleichtern und ihm in der Pluralität der Lesewege und Textalternativen einen kohärenten Verstehenszusammenhang zu etablieren erlauben: so möchte er als Leser die Lektüre eines Textes vielleicht in historischen oder kulturkontrastiven Perspektiven vertiefen oder als Autor Teilaspekte des Themas argumentativ weiterverfolgen und illustrativ zu verwandten Konzepten in Beziehung setzen - seine ‘ Bibliothek ’ mit den Enzyklopädien und Nachschlagewerken hat er im Laptop (oder smart phone, i-pad, tablet) ja stets dabei, und der Griff ins Regal wird zum Klick mit der mouse oder zur leichten Berührung von touch screens. Andererseits bedarf es einer geschulten Mediennutzungsethik, um das eigene Wissen vom vorgefundenen zu unterscheiden, um sich der Authentizität der Quelle zu vergewissern, um das Zitat vom Original abzuheben, um das Relevante im Meer des Irrelevanten zu erkennen, Tatsachen im Nebel von Gerüchten, das Grundlegende im 336 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Oberflächlichen, das Sein im Design: die Maßstäbe scheinen hier zunehmend unsicher zu werden, wenn die Textverarbeitungspraxis der medialen multitasking-Virtuosen dafür als Indiz gelten darf (sei es unter Philologie-Studenten, die ihr Fach dereinst als ‘ Freunde des Wortes ’ wählten und die heute ihre copy&paste-Elaborate aus den vom Netz offerierten Info-Schnipseln zusammenpuzzlen, sei es unter Bloggern, die als Multiplikatoren ihrer ‘ postfaktischen ’ Weltsicht missionarisch Einfluss ausüben wollen). Was an kontextueller Komplexität potentiell verloren geht (durch die Reduktion der Vielfalt von Texten auf programmierte Knoten und selegierte Segmente), wird im Glücksfalle durch die Pluralität der Perspektiven wieder gewonnen, die dem ‘ Leser ’ einen immer wieder anderen Blick auf den Text zu werfen erlaubt. Er wählt je nach Interesse zwischen den in einem Knoten angebotenen Alternativen und eröffnet sich damit immer neue Pfade oder Fährten (trails) durch das Labyrinth der Texte im ‘ Rahmen ’ (frame) der durch das System vorgezeichneten Grenzen. Die Freiheit der Wahl zwischen den Verweisen (nach figurativen Regeln als Explikation des ‘ Stils ’ ) ist also keineswegs unendlich, wie so oft suggeriert; sie wird vielmehr begrenzt durch den ‘ Rahmen ’ des Systems, innerhalb dessen die Such-Strategien der Textvernetzung figurieren nach limitativen Regeln als Explikation des Mediums (s. Hess-Lüttich 1981: 120 ff.; cf. das textsemiotische Konzept der Szenographie bei Eco 1998). Solche Verfahren, Übersicht zu gewinnen (wie sie in der Buchkultur über Jahrhunderte hinweg entwickelt wurden), haben vom Hypertext-System inzwischen zurückgewirkt auf den Aufbau traditioneller Textstrukturen (das ‘ Textdesign ’ ) der Presse, der Fernsehnachrichten, der Werbung (Roth & Spitzmüller eds. 2007). 4.3 Die ästhetische Perspektive: Literatur, Hypermedia und Maschine Als Theodor Holm Nelsons opus magnum über die Literary Machines (1987) erschien, gewannen mit dessen zunehmender Rezeption in den Cultural Studies auch schnell die Stimmen an Kraft und Gehör, die für eine dezidiert literaturtheoretische Fundierung des Hypertext-Konzepts plädierten (cf. Bolter 1991; Delany & Landow eds. 1991; Landow 1992). Der amerikanischen Literary Theory galt Hypertext bald als ein wesentlich literarisches Genre, das die avantgardistische Tendenz zur narrativen Delinearität fortführe und sich herleiten lasse aus dem Bestreben von Autoren, aus den medialen Begrenzungen des Buches auszubrechen und den Leser als aktiven Partner in ihr Schreiben einzubeziehen (Heibach 2000: 215). Landow verglich es mit der Poetik des Aristoteles und fand nichts mehr von “ fixed sequence, definite beginning and ending, a story ’ s ‘ certain definite magnitude ’ , and the conception of unity or wholeness ” (Landow 1992: 102), dafür umso mehr Hypertext- Vorläufer: Laurence Sterne ’ s Tristram Shandy mit seiner Kunst der Digression (cf. Iser 1984), James Joyce ’ s Ulysses und Finnegans Wake mit seinen enzyklopädisch verzweigten Assoziationsketten und subtilen Verweisungsnetzen (cf. Eco 1987: 72; id. 1990: 138), Alain Robbe-Grillet oder Jorge Luis Borges oder Vladimir Nabokov. Literarische Texte dieses Typs seien Belege für den Versuch derAutoren, “ to divorce themselves from imposing a particular reading of their texts on their readers, attempting to eliminate linearity of texts ” (Ledgerwood 1997: 550). Nicht-Linearität, Leser-Aktivität, Intertextualität, Pluralität der Lesarten und Offenheit der Lesewege: für jedes dieser fünf konstitutiven Merkmale von Hypertext wurden literarische Vorbilder gefunden, resümiert Fendt (1995: 108) die Bemühungen von Autoren, Medialität der Literatur 337 “ das Experimentieren mit literarisch-ästhetischen Mustern [und] Kriterien, die auch für Hypertext gelten, auf ihre Texte ” anzuwenden. Es war das literarästhetische Programm französischer Autoren wie Raymond Queneau und Julio Cortázar, Marc Saporta und Georges Perec und anderer, die sich in der Gruppe O ULIPO (OUvroir de la LIttérature POtentielle) zusammengeschlossen hatten und Texte darboten, deren Sinn sich dem Leser erst erschloss, wenn er die nicht-linearen Textteile selbst zu einem kohärenten Ganzen verschmolz. Queneaus Cent mille milliards de poèmes etwa bedürfe eines aktiven Lesers, der sich als Co-Autor verstünde (cf. Fendt 2001: 107). Im Rückblick stellt sich die Frage, ob den Jüngern der postmodernen Literary Theory im Spiel mit ihren Metaphern nicht auch die eine oder andere sachliche Ungenauigkeit unterlief, als sie mit Derrida oder Bataille die “ unlimited semiosis in the semiotic web ” (Eco: cf. Chandler 2001) beschworen. Die chunks und links im Hypertextsystem sind immerhin berechen- und bezifferbar; die Zahl möglicher Verknüpfungen stößt an physikalische Grenzen der Rechnerkapazität (und physische Grenzen der Perzipierbarkeit); der user (Leser, Autor) muss die Verbindungen herstellen zwischen von ihm definierten und selegierten Texteinheiten im ‘ Rahmen ’ der Möglichkeiten des Programms; die Einheiten (Texte, Knoten, chunks of content) müssen sinnvolle (nicht notwendigerweise vom Erstautor als solche intendierte) Anschlussstellen für weitere Verknüpfungen enthalten; mit der Zahl der Verbindungen verliert die Rede vom Text als einer semantischen Funktionseinheit an Sinn; nicht alle Verbindungen sind von gleicher Plausibilität. Wären alleVerbindungen gleich gültig, würden sie gleichgültig gegenüber dem Anspruch ihrer Rechtfertigung. Gegen diese Indifferenz hat Umberto Eco (1990) die Grenzen der Interpretation markiert und Plausibilitätsansprüche geltend gemacht. Unter Rückgriff auf Peirce erinnerte er daran, dass auch bei theoretischer Unbegrenztheit potentieller Verbindungen gegebener Interpretanten mit Zeichen(komplexen) die Zahl der faktisch gewählten Verbindungen endlich und begrenzt sei. Nicht alle Metatexte zu Texten seien gleich-wertig, einige setzten sich durch, andere würden mit Fug verworfen, bestimmte Verbindungen machten mehr Sinn als andere, manche Wege führten leider auch in Sackgassen. Sein Bedenken gilt es im Auge zu behalten, wenn die Textualität von Hypertext texttheoretisch als primär literarische ausgezeichnet wird, die jeden Bezug und jede Bewertung außerhalb argumentativer Plausibilitätshierarchien gleich gewichtet. 5 Digitale Poesie: Netzliteratur, Hyperfiction 5.1 Hypertext als Objekt der Textwissenschaft Der Gegenstand der Literatur- und Textwissenschaften ist durch die kulturellen Konsequenzen der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung Veränderungen unterworfen, denen text- und literaturtheoretisch Rechnung zu tragen ist. Die Anwendung poststrukturalistischer, psycholinguistischer, dekonstruktivistischer Ansätze auf Hypertext hat interessante Parallelen, aber auch signifikante Veränderungen der jeweils zugrundeliegenden Textauffassungen zutage gefördert. Wenn z. B. Roland Barthes ’ Text-Einheit der ‘ Lexien ’ mit den Hypertext-Einheiten der ‘ Knoten ’ verglichen wird, so exponiert dies das Problem der adäquaten (definierbaren, intersubjektiv prüfbaren) Textsegmentierung, das durch die multimediale Polycodierung noch an Schärfe gewinnt. Viele Formulierungen 338 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Derridas zum Text als Netz unendlicher Verweisstrukturen drängen sich geradezu auf für einen Vergleich mit Hypertext und gewinnen dadurch oft überhaupt erst ein gewisses Maß an Anschaulichkeit. Bei manchen flink formulierten Analogien zwischen Formen der Konnexität in Text und Hypertext erweist sich der Mangel linguistischer Kenntnisse indes als Nachteil. Da wird von der Linearität der materialen Zeichenfolge auf die der von ihr bezeichneten thematischen, semantischen, logischen, argumentativen oder ideationalen Struktur geschlossen, was bekanntlich ein Trugschluss ist (woran schon Halliday 1978 erinnerte). Umgekehrt vermag der kognitionspsychologisch und psycholinguistisch geschulte Blick auf Prozeduren der Textverknüpfung (linking of chunks) bei Hypertext möglicherweise zugleich das Verhältnis von Prozessen des Text-Verstehens auf den Ebenen von Propositionen, Propositionsclustern und Propositionssequenzen zu erhellen (cf. van Dijk 1980: 183). Wie beim Text-Verstehen die ihm eingeschriebenen Instruktionen des Autors und die Leistung des Lesers zusammenwirken, seine Selektion aus dem Potential der Verweise und seine Konstruktion über den Leer-, Schnitt-, Gelenk- oder Unbestimmtheitsstellen des Textes, hat ja schon die Rezeptionsästhetik (Michel Riffaterre, Wolfgang Iser usw.) hervorgehoben und damit den Boden bereitet für die Neu-Definition der aktiven Rolle des Hypertext-Rezipienten als user und Mitspieler in virtuellen Text-Welten. Die Spielregeln werden ihm dabei mit einigem technischem Nachdruck ins Bewusstsein gehoben, denn jeder Wechsel der Perspektive im Verstehen des Textes, seiner Ebenen und Verweispotentiale, ist mit der physischen Aktivierung eines ‘ Fensters ’ verbunden, das ihm die gewählte Perspektive im Wort-Sinne ‘ er-öffnet ’ . Diese durch technische Restriktionen erzwungene neue Bewusstheit im Umgang mit Texten emanzipiert den Hypertext-Leser einerseits gegenüber der intentio auctoris, stärkt aber andererseits seinen Respekt gegenüber der intentio operis und vielleicht auch sein Misstrauen gegenüber der Willkür, mit der heute jede beliebige intentio lectoris herrisch Achtung heischt. Denn anders als mancher trendige Literatur-Dekonstrukteur des akademischen Betriebs oder angesagte Textzertrümmerer des Regietheaters, der sich beschwingt von den Fesseln präziser Lektüre, historischer Kenntnis und plausibler Rechtfertigung seiner Interpretation befreit, muss sich der Hypertext-Leser die Brücken seiner Assoziationen selber bauen - und die sollten tragen über die Leer-Stellen dazwischen. 5.2 Von der Literatur im Netz zur Netzliteratur Zu den Aufgaben der Mediensemiotik gehört die Reflexion auf die ästhetische Dimension des Zeichenwandels unter dem Einfluss der typologischen Expansion und technologischen Innovation des Mediensystems (Schnell 2000; Gendolla & Schäfer eds. 2007). Die Rolle der Autoren steht in Frage bei kollektiven Formen der Literaturproduktion im Rechnerverbund; die Textur ihrer Werke und deren Perzeption verändern sich in multimedialen Textokkurrenzen. Neue Genres wie Netzliteratur, Cybertext, Hyperfiction, Computerspiel und Filmanimation, Fernseh-/ Videoformate für Rechner und smart-phones, Text- und Technodesign und e-book-novel erfordern neue Lektüre-Modelle, zu deren Entwurf und theoretischer Grundlegung es einer textwissenschaftlich systematischen Erforschung der vielfältigen und sich wechselseitig befruchtenden Formen künstlerischen Ausdrucks in Medialität der Literatur 339 allen Medien und über die kulturellen Grenzen hinweg bedarf (Knoblauch & Kotthoff eds. 2001; Jäger et al. eds. 2010). Was im deutschsprachigen Raum anfangs ‘ Netzliteratur ’ genannt wurde, begann mit einem (von der Zeit und IBM) 1996 ausgerufenen Wettbewerb (Suter & Böhler 1999: 11 - 14). Etablierte Buchautoren wie Joseph von Westphalen, Matthias Politycki oder Ilija Trojanow beteiligten sich 1998 an dem vom ZDF- Kulturmagazin Aspekte angeregten Novel-inprogress-Projekt; Rainald Goetz ließ das Publikum via elektronischem Tagebuch an seinem Leben teilhaben (sein Blog Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet erschien 1999 als Buch). Im Netz gerate der Text “ in Bewegung und interagiert mit anderen semiotischen Systemen ” , die elektronisch vermittelte Verbindung führe “ zu kooperativen Literaturprojekten, die durch Offenheit gekennzeichnet sind und sich die Transformation als konstitutive Existenzform zu eigen machen ” (Heibach 2000: 7). An solchen Gemeinschaftsprojekten wie Forum der Dreizehn oder Am Pool (Lager & Naters eds. 2001) beteiligten sich zeitweilig Autoren wie Christian Kracht, Elke Naters, Georg M. Oswald, Moritz von Uslar oder Alban Nikolai Herbst; Thomas Hettche betreute das N ULL -Projekt mit Autoren wie John von Düffel, Burkhard Spinnen, Dagmar Leupold, Thomas Meinecke, Judith Kuckart oder Helmut Krausser, deren Text-Fragmente von den Herausgebern ‘ vernetzt ’ wurden, obwohl sie kaum je ( “ intertextuell ” ) aufeinander verwiesen. Bald beteiligten sich so viele Leser-Autoren an virtuellen ‘ Schreibwerkstätten ’ (z. B. “ Webring ” ), dass Oliver Gassner zur Jahrtausendwende mehr als 4000 Einträge bzw. Links zu Autoren von ‘ Amman ’ bis ‘ Zopfi ’ zu einem literarischen Reiseführer von über 800 Seiten versammeln konnte; alsbald wuchs die Sammlung mit dem Namen “ Carpe ” zum größten deutschsprachigen Literaturverzeichnis im Internet heran. Die Leser-Autoren experimentierten mit den neuen Formen der Chats und Textbausteine, der Zitate und Verknüpfungen, der Text-Bild-Collagen und eingebauten Video-Animationen. Die neuen Möglichkeiten des polymedialen Spiels mit ästhetischen Formen wurde auf verschiedenen, freilich oft kurzlebigen Plattformen intensiv diskutiert; einen Überblick über derzeit noch laufende Projekte bieten die Websites wie www.netzliteratur.net (ed. Auer, Heibach & Suter Suter, die auch eigene Websites betreuen: www.cyberfiction.ch [Suter], www.netzaesthetik.de [Heibach]), www.dichtung-digital.de (ed. Simanowski), www.hyperfiction.de (ed. Henning), www.p0es1s.net (ed. Block) [alle Adressen zuletzt geprüft am 31. 12. 2016]. ‘ Netzliteratur ’ ist im Unterschied zur ‘ Literatur im Netz ’ medienspezifisch konzipiert und strukturiert: “ Schreiben im Netz bezeichnet nicht die Verlagerung des üblichen Produktionsprozesses in ein neues Präsentationsmedium, es bezeichnet einen Vorgang, der auf den spezifischen ästhetischen Möglichkeiten der digitalen Medien aufsetzt ” (Simanowski 2002: 13). Das gilt z. B. für kollaborative ‘ Schreibprojekte ’ wie die von Alvar Freude und Dragan Espenschied (www.assoziations-blaster.de), Claudia Klinger (claudia-klinger. de) oder Regula Erni (www.litart.ch). Bei dem seit 1997 weiter wachsenden Projekt “ 23: 40 ” von Guido Grigat (www.dreiundzwanzigvierzig.de) ist noch Raum zum Mitmachen: 1440 Minuten eines Tages sind mit ‘ Erinnerungen ’ zu füllen, für jede Minute eine Webseite, die nach einer Minute erlischt und der nächsten Platz macht (am 31. 12. 2016 liegen in Phase I 902 Beiträge vor, in Phase II 339). 340 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) 5.3 net art: Hypertext - Hyperfiction - Hypermedia Hinter Genre-Bezeichnungen wie ‘ Hyperfiction ’ oder ‘ Cyberfiction ’ oder auch ‘ Interfiction ’ - in diesem Terminus sollen nach Simanowski (2002: 18 ff.) Merkmale der Interaktivität, der Intermedialität und des Internet verschmelzen mit solchen der medienübergreifenden ästhetischen Inszenierung einer Fiktion - verbirgt sich ja in noch laxer Redeweise durchaus Unterschiedliches: neben den genannten kollaborativen (Mit-)Schreibprojekten, zu denen Autoren-Leser (writer & reader werden zuweilen graphemisch griffig zum “ wreader ” vereint) gemeinsam ihre linear konzipierten Textbausteine zusammentragen, werden darunter oft auch noch die multilateralen Dialog-Rollenspiele der so genannten Chats gezählt, in denen im schnell geschriebenen Gespräch so etwas wie ein gemeinsamer Text entsteht, der mit der dazu nötigen Geduld linear sich verfolgen ließe (cf. Beißwenger ed. 2001; id. 2007). Die aber wären sinnvollerweise als eigene Text- oder Dialogsorte zu beschreiben (Hess-Lüttich 2002). Demgegenüber bilden die Mitschreibeprojekte ein Subgenre der Netzliteratur, das bereits in weitere Untergliederungen sich auszudifferenzieren beginnt: in solche, bei denen die Autoren sukzessive an einer linear erzählten Geschichte weiterbasteln (z. B. der Fraktalroman oder Claudia Klingers Beim Bäcker), solche, bei denen sie an einer multilinearen Geschichte schreiben mit verschiedenen Zweigen (z. B. Roger Nelkes Die Säulen von Llacaan) und solche, bei denen sie ihre Einfälle zu einem gegebenen Stichwort beisteuern, die dann allenfalls (wie beim Assoziations-Blaster, s. o.) maschinell und automatisch in lockere Verbindung gebracht werden. Von ‘ Hyperfiction ’ im engeren und strengeren Sinne dagegen kann eigentlich erst dann die Rede sein, wenn sie den medienspezifischen Regeln der hypertextuellen Textproduktion und Textkonstitution folgt (s. o.), also systematisch Gebrauch macht von den neuen Möglichkeiten des Mediums zur Vernetzung von Textblöcken durch entsprechend markierte digitale Hyperlinks. Sie sind die konstitutiven Einheiten von Hyperfiction, mittels deren die narrativen Pfade geschlagen werden durch die Text-Räume der Server. Der Autor verwebt die Fäden der Textur und behält, im Glücksfalle, die Übersicht; der Leser knüpft sie neu, nach eigenem Gusto, und montiert sich so den ihm vielleicht gemäßen Text. Die Montage bleibt freilich im vom Autor definierten Rahmen des Programms. Es ist zugleich eines der entscheidenden Kriterien für die Beurteilung einer literarischen Gattung, deren Qualität sich durch Sprache und Stil allein nicht mehr verbürgt. Hinzu treten Kriterien des gefälligen Textdesigns und der stimmigen Integration polycodierter Textelemente wie Grafiken und Tabellen, Töne, Geräusche, musikalische Sequenzen, Photos, Bilder, Videos, multimodale Animationen. Aus der Summe solcher Kriterien ergibt sich das Spezifische des neuen Genres und der komplexere Maßstab seiner Beurteilung, weshalb das klassische Instrumentarium zu seiner Beschreibung entsprechend zu erweitern wäre (Simanowski 2002: 146 f.): Die Ästhetik der digitalen Literatur ist in hohem Masse eine Ästhetik der Technik, denn die künstlerischen Ideen müssen in die Materialität des Stroms überführt werden, ehe sie auf der Ebene sinnlicher Vernehmbarkeit erscheinen können. Dies erfordert vom Autor eine weitere bisher nicht notwendige Qualifikation: neben der ästhetischen - und zwar multimedial - ist die technische nötig. Medialität der Literatur 341 Sind die polycodierten Hypermedia noch Literatur? Wird das ästhetische Vergnügen an der Kunst sprachlicher Gestalt überlagert, ja verdrängt von dem am Raffinement der Text- Oberfläche? Das ‘ Oberflächliche ’ so mancher Versuche digitaler Literatur ist nicht zufällig Gegenstand pointierter Kritik von am hergebrachten Kanon geschulten Experten (cf. Wirth 1997). ‘ Net-Art ’ , Netz-Kunst ist deshalb vielleicht in der Tat das unverfänglichere Gefäß für ‘ Werke ’ wie die von Jenny Holzer oder Barbara Kruger, in denen Sprache, Bild und Ton sich vereinen oder wie die von Lance Shields, dessen Tele-Phony Telefon, Radio und Computer im digitalen Tableau medienkritisch kombiniert und reflektiert, Werke also, die ein Terrain sondieren, auf dem wir das Gedeihen neuer Kunst-Formen beobachten können (cf. Simanowski et al. eds. 2010). 6 Literatur Adamzik, Kirsten 2004: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung, Tübingen: Niemeyer Antos, Gerd & Heike Tietz (eds.) 1997: Die Zukunft der Textlinguistik. 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Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Autoren / Authors Andreas Blödorn, ist seit 2011 Professor für Neuere deutsche Literatur (Schwerpunkt Literatur und Medien) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Vizepräsident der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft (seit 2012) und Vizepräsident der Internationalen Raabe-Gesellschaft (seit 2016). Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. - 21. Jahrhunderts (insbesondere Goethezeit, Realismus und Frühe Moderne), Film der Frühen Moderne und der Nachkriegszeit, Literatur- und Mediensemiotik, Narratologie und intermediale Erzählverfahren in Literatur und Film. Stephan Brössel, Dr. phil., ist seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Literatur und Medien des Germanistischen Instituts an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster. Aktuell ist er Leiter eines dort situierten DFG-Netzwerks zur “ Echtzeit im Film. Konzepte, Wirkungsweisen und Interrelationen ” und arbeitet an einem Habilitationsprojekt zur Repräsentation und Reflexion von Zeit in Erzähltexten der Biedermeierzeit. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Film- und Literatursemiotik, die historische, kontextorientierte und transmediale Narratologie, die Intermedialität zwischen Literatur und Film, die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die literarische Anthropologie. Michael Buhl ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Passau und Mitglied der Graduiertenschule “ Sprache & Literatur ” der LMU München. Forschungsinteressen sind die Literatur des 19. Jahrhunderts, dramatische Literatur und der Überschneidungsbereich von Literatur und Philosophie. Jüngere Publikationen zu Karl Immermann, Wolfgang Hildesheimer und Friedrich Nietzsche. Jan-Oliver Decker ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik an der Universität Passau, seit 2005 Beirat in der Sektion Literatur der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V., seit 2011 im Vorstand und seit 2014 auch Präsident der DGS e.V. Seine Forschungsschwerpunkte sind Semiotik, transmediale Narratologie, Literatur vom 18. - 21. Jahrhundert, Film, Fernsehen und neue Medien in kultur- und mediensemiotischer und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive. Ernest W. B. Hess-Lüttich (*1949), Ordinarius emeritus (Germanistik: Sprachu. Literaturwiss.) Univ. Bern (CH) [1991 - 2014], Hon.Prof. (Allg. Linguistik) TU Berlin (D) [seit 2015], Hon.Prof. (German Studies) Stellenbosch Univ. (ZA) [2007 - 2017], Gastprof. MHB Fontane (D) [seit 2016]; Dr. phil. (Philologien), Dr. paed. (Sozialwiss.), Dr. habil (Germanistik u. Allg. Linguistik), Dr. h. c. [Budapest 2009]; akad. Werdegang: Lektor in German London Univ. [1970 - 1972], Wiss.Ass. Anglistik TU Braunschweig [1974 - 1975], Wiss.Ass. Germanistik F U Berlin [1975 - 1980], Priv.Doz. Dt. Philologie + Allg. Linguistik Bonn/ Berlin [1985 - 1990], Full Prof. German Studies, Assoc. Prof. Comparative Literature, Research Fellow Semiotics IU Bloomington [1990 - 1992]; Forschung: Diskursu. Dialogfg. (soziale, literarische, ästhetische, intermediale, interkulturelle, intra-/ subkulturelle, institutionelle, fachliche, öffentliche, politische, urbane Kommunikation); Publikationen: ca. 60 Bücher u. Editionen sowie ca. 370 Aufsätze, Monographien u. a. zur Dialoglinguistik, Kommunikation i. d. Literatur, Semiotik d. Dramas u. Theaters, Literaturtheorie u. Medienpraxis, Grammatik d. dt. Sprache; i. Vorb.: Literatursprache, Sprachlandschaften; Herausgeberschaften: div. Zeitschriften u. Buchreihen, u. a. Kodikas/ Code. Int'l. Journ. of Semiotics u. Kodikas Supplement Series [seit 1978], Cross Cultural Communication [seit 1994], Zs. f. interkulturelle Germanistik [bis 2015]; Fachgesellschaften: (Vize-)Präsident d. Dt. Ges. f. Semiotik (jetzt Ehrenmitglied), Ges. f. Angewandte Linguistik, Int ’ l. Assoc. of Dialogue Analysis, Ges. f. interkulturelle Germanistik (jetzt Ehrenmitglied); Mitglied div. Advisory Boards u. Editorial Boards; Ehrenmitglied d. Ges. ungarischer Germanisten, Mitglied d. Wiss. Beirates d. ICLTT d. Österreichischen Akademie der Wissenschaften [bis 2016]; Gastprofessuren: u. a. in München, Graz, Madison, Gainesville, Belo Horizonte, New York, Puerto Rico, New Delhi, Basel, Izmir, Bangkok, Stellenbosch, Melbourne u. Visiting Scholarships an 20 weiteren Universitäten in Europa, Amerika, Afrika, Asien, Australien. Hans Krah ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Semiotik, Narratologie, Kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung, Privatheit, Populärkultur in der deutschen Literatur vom 17. - 21. Jh. und in Film und Fernsehen. Magdolna Orosz ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Eötvös-Loránd- Universität Budapest. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Intertextualität, Intermedialität, Narratologie; Goethezeit, Frühe Moderne, österreichische und ungarische Literatur um 1900 (Hofmannsthal, Rilke, Andrian, Beer-Hofmann, Perutz, Schnitzler, Cholnoky, Márai, Kosztolányi, Krúdy u. a.). Sie ist Herausgeberin der Buchreihen “ Budapester Studien zur Literaturwissenschaft ” und “ M ű -helyek ” . Dr. Christoph Rauen ist seit 2007 Dozent für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Universität Kiel. Er hat über Literatur, Film, Musik und Journalismus seit dem 18. Jahrhundert publiziert und arbeitet derzeit an dem Buchprojekt “ Dichterglaube. Plausibilität und die Grundlagen von Fiktionalität, Vertrauen und Religiosität bei Ludwig Tieck. ” Als Mitherausgeber hat er 2017 am Text-und-Kritik Heft 215 zu Wolf Wondratschek und 2016 am Band “ Pornographie in der deutschen Literatur. Texte - Themen - Institutionen ” mitgearbeitet. Dr. Ines E. Veauthier ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der JGU Mainz und arbeitet am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft in Germersheim im Arbeitsbereich Amerikanistik. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Gender, Identität und Religion in amerikanischer Literatur und Kultur sowie intersemiotische Translation. Seit 2016 ist sie maßgeblich an dem vom GLK der Universität Mainz geförderten innovativen Lehrprojekt “ The Semiotics of Adaptation: A Cross-Cultural Approach ” beteiligt, das in Kooperation mit der kanadischen Universität TRU aus Kamloops durchgeführt wird. 350 Autoren / Authors Amelie Zimmermann ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik der Universität Passau im Lehrprojekt “ Information and Media Literacy ” (Gesamtprojekt SKILL - Strategien zur Kompetenzentwicklung: Innovative Lehr- und Beratungskonzepte in der Lehrerbildung). Nach ihrer Mitarbeit von 2014 - 2016 am Projekt “ Digitale Narrationen als innovativer didaktischer Ansatz für eine ökonomische Bildung im Handel ” an der Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart am Institut für Angewandte Narrationsforschung untersucht sie jetzt in ihrem Promotionsprojekt transmediale Bedeutungskonstruktionen im medienübergreifenden Textverbund. Autoren / Authors 351 K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autoren / Adresses of authors Prof. Dr. Andreas Blödorn Westfälische Wilhelms-Universität Germanistisches Institut Abteilung Neuere deutsche Literatur Schlossplatz 34 48143 Münster Dr. Stephan Brössel Westfälische Wilhelms-Universität Germanistisches Institut Abteilung Neuere deutsche Literatur Schlossplatz 34 48143 Münster Michael Buhl Universität Passau Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft Innstraße 25 94032 Passau Prof. Dr. Jan-Oliver Decker Universität Passau Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik Leopoldstraße 4 94032 Passau Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Ernest W. B. Hess-Lüttich Prof. em. German Dpt., University of Berne Laenggass-Str. 49, CH-3012 Berne, Switzerland Hon.Prof. Technische Universität Berlin (TUB) Institut für Sprache und Kommunikation Straße des 17. Juni 135, D-10623 Berlin, Germany Hon.Prof. University of Stellenbosch Dept. of Modern Foreign Languages Private Bag X1, Stellenbosch 7602, South Africa ernest.hess-luettich@germ.unibe.ch hess-luettich@campus.tu-berlin.de Prof. Dr. Hans Krah Universität Passau Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Innstraße 25 94032 Passau Prof. Dr. Magdolna Orosz Eötvös Loránd Universität Philosophische Fakultät Germanistisches Institut Rakoczi ut 5 H-1088 Budapest Dr. Christoph Rauen Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien Leibnizstraße 8 24118 Kiel Dr. Ines Veauthier Johannes Gutenberg Universität Mainz American Studies An der Hochschule 2 76726 Germersheim Amelie Zimmermann Universität Passau Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft Innstraße 25 94032 Passau Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift KODIKAS/ CODE (ca. 10 - 30 S. à 2.500 Zeichen [25.000 - 75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2 - 3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarzweiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3 - 5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für KODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht ( “ . . . ” ). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im SPIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “ normalen ” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren . . . (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “ [. . .] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen ” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “ f. ” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [. . .], Hinzufügungen durch Initialen des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “ (Hervorh. im Original) ” oder “ (Hervorh. nicht im Original) ” bzw. “ (Hervorh. v. mir, Initial) ” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “ [sic] ” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt ( “ . . . ‘ . . . ’ . . . ” ). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “ Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet. ” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “ Fähe bedeutet ‘ Füchsin ’ . ” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “ *Rettet dem Dativ! ” oder “ *der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. ” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [. . .] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “ Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben ” , in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1 - 2 (1999): 27 - 41 Duck, Donald 2000: “ Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag ” , in: Duck (ed.) 4 2000: 251 - 265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “ und ” oder “ & ” (bei mehr als drei Namen genügt ein “ et al. ” [für et alii ] oder “ u. a. ” nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “ etc. ” ): 354 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘ graue ’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck ( “ Zürich: Diss. phil. ” ), vervielfältigte Handreichungen ( “ London: Mimeo ” ), Manuskripte ( “ Radevormwald: unveröff. Ms. ” ), Briefe ( “ pers. Mitteilung ” ) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “ Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis ” , in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47 - 67 Duck, Daisy 2001 b: “ Zum Rollenverständnis des modernen Erpels ” , in: Ente und Gesellschaft 19.1 - 2 (2001): 27 - 43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “ Schon wieder keinen Bock ” , in: Franz Gans ’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15. 01. 2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15. 01. 2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15. 01. 2009] Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 355 Instructions to Authors Articles (approx. 10 - 30 pp. à 2'500 signs [25.000 - 75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3 - 5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotation marks “ . . . ” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn ’ t make sense; one is taken out of context; one isn ’ t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘ normal ’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind . . . (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [. . .], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “ . . . ‘ . . . ’ . . . ” . Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘ Enlightenment ’ ); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘ I learn English since ten years ’ : The Global English Debate and the German University Classroom ” , in: English Today 18.2 (2002): 9 - 13 Modiano, Marko 1998: “ The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union ” , in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241 - 248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “ Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe ” , Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5 - 7 October 2001, http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15. 01. 09]. Instructions to Authors 357 SELBSTREFERENZ UND SELBSTREFLEXION IN DER LITERATUR FORMEN UND FUNKTIONEN IN LITERATUR- UND KULTURHISTO- RISCHEN KONTEXTEN Jan-Oliver Decker: Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen Christoph Rauen: Jenseits der Relevanzphrase Michael Buhl: Bedeutungskonstitution durch Illusionsbruch in Ludwig Tiecks Die Verkehrte Welt Stephan Brössel: Kunstreflexion und Selbstreferentialität in Friedrich Theodor Vischers Cordelia Magdolna Orosz: Narrative Kommunikation, Meta-Erscheinungen und ihre Formen in der Literatur der Frühen Moderne Hans Krah: Krisenbewältigung und Selbstvergewisserung in Marie Luise Kaschnitz Liebe beginnt (1933) Ines Veauthier: Just dream it, then do it: die Macht mentaler Bilder Ernest W. B. Hess-Lüttich: Medialität in der Literatur: Intertextualität, Intermedialität, Hypertextualität, Digitale Poesie periodicals.narr.de