Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2017
401-2
KODIKAS/ CODE An International Journal of Semiotics Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Themenheft / Special Issue Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien. Formen und Funktionen in medien- und kulturhistorischen Kontexten Beiträge der Sektion ‘ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen ’ des 14. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. in Tübingen, 23. − 29. September 2014 Herausgegeben von / edited by Jan-Oliver Decker Articles Jan-Oliver Decker Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien: Eine Einführung in den Band . . . 3 Jan-Oliver Decker Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Hans Krah Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz. Der Film der 1980er Jahre und sein Verhältnis zu Identitäts- und Körperkonzeptionen der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 29 Jan-Oliver Decker Textile Texte. Selbstreflexive Thematisierung von Mode im Hollywood-Film als Maske und Identität von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Benjamin Weiß Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Steffi Krause Kartografie einer Geschichte. Analyse selbstreflexiver Erzählelemente und der Medialität in Cloud Atlas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Stephanie Großmann & Stefan Halft Überwindung von Schuld durch Reflexion. Filmische Selbstreflexivität und Metaisierung als Mittel von Subjektkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [1] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Marietheres Wagner Selbstreflexion in der Arena? Zur Raumsemantik der Hunger Games . . . . . . . . . . . . . . 129 Amelie Zimmermann Neue Medien - neue Identität? Selbstreflexivität in der transmedialen Fernsehsendung About: Kate . . . . . . . . . . . . . . . 140 Matteo Riatti Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt . . . . . . . . . . . . . . . 158 Martin Hennig “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” Selbstreflexive Erzählstrategien im Independent-Videospiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Hans Krah Strategische Selbstreferenz. ‘ Deutschland ’ in deutscher Werbekommunikation . . . . . 186 Autorinnen und Autoren / Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . . 213 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 134, - (special price for private persons € 104, - ) plus postage. Single copy (double issue) € 84, - plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. The articles of this issue are available separately on www.narr.de © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P. O. Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISSN 0171-0834 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [2] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien: Eine Einführung in den Band Jan-Oliver Decker (Passau) This issue comprises the contributions in media studies of the section “ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in Literatur, Film und anderen Künsten ” of the 14th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Verstehen und Verständigung ” (Eberhard-Karls- Universität Tübingen, 23. - 29. 09. 2014). Subject of the section were the questions i) how in a semiotic way self-reference and self-reflexivity could be described in the media and ii) which function self-reference and self-reflexive narrations could get in the history of media and in their cultural contexts. This essay introduces the volume and the contributions and, following the volume “ Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur ” cf. Kodikas/ Code 39.3 − 4 (2016), outlines the basic questions of the essays collected here. 1 Zur Genese und Konzeption des Bandes Die hier vorgelegten Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen in der Sektion ‘ Literatur ’ auf dem 14. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik mit dem Thema “ Verstehen und Verständigung ” vom 23. − 29. September 2014 an der Eberhard-Karls- Universität Tübingen und ergänzende Beiträge, die sich dem Thema der Selbstbezogenheit vor allem im Spielfilm und im Computerspiel widmen und hier in einem zweiten Band zur Selbstreferenz und zur Selbstreflexion in Literatur, Film und anderen Künsten mit dem Schwerpunkt audiovisuelle Medien erscheinen. 1 Im Mittelpunkt auch dieses Bandes stehen dabei überwiegend narratologische 2 Analysen und Beschreibungen, die hier vor allem in den Fallbeispielen die Semantik selbstreferen- 1 Der erste Band versammelt die Beiträge in der Sektion zu Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur, cf. Kodikas/ Code. An International Journal of Semiotics 39. 3 − 4 (2016). 2 Aufbauend auf cf. Lotman 1993, der Film und Literatur als sekundäre semiotische, Modell bildende Systeme begreift, entwickelt Krah 2006 Verfahren der narratologischen Analyse der Literatur, die cf. Gräf et al. 2011 auf Film übertragen. In Fortführung von cf. Genette 2010 und seiner literarischen Narratologie entwickeln zuerst cf. Grimm 1996 und zuletzt cf. Kuhn 2013 Narratologien für audiovisuelle Medien. Cf. zur Selbstreflexivität in der Literatur beispielsweise Schmid 2005 und Martínez/ Scheffel 2012, cf. zum Film bspw. Grimm 1996 und Kuhn 2013, cf. zur Übertragung literaturwissenschaftlicher Analyseverfahren Wolf 2005. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [3] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL zieller Verfahren (im Sinne der Iteration von Zeichen eines Textes als abgeleitete Zeichen auf einer anderen Ebene des Textes, cf. Fricke 2003) für die mediale Selbstreflexion in den Blick nehmen. 3 Auch wenn bis heute eine verbindliche, semiotisch orientierte Analyse selbstreflexiven Erzählens, die sich semiotischer Analyse- und Beschreibungsinventare als ihrer Methoden bedient, sowohl in der Theorie als auch in derAnwendung noch ein Desiderat ist, gibt es mit Nöth & Neitzel 2008 auch einen überzeugenden Versuch semiotischer Beschreibungen von Selbstreferenz in Werbung, Computerspiel und Comics, deren mediale Spezifik differenziert berücksichtigt wird. Erstaunlich ist dabei in der Einleitung der unter Rekurs auf Lotmans Konzept von der Semiosphäre (cf. Lotman 1990) zweifellos originell formulierte Gedanke: Die Selbstreferenz der Medien ist demnach ein Symptom der allgemeinen Tendenz der Semiosphären zur Selbstreflexion. [ … ] Die Selbstreferenz der Medien als Sonderfall der Selbstreflexivität der Semiosphären überhaupt ist adäquater durch das Bild des Spiegels beschrieben, der sich in sich selbst widerspiegelt. Sie besagt, dass sich die Medien in der Welt widerspiegeln, von der sie ein wesentlicher Bestandteil geworden sind. (Nöth & Neitzel 2008: 56) Hier wird m. E. die grundlegende Selbstreferenz jedes Mediums korrekt benannt: Als Konstrukt aus medialen Zeichen, die etwas anderes repräsentieren und dieses andere nicht sind, verweist das mediale Artefakt per se auf seine Gemachtheit und ist damit strukturell selbstreferenziell. Diese strukturelle Selbstreferenzialität kann selber dann in der Art eines Re-Entrys innerhalb der medialen Zeichen wieder repräsentiert und damit selbstreflexiv zum Thema gemacht werden. Zu fragen bleibt dann aber, ob über diese typologische Selbstreferenzialität und Selbstreflexion hinaus, die jedem mit medialen Zeichen kommunizierendem Artefakt inhärent ist, zusätzlich selbstreferenziellen und selbstreflexiven Verfahren in medialen Formaten semantische Funktionen zugewiesen werden können. Zu Recht führt Rauen 2016 auf der Grundlage struktureller Selbstreferenz und ihrer derzeit ubiquitären Analysen in Form von Typologien gerade die Notwendigkeit von historisch reflektierten Analysen von Selbstreferenz und Selbstreflexivität aus. 4 Gefordert sind aktuell vor allem Analysen von Selbstreferenz und Selbstreflexion, die gerade ihre kommunikativen Funktionen für ihre jeweiligen Produktions- und Rezeptionskulturen untersuchen und damit über typologische Modelle hinausgehen und ihre Ergebnisse funktional in historische Analysen einbetten. Was Rauen 2016 programmatisch für die Literatur einfordert, wollen die Beiträge in diesem Band für audiovisuelle Medien sondieren. Die hier vorgelegten Beiträge nähern sich dabei den Phänomenen Selbstreferenz und Selbstreflexion immer in konkreten Beispielen in einer methodisch geleiteten, vorwiegend narratologischen Herangehensweise. Ziel der Analysen der Verfahren selbstreflexiven Erzählens, wozu hier auch Formen selbstreferenzieller Bezugnahmen von der einfachen Spiegelung bis hin zur Metalepse und zum narrativen Kurzschluss gezählt werden (im Sinne 3 Zum Phänomen literarischer Selbstreflexion einführend und immer noch grundlegend cf. Scheffel 1997. Zur semiotisch genau beschriebenen Selbstreferenz in Werbung, Computerspiel und Comics cf. Nöth & Neitzel 2008. 4 Cf. Zur Rolle der Lotmanschen Semiosphäre für die Beschreibung von medialen Wandlungsprozessen einführend Decker 2017 und zur Rolle der Semiosphäre in medienübergreifenden, transmedialen narratologischen Zusammenhängen Decker 2016 a. 4 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [4] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL von Genette 2010: 168 f.), ist, die Funktionen von Selbstreferenz und Selbstreflexion in audiovisuellen Medien in historischen Beispielen semiotisch zu beschreiben und zu erklären. Dahinter steht, wie schon für den ersten Band zur Funktion von Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur programmatisch formuliert (cf. Decker 2016 b), der Gedanke, dass sich erst auf einer breiten Basis diachroner und synchroner Studien mit semiotischer Ausrichtung ein semiotisch orientiertes Beschreibungsinventar multimodaler Selbstreflexion ableiten lässt, das auch Funktionen und Reichweiten unterschiedlicher Formen von Selbstthematisierung, Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexion beschreiben kann. Genau hier möchten die Beiträge ansetzen und mit Analysen von Spielfilmen und Computerspielen beginnen, ein Referenzkorpus für solche Analysen aufzubauen, die anhand ausgewählter Beispiele aus einer semiotischen Perspektive Phänomene selbstreflexiven Erzählens exemplarisch in ihren kulturhistorischen und mediengeschichtlichen Kontexten analysieren und Verfahrensweisen vorschlagen, die dann künftig zu einem medienübergreifenden semiotischen Beschreibungsinventar zur Analyse selbstreflexiven Erzählens ausgebaut werden können. 2 Selbstreferenz & Selbstreflexion vs. Fremdreferenz & Kohärenz: die Beiträge Die Beiträge sind so in diesem Band arrangiert, dass sie primär, dem historischen Anspruch gemäß, einer gewissen Chronologie folgen und sekundär, dem medienspezifischen Anspruch gemäß, bestimmten medialen Formaten und ihren semiotischen Spezifika. Der Band beginnt dementsprechend mit acht Beiträgen zu einzelnen Spielfilmen und Spielfilmkorpora. Das Augenmerk wird dabei generell auf mediale und kulturelle Umbruchssituationen gelegt, zu denen die analysierten Beispiele in Beziehung gesetzt werden wie beispielsweise die Einsetzung der Kleinfamilie in einer als Bedrohung erfahrenen Umwelt im Kino der Weimarer Republik oder der Wechsel vom Kino der 1970er Jahre mit seinen Experimenten zu Re-Normierungen von Körper, Liebe und Sexualität in den 1980er Jahren oder auch die konstante Normierung idealer Frauenrollen durch Kleidung durch die Filmgeschichte hindurch. Ähnlich zeigt die daran anschließende Konfrontation von Cronenbergs postmodernem Kino mit den Blockbustern der Gegenwart wie die gleichen selbstreferenziellen und selbstreflexiven Verfahren ganz unterschiedlich genutzt werden können, um einmal Sinn grundlegend in Frage zu stellen oder aber neuen Sinn zu etablieren. Der Filmblock endet mit der Beschreibung der für die aktuelle Medienlandschaft der Gegenwart typischen ‘ Arena ’ -Dramaturgie und eröffnet damit das Feld der Analysen jenseits des Spielfilms. Dabei werden transmediale Erzählverfahren zur Öffnung einer Fernsehserie in andere mediale Formate hinein ebenso diskutiert, wie die Spiellogik des Mainstream- und des Independent-Computerspiels. Abgerundet wird der Band durch die Analyse deutscher Werbekommunikate, die Deutschland reflektieren, was aktuell unter dem immer stärker wieder salonfähigen Nationalismus und seiner Rhetorik von höchster kultureller Relevanz ist. Im ersten Beitrag widmet sich Jan Oliver Decker der Analyse des Aufklärungsfilms Falsche Scham aus dem Jahr 1926 und zeigt, wie Tricktechnik und Handlung zusammen einen medizinischen Blick ausformen, welcher der Zuschauerin und dem Zuschauer ermöglichen soll, unter einer verführerischen Oberfläche die Gefahren der Geschlechts- Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 5 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [5] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL krankheiten zu erkennen und für sich selber durch ein ideales Kleinfamilienmodell zu bannen, in dem alle Triebe domestiziert sind. Dabei reflektiert der Film zum einen über die Gefahren des Kinos als Mittel der Verführung, um zum anderen sich selber als idealen Aufklärungsfilm zu bewerten. Der Arzt als Sozialhelfer auf der Ebene der erzählten Geschichte und der medizinische Blick des Films unter die Oberfläche durch die neue Tricktechnik auf der Ebene der Präsentation formen dabei ein innovatives, selbstbewusstes, didaktisches Aufklärungsmedium in der Weimarer Republik. In seinem folgenden Beitrag untersucht Hans Krah männliche Körperbilder im USamerikanischen Spielfilm im Wechsel zwischen den 1970er und den 1980er Jahren und zeigt, wie anhand des männlichen Körpers an dieser zeitlichen Schnittstelle im US-amerikanischen Film in den frühen 1980er Jahren ideologische Normierungen und Disziplinierungen inszeniert werden, die Freiheiten und Experimente der 1970er Jahre zurücknehmen. Dabei entwickeln die untersuchten Filmbeispiele eine spezifische Konzeption von Selbstthematisierung, indem in ihren erzählten Geschichten mittels der Körperinszenierung ein vergangenes ‘ Eigenes ’ im Filmverlauf als ‘ Fremdes ’ bewertet wird und durch diese Bewertung des früheren Eigenen als ‘ Fremdes ’ wiederum ein neues ‘ Eigenes ’ begründet wird, welches das jetzt neue ‘ Fremde ’ überwindet und final letztlich als nie zu dem eigenen Selbst zugehörig postuliert. Funktional zeigt diese Inszenierungsstrategie dabei den grundlegenden Paradigmenwechsel zwischen dem Film der 1970er Jahre, der Probleme und alternative Milieus exploriert und dem Mainstream-Kino der 1980er Jahre, das Lösungen und konservative Werte normiert. Der darauf folgende Beitrag von Jan-Oliver Decker zeigt ähnlich wie der vorangehende Beitrag von Hans Krah am Männerkörper, wie durch die Thematisierung von Kleidung und Mode weibliche Körperinszenierungen durch Spielfilme normiert werden, die selbstreflexiv Mode als Mode thematisieren, um werthafte Geschlechterrollen zu inszenieren. Der Beitrag stellt dabei in der Frauenrolle semantische Kontinuitäten des Frauenbildes zwischen Cukors The Women (1939) und Altmans Prêt-à-Porter (USA 1994) her und kontextualisiert zugleich den Zusammenhang von selbstreflexiv als Mode thematisierter Kleidung im Film und Frauenrolle in der Filmgeschichte von Audrey Hepburn bis Frankels The Devil Wears Prada (2006) im Hollywood-Kino: Mode wird im Hollywood-Kino als Mode reflektiert, um in den Filmen ideale Weiblichkeit als natürliches Gegenmodell zu setzen; gleichzeitig passt der konstante Ausgrenzungs- ‘ Topos ’ Mode das jeweils propagierte Weiblichkeitsideal zeitspezifisch beispielsweise sozial als dem Mann beigeordnetes Schmuckstück am Ende der 1930er Jahre oder als anthropologisch begründete Mutterrolle in der Mitte der 1990er Jahre kulturspezifisch an. Benjamin Weiß analysiert in seinem Beitrag zu Cronenbergs Naked Lunch, wie der Film sich durch metaleptisches Verschmelzen der installierten Erzählebenen die literarische Vorlage und den Autor Burroughs aneignet, um ein eigenes, postmodernes Filmkunstwerk zu erschaffen. Dabei verschneidet der Film Referenzen auf das kulturelle Wissen um den Autor, die konkrete literarische Vorlage und auch das weitere Œ uvre Burroughs ’ so miteinander, dass Schreiben durch fortlaufende Konstruktion und Dekonstruktion von Autorschaft als ein selbstzerstörerischer Prozess inauguriert wird, der seinen künstlerischen Wert als auf sich selbst bezogenen künstlerischen Prozess entfaltet. Dabei indiziert der künstlerische Prozess immer das jenseits des Kunstwerks tätige künstlerische Subjekt, 6 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [6] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL das dieses Werk performativ fortlaufend hervorbringt. Auch wenn im Werk Sinn selbstreferenziell aufgelöst wird, wird der Künstler als Schöpfer des Kunstwerks, als Urheber fremdreferenziell identifiziert. Damit zeigt der Beitrag, wie in Cronenbergs Film zu Beginn der 1990er Jahre die voll entfaltete, selbstreferenzielle postmodere Ästhetik zum Tragen kommt, die dann vom Mainstream-Kino der 2000er Jahre aufgegriffen und neu semantisiert wird: Anstatt Sinn und Identität grundlegend zu dekonstruieren, werden mit Hilfe selbstreferenzieller Verfahren auch in den Diegesen neue Identitäten konturiert und legitimiert. Dies untersucht Steffi Krause beispielhaft in ihrem Beitrag zu Cloud Atlas (2012), in dem sie darlegt, dass der Film die Verschmelzung der Erzählebenen, Spiegelungen in der Diegese und zwischen Historie und Discours dazu benutzt, um ein anthropologisches Konzept von Handeln und Person zu entwickeln, dass über historische Epochen hinaus durch Wiedergeburt eine mythische Konzeption von Person entwickelt, die über alle sozialen Systeme und kulturellen Kontexte hinweg fast teleologisch auf eine Weiterentwicklung des Selbst und der Person bis in alle Ewigkeit hinein hinausläuft. Zugleich auratisiert der Film Medien als Hilfsmittel dieser prädisponierten Selbstfindung. Ein medienkritisches Potenzial wird hiermit dann geradezu negiert. Hier ist chronologisch in der Filmgeschichte im Grunde ein Punkt im populärkulturellen Kino der Gegenwart erreicht, wo selbstreferenzielle und selbstreflexive Strategien oppositionell zum postmodernen Kino Cronenbergs semantisiert werden. Medien stiften selbstreflexiv Sinn, anstatt durch Selbstreflexion mediale Sinngebung ideologisch, kulturell und sozial zu problematisieren. Ähnlich führen Stephanie Großmann und Stefan Halft in ihrer Korpus-Analyse vor allem an den Beispielen Stay (2005), Shutter Island und Inception (beide 2010), vor, wie selbstreferenzielle und selbstreflexive Verfahren durch metaleptische Strukturen zwischen den innerfilmisch installierten Erzählebenen von den Filmen genutzt werden, um eine Krisensituation des Subjekts zu inszenieren. Die Vermischung der Erzählebenen wird dabei in den Beispielen für eine Art therapeutischer Arbeit am eigenen Selbst genutzt. Hier wird im Kino der 2000er Jahre damit eine Strategie aufgegriffen, die der Beitrag von Hans Krah zu Beginn 1980er Jahre anhand der Körperinszenierungen gezeigt hat: Ein ‘ Eigenes ’ wird mit Hilfe selbstreflexiver Strukturen als ‘ Fremdes ’ abgespalten und dadurch eine neues ‘ Eigenes ’ konstruiert, welches das vergangene ‘ Eigene ’ , jetzt ‘ Fremde ’ , verdrängt. Wo dies im Kino der frühen 1980er Jahre noch dazu dient, die Person und ihren Körper als sozial normierte, nach außen abgegrenzte Identität zu bestimmen, zeigen die Filme der 2000er Jahre, wie die Verdrängung eines alten ‘ Eigenen ’ durch ein neues ‘ Eigenes ’ in die Person selber hinein verlegt wird. Jetzt in den 2000er Jahren fokussieren die Filme mittels selbstreferenzieller und selbstreflexiver Verfahren innerpersonelle Formatierungen eines anthropologischen Diskurses. Mit dem Beitrag von Marietheres Wagner bestätigt sich diese Konzeption der Person erneut an den Hunger Games-Filmen (2012 − 2015). Das Besondere ist hier jedoch, dass die von Marietheres Wagner entdeckte ‘ Arena ’ -Dramaturgie dazu dient, das selbstreflexive Potenzial des Films, das anhand der innerfilmischen Thematisierung des medialen Formats ‘ Reality Show ’ zunächst entwickelt wird, umzulenken und damit als Problem zu nivellieren. Dies zeigt im Grunde eine fortschreitende Verdrängung medienkritischer Potenziale aus dem populärkulturellen Blockbuster-Kino der Gegenwart an. Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 7 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [7] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Amelie Zimmermann öffnet mit ihrem Beitrag den Blick auf transmediale Zusammenhänge und damit nicht nur auf die Auflösung von Erzählebenen in einem Medienprodukt, sondern in einem mehrere unterschiedliche mediale übergreifenden narrativen Universum. Das transmediale Projekt About: Kate (2013) besteht aus einer TV-Serie als Coretext und einer Reihe von Paratexten (Screen-App, Website, Facebook-Profile). Mittels selbstreflexiver Erzählstrategien zeichnet dabei About: Kate die Genesung einer jungen Frau von einer psychischen Störung nach, die unter anderem auch dadurch ausgelöst wird, dass das Subjekt als Teil einer hypermedialen Gesellschaft mit Fragen der Wahrnehmung konfrontiert ist. Idealerweise, so die Position des Projekts, sind Medien grundlegend an der Identitätsbildung beteiligt, indem das Selbst sich spielerisch und selbstbewusst im Umgang mit verschiedenen Medien erprobt. Hier bestätigt sich etwas differenzierter als im Blockbuster-Kino also das Bild, das ähnlich die Beiträge von Steffi Krause, Stephanie Großmann & Stefan Halft und Marietheres Wagner für das populärkulturelle Kino der Gegenwart herausfinden: SelbstreflexiveVerfahren werden positiv für die Identitätsbildung des Subjekts semantisiert und ihr medienkritisches Potenzial zwar nicht so geleugnet wie in den Hunger Games-Filmen, aber im Ergebnis nach einer überstandenen Krise als positive Experimente des Selbst postuliert. Eine medial andere Perspektive auf die Frage nach der Autonomie oder Heteronomie des Subjekts in und durch Medien nehmen die beiden Beiträge von Matteo Riatti und Martin Hennig zu Videospielen ein. Matteo Riatti beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, wie Videospiele durch ihre spezifische Medialität (Interaktivität) das Eintauchen des Spielers in die Welt des Spiels erzeugen und ob grafischeTechniken das Medium selbst unsichtbar machen oder aber durch selbstreferenzielle spielerische oder narrative Elemente die Immersion gebrochen wird. Er zeichnet dabei durch Analyse verschiedener Beispiele nach, dass das Durchbrechen der vierten Wand zwischen Diegese im Spiel und Spieler nicht nur typologisch zum Videospiel dazugehört, sondern deshalb auch produktiv für die Immersion genutzt werden kann. Daran knüpft der Beitrag von Martin Hennig an, der zum Teil unter Rekurs auf das gleiche (The Stanley Parable) und andere Beispiele analysiert, wie Independent-Spiele durch Problematisieren von Repräsentation und Interaktivität die spezifische Medialität von Videospielen selbstreflexiv thematisieren und dadurch die Bindung zwischen dem Spieler und seinem Avatar auflösen. The Stanley Parable insbesondere modelliert das Videospiel als eine tyrannische Kontrollinstanz, die den Spieler explizit diszipliniert und fremd bestimmt, damit aber auch strukturelle Konflikte von Narrativität und Interaktivität verhandelt und auf diese Weise grundlegende Fragen der Medialität von Videospielen des Massenmarktes spielerisch selbstreflexiv und, typisch für Independent-Produktionen, ironisierend reflektiert. Die häufige Selbstdarstellung des Videospiels im Independent-Videospiel kann mit Martin Hennig dabei als Ausdruck einer medialen Identitätssuche, nach seinen mentalitätsgeschichtlichen und kulturellen Funktionen gelesen werden. Das Independent-Videospiel wäre damit ein Medium, das ähnlich wie das transmediale Projekt, das Amelie Zimmermanns Beitrag vorstellt, mittels selbstreferenzieller Verfahren über seine mediale Funktionen aktuell (noch) experimentell reflektiert. Abgerundet wird der Band durch einen Beitrag von Hans Krah über die Kampagne Du bist Deutschland aus den Jahren 2005/ 6 und kommerzielleWerbung deutscher Unternehmen aus 8 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [8] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL den Jahren 2012/ 13 (Audi, Commerzbank, Siemens), die zu den beiden Untersuchungszeitpunkten je unterschiedliche ‘ deutsche ’ Mentalitäten formulieren. Insbesondere zeigt Hans Krah, dass sich das Bewusstsein darüber ändert, was ‘ Deutschsein ’ ausmacht. Nationale Konnotationen werden nach der zeitgeschichtlich durch den Nationalsozialismus bedingten Vermeidung nationaler Semantik inzwischen in kommerzieller Werbung deutscher Unternehmen konsens- und werbefähig. Mithilfe von Lotmans Konzept der Semiosphäre, analysiert dabei der Beitrag die Diskursentwicklung durch Selbstreferenz auf das Zeichen Deutschland und zeigt, wie sich ein rechts-konnotierter Diskurs zum Topos in kommerzieller Werbung transformiert. Im Überblick über die Beiträge und in der Summe bestätigen die Beiträge dieses Bandes damit mehrheitlich einen Befund, der sich auch schon für den ersten Band und die Literatur zeigen ließ: Selbstreflexives Erzählen dient oft dem Prozess einer Selbstvergewisserung in einer Krise und führt damit den Konflikt zweier Systemzustände sowohl auf der Ebene der besprochenen Situation als auch auf der Ebene der Sprech- und Erzählsituation vor (cf. Decker 2016 b). Anders als in der Literatur aber, wo oft ein altes, gegebenes System zwar als defizitär empfunden, ein neues angestrebtes System aber noch nicht gefunden ist, nutzen die audiovisuellen Medien des 20. Jh.s in den hier vorgelegten Beispielsanalysen selbstreflexive Krisenerzählungen oft für eine explizite und dezidierte Wertevermittlung und Neuorientierung, gar neue Konzeption der Person, ihrer Umwelt und ihrer sozialen Rolle (cf. Zimmermann, Großmann & Halft, Krause, beide Beiträge von Krah, aber für frühere Phasen des Films auch beide Beiträge von Decker in diesem Band). Selbstreflexives Erzählen wird in den hier untersuchten audiovisuellen Medien damit zu einer besonderen Form der Krisenbewältigung und der Verständigung über Krisen und Phasen des Wechsels in der Vorstellung vom ‘ Eigenen ’ , ‘ Anderen ’ und ‘ Fremden ’ , in der sich das Subjekt als ein konsistentes und kohärentes ‘ Ich ’ häufig neu formiert und bestätigt. Besonders produktiv geschieht dies in den von den Beiträgen untersuchten Beispielen oft durch Metalepsen zwischen den Erzählebenen, also narrativen Kurzschlüssen, bei denen die Grenze zwischen der Welt, von der erzählt wird, und der Welt, in der erzählt wird, überschritten wird (cf. Martínez & Scheffel 2012: 79). 5 Dabei zeigt sich für audiovisuelle Medien der Gegenwart und dominant für den Spielfilm eine eigentlich paradoxe Konstruktion: Einerseits wird mit Hilfe von Selbstreferenzen auf die eigene mediale Gemachtheit, mithin die eigene Künstlichkeit, explizit hingewiesen. Andererseits werden jenseits dieser Gemachtheit anthropologische Werte installiert, die sich sozusagen hinter der Gemachtheit von Medien als künstlichen Artefakten als universell gültige Werte herausschälen (so schon cf. Decker 2007 am Beispiel von Michel Gondrys Vergissmeinnicht). Selbstreferenz und Selbstreflexion sind damit nicht mehr nur dominant Strategien, die auf die Relationalität und Relativität jeden Sinns hinweisen (so noch bei Cronenbergs Naked Lunch, cf. Weiß in diesem Band). Vielmehr kann angenommen werden, dass Verfahren postmoderner Ambivalenz in den Künsten durch spätmoderne Funktionalisierung postmoderner Sinnverunsicherungen in der Populärkultur neu oder re-semantisiert und in 5 Vergleiche zur Produktivität der Analyse von selbstreferenziellem und selbstreflexivem Erzählen vor allem in audiovisuellen Medien den Sammelband zur Metalepse in der Populärkultur von Kukkonen/ Klimek 2011. Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 9 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [9] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Form anthropologischer Werte sogar naturalisiert werden. 6 Zumindest als These ließe sich damit mentalitätsgeschichtlich vermuten, dass die Populärkultur der Gegenwart Verfahren der Selbstreflexion durch Selbstreferenz soweit popularisiert hat, dass diese keine medienkritische Dimension mehr aufweisen (cf. exemplarisch Krause in diesem Band am Beispiel von Cloud Atlas). Allenfalls im Independent-Videospiel und im transmedialen Erzählverbund werden selbstreferenzielle Verfahren als experimentelle und medienkritische Selbstreflexionen derzeit (noch) entwickelt. Bibliographie Barthes, Roland 1964: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp Derselbe 2007 a: “ Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘ Postmoderne ’ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Vergissmeinnicht, USA 2004) ” , in: Decker (ed.) 2007 b: 153 − 175 Decker, Jan-Oliver 2007 b (ed.): Erzählstile in Literatur und Film (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica 30, 1 - 2), Tübingen: Narr Decker, Jan-Oliver 2016 a: Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion, in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 − 171 Decker, Jan-Oliver 2016 b: “ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur aus narratologischer Perpsektive: Eine Einführung in den Band und ein Vorschlag zur Analyse und Funktion der Metalepse ” , in: Decker et al. (eds.) 2016: 205 − 216 Decker, Jan-Oliver et al. (eds.) 2016: Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur. Formen und Funktionen in Literatur- und kulturhistorischen Kontexten (= Kodikas/ Code. An International Journal of Semiotics 30.3 − 4 (2016)), Tübingen: Narr Decker, Jan-Oliver 2017: “ Medienwandel ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 423 − 446 Fricke, Harald 2003: “ Potenzierung ” , in: Jan-Dirk Müller et al. (eds.) 2003: 144 − 147 Genette, Gérard 3 2010: Die Erzählung, Paderborn: Fink Gräf, Dennis et al. (eds) 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Grimm, Petra 1997: Einführung in die Filmnarratologie, München: Diskurs Film Hennig, Martin & Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiel (= Reihe Game Studies), Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig Krah, Hans & Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Ralf Schuster Kuhn, Markus 2013: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/ New York: de Gruyter Kukkonen, Karin und Klimek, Sonja (eds.) 2011: Metalepsis in Popular Culture (= Narratologia 28), Berlin/ New York: de Gruyter Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink Lotman, Jurij M. 1990: “ Über die Semiosphäre ” , in: Zeitschrift für Semiotik 12.4 (1990): 287 - 305 Martínez, Matías & Michael Scheffel 12 2012: Einführung in die Erzähltheorie (12. überarbeitete u. erweiterte Auflage), München: C. H. Beck 6 Hier hat dann immer noch Gültigkeit was Roland Barthes unter dem Begriff ‘ Mythos ’ über die Naturalisierung von Ideologien in populären Medien festgestellt hat (cf. Barthes 1964: 127, 131 f.). 10 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [10] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Meister, Jan-Christoph (ed.) 2005: Narratology beyond Literary Criticism: Mediality, Disciplinarity, Berlin: de Gruyter Müller, Jan-Dirk et al. 2003 (eds.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3: P-Z, Berlin/ New York: de Gruyter Nöth, Winfried & Britta Neitzel (2008): Mediale Selbstreferenz. Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und Comics, Köln: Herbert von Halem Rauen, Christoph 2016: “ Jenseits der Relevanzphrase - Was Selbstreflexivität in den Literatur- und Kunstwissenschaften leisten kann ” , in: Decker et al. (eds.) 2016: 217 − 231 Scheffel, Michael 1997: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer Schmid, Wolf 2 2005: Elemente der Narratologie, Berlin/ New York: de Gruyter Wolf, Werner (2005). “ Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon: A Case Study of the Possibilities of ‘ Exporting ’ Narratological Concepts ” , in: Jan Christoph Meister (ed) 2005: 83 - 107 Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 11 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [11] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham (1926) Jan-Oliver Decker (Passau) The article outlines cinema and cinematic narration as subjects in the sex education film Falsche Scham (1926) as well as a kind of self-reflexivity which deals with an indirect selfreference in the film. The movie installs an implicit poetological discourse about the ideal sex education by relating it to venereal disease (i. e. syphilis). Falsche Scham thereby narrates and visualizes contemporary discourses concerning sexuality and develops a self-reliant aesthetic of cinematic narration on venereal disease in Weimar cinema. The article points out the narrative strategies in the sex education film and shows how sexuality is regulated and how the bourgeois order is upheld in Weimar Republic. 1 Der Aufklärungsfilm Falsche Scham: Produktionskontexte Der Aufklärungsfilm Falsche Scham (D 1926, Rudolf Biebrach, Buch Curt Thomalla) ist mit seiner Animations- und Tricktechnik ein bedeutender Aufklärungsfilm der Ufa mit dem Ziel, die Volksgesundheit und Volkshygiene zu verbessern (cf. Thissen 1995: 105 - 113, cf. Gertiser 2008 und Gertiser 2015). 1 Vorgeführt werden einerseits in vier fiktionalen Spielszenen Schicksale von vor allem an Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten erkrankten Männern und Frauen. Andererseits zeigt der Film in medizinische Vorträge eingebettete Animationssequenzen, die biologische Vorgänge visualisieren, Großaufnahmen von Körperteil-Präparaten mit bspw. Syphilis und auch Dokumentaraufnahmen von realen Patientinnen und Patienten wie bspw. eines Säuglings mit einem schlimmen Augentripper. Der Film verarbeitet also vor allem den medizinischen Diskurs über die Geschlechtskrankheiten. Ziel ist an der Oberfläche, durch Aufklärung die soziale Ächtung von Geschlechtskranken abzubauen und damit einer falschen Scham der Kranken entgegenzuwirken, sich aus Angst vor sozialer Ächtung nicht behandeln zu lassen (cf. Schmidt 2000: 24 - 29). Geheilt werden konnte die Syphilis bekanntermaßen mit dem seit 1910 von Hoechst produzierten und von Paul Ehrlich 1906 synthetisierten Salvarsan. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg trotzdem die Durchseuchungsrate der deutschen Bevölkerung mit Syphilis 1 Gertiser 2015 überzeugt einerseits durch umfassende Aufarbeitung der Diskurse über Syphilis und andererseits durch eine profunde Auswertung des filmischen Materials - darunter auch der ihrer Arbeit den Titel gebende Film Falsche Scham. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [12] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL aufgrund der heimkehrenden Soldaten rapide an (cf. Eder 2002: 187 − 193, auch für das Folgende). Schon am 11. Dezember 1918 erlässt die Räteregierung deshalb die Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die eine strenge Kasernierung und Reglementierung der Prostitution begründete. Mit dieser Verordnung wurde die Sittenpolizei als Hüter der sittlichen Ordnung und Aufsicht über die Prostitution installiert, die Zwangsuntersuchungen und Haft für an Syphilis erkrankte Prostituierte durchsetzen konnte. Gegen diese strenge Reglementierung der Prostitution und gegen die Willkür der Sittenpolizei richtete sich dann in der Weimarer Republik die so genannte abolitionistische Bewegung (cf. Messer 1931: 70 f.), die dazu führte, dass am 1. Oktober 1927 tatsächlich ein liberaleres neues Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Kraft tritt (das am 18. Februar 1927 beschlossen wurde), das in der BRD bis 1953 gültig war. Die Uraufführung des Films Falsche Scham am 15. März 1926 im Mozartsaal am Nollendorfplatz fällt nun in die Beratungsphase des Gesetzes und agitiert in seinem Sinne, um durch Aufklärung und Aufzeigen der Infektionswege und der Behandlungsmöglichkeiten der Geschlechtskrankheiten soziale Vorurteile abzubauen und das Vertrauen in die medizinischen Heilverfahren zu stärken. Die Politik entwickelte sich von der polizeilichen Repression der Prostituierten zur medizinisch-pädagogischen Prophylaxe (cf. Gertiser 2008). Zu dem Film Falsche Scham hat der medizinische Berater und Mitarbeiter am Drehbuch Curt Thomalla in Kooperation mit der UFA das erste Buch in der Reihe Illustrierte Bücher in der Kulturbücherei mit Bildern aus dem Film veröffentlicht, das als Aufklärungsschrift für die breite Bevölkerung vertrieben wurde. 2 Der Film selber wurde in neu begründeten Hygienemuseen (Deutsches Hygienemuseum in Dresden 1912 gegr.), in Fortbildungs- und Lehrveranstaltungen, in Schulen und Krankenhäusern, in Gewerkschaftshäuern und in Betrieben, bei Gesundheitswochen und Hygieneausstellungen und in den allgemeinen Kinos einer breiten Öffentlichkeit vorgeführt. Der Film popularisiert also ein Wissen über die Geschlechtskrankheiten, von dem man annehmen kann, dass es mit der Verbreitung des Films von einem gruppenspezifischen medizinischen Wissen zu einem allgemeinen kulturellen Wissen über die Geschlechtskrankheiten breiter Bevölkerungsschichten wird. Als Aufklärungsfilm ist Falsche Scham dabei ein typischer Vertreter seines Genres, der aktuelle Diskurse über Sexualität und Erotik aufgreift und massenmedial mit moralisierenden Spielfilmhandlungen aufbereitet. Hier knüpft derAufklärungsfilm Falsche Scham an den so genannten Sittenfilm an: Der Sittenfilm ist eine für die schnelle Mark produzierte Film-Ware nach 1918, die mit reißerischen Titeln wie Der Weg, der zur Verdammnis führt, 2. Teil, Hyänen der Lust (D 1919, Otto Rippert), Dirnentragödie (D 1927, Bruno Rahn) oder Die Rothausgasse (D 1927/ 28, Richard Oswald) oder Geschlecht in Fesseln (D 1928 Wilhelm Dieterle) oder Das Erwachen des Weibes (D 1927 Fred Sauer) hinter der vorgeblichen didaktischen Absicht, Volksaufklärung zu betreiben, eine Art früher Sexploitation liefert (cf. Hagener/ Hans 2000, so auch der z.T. zu teleologisch argumentierende Ansatz von Thissen 1995). 2 Alle Abbildungen in diesem Aufsatz aus dem Film stammen aus einem Exemplar dieses Buches, das im Besitz des Verfassers ist. Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 13 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [13] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Der Wegfall der Zensur am 12. November 1918 ermöglicht der Filmwirtschaft auf der Basis des von Richard Oswald etablierten Genres die wirtschaftlich erfolgreiche Produktion von Sitten- und Aufklärungsfilmen, deren Massenproduktion schnell von einer Debatte um den Film als Kulturgut oder eben gerade Verrohung der Massen im Feuilleton flankiert wird (cf. Sturm 2000). Mit Richard Oswalds Anders als die Andern (D 1919), dem ersten Film überhaupt, der explizit Homosexualität inszeniert und in dem Magnus Hirschfeld eine flammendes Plädoyer für die Abschaffung des § 175 dStGB hält, steuert die Diskussion um die Zensurfreiheit des Films durch Saalschlachten und andere öffentlich inszenierte Empörungen auf das erste Lichtspielgesetz vom 12. Mai 1920 zu, mit dem die Zensur wieder eingeführt wurde (cf. Steakley 2007: 86 - 123). Diese Korrelation der Krankheit mit einem von außen ins Innere vordringenden, sozialen Zerfall spielt auf ein ganzes Set kollektiver Mentalitäten nach dem Ersten Weltkrieg an und schlägt sich auch in der als Kulturkampf geführten Debatte um die Aufklärungs- und Sittenfilme selber wieder, die in die Wiedereinführung der filmischen Zensur mündet. Wie die jüngere Filmgeschichtsschreibung nachgewiesen hat (cf. Hagener/ Hans 2000), hängt sich an dieser filmhistorischen Entwicklung eine in ihrer Verallgemeinerung sicher nicht richtige Metaphorisierung auf: Im Wilhelminischen Kaiserreich wurden alle Triebe unterdrückt. Das Subjekt war durch äußere soziale Zwänge extrem fremdbestimmt. Mit dem Untergang des Kaiserreiches und der Niederlage im Ersten Weltkrieg brechen alle Triebe dann unkontrolliert aus. Dies manifestiere sich im Aufklärungs- und Sittenfilm und einer nach dem Krieg durch die heimkehrenden Soldaten rapide gestiegenen Zahl der Syphiliserkrankten. 3 Deshalb muss man sich um eine erneute Regulierung der Triebe kümmern, so dass ein neuer sozialer Umgang mit der Syphilis durch die Volkshygiene und eine neue ästhetische Ordnung durch die Zensur etabliert werde. Die Legende vom Triebstau im Kaiserreich und dem Ausbruch der Triebe nach dem Ersten Weltkrieg und ihrer erneuten Regulierung in der Weimarer Republik lässt sich aber nicht so ohne weiteres auf die Narrationen und Inszenierungen der Filme selber anwenden, die ihrerseits einen genauen filmanalytischen und filmhistorischen Blick verdienen. 4 2 Erzählmodell des Aufklärungs- und Sittenfilms Richard Oswald ist mit seiner vierteiligen Reihe Es werde Licht (D 1916/ 17, D 1917, D 1918, D 1918) der Begründer des Aufklärungs- und Sittenfilmgenres im eigentlichen Sinne (cf. Thissen 1995: 56 - 59). In den ersten drei Teilen führt er die Folgen der Syphilis in der Familie eines Malers, in der Familie eines Arztes und in der Familie eines Gutsbesitzers vor; der vierte Teil widmet sich der Abtreibungsthematik. 3 Cf. Eder (2002: 191 f.) spricht nach Ulrich Linse von Syphilisation der Gesellschaft, Hitler greift diese Metaphorik 1925 in Mein Kampf auf (cf. Schonlau 2005: 119 f.). Um 1925 war die Zahl der mit Geschlechtskrankheiten Infizierten faktisch längst gesunken; 1923 waren von 1000 Männern 133 an Gonorrhö erkrankt, 1925 mit 67 von 1000 nur noch die Hälfte; heute in der BRD etwa 11 - 25 pro 100.000 (cf. Thissen 1995: 110). Cf. zur europäischen Situation am Beispiel Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, Lefebvre 2000. 4 Cf. zur Relevanz des frühmodernen Wissenschaftsfilms für die Organisation kulturellen Wissens in der Populärkultur generell Tanner 2009, der dies am Beispiel je eines Films zur Relativitätstheorie und zur Evolutionsbiologie ausführt. 14 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [14] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Vor allem in den ersten drei Teilen entwickelt Oswald ein prägendes Narrativ des Aufklärungs- und Sittenfilms: i) Aufgrund sozialer Zwänge gefährdet ein an Syphilis erkrankter Mann seine gesunde Familie. Denn anstatt zum Arzt zu gehen, verschweigt er seine Infektion oder lässt sich von Kurpfuschern behandeln; ii) durch dieses selbstzerstörerische Verhalten gefährdet der Erkrankte auch seine Familie; iii) erst durch das Eingreifen eines vorurteilslos medizinisch behandelnden, aufgeklärten Arztes kann die Syphilis geheilt werden, so dass die endgültige Zerstörung der Familie verhindert wird. Abb. 1: Erzählmodell des Aufklärungs- und Sittenfilms Wir haben in der Regel eine von außen aus nicht-bürgerlichen sozialen Milieus wie Prostitution, Ausland und Unterschichten in die Familie eindringende Störung. Durch die Krankheit wird in der Folge die familiäre Ordnung von innen heraus bedroht. Die Krankheit ist damit ein Katalysator von sozialen Zerfallsprozessen, die aus einem sozialen Außen in die familiäre Gemeinschaft getragen werden. Erst das Eingreifen des Arztes ermöglicht dann eine Heilung der Krankheit und eine Abwehr der vollständigen Zerstörung der Familie. Der Arzt agiert damit zugleich als Mediziner und als Sozialhelfer in einer Person, der gleichzeitig mit der Heilung der Geschlechtskrankheiten auch gesellschaftliche Probleme reguliert (zu Falsche Scham cf. Schmidt 2000: 29). Oft wird die bedrohte generationenübergreifende Familie dabei in den Filmen als generationeninterne Kleinfamilie wieder hergestellt. Unter der vordergründigen Beförderung öffentlicher Gesundheit und Hygiene gelingt dem Aufklärungs- und Sittenfilm damit erstmals eine massenmediale filmische Thematisierung von Erotik und Sexualität, die Mentalitäten und Ängste der Weimarer Republik nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verarbeitet. Der Aufklärungs- und Sittenfilm reflektiert bürgerliche Ängste vor den gesundheitlichen und sozialen Folgen der Geschlechtskrankheiten und ihren biologischen und sozialen Ursachen, also i) im Verborgenen wuchernde Keime, ii) unregulierte Sexualität und iii) die Destruktion der bürgerlichen Familie. Auf diese Weise wird in den Filmen eine Art sozialer Wandel metaphorisch Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 15 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [15] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL abgebildet. Denn aus der Großfamilie werden die die moderne Kleinfamilie störenden Subjekte im Verlauf der filmischen Narration eliminiert. 5 3 Metaphorisierung der Sexualität durch Pathologisierung Unter dem Deckmantel der Aufklärung geht es den Aufklärungs- und Sittenfilmen also gerade nicht um die Auflösung einer sittlichen Ordnung. Vielmehr sind die Filme eigentlich Ausdruck sozialer Ängste vor dem Verlust jeder Ordnung. Der didaktische Anspruch der meisten Filme ist: Das Erhalten der Volksgesundheit ist mit dem Verteidigen der Familie und der Enthaltsamkeit des Einzelnen verknüpft. Es geht den Filmen mehrheitlich darum, das Kleinfamilienmodell gegen innere und äußere Gefahren zu bewahren, indem Ängste vor der Zerstörung der bestehenden sozialen, körperlichen und psychischen Ordnung symbolisch beispielsweise auf den Umgang mit der Syphilis verschoben werden. Auf diese Weise können anhand der Geschlechtskrankheiten wie auch anhand der ungewollten Schwangerschaften soziale und ideologische Ängste stellvertretend artikuliert und auf gewünschte ideologische Bahnen umgelenkt werden. Das eigentliche Thema der Aufklärungs- und Sittenfilme ist also unter der Oberfläche der Volksaufklärung die Dekonstruktion des wilhelminischen Bürgertums durch Prostitution, Sittenverfall, Geschlechtskrankheiten. Unter dem Deckmantel der Aufklärung werden aber im Aufklärungs- und Sittenfilm massenmedial Sexualität und Erotik als öffentliche Themen etabliert und medizinisches Wissen popularisiert. Die mediale Debatte um Volksgesundheit und Hygiene, auch Rassenhygiene, macht dabei die private Erotik zum öffentlichen Thema und führt im Aufklärungs- und Sittenfilm zu einer neuen, in Schrift und Bild visuellen Medialisierung von Erotik und Sexualität. Dabei werden mit dem Aufklärungs- und Sittenfilm keine neuen Diskurse in der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder Medizin initiiert. Hier sind immer noch Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886), Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1904/ 05), die Schriften Magnus Hirschfelds und Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903) sowie ihre Verarbeitungen in der Kultur der Frühen Moderne relevant (cf. Wünsch 2002). Weil aber nach 1918 bis zur Zensur noch kein verbindlicher Konsens darüber existiert, wie im Medium Film diese Diskursfragmente über Sexualität und Erotik zitiert, arrangiert und narrativiert werden, ermöglicht der Aufklärungs- und Sittenfilm das experimentelle Ausloten neuer Diskursformationen im Bereich filmisch präsentierter Erotik und Sexualität. Gerade der Aufklärungs- und Sittenfilm hat einen wesentlichen Anteil daran, dass mit dem Medienwechsel des medizinischen Diskurses über Sexualität in den Film neue Diskursformationen und Ästhetiken bei der Popularisierung medizinischen Wissens in Verbindung mit Erotik und Sexualität ausgearbeitet werden (cf. Hagener/ Hans 2000: 9). In diesem Zusammenhang ist die Zensur ab 1920 vor allem auch als Versuch lesbar, die filmischen Diskursformationen von politischer Seite aus zu regulieren. (cf. Hagener/ Hans 2000: 14). Die Konstruktion von neuen medialen Diskursformationen zu Erotik und 5 Cf. ausführlich zum Zusammenhang von Filminszenierung und Erzählmustern Gertiser (2015: 141 − 198, Kap. 4: “ Narrative der Ansteckung ” ). 16 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [16] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Sexualität muss sich mit der Zensur im Aufklärungs- und Sittenfilm weitgehend ins Uneigentliche verschieben: Wie muss ein Stoff diskursiviert werden, um nicht gegen den Zensur-Konsens zu verstoßen. [ … ] Mithilfe welcher Strategien der Ikonografisierung von Bildinhalten und welcher Muster der Narrativierung wird auch konfliktreiches Material öffentlich darstellbar. (Hagener/ Hans 2000: 16) Der reale Körper der Schauspieler kann im Aufklärungs- und Sittenfilm mit der Zensur also nur metaphorisch zur Darstellung von Sexualität verwendet werden und ist außerdem immer den kulturellen Diskursen über Körperlichkeit, Erotik und Sexualität unterworfen. Die Aufklärungs- und Sittenfilme nutzen nun den medizinischen Diskurs, um mit seiner Hilfe beispielsweise durch eine neuartige Animations- und Tricktechnik Einblicke in die biologischen Vorgänge im Körper zu ermöglichen. Der medizinische Diskurs ermöglicht mit der Animations- und Tricktechnik damit eine neue Körperästhetik, wie sie dann prägend für den dokumentarischen Film bis in die Gegenwart werden wird, bspw. in Oswalt Kolles Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens (BRD 1967, Erich F. Bender, cf. Thissen 1995: 192 - 216). Mit der Animations- und Tricktechnik entwickelt der Aufklärungs- und Sittenfilm unter den Vorzeichen des medizinischen Diskurses eine eigene filmische Ikonografie in der Darstellung körperlicher Vorgänge, die mit Erotik und Sexualität verbunden sind (cf. Gertiser 2015). Aufgrund der in den Filmen mit Hilfe der Tricktechnik auch inszenierten ärztlichen Autorität rahmen die Filme dabei oft fiktionale Handlungen mit ärztlichen Vortragssituationen, in denen Zuhörer im Film genau so belehrt werden sollen, wie die Zuschauer des Films durch das Filmschauen. Die fiktionalen Filmhandlungen werden in Bezug auf den Vortrag im Film zu den Fallgeschichten des Films. Der medizinische Vortrag legt den Fallgeschichten das sie erklärende und in der Erklärung begrenzende und regulierende Paradigma zu Grunde. Die Fallgeschichten illustrieren das im medizinischen Vortrag begründete Ordnungsmuster. 6 Damit bestätigen die Fallgeschichten das medizinische Wissen über Geschlechtskrankheiten und schaffen ein neues kulturelles Wissen über Erotik und Sexualität bei den Filmzuschauern. 4 Selbstreflexion in Falsche Scham Falsche Scham - vier Episoden aus dem Leben eines Arztes (D 1926, Rudolf Biebrach, UA 15. 03. 1926, Berlin, Mozartsaal) ist nun i) ein repräsentatives Beispiel für die Adaption von erläuterndem medizinischem Vortrag und Fallgeschichten, ii) ein repräsentatives Beispiel für die Pathologisierung der Erotik und ihre ideologisch regulierte Normierung und iii) ein repräsentatives Beispiel für die sozial regulierende und Ordnung stiftende Rolle des Arztes. Darüber hinaus möchte ich im Folgenden zeigen, dass der Film eine selbstreflexive Ebene etabliert, in der sich Reflexionen über das Kino selber mit einer spezifischen Semantik des medizinischen Blicks und der Bildästhetik und Ikonografie des Filmes verbinden. 6 Cf. zur medizinischen Fallgeschichte als literarische Gattung einführend Willer 2005. Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 17 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [17] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4.1 Arzt und Familie in den ersten drei Episoden Die Hauptfigur des Films ist die fiktive Figur eines Sanitätsrates, der in vier Episoden, Menschen über Geschlechtskrankheiten wie Krätze, Gonorrhö und Syphilis aufklärt und sie auf diese Weise vor einer Ansteckung schützt oder aber schon mit Geschlechtskrankheiten infizierte Menschen heilt. Beispielhaft für die Botschaft des Films ist der Titel der vierten Episode Durch Wissen zur Heilung, der suggeriert, das Aufklärung und Wissen als Vorbedingung schon mit der Heilung äquivalent sind. Der Film setzt dabei einerseits auf Einsicht in Ansteckungswege und biologische Vorgänge, aber auch andererseits auf Abschreckung in den Spielszenen und durch Trick- und Dokumentaraufnahmen. Der Film entwickelt durch Abschrecken und Aufklärung in seinen vier Episoden Erste Versuchung, Wenn man das vorher gewusst hätte … ! , Geißel der Menschheit und Durch Wissen zur Heilung eine klare Aufklärungsdidaktik. 7 In der ersten Episode verhindert der Sanitätsrat, dass zwei Abiturienten auf dem Jahrmarkt einer Prostituierten zum Opfer fallen. Stattdessen überzeugt der Sanitätsrat die zwei Abiturienten vom Besuch einer medizinischen Ausstellung und eines Vortrages über Geschlechtskrankheiten. Danach wissen die Abiturienten um die Gefahr, die von einer Prostituierten ausgeht, können ihre Avancen erkennen und sie zurückweisen. In der zweiten Episode trifft der Sanitätsrat einen Studenten, der bereits einer Prostituierten erlegen ist und sich mit einer Gonorrhö angesteckt hat. Um ihm den Ernst seiner Infektion vor Augen zu führen und den Studenten zu einer konsequenten Behandlung zu bewegen, führt der Sanitätsrat den Studenten durch seine Klinik und zeigt ihm schwere Folgen einer Trippererkrankung, bis hin zur Unfruchtbarkeit der Ehefrauen und zum Augentripper des gerade geboren Säuglings, die als schlimmste Folge inszeniert werden. Ganz klar wird hier das Ideal der Kleinfamilie durch die Gonorrhö bedroht, die es durch die medizinische Aufklärung zu schützen und zu bewahren gilt. In der dritten Episode lässt sich eine Amme in einem reichen Bürgershaus mit einem jungen Mann ein, der sie mit der Syphilis an der Brust infiziert, die sie beim Säugen prompt ihrem Schützling weitergibt. Die Heilungsversuche bei einem Kurpfuscher, der als Gegenmodell des Sanitätsrates inszeniert wird, führt nicht zur Heilung. Schließlich werden der Säugling und die Amme vom Sanitätsrat untersucht, der sofort Syphilis diagnostiziert und die Amme und die Eltern des Säuglings über die Infektionswege aufgeklärt. Die Amme wird entlassen, aber vom Sanitätsrat als Pflegerin in seiner Klinik eingestellt. Dort wird sie mit Syphilis-Präparaten und Syphiliskranken im dritten Stadium konfrontiert und sozusagen für die Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht durch Schrecken und Mitleiden bestraft. Die Amme ist am Ende geläutert und versöhnt sich mit den Eltern des durch sie geschädigten Säuglings. Auch in dieser Episode werden also wieder die Gefahren der Geschlechtskrankheiten für die Kleinfamilie thematisiert. Durch die Amme dringt die Syphilis auch in die Oberschicht ein und bedroht die gutbürgerliche Familie von innen. 7 Cf. Gertiser (2015: 199 - 256) zur Theorie der Scham und der impliziten Wirkungsweise der Aufklärungs- und Sittenfilme nach dem Ersten Weltkrieg, cf. Laukötter 2011 zum Zusammenhang von Empathie, Emotion und Wirkungspoetik im Aufklärungsfilm. 18 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [18] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4.2 Kinosituation in der 4. Episode In der vierten Episode wird das Schicksal eines jungen Karl und der jungen Anna erzählt, die beide - wie in der Verordnung zur Verhütung der Geschlechtskrankheiten von 1918 verfügt - aufgrund einer Syphilisinfektion nicht heiraten dürfen, um nicht den Partner und mögliche Kinder anzustecken. Anna wächst bei ihrem Onkel und ihrer Tante auf dem Lande auf, die beide an der Syphilis zu Grunde gehen. Als Verkäuferin in der Stadt nimmt sie die Beziehung zu Karl auf und schläft auch nach Wochen mit ihm, weil er sie dazu drängt. Als sie die Anzeichen einer Syphilis bei sich erkennt, geht sie aufgrund der schrecklichen familiären Erfahrung sofort zum Arzt. Karl dagegen bricht die Beziehung zu Anna ab. Sie lässt ihn daraufhin bei der Sittenpolizei vorladen, damit er sich behandeln lässt. Dort offenbart er, dass er seine Syphilis aus einem früheren Sexualkontakt ordnungsgemäß hat behandeln lassen, aber sich zu früh als völlig gesundet angesehen hat. Karl kann also seinen Sexualtrieb nicht völlig kontrollieren und gefährdet auf diese Weise sich und andere. Karl will Anna nun auch heiraten, aber aufgrund der Gesetzeslage dürfen Syphilitiker nicht heiraten. Wiederholt will er Anna vor der Ausheilung der Syphilis zum Beischlaf drängen und als sie sich als standhaft erweist, läuft er von ihr weg und direkt ins nächste Bordell. Seine Verlobte folgt ihm und sieht folgendes: Anna sieht Karl mit einer Frau auf dem Schoß, die für Anna erkennbar am Totenkopf, der mit ihrem Gesicht überblendet wird, die Syphilis in sich trägt. Abb. 2: Wahrnehmung der Syphilis als personifizierter Tod (Thomalla 1926: 196) Durch ihre eigene Erkrankung und die Aufklärung kann Anna hier die in den nichtbürgerlichen Sozialmilieus verborgenen Gefahren erkennen und allein durch ihren stummen Anblick ihren Verlobten aus der Gefahrensituation, den Fängen zweier verführischer Frauen, befreien. An die Stelle einer gelebten Sexualität begeben sich die beiden Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 19 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [19] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Protagonisten nun ins Kino und sehen sich einen Film an. An die Stelle realer Erlebnisse und ausgelebter Triebe tritt also das gemeinsame Medienerlebnis als Kompensation für die nicht ausgelebten Triebe. Hier haben wir eine zentrale poetologische Dimension des Films: Film funktioniert als soziales Regulativ, indem er Wünsche nach Selbstverwirklichung unterbindet, die die Gesundheit der Person und damit ihre personale Integrität gefährden. Indem das Filmerlebnis als mediales Surrogat für gelebte Erotik fungiert, kann es damit auch die soziale Integrität der bürgerlichen Liebesbeziehung bewahren, die als eher enterotisierte Partnerschaft gedacht wird. Der Mann muss also seine Triebe nach einer ausschweifenden, ausgelebten Sexualität in die kontrollierte Erotik einer bürgerlichen Ehe transformieren. 8 Interessant ist aber nun, welchen Film sich die beiden zufällig anschauen. Sie sehen als Film im Film Die Geissel der Menschheit 9 , ein Kulturfilm von Erich R. Schwab (D 1926), bei dem ebenfalls Curt Thomalla als medizinischer Berater am Drehbuch beteiligt war wie bei dem Film Falsche Scham. Geissel der Menschheit durfte vor Jugendlichen aufgrund der schrecklichen Bilder nur zu Lehrzwecken mit rahmendem Vortrag gezeigt werden. Wir sehen wohl 8 Implizit kann das Kinoerlebnis dabei Gefühle beim Rezipienten auslösen, ohne dass dieser sich in eine reale Gefahr begibt und damit didaktisch durch die Emotionen Erkenntnis und Einsicht bewirken. Auch das ist eine poetologische Dimension: Das Kino ermöglicht das mit seiner im Kino-Dispositiv angelegten Überwältigungsillusion das emotionale Nacherleben der Erfahrung ohne die reale Erfahrung zu machen. 9 Nicht zu verwechseln mit dem Film Geissel der Menschheit (Ö 1918, Jakob Fleck), ein Spielfilm über zwei Studenten, die sich mit der Syphilis anstecken, von denen sich einer einem Arzt anvertraut und heilen lässt, während der andere ungeheilt schließlich seine von ihm infizierte Frau und das infizierte Kind durch Syphilis tötet und als wahnsinniger Künstler Selbstmord begeht. Abb. 3: Anna in den Klauen der Geissel der Menschheit (Thomalla 1926: 159) 20 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [20] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL im vorderen Orient dokumentierte, durch die Syphilis entstellte Gesichter. Beiden Protagonisten wird hier vorgeführt, was ihnen am Ende droht, wenn sie sich immer wieder mit der Syphilis anstecken. Um nicht auch ein mögliches Kind zu gefährden, will Karl nun Anna verlassen. Er glaubt, seine Triebe nicht kontrollieren zu können. Am Ende des Kinobesuchs droht Anna vor dem Filmplakat das Opfer in den Klauen der Geissel der Menschheit geworden zu sein, weil Karl sie verlässt und ihr damit nun droht, keine Erfüllung in einer Rolle als Ehefrau und Mutter zu finden. Hier ist also die Gründung der Kleinfamilie bedroht. Anna wendet sich nun an den Sanitätsrat, der als Sozialhelfer agiert und ihr rät vorzutäuschen, selber ihren Verlobten zu verlassen. Wenn er sie wirklich liebt, wird er sich bis zum Ende behandeln lassen und dann wieder zu ihr den Kontakt suchen. Genau so geschieht es auch. Als der junge Mann geheilt ist, bittet er den Sanitätsrat um Vermittlung. Beide heiraten und zeugen einen gesunden Stammhalter, dessen Pate der Sanitätsrat wird. Hier zeigt sich am Ende des Films deutlich die Funktion des Arztes als umfassender Sozialhelfer, der durch seine medizinische Rolle das Kleinfamilienideal gegen alle Gefahren von innen und außen verteidigt und durchsetzt. Darüber hinaus bewirkt der Arzt bei Mann und Frau zum einen eine ideale Triebkontrolle und Kanalisierung der Erotik in die reale, konkrete Familiengründung. Zum anderen erneuert der Art damit ein gesundes und heiles Kleinfamilienmodell, das von allen Gefahren von innen und außen befreit ist, weil diese aus dem Raum der Kleinfamilie ausgegrenzt werden. Außerdem zeigt sich, dass ein reiner Kulturfilm, wie er als Film im Film vorgeführt wird, hier nicht alleine den jungen Mann belehren kann. Erst das Wirken des Sanitätsrates zusammen mit dem Kulturfilm kann das Modell der funktionierenden Kleinfamilie konstituieren, die von allen inneren und äußeren Gefahren gereinigt ist. Ein Kulturfilm, der also nur abschreckend Krankheiten dokumentiert, der nur fremde und exotische Opfer zeigt und nur extreme und sichtbare Formen zur Abschreckung vorführt, ist nicht geeignet, die Menschen wirksam über die Folgen der Geschlechtskrankheiten aufzuklären und gleichzeitig eine gelingende soziale Orientierung der Menschen auf die Kleinfamilie zu bewirken. Das kann - so die implizite Logik an dieser Stelle - nur der Aufklärungsfilm Falsche Scham selber. Denn er ist deshalb im Vergleich zum Film im Film Geissel der Menschheit der optimale Aufklärungsfilm, weil er dokumentarische Formen mit Spielhandlungen verknüpft und damit das medizinische Wissen einer moralisierenden Narration unterwirft. 10 4.3 Kinosituation in der 1. Episode Die Aufwertung des Filmes Falsche Scham in Abgrenzung zum Film im Film Geissel der Menschheit am Ende des Films korreliert nun mit der Kinosituation am Anfang des Filmes. Die beiden Abiturienten der ersten Episode werden auf dem Jahrmarkt zunächst von einem Stand angelockt bei dem Mädchen in Sporthöschen und Unterhemden mit Boxhandschuhen in Reih und Glied auf einer erhöhten Tribüne vor dem Eingang eines Zeltes Werbung für die Show im Inneren machen. Ein zentral agierender Werber zieht einen kleinen Vorhang eines 10 Cf. Gertiser (2015: 68 - 86), die breit den nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge der Syphilis-Aufklärung geführten, allgemeinen poetologischen Diskurs und fast schon Kulturkampf um den didaktisch richtigen Filmeinsatz und die moralische Bedrohung belegt, den man Film selber als Verführer zu a-moralischem Verhalten in der Frühphase des Films zugewiesen hat. Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 21 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [21] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL verhangenen Podestes hinter sich auf und zu sehen ist eine kinematographische Projektion zweier boxender Männer. Mädchen. “ Ist das die Art, wie man die Hausaufgaben machen soll? ” 11 Abiturient. “ Erlauben Sie uns, Sie nach der Vorstellung einzuladen? ” Sanitätsrat. “ Es wäre besser, wenn Ihr Euch die Ausstellung ansehen würdet ” Eindeutig referiert dieser Film im Film in der ersten Episode auf das frühe Kino als Jahrmarktsunterhaltung und gerade nicht als Kunstform oder Medium der Volksaufklärung. Das Kino wird hier in den Dienst einer Schaulust an der Gewalt im Filmbild gestellt, die durch die flankierenden Mädchen mit einer erotischen Schaulust korreliert wird. Die beiden Abiturienten starren auf die Beine eines Mädchens und berühren es, wie um zu sehen ob es echt ist. Abb. 4: Das Frauenbein als erotisiertes Detail für einen Abiturienten (Thomalla 1926: 13, oben) Der erotisierte Blick richtet sich hier auf das Bein als erotisiertes Körperteil und führt zu einer Flirtsituation. Der Kinematograph auf dem Jahrmarkt wird hier also mit Sex und Gewalt und voyeuristischer Schaulust und der Hervorbringung von Trieben im bürgerlichen, männlichen Subjekt verknüpft. Das Kino dient hier dazu, die Männer in das außerbürgerliche Milieu zu locken, in dem die verborgenen Gefahren lauern. Nur durch die Ansprache des Sanitätsrates werden die beiden Abiturienten daran gehindert, den Mädchen 11 Im Begleitbuch von Thomalla (1926: 11 f.) wird dies variiert: “ Hast Du Deine Schularbeiten schon gemacht, Kleiner? ” 22 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [22] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL in das Zelt zu folgen. Er weist sie dagegen auf ein Gebäude genau gegenüber, in dem eine Ausstellung über die Geschlechtskrankheiten gezeigt wird und in der sie einen Vortrag über Geschlechtskrankheiten hören. Durch die Handlung und die Gegenüberstellung des Zelts mit dem Versprechen einer voyeuristischen Animation und Quasi-Prostitution auf der einen und der Ausstellung mit den nicht sichtbaren, aber hier offenbarten Folgen der Prostitution auf der anderen Seite, werden beide direkt in einer Opposition auf der 180-Grad-Achse als oppositionelle semantische Räume miteinander verknüpft. Es ist hier der Arzt, der durch Aufklärung den Blick der Männer mittels der Medizin und ihrer Ergebnisse schult und sie auf die verborgenen Gefahren hinter der verführerischen Fassade aufmerksam macht. Genau diese Metaphorik greift nun auch ausführlich die Tricktechnik auf: Der Vortrag, den die beiden Abiturienten über die Geschlechtskrankheiten hören, beginnt mit den Filzläusen, die gerade noch mit bloßem Auge sichtbar sind und durch eine vergrößernde Lupe direkt betrachtet werden können. Der Blick geht nun von außen immer tiefer in den Menschen hinein. Die nächste Krankheit ist die Krätze. Die sich durch die Haut grabenden Milben werden dabei schon auf eine an der Tafel in der Mise-en-scene mit Kreide gemalte Hand überblendet. Der Trickfilm zeigt hier an dieser Stelle schon Zusammenhänge, die in der Mise-en-scene so nicht real zu sehen sind. Der Film vermischt nun diese beiden Ebenen immer wieder. Ausführlich wird über die Gonorrhö erst beim Mann und dann bei der Frau mit Hilfe der Tafelbilder in der Diegese des Films und mittels der Tricktechnik durch den Film erzählt. Die Bakterien, die man zunächst noch durchs Mikroskop betrachtet, werden durch das Tafelbild im menschlichen Körper verortet. Die Tricktechnik zeigt dann, wie sie in den Körper eindringen und sich bis in die innersten Fortpflanzungsorgane ausbreiten und Abb. 5: Die Abiturienten blicken durchs Mikroskop (Thomalla 1926: 31). Abb. 6: Die Animation zeigt, was die Abiturienten sehen (Thomalla 1926: 31, unten). Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 23 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [23] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL den Menschen schwer schädigen. Dabei zeichnet der Arzt zunächst schematisch den Querschnitt eines menschlichen Unterleibes an die Tafel, der mit einer detaillierten Karte des menschlichen Unterleibes ersetzt wird. Aus dieser wählt der Arzt durch Umrandung dann einen Ausschnitt aus und zeigt zeitgleich mit den wandernden Bakterien durch Schraffur mit einem Graphitstift den Befall des männlichen Unterleibes mit dem Tripper an. Wichtig ist mir an dieser Stelle, wie der Film sich darum bemüht, den Blick unter die Oberfläche des Körpers nachzuvollziehen und dabei unsichtbare, verborgene biologische Prozesse sichtbar zu machen. 12 Dabei werden die Zuhörer des Vortrages durch die Kombination aus Tricktechnik und Vortrag direkt belehrt. Ein Paar erkennt, dass sie an der Krätze leiden. Mit dem medizinisch motivierten, tricktechnischen Blick ins Innere der Person geht dabei eine Fragmentierung des menschlichen Körpers in einzelne Teile einher. Der ganze Körper wird sozusagen von einem medizinischen Blick seziert. Diese Fragmentierung der Person und ihres Körpers in einzelne Bestandteile zeigt sich auch in der Ausstellung, in der zunächst echte Präparate von syphilitischen Hautveränderungen in verschiedenen historischen Moulagen gezeigt werden. Diese medizinische Fragmentierung des Körpers in Objekten innerhalb der Mise-en-scene und zugleich durch die Tricktechnik korreliert nun im Film auch mit der Inszenierung der Sexualität: Die Abiturienten sind vom Bein des Mädchens in der Boxer-Kleidung fasziniert und berühren es in einer Art fetischisierten Kontaktaufnahme. Genauso, wie die Medizin den kranken Körper fragmentiert, genauso fragmentiert auch die männliche Lust den weiblichen Körper und zerlegt ihn in einzelne, erotisierte Teile. Diese Semantik findet sich im Übrigen auch in G.W. Pabsts Die freudlose Gasse (D 1925) bei der Inszenierung der Prostituierten im Bordell von Frau Greifer und auch sogar noch in Josef von Sternbergs Der Blaue Engel (D 1930) bei der Inszenierung Lola-Lolas auf der Bühne und in der Karikatur der Schüler im Klassenzimmer, die im Tafelbild zeigt, wie Unrat ein Frauenbein schultert. 13 Die kinematographisch inszenierte Fragmentierung des kranken Körpers und die Fragmentierung des als Sexualobjekt betrachteten weiblichen Körpers sind also zwei inszenatorische Seiten des gleichen Paradigmas, nämlich der pathologisierten Sexualität und ihrer Gefahren. Im Umkehrschluss richtet sich die bürgerliche Liebe, die auf die Verteidigung und Neuerrichtung der Kleinfamilie orientiert ist, auf die ganze Person, die im Aufklärungs- und Sittenfilm immer in einer Großaufnahme des unbewegten weiblichen Gesichtes visualisiert wird und zeigt, dass die ideale Frau sittsam nicht mit dem Mann kokettiert. Als Beleg ex negativo mag hier auch Wege zu Kraft und Schönheit (D 1925) von Wilhelm Prager und Nicholas Kaufmann dienen, der auch am Drehbuch von Falsche Scham zusammen mit Curt Thomalla mitgearbeitet hat. Hier ist der nackte ganze Körper extrem stilisiert und enterotisiert zu sehen. 12 Cf. Gertiser 2008 und Gertiser (2015: 91 − 114) zur Funktion der Trickaufnahmen als “ didaktisches Dispositiv ” und der filmischen Verfahren, den Körper mit dem fotografischen Blick zu vermessen und nicht-Sichtbares sichtbar zu machen. 13 Cf. Zu Die freudlose Gasse Koll 1998 und Loacker 2008. 24 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [24] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4.4 Filmische Selbstreflexion: Körper und der medizinische Blick des Films Es zeigt sich also, dass in Falsche Scham die eigentlich in den Filmen verhandelten ideologischen Werte und Normen im Bereich von Erotik und Sexualität auf den kranken oder defekten Körper und seine medizinische Diskursivierung in der Bildsprache der Trick- und Animationstechnik verschoben werden (cf. Gertiser 2015. 115 − 119). Dabei handelt es sich im Sinne von Scheffel 1997 um eine mittelbare Spiegelung des Erzählvorganges im Erzählen selber, ohne die faktuale Dimension oder den Wahrheitsanspruch der medizinischen Teilerzählungen zu gefährden. Diese Form der mittelbaren Selbstreflexion beruht auf einer mittelbaren Selbstreferenz des Films Falsche Scham, die sich in den beiden Kinosituationen im Film manifestiert und sich mit Fricke 2003 als gestufte Iteration begreifen lässt. Das heißt, die filmische Semiose mittels kinematographischer Zeichen durch den Film Falsche Scham wird als solche implizit innerhalb der eingebetteten Kinosituationen im Gesamtfilm selber thematisch. Das Ziel des Films ist dabei gerade, durch die Reproduktion von textuell manifesten Zeichen der filmischen Semiose auf der intradiegetischen Ebene (Film im Film) filmisches Erzählen selber zum Inhalt der erzählten Geschichte zu machen und damit in einem impliziten poetologischen Diskurs seine eigen tricktechnische Erzählweise aufzuwerten, die den faktualen medizinischen Blick mit der fiktionalen Fallgeschichte verbindet. Dabei ergibt sich in der filmischen Signifikation eine dreifache Relation des abgebildeten Körpers und seiner Körperlichkeit im Aufklärungs- und Sittenfilm: i) Der reale Körper der Schauspieler wird durch die filmische Inszenierung zum Signifikanten einer pathologischen Körperlichkeit; ii) Durch die Tricktechnik wird dabei im Körper Verborgenes am Körper sichtbar gemacht; iii) Diese Relation von Oberfläche und Tiefe konstruiert in den Filmen wie in Falsche Scham oft eine implizite Semantik des Blickes und der Wahrnehmung: Durch den medizinischen Blick wird Verborgenes visualisiert und an die Oberfläche geholt. Abb. 7: Die Bifunktionalität des medizinischen Blicks Selbstreflexives Erzählen und medizinisches Wissen am Beispiel des Aufklärungsfilms Falsche Scham 25 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [25] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Von diesem offenbarenden, medizinischen Blick aus organisieren sich entlang des medizinischen Diskurses auch in der Regel die Narration und die Konfliktstrukturen der Aufklärungs- und Sittenfilme. Die Filme visualisieren nicht nur im Körper verborgene, unsichtbare Vorgänge und bringen sie in ein rational erklärbares, messbares und therapierbares medizinisches Körperkonzept. Gleichzeitig offenbaren die Filme auch soziale Mechanismen in Familie und Gesellschaft und machen in ihren erzählten Handlungen bisher verborgene und ausgegrenzte Sozialmilieus und moralische Konfliktkonstellationen sichtbar. Genauso, wie der medizinische Blick verborgene biologische Vorgänge in einer eigenen Bildsprache visualisiert, genau so offenbaren die Filme in einer ihnen eigenen Bildsprache auch ideologisch relevante Werte und Normen im Bereich Erotik und Sexualität und offenbaren soziale Defizite. Auf diese Weise wird in den Aufklärungs- und Sittenfilmen auf dem Fundament des medizinischen Blickes eine selbstreflexive Ebene installiert. Indem die Filme mittels ihrer Trick- und Animationstechnik etwas leisten, was zu dieser Zeit kein anderes Medium als der Film so leisten kann, werten sie den Film als Medium auf, das mittels seiner medialen Diskursformationen eine neue soziale Ordnung stiften kann. In den Filmen führt dies nun dazu, dass sich im Genre des Aufklärungs- und Sittenfilms bestimmte Diskursformationen verfestigen: Das bürgerliche Subjekt kann sich nur im Schutzraum der gesunden Familie entfalten, die sich nach außen abgrenzt. Gefahren der Gesundheit und Moral werden auf nicht-bürgerliche Milieus, Bars, Arbeiter, Ungebildete, Unterschichten, Frauen ausgegrenzt, um damit die Gefahren der Erotik zu begrenzen. Frauen sind immer Opfer männlicher Schwäche und definieren ihre Identität durch das Ertragen von Leiden. Der Mann muss dagegen seine Sexualität und seine anderen Triebe kontrollieren und sich disziplinieren, damit eine bürgerliche Kleinfamilie als Schutzraum für die bürgerliche Ehe und Erotik errichtet werden kann. Der Arzt wird zur uneingeschränkten, fast schon außerhalb der normalen sozialen Ordnung stehenden Norminstanz und Autorität, die mit den medizinischen Problemen im Bereich der Sexualität auch die sozialen Probleme lösen kann. Zusammenfassend zeigt sich damit in Falsche Scham eine selbstreflexive Ebene, die sich einerseits von den Gebrauchs- und Funktionskontexten des Kinematographen als Mittel der Verführung zum Übertritt in außerbürgerliche Milieus und verborgene, nicht sichtbare Gefahren ebenso abgrenzt wie andererseits auch vom zeitgleichen Kulturfilm, der rein dokumentarisch verfährt. Das Konzept des idealen Aufklärungs- und Sittenfilms erfüllt der Film Falsche Scham selber, indem er auf der Basis des invasiven medizinischen Blicks, der unter die Körperoberfläche blickt, auch die Gefahren in den außerbürgerlichen Räumen visualisieren kann. Der Film übt mittels des medizinischen Blicks unter die Körperoberfläche die Zuschauer damit gleichsam darin ein, unter die Oberfläche der außerbürgerlichen Milieus zu blicken und die Gefahren dort zu erkennen und zu vermeiden. Die medizinische Ästhetik, die sich in der Ikonografie der medizinischen Animation visualisiert, dient damit als Schlüssel zur Ikonografie und Ästhetik der Aufklärungs- und Sittenfilme, die mittels des Blickes unter die Oberfläche die Gefahren für die bürgerlichen Kleinfamilie aus der Psyche, aus dem Körper und aus der familiären Gemeinschaft ausgrenzt und begrenzt. 26 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [26] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Bibliographie Eder, Franz Xaver 2002: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität (= Beck ʼ sche Reihe 1453), München: C. H. Beck Fricke, Harald 2003: “ Potenzierung ” , in: Jan-Dirk Müller et al. 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Teil, Hyänen der Lust (D 1919, Otto Rippert) Die freudlose Gasse (D 1925, Georg Wilhelm Pabst) Die Geissel der Menschheit (D 1926, Erich R. Schwab) Die Rothausgasse (D 1927/ 28, Richard Oswald) Dirnentragödie (D 1927, Bruno Rahn) Es werde Licht (4 Teile: D 1916/ 17, D 1917, D 1918, D 1918, Richard Oswald) Falsche Scham (D 1926, Rudolf Biebrach) Geissel der Menschheit (Ö 1918, Jakob Fleck) Geschlecht in Fesseln (D 1928 Wilhelm Dieterle) Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens (BRD 1967, Erich F. Bender) Wege zu Kraft und Schönheit (D 1925, Wilhelm Prager) 28 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [28] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz Der Film der 1980er Jahre und sein Verhältnis zu Identitäts- und Körperkonzeptionen der 1970er Jahre Hans Krah (Passau) A specific reflection of the self seems to be characteristic for films that were produced in the early 1980 s: the former self is turned into the other. This transformation provides a basis for the argumentation that the other is overcome and therefore labeled as never having been a part of the self. The diachronic reflection of self and other coincides with a synchronous one that negotiates the relation between self and other according to the categories ‘ individual ’ and ‘ system/ order ’ . As a consequence of that the positions of the 1970 s are not perpetuated or extended in the 1980 s. On the contrary, the specific reflection of the self comes along with a fundamental paradigm shift that leads to a clear break with the positions of the 1970 s and a withdrawal of such positions. This change correlates with a repositioning of the individual in relation to society. A new construct of identity is favored that also significantly affects the dealings with the body and the judgment of bodies. 1 Die These vom Paradigmenwechsel des Films von den 1970er zu den 1980er Jahren Im Fantasyfilm Krull aus dem Jahr 1983 (UK/ USA, Peter Yates) wird dem Protagonisten, Prinz Colwyn, im Moment der Eheschließung seine ihm aus Bündnisgründen Angetraute, Prinzessin Lyssa, vom “ unbeschreiblichen Ungeheuer ” (im Original “ the Beast ” ) geraubt und in dessen schwarze Festung verschleppt, ein Raum, der seinen Standort täglich wechselt. Um sie zu befreien und damit die titelgebende Welt Krull und das ganze Universum zu retten, schließen sich ihm ein Alter ( “ the Old One ” ), ein blinder Seher ( “ the Emerald Seer ” ) und dessen Lehrling, ein Zyklop, ein komisches Element und eine neunköpfige Räuberbande an. Im finalen Kampf kann Colwyn das Biest besiegen, wozu ihn allerdings nicht sein Fünfklingenzauberschwert in die Lage versetzt, sondern ein gemeinsam mit Lyssa entfachtes “ Feuer der Liebe ” , das durch die Beendigung der Hochzeitzeremonie entsteht. Wie gerade hier deutlich wird, geht es dem Film um eine Re-Normalisierung der Verhältnisse im Sinne der Einbindung in institutionalisierte, überindividuelle, tradierte Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [29] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Konzepte; die füreinander (von ihren Vätern und für die Aufrechterhaltung der Weltordnung) Versprochenen zelebrieren (nicht vollziehen) die Ehe. Dass dieses Ende mit einer Reduzierung der abweichenden, fantastischen Helferfiguren einhergeht, ist einerseits genretypisch, 1 anderseits spezifisch signifikant: Denn nicht nur sterben oder opfern sich im Verlauf der Suche der Seher und der Zyklop und wird die Räuberbande als Männerbund aufgelöst und bis auf den Hauptmann und den jüngsten Räuber dezimiert (wobei der vormalige Räuberhauptmann als zukünftiger Kanzler in das System integriert wird), auch der Alte stirbt. Dessen abweichendes Potential liegt im Alter, dem eine bestimmte ideologische Konzeption inhärent ist. Denn der Alte hat eine Vorgeschichte, wie am Extrempunkt der Suche zu Tage tritt: Um vorab die Information zu erhalten, zu welchem Standort das Raum-Schloss des unbeschreiblichen Ungeheuers das nächste Mal wechselt, begibt sich der Alte zur “ Witwe im Netz ” , einem von einer tödlichen Spinne bewachten riesigen Spinnennetz, in dessen Zentrum eine alte Frau wohnt. Diese, wie die zu rettende Prinzessin Lyssa geheißen, ist die frühere Geliebte des Alten, die dieser verlassen hatte. Er lebte zu sehr für Abenteuer um ihrer und um seiner selbst willen, was aus der Bewertung aus der Distanz heraus auf der Beziehungsebene einen Normverstoß darstellt, den seine Geliebte erwiderte, indem sie schwanger allein gelassen aus Rache für die fehlende Wertschätzung das gemeinsame Kind tötete. Beide verzeihen sich nun einsichtig und opfern zudem für das Gelingen der Paarbildung in der jungen Generation, Colwyn und Lyssa, ihr Leben. Im Verhältnis des Alten und seiner Lyssa spiegelt sich, gerade durch den gleichen Namen forciert, die aktuelle Geschichte von Colwyn und Lyssa wider. Vor dieser Parallelgeschichte des Scheiterns in der vorangegangenen Generation erscheint die geglückte Weltrettung als Wiederholung, die die abweichende Heldengeschichte korrigiert und nicht nur das unbeschreibliche Ungeheuer, sondern auch die Konstellationen der Vergangenheit überwindet. Dabei führt der Film mit dem Kindsmord drastisch vor, dass das frühere Ausrichten der eigenen Existenz/ Identität auf andere Werte als Werteverlust gesetzt wird. Dies scheint mir in gewisser Weise übertragbar zu sein und ist als Statement zu lesen: Der Film selbst artikuliert frühere Wertsetzungen oder das Fehlen solcher und überwindet in seinen Geschichten vergangene Konzepte seiner eigenen (Film-)Geschichte. Dass dies hier im Genre des Fantasyfilms geschieht, ist selbst als Zeichen zu sehen, denn bereits damit werden zum einen die Position der Distanz und zum anderen ein Neuanfang eingenommen: Fantasy ist ein eher absentes Genre der 1970er Jahre, 2 das sich in den 1980er Jahren in neuer Relevanz Bahn bricht, wofür Krull ein frühes Beispiel ist; es dürfte nicht zufällig sein, dass gerade hier neue Konzeptionen verhandelt werden. Generalisiert lässt sich aus diesem Beispiel eine spezifische Konzeption von Selbstthematisierung ableiten: Das vorangegangene, vormalige Eigene wird als Fremdes gesetzt und als dieses ‘ integriert ’ und sich für eine Argumentation zu eigen gemacht, in der dieses Fremde überwunden und damit letztlich als nie dem Selbst zugehörig ausgewiesen wird. 1 Cf. einführend zum Genre Fantasy Krah 2012. Die Reduzierung der fantastischen Qualität der fantastischen Welt und damit eine Annäherung an die normale Welt am Ende der Geschichten sind üblich im Genre, wenngleich dies zumeist nicht durch Tod, sondern durch Verlassen geschieht. 2 Zudem gilt, dass Genres in den 1970er Jahren gerne kombiniert und dabei in ihren typischen Strukturen gebrochen werden, cf. etwa für den Endzeitfilm Krah (2004: 174 - 235). 30 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [30] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese (auf der narrativen Ebene situierte) diachrone Reflexion von ‘ selbst ’ und ‘ fremd ’ koinzidiert dabei mit einer synchronen Reflexion, in der das Verhältnis von ‘ selbst ’ und ‘ fremd ’ bezüglich der Kategorien ‘ Individuum ’ und ‘ System ’ / ‘ Ordnung ’ ausgehandelt wird. Diese spezifische Selbstreflexion scheint mir ein Merkmal des Films der frühen 1980er Jahre zu sein und sie geht mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel einher: 3 In den 1980er Jahren ist im Mainstream-Kino 4 weniger eine Fortsetzung und Weiterentwicklung als ein deutlicher Bruch mit den Positionen der 1970er Jahre und eine Rücknahme solcher Positionen zu verzeichnen. In den 1970er Jahren dominiert im Spielfilm das Aufzeigen gegebener, problematischer Verhältnisse, gleichsam ein dokumentarischer Blick auf den Alltag. Hier werden nicht Geschichten vorgeführt, die auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtet sind, sondern die als Zustandsbeschreibungen eines Zeitgefühls gedeutet werden können. 5 Der sich von den 1970er zu den 1980er Jahren - anhand der Filmstrukturen zu konstatierende - vollziehendeWandel korreliert grundsätzlich mit einer Neupositionierung des Individuums in Bezug zur Gesellschaft. Favorisiert wird ein neues Konstrukt von Identität, das zudem wesentlich den Umgang mit dem Körper und die Bewertung von Körpern tangiert. Der sich in dieser Übergangszeit abzeichnende Paradigmenwechsel artikuliert sich nicht nur auch im veränderten Umgang mit dem Körper, sondern ist an diesen als konstitutives Zeichen gebunden: Über die propagierte Relevanz des (eigenen) Körpers und dessen Modellierung und Inszenierung - als Arbeit am Körper - werden dem Individuum ideologische Positionen eingeschrieben, die gerade nicht dem Individuum, sondern der kollektiven Ordnung dienen und diese stabilisieren. An diese Körperdisziplinierung sind neue Körperkonzeptionen gebunden, die sich narrativ etwa in der Professionalisierung des Körpers durch Eintrainieren spiegelt und die sich visuell in einer spezifischen Ästhetisierung der Bilder artikuliert. In der neuen Relevanz des Körpers spiegelt sich also eine neue Strategie, anderes Denken zu propagieren, 6 umzusetzen und in dieses einzuüben - und dieses Denken zentriert sich in der Konstituierung einer Identität, wie sie als wünschenswert erscheinen soll und zu gelten hat. Was in den 1980er Jahren damit erreicht wird, ist eine Zurücknahme des gebrochenen Verhältnisses zur Tradition; so etwa, wenn in den Narrationen nun wieder Problemlösungen favorisiert werden. Die filmischen Erzählungen werden sinnstiftend in den Diskurs um Werte- und Normenorientierung eingebunden und dienen der Zuweisung von Sinn und Zielen - als Re-Installierung traditionell-konservativer Ordnungsschemata. Statt eines gleichsam dokumentarischen Blicks werden symbolische Lösungen angeboten, wobei der Körper sowohl als dominanter Träger dieser Strategie als auch als Kondensat fungiert: 7 Die 3 Zu Modellierungen und Aspekten von Wandel an sich siehe grundlegend Decker 2017. 4 Wenn es im Folgenden um das Verhältnis von neuem Denken/ neuer Identität und neuen Körpern und dabei um Re-Definitionen von Körperkonzeptionen im Film der frühen 1980er Jahre geht, dann ist unter Film primär der Spielfilm und sind hier letztlich die Produktionen amerikanischer Provenienz - Hollywood - gemeint. Diese scheinbare Selektivität rechtfertigt sich pragmatisch durch deren Verbreitung und ideologisch durch deren Status als (in unseren westlichen Kulturen) Träger populärer Diskurse und kulturellen Allgemeinwissens, cf. hierzu auch Krah 2017 a. 5 Cf. zum Film der 1970er Jahre grundlegend und ausführlich Krah & Struck 2001, vgl. auch Anm. 2. 6 Der Begriff des ‘ Denkens ’ und das damit verbundene Konzept sind im Sinne Titzmann 2017 zu verstehen. 7 Cf. auch Gräf et al. (2017: 184) und am Beispiel Krah 2008. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 31 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [31] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL visuelle Evidenz des Körpers semiotisiert diesen zum Beweismittel und Bürgen der Gültigkeit der filmischen Argumentation. Im Folgenden sollen nun zentrale, mit dem Körper korrelierte Kennzeichen der Umbruchphase der späten 1970er und frühen 1980er Jahre modelliert und dabei Schritte und Varianten aufgezeigt werden. Als Beispiele werden primär Filme gewählt, in denen der Körper im Fokus des Plots steht (Tanzfilm, Boxerfilm sowie Filme, die Militär, Sexualität, Training/ Sport, Bodybuilding fokussieren) und dies mit Schauspielern einher geht, bei denen die zentralen Diskursformationen besonders prägnant zu erkennen sind. 2 Conan the Barbarian (1982): der Körper als evidenter Mehrwert Der Film Conan the Barbarian (USA 1982, John Milius), einer der ersten der neuen Flut von Fantasyfilmen, die in den 1980er Jahren ein dominantes Genre darstellen werden, mag als Beispiel dienen, die im Fokus stehenden Diskursformationen um den Körper zu illustrieren. Hier wird (dem Genre entsprechend) ein geradezu hyperbolischer Körper in Szene gesetzt. Bereits ohne die Narration einzubeziehen, wertet sich der Film schon auf der Ebene der Attraktionswerte auf, ist es doch der ExtremkörperArnold Schwarzeneggers, der mit für die visuelle Faszination des Films sorgt. Schwarzenegger, einer der erfolgreichsten Bodybuilder aller Zeiten (Zwischen 1967 und 1975 holte er fünfmal den Titel des Mr. Universum und sechsmal den Titel des Mr. Olympia. 8 ), sorgte mit Conan the Barbarian in seiner ersten Hauptrolle für seinen ersten großen Erfolg und damit internationale Beachtung im Filmgeschäft. 9 Als titelgebender Conan spielt Schwarzenegger einen ‘ Superhelden ’ , der, dem Genre entsprechend, die Welt rettet. Diese Welt, beziehungsweise die von ihr repräsentierte Weltvorstellung mit Werten und Normen, verkörpert Conan als Superheld selber in seiner eigenen Person. Diese Weltvorstellung ist also an ihn und damit in augenfälliger Weise an seinen Körper gebunden. Conan the Barbarian ist dabei insbesondere deshalb interessant, weil der Film die Genese des Superhelden an seinem Körper vorführt. Der Held ist als solcher nicht bereits sujetlos zu Beginn des Discours in der dargestellten Welt vorhanden, sondern entsteht erst am Ende der Narration und durch diese. Dies korreliert in einem ersten Schritt mit der Entstehung des Körpers selbst: Gezeigt wird, wie der Körper zu diesem Körper gemacht wird. Die 8 1980 holte er nach fünf Jahren Wettkampfpause einen weiteren Mr. Olympia-Titel. 9 Unter dem Pseudonym Arnold Strong debütierte Schwarzenegger 1970 in Hercules in New York und spielte 1973 in The Long Goodbye, cf. Abschnitt 3 zu seinem Film Stay Hungry von 1976. Schwarzenegger ist selbstverständlich nicht der erste, der aus dem Sport in das Filmgeschäft wechselt. Zu nennen sind hier vor allem Jonny Weissmüller, der 1924 und 1928 fünf olympische Goldmedaillen im Schwimmen errang und von 1932 bis 1948 in zwölf Tarzan-Filmen als Tarzan zu sehen war, und - etwas weniger erfolgreich - der Hammerwerfer Uwe Beyer, der 1964 Bronze holte und 1966 in Harald Reinls Nibelungen-Remake den Siegfried spielte. Auch bei diesen Rollen ist der Körper zentral und die Darstellung einer mehr oder weniger unverhüllten Körperlichkeit durch diese Herkunft legitimiert - denn schließlich ist man gerade als Schwimmer ähnlich spärlich bekleidet wie mit einem Lendenschurz. Wie diese Ausführungen bereits andeuten mögen, geht es hier aber vor allem um Attraktionswerte, und diese sind nicht (wesentlich) in die Strategien eingebunden, die im Folgenden anhand Arnold Schwarzenegger dargelegt werden sollen. Ähnliches ließe sich auch für einen Vergleich mit den Sandalenfilmen italienischer Provenienz der 1950er und 1960er Jahren postulieren. 32 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [32] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Modalitäten dieser Körpererzeugung sind dabei bemerkenswert: So ist auffällig, dass zwar eine Motivation für die Ausbildung des Kriegerkörpers gegeben wird, diese aber gerade nicht darin besteht, dass Conan als Kämpfer ausgebildet wird. 10 Der Film setzt mit dem etwa zwölfjährigen Conan (der natürlich nicht von Schwarzenegger gespielt wird) ein, der in eine Familie und ein alltägliches dörfliches Leben integriert ist - ein Leben, aus dem er gewaltsam herausgerissen wird. Wie zu Beginn des Discours in einer eigenen Sequenz visualisiert wird, muss Conan als Junge mit ansehen, wie eine Horde übermächtiger und bestens ausgerüsteter Krieger sein Dorf zerstört, sein Vater dabei von Hunden zerfleischt und seine Mutter von dem Anführer eigenhändig vor Conans Augen geköpft wird; er selbst wird verschleppt und als Sklave verkauft. Seine Arbeit, die er dann als Sklave zu verrichten hat, besteht darin, zunächst gemeinsam mit anderen, dann alleine, angekettet an eine der Speichen ein riesiges Mühlrad zu drehen (siehe Abb. 2 a bis 2 e). Quasi magisch (dem Genre entsprechend) bildet sich dabei der Körper des Helden aus. Ohne Zwischenstufen, sondern durch filmische Überblendung vermittelt und einer Transsubstantiation gleich, mutiert der kleine Junge Conan zu dem erwachsenen Conan, der durch den Körper Arnold Schwarzeneggers definiert ist. In einem Match Cut werden, ohne das Gesicht zu zeigen, in einer ersten Einstellung die Beine des Jungen fokussiert, dann in der darauf folgenden die ausgebildeten, muskulösen Beine Schwarzeneggers, wobei wiederum das Gesicht zunächst nicht zu sehen ist. Hervorgehoben wird die Veränderung des Körpers. Abb. 1: Arnold Schwarzenegger als Bodybuilder (Quelle https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Arnold_Schwarzenegger_1974.jpg, gemeinfreie Lizenz) 10 Eine solche zusätzliche Ausbildung setzt erst ein, nachdem Conan bereits Kämpfer ist und seinen Körper hat, der sich durch diese Ausbildung dann auch nicht mehr verändert; über einen Vergleich zu Robert Erwin Howards Vorlage, die von 1932 ff. in Weird Tales erschienenen Geschichten um Conan, könnten im Übrigen signifikante Veränderungen zur filmischen Konzeption verdeutlicht werden. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 33 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [33] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 2 a − e: Conan the Barbarian: die Ausbildung des Körpers (eigene Screenshots) Conan ist zwar ein Gefangener und damit fremdbestimmt, allerdings kann er sich gerade dadurch selber entfalten: Vorgeführt wird ein Prozess der Individuation, der tatsächlich zur Ausbildung von Individualität und Exzeptionalität führt. Conan bleibt bei der implizierten Selektion, das Rad drehen zu können, allein übrig, wobei nicht ersichtlich wird, ob die anderen angesichts dieser Anstrengung im Laufe der Jahre wegsterben oder ob es angesichts der Muskelkraft Conans nicht mehr notwendig ist, zusätzliche Kräfte zu bemühen. Jedenfalls führt die Gefangenschaft nicht zu Vermassung und Anpassung, sondern zu einer individuellen Formung der Anlagen, so ist zu schließen. Der muskulöse Körper entfaltet sich im Freien, auf eine fast natürliche Weise, und die Arbeit am Körper ist eine Arbeit mit dem Körper, ist ins Leben eingebunden (denn das Rad ist ein Mühlrad, kein Folterinstrument) und macht das ganze Leben, Sommer wieWinter, aus. 11 Damit kann dieser Prozess letztlich als nicht fremd, nicht von außen bestimmt angesehen werden, sondern als Trainingsprogramm, das, dem Ergebnis zufolge, genau auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt ist. Präsupponiert wird also, dass (i) der dabei entstandene Körper ein natürlich 11 Eine solche Ideologisierung des Trainings wird sich dann in Extremform in Rocky IV zeigen, cf. Abschnitt 7. 34 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [34] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL gewordener ist und dass (ii), auch wenn das Individuum eingebettet in Zwänge ist, diese dem eigenen Ich nicht schaden, weder psychisch noch physisch. Die fehlende Freiwilligkeit ist deutlich ambivalent semantisiert, weniger als negative Gefangenschaft, sondern als notwendige Voraussetzung für die Zukunft. Dass etwas nicht freiwillig und unter Zwang geschieht, muss also nichts an sich Negatives sein. Dieser Körper, der Conan zum unbezwingbaren Kämpfer macht und ihm in der Gefangenschaft eine bevorzugte Behandlung und privilegierte Stellung verschafft, reicht nun aber nicht aus, Superheld zu sein, wie der Film im weiteren Verlauf zeigt. Sich aus der Gefangenschaft zu befreien, dabei in einerArt Geburtshöhle ein eigenes Schwert zu finden - während bei dem Überfall auf sein Dorf das Schwert seines Vaters zerbrochen wurde - und seine Sklavenketten zu zerreißen, macht ihn, der Logik des Films zu Folge, zwar zum Mann, der autonom und selbstbestimmt über sich und sein Leben entscheiden kann, es macht ihn aber nicht automatisch zum Helden (im semantischen Sinne eines Trägers von als wünschenswert gesetzten Werten und Normen). Signifikanter Weise bestreitet Conan seinen Lebensunterhalt zunächst als Dieb und lebt damit, rein auf sich selbst bezogen, parasitär von der Gesellschaft. Die Ausbildung des Körpers ist also nur ein erster Schritt auf dem Weg zum Helden, eine Voraussetzung und notwendige Bedingung, aber sie reicht noch nicht aus, die Welt zu retten. Sie ist dementsprechend auch nicht erzählenswert, nicht sujethaft, im Gegensatz zum zweiten und zentralen Schritt, der nun narrativ 90 Minuten den Film bestimmt: Der Körper ist an eine bestimmte Einstellung zu binden. Vorgeführt wird im Verlauf des Discours, wie dem Körper diese richtige Einstellung ‘ eingeschrieben ’ wird. Es geht dabei um eine Disziplinierung und um die Reduzierung des bisher gelebten Lebens, das vom filmischen Point of View insgesamt als pseudoautonom interpretiert wird, da es sich, unbewusst, seinem Kindheitstrauma verdankt. Conan ist nicht im Reinen mit sich. Sein Leben ist bestimmt durch etwas, was er momentan entbehrt, auf was er aber unbewusst sein Leben ausrichtet: Rache für seine Eltern - und vor allem für sich. Was strukturell fehlt, ist in diesem Leben (und durch dieses) Erfüllung. Der Filmverlauf setzt dann, dass sich Conan der Vergangenheit stellen muss, dies aber auf die ideologisch richtige Weise zu geschehen hat. Demonstriert wird diese richtige Weise, indem sie mit einer ‘ falschen ’ Weise kontrastiert wird. Die Gelegenheit zur Rache bietet sich, als Conan als Dieb den Auftrag erhält, die Tochter des Königs Osric aus den Fängen von Thulsa Doom zu retten, der seinen Sitz im Berg der Macht hat. 12 Wie sich zeigt, ist der grausame Weltbeherrscher Thulsa Doom genau derjenige, der den Tod seiner Eltern zu verantworten hatte. Ein erster Versuch, die Herrschaft von Thulsa Doom zu beenden, scheitert. Im Vergleich mit dem sich anschließenden zweiten Versuch, der unter anderen Modalitäten verläuft, sind die abstrahierbaren Gründe für dieses Scheitern zu rekonstruieren. 12 Die Semantisierung dieses Raums lehnt sich deutlich an die einer Hippiekommune, in einer Art Poona, an. Esoterisch ausgerichtet, sind die Mitglieder ‘ freiwillig ’ dem Meister verfallen, nicht die Gefahr sehend. Denn Thulsa Doom ist eine riesige Schlange, die Menschen verschlingt (der Kessel, dessen Ingredienzien aus Händen und Füßen bestehen, visualisiert die kannibalische Dimension dieses Schlangenkults mehr als deutlich). Zudem wird dies wenig subtil mit einer Sexualsymbolik/ -metaphorik verbunden. Thulsa Doom ist nicht nur selber eine Schlange, sondern er schießt, als Mensch, mit Schlangen als Pfeilen, benutzt dafür immer nur eine Schlange, die als Pfeil steif wird, und zielt immer nur auf Frauen, wobei dieser Schuss immer tödlich ist. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 35 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [35] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL So geht es Conan beim ersten Versuch weniger um die Befreiung der Prinzessin, geschweige denn um eine allgemeine Beendigung der Herrschaft und des Einflusses von Thulsa Doom, sondern um seine eigene individuelle Rache. Diese ist zwar durchaus legitim, wie aus dem filmischen Verlauf letztendlich zu schließen ist, aber, wie ebenso zu sehen ist, darf sie nicht auf eine traumatisierte, emotional involvierte Weise geschehen, die zu einer Vergeudung von Ressourcen führt. So lässt sich Conan nicht von seinen Freunden, Subutai, Valeria und dem Zauberer, helfen, verzichtet auf deren Unterstützungsangebot und isoliert sich selbst, anstatt Anführer einer Truppe solidarischer (und kampferprobter) Mitstreiter zu sein, die seinen Anordnungen (bedingungslos) folgen. Er trägt kein Schwert bei sich, verkleidet sich stattdessen und verhüllt seinen Körper - in der Logik des Filmes Zeichen dafür, dass er nicht als Mann und damit als er selbst handelt, sondern sich der Mittel der Gegenpartei, Verstellung und Täuschung, bedient. Dass sein Versuch, in den Machtbereich von Thulsa Doom zu gelangen, dabei über das simulierte Interesse an einem ‘ schwulen ’ Priester läuft, ist in dieser Logik nur kohärent. Auf diese Weise scheitert Conan: Er kann Thulsa Doom bei einer direkten Gegenüberstellung nicht überwinden (wenngleich auch dieser ihn nicht brechen kann). Dieses Scheitern wird aber als funktional gesetzt, da aus diesem Scheitern Einsicht und Einstellungsveränderung bei Conan resultieren. Diese Läuterung ist (dem Genre entsprechend) dramaturgisch eindringlich in Szene gesetzt: hyperbolisch als Kreuzigung (Christi) und Wiedergeburt zum Superhelden. In dieser Kreuzigung und dem sich anschließenden indianisch-schamanischen Ritual des Zauberers, das die Geister, die von der Seele des scheinbar leblosen Körpers Besitz ergreifen wollen, fern und Conan damit am Leben hält, amalgamieren Bestrafung, Körperdisziplinierung und magischsakrale Transformation - wobei im Unterschied zu Christus hierbei ein Tribut zu zahlen ist: Valeria, Conans Geliebte und als starke, kämpfende Frau eingeführt, bietet sich selber als Opfer an, was sich am Ende des Films auch erfüllt, sie stirbt, (immerhin) nachdem sie ihren Beitrag zur Befreiung der Prinzessin geleistet hat. Beim zweiten Versuch, Thulsa Doom zu überwinden, nimmt Conan die Hilfe seiner Mitstreiter in Anspruch. Zudem korreliert dies mit einem anderen Umgang mit seinem Körper. Nun wird dieser nicht durch Kleidung verdeckt, sondern gerade als Körper herausgestellt. So, wie Conan diegetisch seinen Körper mit Zeichen bemalt und damit diesen zum Träger von Bedeutung erhebt, so ist auch in Bezug zum Point of View sein nichtverkleideter Körper sichtbares Zeichen der durch ihn transportierten Botschaft. Am Ende ist nicht nur die Ideologie untrennbar an ihn gebunden, sondern auch als die richtige vermittelt. Diese artikuliert sich darin, dass er geradlinig und offen der schwammigen, nicht-fassbaren Körperlichkeit der Schlange Thulsa Doom entgegen tritt, mit den Waffen des Mannes, dem Schwert. Nun glückt nicht nur die Rettung der Prinzessin Yasimina, erreicht wird auch die Zerstörung der Ordnung von Thulsa Doom und damit implizit die Rettung aller. 13 Diese Rettung ist gleichzeitig seine Rache, nur dass diese nun nicht mehr als individuell motivierte Rache erscheint, sondern mit einer kollektiven Erlösung einher geht und durch den Tod Valerias jetzt erst als gerechtfertigt und möglich, ja notwendig erscheint. 13 Die Rettung der Prinzessin Yasimina erfolgt zwar zunächst gegen deren Willen (vgl. Anm. 12), aber im Sinne der als richtig gesetzten väterlichen Ordnung. 36 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [36] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Gerächt werden darf nicht dieVergangenheit, diese ist hinzunehmen, zu ertragen und durch sich selber zu überwinden. Das Erreichen des Ziels fordert zwar das Leben Valerias, was als schmerzlich gesetzt ist, dadurch entsteht aber kein neues Trauma, da sich dieser Tod als Opfer sinnvoll und konstruktiv, für seine Existenz, deuten lässt. Die Genese des Superhelden Conan wird filmisch also eingebunden und getragen von einer Ideologie, die auf spezifische Weise das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv regelt. Sie rechtfertigt zunächst die Selbstverwirklichung des Individuums durch Formen von Pseudoautonomie und reduziert sich dann deutlich durch Einsicht in moralische Werte und Normen, die sich, da als natürlich gesetzt, einer Diskussion entziehen. Diese Reduktion erscheint nicht gesellschaftlich, sozial oder politisch bedingt, sondern anthropologisch (aus einer westlich-amerikanischen, konservativen Perspektive). Im Fantasygenre, wie anhand Conan zu sehen, ist diese Strategie, ihre Bindung an den Körper und ihre Kaschierung einfach zu realisieren, ist es doch durch die Verlagerung seiner Geschichten in enthistorisierte Räume und archaische Zeiten bereits als Genre prädestiniert für solche Ausblendungen einerseits, Inszenierungen andererseits. Doch diese Paradigmen, Strategien und Argumentationen sind nicht auf dieses Genre beschränkt, sondern durchziehen die Filmstrukturen des Zeitraums im Ganzen. 3 Stay Hungry (1976): Das Universum von Mr. Universum im Wandel Ein Blick zurück in die 1970er Jahre soll die Ausgangspunkte wie die Anfänge dieser Konstellation illustrieren. Hierzu kann ein weiterer Film mit Arnold Schwarzenegger dienen: Stay Hungry von 1976 (USA, Bob Rafelson, deutscher Titel: Mr. Universum) zeigt ihn vor Conan the Barbarian in einer Rolle, die mit seinem Körper und seinen vorschauspielerischen Wurzeln in enger Beziehung steht. Schwarzenegger spielt die Rolle des Joe Santo, eines Bodybuilders, der an dem Wettbewerb zum Mr. Universum teilnehmen möchte, den Thor Erikson, der Leiter eines Fitness-Studios, ausrichtet. Dieses Fitness-Studio ist im Film ein ambivalenter Raum, was anhand seines Besitzers, des bereits ergrauten Thor, demonstriert wird. So hat sich Thor gegen die Übernahmepläne eines Konsortiums unlauterer Geschäftsmänner zu erwehren, die auch vor unsauberen Geschäftsmethoden nicht zurückschrecken und das Studio demolieren lassen. Bei diesem Konflikt liegen die filmischen Sympathien eindeutig auf Seiten von Thor. Gleichzeitig veruntreut Thor aber selber Gelder, die Einnahmen zum Wettbewerb, und er erscheint als drogenkonsumierender, sexbesessener Voyeur, der letztlich in die Umwandlung des Fitness- Studios in einen Massagesalon, als besseres Bordell, einwilligt. Thor ist grundlegend mit ungebändigter Gewalt und Sexualität/ Potenz korreliert, aber dies und seine Unmoral an sich erscheinen im Film zunächst noch als ambivalent und sind nicht genuin verantwortlich dafür, dass er gegen Ende des filmischen Discours die Sympathien des Point of View verliert. Erst hier wandelt sich sein Image und dominiert nun ein deutlich negatives Bild, eine Veränderung, die ursächlich mit der (versuchten) Vergewaltigung der Protagonistin Mary Tate Farnsworth einhergeht. Bodybuilding selbst unterliegt in der Diegese einer spezifischen Konnotation. Mit der ersten Frage, die Joe zu beantworten hat, hat er sich dem Vorurteil zu stellen, das in der dargestellten Welt vorherrschende Meinung ist: Alle Bodybuilder sind schwul. Damit ist Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 37 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [37] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL vorgegeben, dass Arbeit am Körper - für Männer - in der Diegese den Stellenwert des Nicht-Normalen, des Abweichenden, des Andersartigen, des Fremden hat. Normale, heterosexuelle Männer müssen sich nicht um ihren Körper kümmern - und tun es auch nicht. Deutlich werden die Muskelmänner im Film als Freaks, als Monster, als unnatürlich bewertet, und dementsprechend als etwas in Szene Gesetztes, was einen Sensationseffekt hat, mit dem man sich auf Partys schmücken und was dort als Objekt des Bestaunens herumgereicht werden kann. Wenn gegen Ende des Films die Teilnehmer des Wettbewerbs den Bühnenraum verlassen - der Ausgang des Wettbewerbs bleibt dabei offen - und auf der Suche nach Thor und den veruntreuten Geldern in ihren Tangas, also nahezu unbekleidet, durch die Straßen laufen, dann ist dies deutlich als ‘ Ausbruch ’ fremdartiger Wesen und Eindringen in den bekannten, vertrauten Alltag inszeniert. Es handelt sich um Fremdkörper, die die Straßen (einer Schar Affen gleich) bevölkern, wobei das massenhafte Auftreten zudem den Aspekt des Paradigmatischen hervorhebt, gerade nicht den des Individuell-Exzeptionellen. Eine gewisse Faszination auszuüben wird ihnen zugestanden, aber nur als distanzierter, voyeuristischer Blick auf das Fremde, ohne die Möglichkeit eine Auflösung dieser Grenze auch nur im Mindesten anzudeuten. Diese Konzeption, die bewusste, künstliche Veränderung des eigenen Körpers, und damit die Relevanzsetzung des Körpers als etwas Äußerliches, wie sie sich hier in Stay Hungry artikuliert, korrespondiert durchaus mit kulturellem Allgemeinwissen, wie etwa auch der Film Partners (Zwei irre Typen auf heißer Spur, USA 1982, James Burrows) demonstriert: Bodybuilding ist gleichzusetzen mit Schwul-Sein und verweist auf einen Mangel: Erstens, da der heterosexuelle Mann von Natur aus attraktiv ist. “ Er sieht unwahrscheinlich aus ” urteilt ein Schwuler über den heterosexuellen Protagonisten Benson, der als Schwuler undercover ermittelt. Zweitens, da der von Natur aus hässliche Schwule, weil er dem attraktiven Heterosexuellen nacheifert, sich einen attraktiven Körper erst aneignen muss. Hautenge Jeans und damit eine Körperbetontheit bereits auf der Ebene der Kleidung konnotiert im Film schwul zu sein - so wird es in der Diegese präsupponiert. 14 Stay Hungry argumentiert nun vor der Folie dieses Denkens, das hier allerdings nur den Hintergrund bildet und gerade für die Figur des Joe Santo, also für Arnold Schwarzenegger, umsemantisiert wird. Denn Joe ist (natürlich) nicht schwul, so dass sich das Vorurteil als Vorurteil erweist, und zudem wird für ihn, im Unterschied zu den anderen Bodybuildern, die das Label ‘ nicht-normal ’ , ‘ künstlich ’ , transportieren, eine dazu gegensätzliche Merkmalsbelegung etabliert: Er ist echt, authentisch, im Einklang mit der Natur, wie sich etwa an seinem Musizieren dokumentiert (Er spielt auf der Geige Countrymusik.). Dementsprechend wird auch nie gezeigt, dass und wie Joe (im Studio, an Geräten) trainiert - er ist, was er ist. Diese Echtheit von Joe ist funktional für den Gang der Handlung und zentral für die filmische Argumentation. Denn eigentlicher Protagonist des Films ist nicht Joe, sondern Craig Blake. Craig ist ein reicher Dandy, der ein Leben ohne Ziel führt. In diesem Kontext führt der Film die Oberschicht als semantischen Raum ein, der sich durch Dekadenz, Leere, ein Leben auf Partys auszeichnet. Wiederum, wie schon bei der Figurenzeichnung von Thor, dokumentiert der Film, als Film der 1970er Jahre, in seinem Discours diesen Zustand als 14 Siehe hierzu ausführlich Krah 1997. 38 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [38] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Zustandsbeschreibung, ohne ideologische Bewertungen damit zu verbinden. Erst am Ende des Discours stellt sich eine Veränderung ein - und wird damit auch implizit gesetzt, dass dieser Zustand selbst ein defizienter und auf Dauer unbefriedigender ist. Craig ist auf der Suche nach dem Echten, Authentischen, das es in seiner Schicht nicht gibt. Er findet es durch Joe, der als Katalysator fungiert. Craig findet am Ende sein Ziel, wobei das Ziel nicht grundsätzlich inhaltlich definiert wird. Es besteht darin, überhaupt etwas zu machen, sich mit dem gegenwärtigen Zustand nicht zufrieden zu geben - also in einer konstruktiven Unruhe, wie der Titel “ Stay Hungry ” expliziert. Zielorientiertes Handeln, die Ausrichtung auf etwas, was dem zukünftigen Leben einen Sinn gibt, darin liegt die ideologische Aussage des Films. In Stay Hungry liegt diese Zukunft konkret im Sport. Craig übernimmt das Studio und setzt den projektierten Bordellplänen ein eigenes Projekt entgegen. Wenn Craig am Ende das Studio übernimmt, dann ist diese Übernahme deutlich als Neuanfang gesetzt. Das Studio wird als semantischer Raum transformiert, die Demolierung verdeutlicht dies auf der rein räumlichen Ebene, und von den Aspekten der Unmoral und Ambivalenz befreit. Das Studio wird zum Raum des Sports, der nun aber nicht mehr die eingangs durch die Bodybuilder kondensierte Bedeutung der rein individuell-egoistischen Körperinszenierung um ihrer selbst willen hat (was aus der Perspektive des Adressaten einer voyeuristischen Zurschaustellung entsprach), sondern, wie anhand der Beziehung von Craig und Mary Tate gezeigt wird, eine Semantik implementiert, die sich durch ‘ echte Gefühle ’ , ‘ Stehen zu solchen Gefühlen ’ und ‘ Verantwortung für andere ’ auszeichnet. Dieser neue Raum des Sports wird zudem gezielt als schichtübergreifend gesetzt - wiederum anhand des Paares Craig und Mary Tate zu sehen - , womit ein Ausbruch aus der gegebenen sozialen Ordnung, wenn nicht gar eine Veränderung dieser Ordnung, impliziert wird. Eine tatsächliche soziale Dimension und eine Auseinandersetzung mit hier situierten Problemen werden durch diese Überlagerung durch die nun relevanten semantischen Räumen Sport versus Nicht-Sport (statt Oberschicht versus Nicht-Oberschicht) aber letztlich zurückgenommen und kaschiert. Stay Hungry ist insgesamt ein Film der 1970er Jahre, in dem sich Konzeptionen der 1980er anbahnen, was sich gerade auf der Ebene des Discours artikuliert. Über die Umwertung des Körperkults wird hier zum einen die Indienstnahme des Körpers für das Normale vorgeführt - das Normale 15 , das zum anderen ebenfalls neu ‘ eingestellt ’ wird und nun dadurch gekennzeichnet ist, dass es ideologisch ausgerichtet ist, auf die teleologische Aufgabe, dem Leben einen Sinn zu geben. 4 Innerfilmische Bilanzierung: An Officer and Gentleman (1982) War es in Stay Hungry noch eine Katalysatorfigur, durch die und deren Körper Einstellungen vermittelt werden, so wird in der Folge diese Vermittlungsebene eliminiert. Die Einübung in bestimmte Einstellungen wird unmittelbar am eigenen Körper ( ‘ Eigen ’ meint den Körper des fokussierten Protagonisten, dessen Geschichte erzählt wird.) zelebriert, wie 15 Als diskursgeschichtlicher Terminus im Sinne von Link 1996 verwendet., cf. einführend Hennig & Krah (2017: 465 f.). Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 39 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [39] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL dies exemplarisch in An Officer and Gentleman (Ein Offizier und Gentleman, USA 1982, Taylor Hackford) in Szene gesetzt wird. Hier wird zudem in einer Art Bilanzierung auf die Vergangenheit der 1970er Jahre und deren ideologisches Programm von einem Standpunkt aus reagiert, von dem aus diese Vergangenheit nicht nur als abgeschlossen betrachtet, sondern auch im eigenen Tun als überwindbar gesetzt wird. Im Vorspann des Films wird die Vorgeschichte visuell rekapituliert. Ausgangspunkt ist eine kollektive Vergangenheit, Vietnam, die im Film zwar auch als Trauma gesetzt ist, allerdings auf eine Weise, wodurch sich der Film von den Vietnamfilmen der 1970er Jahre und deren Verarbeitung signifikant unterscheidet: Hier im Film werden, bedingt durch Vietnam, die Jungen durch die Elterngeneration traumatisiert, da diese ihrer ideologischen (Vorbild-)Funktion nicht nachgekommen ist. Zack Mayo lebt nach dem Tod seiner Mutter entwurzelt und verwahrlost in sexuell freizügiger Atmosphäre bei seinem Vater, Gunnery Sergant Emil Foley Mayo, und dessen zwei asiatischen Freundinnen in der Fremde - und nimmt so selbst dieses Leben auf. Es kennzeichnet sich durch unmoralisches Verhalten, durch die Absenz von Heimat und Familie, aber auch durch die Absenz schöner Körper und Ästhetik, denn solches weisen der bierbäuchige Vater Mayo und seine Beziehungen gerade nicht auf. Der Film konstatiert nun nicht nur diese Problemlage, sondern bietet eine eindeutige Lösung an. Inszeniert wird zunächst ein Bruch mit diesem Leben: Zack geht, sobald er alt genug ist, zur Marine (und wiederholt dadurch das Leben seines Vaters, wie es hätte sein können - er nimmt also die ‘ Schuld ’ des Vaters auf sich). Doch dieser Bruch allein reicht für ein heiles Leben nicht aus, so ist präsupponiert. Zack wählt zwar freiwillig die Marineausbildung, er verhält sich zunächst aber egoistisch, unkameradschaftlich und unterläuft die Ordnung. Verhaltensweisen, die er sich, so setzt es der Film, aus dem Leben mit seinem Vater angeeignet hat - und durch die sich seine Traumatisierung artikuliert. Diese, so ist gesetzt, kann nicht aus eigenen Kräften bewältigt werden, dazu ist die Hilfe von Fremdinstanzen nötig. Fremdinstanzen, genauer: Institutionen, die auf den Körper einwirken und dadurch Selbstverwirklichung und Einsicht (beim Körperträger) zu katalysieren vermögen. Durch die falsche Orientierung ist das eigene und eigentliche Selbst - das eines der Normadäquatheit wäre - verschüttet. Am Ende des Films und der Ausbildung ist Zack gewandelt, er erhält Format. Dies verdankt er den Schikanen seines Ausbilders, die, wie rückblickend interpretiert wird, keine waren, sondern im Gegenteil Wohltaten, für die man sich bedanken darf. “ Ohne Sie hätte ich es nicht geschafft ” , so die Einsicht Zacks. Gewalt darf sein und ist funktional notwendig. 16 Gerade der buchstäblicheTritt in die Eier, mit dem sich derAusbilder in einem ‘ fairen ’ Kampf Mann gegen Mann, außerhalb des Dienstes, als der Überlegene erweist, wird etwa nicht als unfair und unter der Gürtellinie gewertet, sondern hat indexikalische Funktion: Genau durch diesen Kampf erhält Zack das Einsehen, seine Beziehung zu Paula, die er während seiner Ausbildung begonnen hat, nicht zu beenden, sondern der Sexualmoral entsprechend aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Damit wird auch auf dieser Ebene eine Über- 16 Dass die Körperlichkeit notwendig hierfür ist, zeigt sich an dem Mitanwärter, der sich, da körperlich schwächer, der Gewalt des Ausbilders nicht aussetzen kann und scheitert - wie sein Aufgeben im Film bewertet wird. Zimperlich darf man nicht sein, so die Botschaft, der stählerne Körper hält es aus. 40 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [40] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL windung der Vergangenheit erreicht, denn die hypothetische Beendigung der Beziehung würde genau nachzeichnen, wie es Paulas Mutter in der Elterngeneration ergangen war. Aus dem Handlungsverlauf und seiner filmischen Semantisierung kann gefolgert werden: (1) Der Bruch mit der Vergangenheit ist spezifisch kodiert: Da diese Vergangenheit selbst als defizitär gesetzt ist, entspricht die neue Lösung, also die Überwindung dieses Zustands, einer Re-Installierung einer eigentlich schon immer gültigen Ordnung, die nur durch diese Vergangenheit außer Kraft gesetzt war. Das Neue ist das tatsächlich und bewahrenswerte Alte, in dessen Normen und Werte von neuem eingeübt werden muss, da es abhandengekommen ist. Die Institution für diese Einübung ist die Marine, die nicht nur als militärische Organisation erscheint, sondern als Charakterschmiede. Die Ausbildung zum Offizier wird nicht zentral als eine des Rangs und des Dienstgrads gesetzt, als Beruf und Lebensunterhalt, sondern ist eine der inneren Einstellung, die den Menschen selber, sein gesamtes Leben betrifft. Die Ausbildung zum Offizier ist gleichgesetzt mit der Ausbildung zum “ Offizier und Gentleman ” , wobei sich ‘ Gentleman ’ nicht auf Äußerliches bezieht, auf Manieren und Verhalten, sondern auf eine innere Einstellung: auf Tugenden, Werte und Normen, Moral, Verantwortungsübernahme. (2) Die Strategie, dieses Innere wieder zu re-installieren, ist nicht eine psychologische oder basiert auf einer rationalen, expliziten Vermittlung dieses fehlenden Wissens, sie ist keine im engeren Sinne kommunikative. 17 Sie geht über den Körper, der durch Schleifen, letztlich durch organisierte Gewalt, diszipliniert wird, 18 wodurch zugleich dem Ich eine Einstellungsveränderung widerfährt, die der Bewältigung des individuellen Traumas und der Repräsentation der Ordnung dient. (3) Wiederum, wie bei Conan, ist der dazu geeignete Körper als Ausgangsmaterial vorhanden und oszilliert eine paradoxe (und selbstverständlich nicht thematische) Konstruktion. Impliziert wird, dass der athletisch-schöne Körper erst durch die Auseinandersetzung mit dem früheren, harten Leben entstanden ist - um sich in diesem durchsetzen zu können. Der Körper wäre also Ergebnis des negativen Zustandes. Zugleich ist aber die Sichtweise gegeben, dass er als eine Gabe der Natur zu sehen ist, an dem kein Vater, keine negative Kultur an sich etwas ändern können. Damit lässt sich etwas anfangen, auch wenn man sozial sonst noch so heruntergekommen ist. Die Reduktion auf den Körper ist also auch im Sinne einer Chancengleichheit funktionalisiert, eines Besinnens auf das Wesentliche. Für beide Sichtweisen gilt aber: Nun und deshalb muss diesem Körper die richtige Einstellung eingebläut werden. (4) Dass es die Beziehung mit Paula wert ist, aufrechterhalten zu werden, liegt nicht an Beziehungen an sich, sondern zentral an Paulas Verhalten. Dies wird im Film durch die Strategie der Gegenüberstellung verdeutlicht - ein Verfahren, dem sich die Filme des Zeitraums in besonderem Maße bedienen, um durch Grenzziehung die Bedeutsamkeit 17 Gefolgert werden kann, dass dies dann zu sehr als Indoktrinierung aufgefasst werden würde und neben dem Vermittlungsaspekt auch ein Heilungsaspekt, und damit die Konnotation von Krankheit und pathologischem Verhalten, zu sehr betont wäre - was der propagierten Ideologie negative Implikationen verleihen würde. 18 Je mehr der Körper freiwillig trainiert wird, desto mehr wird dies in den Filmen als an individuellen und egoistischen Interessen ausgerichtet inszeniert und dementsprechend mehr oder weniger sanktioniert, wie in American Gigolo zu sehen ist. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 41 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [41] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL bestimmter Merkmalen hervorzuheben. Die Filme der frühen 1980er Jahre operieren mit dem Aufbau vergleichbarer Parallelgeschichten, wobei die Abgrenzung von diesen stets scheiternden Varianten gerade die Qualitäten betont, die das eigene Scheitern verhindern. In An Officer and Gentleman ist es der Gegensatz von Zack und Paula zu Sid, ein mit Zack befreundeter Offiziersanwärter, und Lynette, die wie Paula Fabrikarbeiterin ist. 19 Gerade unter Funktionalisierung dieses sozialen Unterschieds wird vorgeführt, dass es nicht solche sozialen Ursachen sind, woran Beziehungen scheitern, sondern dass ein Scheitern an der Einstellung der Frau liegt - die damit die Verantwortung trägt. Lynette ist es, die keine ernsthaften Gefühle für Sid als Person hat, sondern diesen nur benutzen möchte um aufzusteigen. Als Sid den Dienst quittiert, um die nicht standesgemäße Beziehung eingehen zu können, ist gerade dies der Grund für Lynette, ihm den Laufpass zu geben (woraufhin sich Sid umbringt). (5) Deutlich lässt sich zeigen, dass Körper und Sexualität eine neue Verbindung eingehen. Durch eine Ästhetisierung des Sexualaktes wird dieser zum Bedeutungsträger für Liebe oder Leidenschaft, jedenfalls für ernsthafte, intensive Gefühle, wobei der Akt Zeichenfunktion übernimmt, also über sich hinaus verweist: Zentral ist nicht, dass solche Gefühle während des Sexualaktes vorhanden sein müssen, signalisiert wird durch eine Visualisierung vielmehr, dass sich solche Gefühle einstellen werden und der Akt nicht einfach nur Episode ist. Das rekurrente Zeigen des Aktes und die sich darin dokumentierende neue Relevanz sind nicht wirklich als progressiv im Sinne neuer Freiheiten oder Freizügigkeiten zu deuten. Denn nicht eine Selbstverständlichkeit des Aktes an sich, als etwas Alltägliches, wird dadurch indiziert, als Eigenwert, an dem man Vergnügen haben könnte, sondern er ist als Besonderheit inszeniert und selbst ein Zeigeakt. Einmal visualisiert, dient er als Index dafür, dass das Paar zusammenbleibt, dauerhaft zusammenkommt. Wird derAkt gezeigt, wie der zwischen Zack und Paula, dann kommt es auch zur Heirat. Dagegen korreliert die Negativgeschichte von Sid und Lynette auf der Discoursebene damit, dass der Sexualakt zwischen den beiden nie gezeigt wird, Lynette auch nicht schwanger ist und (im Gespräch unter Männern) zudem thematisiert wird, dass diese beiden eine Sexualpraktik favorisieren, Fellatio, die dem auch nicht gerade förderlich ist. 5 Saturday Night Fever (1977) und Staying Alive (1983): Das Sequel als Überschreibung Veränderungen bezüglich der Körperkonzeptionen und der damit einhergehenden ideologischen Ausrichtung dessen, was als Identität propagiert werden soll, sind dort deutlich zu sehen und nachzuvollziehen, wo Filme selbst eine Vergangenheitsdimension installieren. Dies muss nicht, wie in An Officer and Gentleman, filmintern in der eigenen Diegese sein, es kann sich auch filmübergreifend konstituieren, als Bezug auf einen ‘ Prätext ’ , der dem Film vorausgeht. Führen Filme, die innerhalb ihrer Diegese eine Vergangenheitsdimension etablieren, ein ‘ Sukzessionsmodell ’ vor, so folgen Sequels einem ‘ Substitutionsmodell ’ , bei 19 In Flashdance (1983, Adrian Lyne) werden als solche Alternativverläufe die Lebensentwürfe von Jeanie und Richie vorgeführt, die beide scheitern, im Unterschied zur fokussierten Alex, die sich selbst das Motto gibt: “ Wenn du einmal einen Traum aufgibst, stirbst du. ” 42 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [42] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL dem die Diegese nicht fortgeführt, sondern diese Vergangenheit insgesamt überschrieben wird. Für den hier behandelten Zeitraum weisen Sequels diese Zusammenhänge generell/ tendenziell auf und organisieren ihre Bedeutung nach den konstatierten Prinzipien. Dies soll am Beispiel Saturday Night Fever von 1977 (USA, John Badham) und seinem Sequel Staying Alive von 1983 (USA, Sylvester Stallone) illustriert werden. 20 Tony Manero ( John Travolta) weist als Protagonist von Saturday Night Fever keinen durchtrainierten, gestählten Körper auf, ebenso wenig wie die anderen fokussierten Jugendlichen. Der Film führt zwar dominant die Relevanz einer Körperinszenierung vor, insbesondere über die Kleidung und die Frisur, 21 dies wird aber ebenso eindeutig als Selbst-Inszenierung ausgestellt. Wenn sich Tony für die Disco umzieht (siehe Abb. 3 a bis 3 f ), dann wird durch die Kameraperspektive, durch die Ausführlichkeit, mit der der Discours daran teilnimmt, und durch die Kontrastierung von Tonys Körper mit dem Körper von Bruce Lee, der als Poster die Zimmerwand schmückt, deutlich, dass dies als metadiegetische Kommentierung zu verstehen ist. Insbesondere durch die Bilder in Tonys Zimmer, neben Bruce Lee ein Porträt von Sylvester Stallone als Rocky, wird gerade die Differenz von Realität und Medialität gezeigt und damit ein Bruch und eine Distanz markiert: Diese Bilder fungieren zwar als Vorbilder, haben diesen Anspruch aber nur medial; nur filmisch sind solche Körper möglich, nicht real. Die Realität ist im Film dagegen durch die Familie und die Arbeit als Verkäufer repräsentiert, jeweils Bereiche, die sich als äußere Zwänge zeigen, in die das Individuum eingebunden und von denen es mehr oder weniger abhängig ist. Gerade der Körper als das, was das Individuum auszeichnet und dessen Wünschen zugrunde liegt, zählt hier nichts - im Gegensatz zum sonnabendlichen Tanz in der Disco. Hier kann sich das Individuum verwirklichen und sich selbst zu dem machen, was es gern sein möchte. Allerdings wird bei dieser bewussten Inszenierung nicht der eigene Körper verändert, sondern rein das äußerliche Bild: Die Kleidung bringt nicht den Körper zur Geltung, sondern ist ‘ Verkleidung ’ , diese ist aber nicht negativ konnotiert. Stattdessen ist sie das Image, das man sich selbst für den heterotopen Freiraum der Disco gibt, 22 und das nur hier an diesen Raum gebunden funktioniert. Dominant vorgeführt wird in Saturday Night Fever daneben der Alltag mit seinen Zufälligkeiten und Irrelevanzen, nicht sekundär überhöht und ohne Zusammenhang zum Tanzen. Die Disco ist in dieses Umfeld der sozialen Probleme - Arbeitslosigkeit, Familienleben, alles, was Probleme im Zusammenhang mit derAdoleszenz im Allgemeinen bereitet - eingebettet. Der Tanz ist Reaktion auf den Alltag, aber nicht auf die Weise, ihn, den Alltag, zu verändern, sondern ihm temporär (und räumlich) zu entkommen. Der Tanz zeichnet sich denn auch nicht durch akrobatische Elemente oder durch Leistungsorientiertheit aus - die ihn dann in den Tanzfilmen der 1980er kennzeichnen werden (paradigmatisch etwa in Flashdance). 20 Am deutlichsten zu sehen ist dies in Sequels von Genres, bei denen der Körper und seine spezifische Ideologisierung eine besondere Rolle spielen, wie etwa in den Rocky- oder Rambo-Filmen. Zur Sequel- Konzeption der Blaue Lagune-Filme cf. Krah 1999, allgemein zu seriellen Formaten cf. Krah 2017 b. 21 Generell wären Frisuren, Haare und deren semiotische Verwertung eine eigene Untersuchung wert. 22 ‘ Heterotop ’ wird hier im Sinne von Foucault 1990 verstanden; zum Tanzfilm und seinen historisch unterschiedlichen Konzeptionen cf. Krah 2003. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 43 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [43] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb 3 a − f: Saturday Night Fever: Tony zieht sich für die Disco um (eigene Screenshots) Während Saturday Night Fever eine Momentaufnahme darstellt, die einen nicht zielorientierten und offenen Plot abbildet und so eine paradigmatische Adoleszenzgeschichte erzählt - in der der Umgang mit dem Körper (nur) einen Teil dieser Geschichte ausmacht, ist die narrative Konzeption des Sequels Staying Alive dem gegenüber geradezu als konträr zu bezeichnen. Geboten wird eine stringente Aufstiegsgeschichte, die nicht da einsetzt, wo Saturday Night Fever endet, sondern die diesen Film letztlich vollkommen überschreibt: 44 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [44] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Erzählt wird die gleiche Geschichte noch einmal, als andere Geschichte. Bereits die Audition zu Beginn des Discours zeigt, dass es darum geht, das Leben durch den Tanz zu meistern; es geht um Professionalisierung und Kompetition, um Wettbewerb und Konkurrenz. Letztlich geht es darum, der Beste zu sein, Star der Show zu werden. Von vornherein ist hier ein Ziel vor Augen, eine Aufgabe, die Karriere. Der Tanz ist funktional, da sich durch ihn, durch die Leistung, die in diesem Bereich erbracht werden kann, das gesamte zukünftige Leben bestimmen lässt. Dies korreliert mit einem deutlich anderen Tanzstil und einer anderen Körperlichkeit, als sie in Saturday Night Fever angelegt waren - auch Tony ist nun ein anderer (auch wenn er nach wie vor von John Travolta gespielt wird). Dies dokumentiert sich in der Kleidung, am Stirnband und am Muskelshirt, aber auch im Körper, wie das Muskelshirt zeigt, mit dem die Kleidung nun den Körper betont. Es geht tatsächlich darum, selbst so zu sein, wie dieVorbilder in Saturday Night Fever waren. Dabei wird aber gerade die mediale Verfasstheit als eigentliche Grundvoraussetzung für dieses Vermögen ausgeblendet: Eine Simulation von Unmittelbarkeit dominiert den filmischen Diskurs (und damit auch Discours). Auswahl und Leistung als die zentralen Kategorien, die in der filmischen Welt gelten und die bereits in der expositorischen Audition hervorgehoben werden, sind nicht solche, die sich rein auf das körperliche, athletische Vermögen beziehen. Star zu werden verlangt mehr, so die filmische Argumentation. Dies ist verbunden mit einer Selbstüberwindung im Sinne der Selbstbeschränkung, einer Rücknahme des Selbst, der egoistischen Interessen. Nur durch diese Reduktion ist das Ziel erreichbar, wie vorgeführt wird: Tony ist zu Beginn zu individualistisch, er tanzt buchstäblich aus der Reihe und inszeniert sich als Star, macht auf Show. Genau dieses Verhalten führt dazu, nicht genommen zu werden. Er muss erst lernen und zur Einsicht gelangen, dass die Show selbst, das Ganze wichtig ist, und der Einzelne, auch der Star, sich dieser Gemeinschaftsaufgabe unterzuordnen hat. Sein Körpereinsatz muss funktional hierfür sein. Er darf die Show nicht gefährden, sondern muss mithelfen für das Ganze, Größere, Höhere - hier die Show, deren Gelingen sich das einzelne Individuum unterzuordnen hat. Gerade dadurch kann sich dieser Einzelne als Star konturieren. Als Belohnung, innerdiegetisch wie für den Rezipienten, fungiert am Ende dann eine zehnminütige Wiedergabe der Show - Attraktionswerte pur (zumindest aus der Logik des Films heraus; ob diese Schlusschoreografie wirklich vom Rezipienten goutiert wird, ist eine andere Sache) - , mit der sich der Film von seiner ideologischen Infiltration ‘ erholen ’ , die darin geleistete Paradigmenvermittlung auf einer expliziten Ebene ausblenden und so anscheinend frei von einer solchen ‘ unterhaltsam ’ auslaufen kann. Bestehen bleibt implizit dennoch, dass gerade dafür, für diese Attraktion, eine Integration und eine Unterordnung unter als gegeben und gültig gesetzte Werte und Normen erforderlich ist, wobei diese Unterordnung als bewusste, freie Entscheidung, als Wahlmöglichkeit inszeniert wird: “ Ein Mann hat immer die Wahl ” , wie es An Officer and Gentleman formuliert. 6 Von den 1970er zu den 1980er Jahren - ideologische Formationen von Körper und Identität Im Folgenden sollen die zentralen, aus den Analysen konstatierten Beobachtungen zusammengefasst, Ergebnisse expliziert und in ihrem Diskurskontext verortet werden. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 45 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [45] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL (1) Die sich in den 1980er Jahren etablierende Konzeption von Körper und Identität greift selbstreflexiv Strukturen auf und bezieht sich auf solche, die es schon zuvor gegeben hat; als Gesamtkonzeption ist sie aber gerade nicht für die 1970er Jahre konstitutiv. Stattdessen markiert sie eine deutliche Zäsur. Was sich bei dieser Bezugnahme vollzieht, ist inhaltlichideologisch als restaurativ zu interpretieren. Die Notwendigkeit einer solchen Reaktion verweist zum einen darauf, dass sie tendenziell nicht als normal und unhinterfragt gültig erachtet wird, und gerade deshalb zum anderen ihr Programm kaschieren muss, um sich einer argumentativen Auseinandersetzung entziehen zu können. Vereinzelt mögen dabei solche Körperkonzeptionen bereits in Filmen der 1970er Jahre auftreten - umso mehr, als der Film der 1970er Jahre tendenziell ambivalent und offen ist, und in diesem Spektrum auch konservative und restaurative Lösungen, neben anderen, propagiert sein können. 23 In den 1980er Jahren werden gerade diese aufgegriffen und systematisch institutionalisiert, und, da sie an den Körper gebunden werden, über diesen Umweg ‘ offen ’ propagiert. So sehr in den frühen 1980er Jahren noch vereinzelt Konzeptionen der 1970er Jahre vorhanden sein mögen, so dominiert immer mehr die neue Ästhetik und damit auch die neue Ideologie, die dann ab etwa Mitte der 1980er nicht mehr thematisch ist, sondern den selbstverständlichen Hintergrund der filmischen Strukturen bildet. Dieser mediale Wandel wird durch einen generellen kulturellen Wandel von Körperästhetik und Schönheitsidealen gestützt, an dem er partizipiert. Betrachtet man die Filme in diesem Kontext, kommt ihnen eine Verweisfunktion zu; sie dienen, neben anderen Dokumenten, 24 als kulturelles Archiv. Dass sie zusätzlich in ihren Argumentationen ein ideologisches Programm hieran anbinden, scheint der Mehrwert des Films zu sein. (2) Über den eigenen Körper und die Arbeit daran kann etwas erreicht werden, ein Ziel, so die Argumentation, und daran wird die Identität der Person bzw. eine geglückte Identitätsfindung wesentlich gebunden. Dies impliziert, dass sich die Gesellschaft, der Staat, als verantwortliche Größe entzieht. Denn keine sozialen Faktoren bestimmen das Leben, so wird propagiert, zumindest nicht wesentlich und definitiv, sondern man selber. Die Indienstnahme des Körpers - als zentrale Größe des Individuums - ist zum einen die zentrale Strategie, diesen Rückzug zu kaschieren. Am Körper können Paradigmen wie Leistung, Gewinn, Konkurrenz/ Wettbewerb, 25 Sich-Messen, Nicht-Aufgeben, Anstrengung, Weitermachen verhandelt werden, der eigene Körper kann in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden. Dort, wo bei dieser Körperorientierung die Gefahr des Egoismus und der Selbstbezüglichkeit droht, kann dies durch narrative Sanktion eingedämmt werden. 26 Zum anderen fungiert der Körper als evidentes Argument; er ist gefordert, er ist veräußerlichtes Zeichen für das Innere, die innere Einstellung. 23 So etwa deutlich in Logan ’ s Run, cf. Krah (2004: 219 - 226). 24 Im Kontext der Körperorientierung wäre etwa die Publikation von Charles Hix und Ken Haak, Working out. Das Körperprogramm für Männer von 1983 nennen; gemäß dem Titel “ Working out ” wird das, was als Material vorhanden ist und zur Verfügung steht, ausgearbeitet; zum kultursemiotischen Ansatz im Allgemeinen und zu seiner Modellierung von Wandel cf. Nies 2017. 25 In den 1970er Jahren ist das Paradigma Wettbewerb irrelevant, wie nicht nur Stay Hungry, sondern auch Saturday Night Fever oder Man Friday illustrieren; They Shoot Horses, Don ’ t They demonstriert dies ex negativo, da hier Wettbewerb gerade im Kontext von Ausbeutung zum zentralen Thema wird. 26 Wie etwa in American Gigolo. 46 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [46] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL (3) Körperdisziplinierung, wie sie vorgestellt wurde und für die 1980er Jahre vorherrscht, wird zwar dominant am männlichen Körper demonstriert, es geht allerdings nicht primär um eine geschlechtsspezifische Semantisierung. 27 Es geht nicht primär um eine Semantik des männlichen Körpers, sondern um eine Ordnungsstiftung. Vorgeführt wird sie zwar am männlichen Körper, damit ist aber immer eine allgemeine Paradigmenvermittlung verbunden, die für alle Geschlechter gilt. Dass dominant der männliche Körper fokussiert ist, liegt an der männlichen Ausrichtung dieser Ordnung; die Verantwortung ihrer Restitution wird dementsprechend dem Mann übertragen. Dies bedeutet nicht, dass bei diesem Prozess nicht auch weibliches Verhalten einbezogen wäre. Das geschieht selten anhand einer eigenständigen Thematisierung durch Protagonistinnen (wie etwa in Flashdance). 28 Stattdessen wird eine weibliche Disziplinierung durch die Disziplinierung des männlichen Protagonisten mitverhandelt, wobei dies nicht als tatsächlicher Konflikt und Grundlage eines Transformationsprozesses in Szene gesetzt wird: Zumeist ist diese Einsicht von vornherein vorhanden und von der weiblichen Seite selbst an den männlichen Part als ‘ Entscheidungsträger ’ übertragen (wie bei Paula in An Officer and Gentleman). So sehr es in den Filmen der 1980er Jahre zunehmend ‘ starke ’ Frauen gibt, so ist doch zu konstatieren, dass zur Re-Definition auch gehört, sich dieser dominanten Frauen zu erwehren: (i) im freiwilligen Frauenopfer (á la Fantasy wie Valeria in Conan the Barbarian), (ii) durch freiwillige Rücknahme und Unterordnung (wie in Rocky IV), (iii) durch Sanktionierung (Lynette in An Officer and Gentleman) oder (iv) dadurch, dass sich diese Dominanz hyperbolisch verselbständigt (gerade dann, wenn Frauen ihre Stärke auch über einen starken Körper definieren) und sie damit selbst einer Symbolisierung unterzogen ist (etwa im Modell der Übermutter, wie bei Ripley in Aliens, oder in ‘ fantastischen ’ Nischen wie bei Grace Jones in Conan the Destroyer). 29 (4) In den 1970er Jahren erscheint Körperkult im Film auf eine spezielle Konnotation eingeengt, wobei gerade der Aspekt der intendierten Veränderung und Formung sowie die explizite Beschäftigung mit dem (eigenen) Körper zu zentralen Aspekten einer Semiotisierung werden: Die explizite Beschäftigung mit dem Körper und seine bewusste Formung sind für Freaks und Andersartige reserviert, gerade im Fokus der sexuellen ‘ Abweichung ’ . 27 Auch wenn eine solche Genderperspektive selbstverständlich eine wichtige Rolle spielen kann. Für den männlichen Körper mag dies, insbesondere im Untersuchungszeitraum, eine noch markiertere Relevanz haben als für den weiblichen, da Konzepte von Männlichkeit zunächst mit einem spezifischen Status von Körperlichkeit einhergehen: Der Mann muss keinen besonderen Körper haben, da er diesen (ideologisch) per se hat und sich somit die Thematisierung dieser Dimension zu erübrigen hat. Gerade das explizite Epitheton ‘ ein schöner Mann zu sein ’ - zumeist bereits angeboren, ohne darauf Einfluss durch Training oder Pflege zu nehmen - verweist mindestens seit den 1950er Jahren in ästhetischen Texten, deutlich in denen der Populärkultur, in einem einerseits auf Ausgleichsdenken, andererseits auf Projektionsdenken basierenden Körperkode darauf, dass Defizite im Inneren (und damit im ideologisch Wesentlichen) vorhanden sind: ein Verräter zu sein, schwach zu sein. Rekurrent findet sich dies etwa in den (Technik-)Utopien gerade der 1950er Jahre, Oskar Maria Grafs Die Erben des Untergangs (1959) sei als prominenteres Beispiel genannt (cf. Krah 2004: 54 - 60). Seinen Ursprung hat dieses Denken schon im Realismus, wie etwa an Fontanes Schach von Wuthenow oder Unwiederbringlich deutlich wird. 28 Erwähnenswert mag in diesem Zusammenhang durchaus das produktionstechnische Detail sein, dass gerade die akrobatischen Tanzszenen von Jennifer Beals von einem männlichen Double ausgeführt wurden. 29 Zudem ist zu konstatieren, dass diese starken Frauen dann in den Filmen per se über die ‘ richtige ’ Einstellung verfügen. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 47 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [47] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL The Rocky Horror Picture Show (GB 1974, Jim Sharman) mag als Beispiel in Erinnerung gerufen werden: Rocky Horror, das Monster, das Frank N. Furter, der Außerirdische, kreiert, ist kein Monster im traditionellen Sinne des Horrorfilms (mit körperlichen Defekten), sondern seine Andersartigkeit wird gerade durch seine körperliche Perfektion demonstriert. Er hat einen muskulösen, ästhetisch-perfekten Körper, der als dieser zur Schau gestellt wird und der als dieser auch weiterhin gepflegt werden soll: Zum Geburtstag bekommt er Hanteln geschenkt. Die Grenzen der 1970er Jahre-Konzeptionen zeigen sich letztlich bereits im Thema - im Film der 1970er Jahre sind Sport und körperliche Ertüchtigung nicht forciert. 30 In den 1970er Jahren spielen trainierte Körper keine Rolle, tun sie es doch, dann immer im Kontext von Abweichungssemantiken, wobei diese Abweichungen nicht notwendig bewertet werden, sondern zumeist nur dokumentiert sind. Ein trainierter Körper und eine bewusste Relevantsetzung verweisen jedenfalls auf Künstlichkeit, Unnatürlichkeit - und damit auf Abweichung, gleichwie die jeweilige Ordnung auch konkret gefüllt sein mag. (5) Deutliche Unterschiede zwischen den 1970er Jahren und den 1980er Jahren lassen sich bezüglich der Kontextualisierung von Nacktheit und Sexualakten zeigen. Die Abbildung nackter Körper ist in den 1970er Jahren Teil des Konzepts der Abbildung von Alltäglichkeit und ist insofern weder nach einem Körperideal ausgerichtet, normiert und überhöht, noch in besonderem Maße im Kontext narrativer Plotpoints situiert oder mit semiotischer Verweisfunktion ausgestattet. In den 1980er Jahren ändert sich dies. Zu konstatieren ist eine zunehmende Quantität an fokussierter Nacktheit, wobei diese oberflächliche Freizügigkeit gewissen Regeln unterworfen und damit in einen Ordnungsdiskurs eingebunden ist. Den nackten Körper sehen, oder, noch schlimmer, ihn voyeuristisch zeigen, ist ein Datum, das letztlich immer konkomitantes Zeichen für Unmoral ist und/ oder einer Sanktionierung unterliegt. 31 Ebenso sind in den 1970er Jahren Bettszenen dem Programm der Alltäglichkeit subsumiert, ohne narrative Konsequenzen. Im Unterschied hierzu etabliert sich in den 1980er Jahren die Verweisfunktion visualisierter Sexualität: Sie ist ein Index für gegenseitige Liebe und Treue und dauernde Zusammengehörigkeit in der Ehe (auch wenn dies dem Paar während des Akts selbst nicht bewusst sein muss). In diesem Zusammenhang ändert sich auch die Visualisierung an sich. Der Sexualakt wird nur mehr von schönen, jungen Menschen, von ästhetischen Körpern in ästhetischen Posen in gestylter Umgebung vollzogen, immer wie für Glanzbildaufnahmen vorbereitet und damit eher aseptisch und klinisch sauber. Von einer realen Körperlichkeit scheinen diese Körper gelöst zu sein, sowohl, was die körperliche Verfasstheit selbst anbelangt, Körperbehaarung, Falten, Speckwülste sind nicht vorhanden, als auch, was durch den Körper hervorgerufene Begleitumstände betrifft; Schmutz, Geruch, Schweiß existieren nicht. Geräusche sind nicht zu hören, wenn es Gestöhne gibt, dann rhythmisch überhöht und funktional. Gerade 30 Beispiele, die diesen Umgang illustrieren können, wären etwa Grease oder Man Friday. 31 Die Visualisierung des nackten Körpers enthält also eine semiotische Dimension, wie etwa immer wieder in den Folgen der 1980er Jahre der Reihe Tatort zu sehen ist: Wer sich hier als Mann ohne Not nackt präsentiert, wird zumeist mit dem Tod sanktioniert, da dieses nur der moralisch (und damit juristisch) Abweichende vorführt (Erregung öffentlichen Ärgernisses); cf. Krah 2000. Davon zu unterscheiden ist die Inszenierung einer ‘ Haut-Dramaturgie ’ , wie sie Seeßlen 2002 für Filme der 1990er Jahre untersucht. 48 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [48] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL diese ‘ Entkörperlichung ’ erleichtert die semiotische Funktionalisierung des Aktes, lenkt sie doch von den körperlich-somatischen, eigentlichen Aspekten ab. Dass sich die Liebespartner im Bett über eine entdeckte Filzlaus am Glied des Partners eher belanglos mit den Worten, “ ein Matrose am Mast ” unterhalten würden, wie es Bennie und Elita in Bring me the Head of Alfredo Garcia tun, ist nun undenkbar. Diese beiden mögen zudem paradigmatisch für ein ‘ Liebespaar ’ stehen, das den neuen Normen von Körperlichkeit nicht entspricht. (6) Ab Mitte der 1980er Jahre scheint der Prozess der Körperdisziplinierung abgeschlossen zu sein und es zur Verschmelzung der beiden Schritte beziehungsweise der beiden Faktoren Körper und Disziplinierung zu kommen. Dies soll bedeuten, dass nun, wie dies noch bei Conan oder paradigmatisch bei An Officer and Gentleman der Fall war, keine Hilfe von außen mehr benötigt wird, den Prozess der Einstellungsveränderung zu katalysieren. Die Disziplin/ Ideologie ist in den Körper als wesenhaft, alternativlos eingeschrieben, sie muss nicht mehr erzwungen werden, sondern ‘ zwingt ’ sich selbst, ohne (äußeren) Grund auf. 32 Dementsprechend ist hierfür letztlich auch kein Prozess mehr nötig - der jeweilige Protagonist weiß aufgrund seines Körpers selber, was zu tun ist. Dies korreliert damit, dass Körperdisziplinierung/ Arbeit am Körper zum einen stets im Sinne einer Ganzheitlichkeit semantisiert ist, sie ist nie Hobby, sondern das Leben selbst. Zum anderen ist diese Arbeit am Körper nie als Inszenierung semantisiert, sondern als Naturalisierung; das Konzept wird als Natur, als natürlicher Umgang mit dem Körper gesetzt. 7 Ausblick: der selbst disziplinierte Körper - Rocky IV Mit dieser Formation kann einsetzen, was als Sekundärsymbolisierung zu begreifen ist: Sobald diese Konzeption dergestalt als naturalisiert gilt, kann sie selbst wiederum ideologisch verwertet und Grundlage von Mythisierung werden, 33 wie dies paradigmatisch anhand Rocky IV (1985, Sylvester Stallone - auch hier gilt das zu Sequels Gesagte) zu sehen ist. Hier wird mit dem selbst disziplinierten Körper operiert und argumentiert. In Rocky IV wird zunächst in der untergeordneten Differenz zwischen Rocky und Apollo Creed der Aspekt der Inszenierung verhandelt. Die Show, die Apollo unter Einsatz amerikanischer Symbole vor seinem Boxkampf mit dem Sowjetrussen Drago abzieht, ist als deren Veräußerlichung anzusehen und dadurch als Sakrileg zu interpretieren, weshalb Apollos anschließender Tod im Kampf gegen Drago als ideologische Sanktionierung durchaus legitimiert erscheint. Gleichzeitig ist dieser Tod auf einer höheren Ebene, bei der es nicht mehr um Individuelles, sondern um das Kollektivinteresse US-Amerikas geht, Ausgangspunkt der Verhandlung der eigentlichen Differenz USA versus UdSSR - und muss (und darf) dementsprechend ‘ gerächt ’ werden. Aber, und in der Logik des Modells kohärent, als ‘ Rache ’ , die nicht als Rache semantisiert ist (vergleiche die Konzeption in Conan the Barbarian). Dramaturgischer Höhepunkt ist dabei weniger der Schlusskampf zwischen Rocky Balboa und Ivan Drago - Rocky besiegt den übermächtig erscheinenden russischen Boxer; dieser Kampf bildet durch die an den jeweiligen Körper gebundenen Werte den 32 Richard Geres visualisierter Akt mit der Prostituierten Julia Roberts in Pretty Woman (1990) und seine Folgen mögen hier nur als ein Extrempunkt der Konkretisierung dieser Konzeption stehen. 33 Zu den Begriffen und ihrer Verwendung sei auf Krah 2008 verwiesen. Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 49 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [49] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Kampf der Ideologien ab - , sondern die filmische Vermittlung dieser Bindung: Vor dem Kampf werden in einer fast zehnminütigen Parallelmontage die Trainingsmethoden von Rocky und Ivan gegengeschnitten. Diese Methoden kennzeichnen und unterscheiden sich in etwa durch die Merkmale ‘ in freier Natur ’ , ‘ ohne technische Hilfsmittel ’ , ‘ nur mit sich selbst ’ , ‘ in die Lebenswelt integriert ’ , ‘ von Frau geduldet ’ 34 für Rockys Training und im Gegensatz dazu durch ‘ nur im künstlichen Innenraum ’ , ‘ unter exzessiver Nutzung von Apparatetechnik ’ , ‘ gedopt ’ , ‘ unter ständiger Kontrolle ’ , ‘ abgeschottet ’ , ‘ von Frau dominiert ’ für Ivan, lassen sich in der filmischen Argumentationsstruktur unter die Paradigmen ‘ Freiheit, Individualismus, Natürlichkeit ’ versus ‘ Unfreiheit, Abhängigkeit, Unnatur ’ zusammenfassen und können wiederum den Ideologien US-Amerikas und der Sowjetunion zugeordnet werden. Die amerikanischen Werte setzen sich durch, bereits die Trainingssequenz endet mit der rein durch den Körper evozierten Bezwingung des höchsten Gipfels der Umgebung - und nimmt damit, da sich Rocky in ‘ Feindesland ’ befindet, symbolisch die Aneignung und Überlegenheit vorweg. 35 Damit setzt sich der Körper durch, denn so außergewöhnlich Drago erscheint, einen exzeptionellen Körper im emphatischen, ideologisch konzipierten Sinne der 1980er repräsentiert er gerade nicht. Drago selbst, so die filmische Inszenierung, geht in der oben skizzierten Trainingssemantik auf, sein Körper ist demnach nicht als menschlicher Körper zu sehen, sondern als rein instrumentelle (Tötungs-)Maschine; dementsprechend ist er vom Modell der Körperdisziplinierung wesentlich ausgeschlossen. Einer Nationalisierung im Sinne einer Mythisierung von Nation - diesem Zwecke kann nur ein Körper dienen und nur eine Nation kann auf diese Weise semantisiert sein. Dass damit dann das Konstrukt, es gehe um individuelle Identität, in sich zusammenbricht und sich auflöst, wird für diese Zwecke in Kauf genommen. Bibliographie Barck, Karlheinz (ed.) 1990: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam Decker, Jan-Oliver 2017: “ Medienwandel ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 423 - 446 Foucault, Michel 1990: “ Andere Räume ” , in: Barck (ed.) 1990: 34 - 46 Frölich, Margrit et al. (eds.) 2002: No Body is Perfect. Körperbilder im Kino, Marburg: Schüren Gräf, Dennis et al. 2017: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Hennig, Martin & Hans Krah 2017: “ Medientheorien ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 447 - 468 Inan, Alev (ed.) 2012: Jugendliche Lebenswelten in der Mediengesellschaft. Mediale Inszenierung von Jugend und Mediennutzung Jugendlicher, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Krah, Hans 1997: “ Sexualität, Homosexualität, Geschlechterrollen. Mediale Konstruktionen und Strategien des Umgangs mit Homosexualität in Film und Fernsehen ” , in: Forum Homosexualität und Literatur 29 (1997): 5 - 46 34 So kommt seine Frau, die ihn zunächst nicht nach Russland begleitet hat, zur Einsicht, ihn vorbehaltlos zu unterstützen, und reist ihm nach, um ihr Leben voll und ganz auf ihn auszurichten. 35 Cf. hierzu und zu dem zugrundeliegenden Konzept eines ‘ Destinationspunkts ’ auch Gräf (2017: 219 - 211). 50 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [50] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Krah, Hans 1999: “ Raum, Sexualität, sequel. ‘ Natur ’ als bürgerlicher Projektionsraum am Beispiel von The Blue Lagoon (1980) und Return to the Blue Lagoon (1991) ” , in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica 22.1 − 2 (1999): 57 - 83 Krah, Hans 2000: “‘ Sex & Crime ’ . Ein etwas anderer Blick auf 30 Jahre deutscher Kriminalgeschichte ” , in: Wenzel (ed.) 2000: 50 - 70 Hans Krah (ed.) 2001: All-Gemeinwissen. Kulturelle Kommunikation in populären Medien, Kiel: Ludwig Krah, Hans 2003: “ Tanz-Einstellungen. Ein Blick auf die Geschichte des Tanzes im Film ” , in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica 26.3 − 4 (2003): 251 - 271 Krah, Hans 2004: Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom ‘ Ende ’ in Literatur und Film 1945 - 1990, Kiel: Ludwig Krah, Hans 2008: “ Der Hitlerjunge Quex - Erzählstrategien 1932/ 1933: vom Großstadtroman der Weimarer Republik zum ‘ mythischen Erzählen ’ im NS-Film ” , in: Spedicato und Hanuschek (eds.) 2008: 11 - 38 Krah, Hans & Wolfgang Struck 2001: “ Gebrochene Helden / gebrochene Traditionen / gebrochene Mythen: der Film der 70er Jahre ” , in: Krah (ed.) 2001: 117 - 137 Krah, Hans 2012: “ Das Fantasy-Genre und South Park. Mediale Fantasien ” , in: Inan (ed.) 2012: 45 - 68 Krah, Hans 2017 a: “ Leitmedium Film - av-Formate ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 309 - 330 Krah, Hans 2017 b: “ Textgrenzen / Transtextuelle Konzepte / Serielles Erzählen ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 201 - 225 Krah, Hans & Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Ralf Schuster Verlag Link, Jürgen 1996: Versuch über den Normalismus: wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag Nies, Martin 2017: “ Kultursemiotik ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 377 - 398 Seeßlen, Georg 2002: “ Haut-Ich und Körper-Bild. Über die Repräsentanz eines rechten Männerkörpers im Kino ” , in: Frölich et al. (eds.) 2002: 97 - 109 Spedicato, Eugenio & Sven Hanuschek (eds.) 2008: Literaturverfilmung. Perspektiven und Analysen, Würzburg: Königshausen und Neumann Titzmann, Michael 2017: “ Propositionale Analyse und kulturelles Wissen ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 81 - 108 Wenzel, Eike (ed.) 2000: Ermittlungen in Sachen TATORT. Recherchen und Verhöre, Protokolle und Beweisfotos, Berlin: Bertz Filmographie Aliens (USA/ UK 1986, James Cameron) American Gigolo (USA 1980, Paul Schrader) Bring Me the Head of Alfredo Garcia (USA/ Mexiko 1974, Sam Peckinpah) Conan, the Barbarian (USA 1982, John Milius) Conan, the Destroyer (USA 1984, Richard Fleischer) Flashdance (USA 1983, Adrian Lyne) Grease (USA 1978, Randal Kleiser) Krull (UK/ USA 1983, Peter Yates) Logan ’ s Run (USA 1976, Michael Anderson) Man Friday (USA/ UK 1975, Jack Gold) An Officer and Gentleman (USA 1982, Taylor Hackford) Partners (USA 1982, James Burrows) Selbstreferenz als ideologische Fremdreferenz 51 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [51] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Pretty Woman (USA 1990, Garry Marshall) Rocky IV (USA 1985, Sylvester Stallone) The Rocky Horror Picture Show (UK 1974, Jim Sharman) Saturday Night Fever (USA 1977, John Badham) Schöner Gigolo, armer Gigolo (BRD 1979, David Hemmings) Staying Alive (USA 1983, Sylvester Stallone) Stay Hungry (USA 1976, Bob Rafelson) They Shoot Horses, Don ’ t They (USA 1969, Sidney Pollack) 52 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [52] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Textile Texte Selbstreflexive Thematisierung von Mode im Hollywood-Film als Maske und Identität von Frauen Jan-Oliver Decker (Passau) The essay focusses on the semantics of female fashion in George Cukors TheWomen (USA 1939) and Robert Altmans Prêt-A-Porter (USA 1994). Through self-references both films broach the issue of female fashion to scale female initiations among ‘ masquerade ’ and ‘ identification process ’ and thereby normalize female heteronomy. At the same time they conceal their arbitrary texturing of the sign ‘ woman ’ via the sign ‘ fashion ’ . This camouflage occurs by setting a connotative indexical, quasi-natural relation between the entity of the woman and her physical and sartorial representation. 1 Mode und Frauen Die Mode im Sinne der modischen Kleidung wird seit dem 19. Jahrhundert in der Kultur als besonderer weiblicher Bereich bewertet. Mode ist synonym mit Frauenmode, denn Mode zeigt sich auf der Folie des sich ab 1820 in seinen Grundformen und seiner Farbgebung kaum verändernden, neutralen, diskret zurück tretenden Herrenanzugs als extrem wandelbare, spezifisch weibliche ‘ Verrücktheit ’ . Wo der bürgerliche Straßenanzug des Mannes zum essenziellen, klassisch zeitlosen Kostüm des berufstätigen, arbeitenden, bürgerlichen Mannes wird, da wird die Frauenmode auf der Folie des immer nur weiter als Berufskleidung des Bürgers perfektionierten Männeranzuges zu einer extrem wandelbaren, funktionslosen dekorativen Oberflächlichkeit, und zu einer spezifisch weiblichen Eigenschaft. 1 Männermode gilt mindestens bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als untergeordneter Bereich und als Abweichung; schon sprachlich wird dies markiert: Mode kann ohne geschlechtsspezifische Konkretisierung selbstverständlich mit Frauenmode gleichgesetzt werden; dagegen muss Männermode asymmetrisch mit der Geschlechtsbezeichnung als solche gekennzeichnet werden. Auf dieser dominanten kulturellen Folie ist zu verstehen, dass, wenn Mode als explizite modische Kleidung im Film im 20. Jahrhundert thematisch ist, dies bis heute generell Kleidung betrifft, die für Frauen und mit Frauen als Frauenmode inszeniert wird und die - auch im Film - in der Regel vor allem von Männern gemacht wird. In dieser Hinsicht gibt es 1 Cf. Hollander 1995, deren Hauptthese ich hier referiert habe. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [53] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL eine semantische Prädisposition der Kultur, (Frauen-) Mode als explizites Thema von Filmen entweder mit Stationen einer sozialen Personwerdung der Frau, ihrer gesellschaftlichen Initiation oder aber umgekehrt mit dem Verlust und der Verdrängung von eigentlichen Persönlichkeitspotenzialen und in dieser Hinsicht als Maskierung der eigentlichen, wahren Person der Frau zu verknüpfen, als Verkleidung ihres natürlichen Wesenskerns. Weibliche Identitäten werden mittels im Film thematischer Mode und den damit verbundenen Kleidungswechseln im wahrsten Sinne des Wortes mit Mode bekleidet oder entkleidet. Wenn sich beispielsweise Greta Garbo als Ninotchka in Ernst Lubitsch ’ gleichnamigem Film (USA 1939) von der linientreuen, disziplinierten Kommunistin zur liebenden (Ehe-) Frau wandelt und sich aus der Fremdbestimmung des stalinistischen Systems in Paris zur Entfaltung ihrer ‘ natürlichen ’ weiblichen Persönlichkeit befreit, dann inszeniert der Film diese weibliche Selbstfindung symbolisch verdichtet durch die Faszination Ninotchkas für einen extravaganten Hut als paradigmatisches Beispiel für den Pariser Chic schlechthin. 2 Wenn Marlene Dietrich als Amy Jolly in Josef von Sternbergs Morocco (USA 1930) Gary Cooper umwirbt, indem sie als Sängerin bei einem Auftritt in einem Männeranzug rauchend und singend zuerst eine andere Frau umwirbt, küsst und danach den eigentlich begehrten Mann als nächstes Liebesobjekt auswählt, dann markiert der Film hier durch das Cross- Dressing eine weibliche Dominanz und erotische Aktivität, die im weiteren Filmverlauf domestiziert und die Frau als liebende Gefährtin schließlich ihrer emotionalen Bestimmung zugeführt wird. Als Requisite im Film generiert oder maskiert Mode als bewusste Wahl und als von den Frauen bewusst wahrgenommene und bewusst gesetzte Abweichung das Wesen der Frau. 2 Das Beispiel Audrey Hepburn Deutlich bringt die Semantik der Maske ein Film auf den Punkt, der Modegeschichte geschrieben hat und mit dem Audrey Hepburn zur Modeikone im Kleinen Schwarzen Etui- Kleid von Hubert de Givenchy geworden ist: 3 Blake Edwards Breakfast at Tiffany ʼ s 2 Bekanntermaßen feiert Hildegard Knef als Hildegarde Neff 1955 am Broadway in Cole Porters Musical- Version von Ninotchka ihren Amerika-Erfolg; hier ist es allerdings nicht mehr der Hut für die Frau, sondern sind es die Titel gebenden Silk Stockings, die Seidenstrümpfe, die jetzt für den liebenden Kapitalisten Erinnerung an die in den Kommunismus zurück gekehrte und verloren geglaubte Ninotchka und damit, als eine Art Fetisch, Surrogat für die fehlende Erotikpartnerin sind. Das Musical wurde 1957 seinerseits in einer Filmfassung vorgelegt: Silk Stockings (USA 1957, Rouben Mamoulian). 3 Bekanntermaßen ist das “ Kleine Schwarze ” als etwas über knielanges, hoch geschlossenes, gerade geschnittenes Hemdkleid aus Crêpe Marocain (ein damals neuartiges, knitterarmes Seiden-Wollgewebe) mit langen Ärmeln und hohem Halsausschnitt eine Erfindung Coco Chanels aus dem Jahr 1926 und bildete innovativ die einheitliche Grundlage ihrer Kollektion zugleich für Tageskleider und Abendkleider (dann bodenlang mit tiefem Rückendekolleté). Mit dem Kleinen Schwarzen schafft Chanel die Garçonne als neuen Frauentyp in der Haute Couture, der sich ungehindert in einer einheitlichen Kleidung sozial und auch faktisch in der nicht einengenden Kleidung frei bewegen kann, cf. Kinzel 1990. Heute ist in der Folge von Audrey Hepburn und Givenchy das “ Kleine Schwarze ” vor allem ein etwa knielanges Etuikleid, das heißt ein Kleid ohne horizontale Taillennaht, dafür mit vertikalen Abnähern zur optimalen Passform mit in der Regel kurzen Ärmeln oder ärmellos mit waagrechtem oder rundem Halsausschnitt. Siehe zur Bedeutung von Coco Chanel für die Damenmode des 20 Jh.s auch mit dem nach ihr benannten Kostüm aus dem Jahr 1955 (cf. Kinzel 1990: 166 - 205). Historischen Ruhm erhielt 1963 das pinkfarbene Chanel-Kostüm von Jaqueline Kennedy mit dem Blut des in Dallas ermordeten John F. darauf; cf. zum ikonischen Status des Chanel-Kostüms für die 54 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [54] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL (Frühstück bei Tiffany, USA 1961). 4 In diesem Film verkörpert Holly Golightly nur eine Maske, nämlich den Selbstentwurf einer ganz anderen Person namens Lula Mae Barnes, die aus einer Ehe mit einem wesentlich älteren Mann aus der Provinz nach New York geflohen ist. Dort schlägt sie sich als Gelegenheitsprostituierte im Jet Set herum und möchte diesem Leben durch die Heirat mit einem reichen Mann entkommen. Ihr ganzer Persönlichkeitsentwurf als Holly Golightly scheitert aber schließlich: Einen reichen Mann findet sie nicht, stattdessen findet sie im Film ihre Liebe mit einem verkrachten Autor, der sich von einer reichen Frau aushalten lässt. Mode wird in Breakfast at Tiffany ʼ s bewusst von Holly als Entwurf eines fiktionalen, eigenen Selbst inszeniert, das die alte Person Lula Mae Barnes camoufliert. Zur Ikone ist vor allem eine Standfoto aus dem Film geworden (vergleiche Abb. 1), auf dem zu sehen ist, wie Holly Golightly im Kleinen Schwarzen Fast Food vor den Auslagen von Tiffanys frühstückt und dabei ihr Gesicht hinter einer großen Sonnenbrille verbirgt. Sie ist mit Modeschmuck behangen und trägt lange Handschuhe, die den Aspekt der Abendgarderobe betonen. Die berühmte Aufnahme zeigt Holly aus der Perspektive der Auslagen, die sich in der Fensterscheibe spiegeln und ihr Gesicht hinter der großen Sonnenbrille einrahmen, in genau dem Moment, als mit der wegen ihres Lebenswandels gelösten Verlobung durch den reichen Brasilianer alle Träume Hollys zerbrechen und ihre mühsam aufgebaute, autonom gewählte Identität zu scheitern droht. Vorgeführt wird ein weiblicher Autonomieversuch, der scheitert, weil er nicht auf Gefühlen und diese Gefühle und mit ihnen die Frau nicht dem richtigen Mann unter- und beigeordnet sind, sondern die Frau ihren Autonomieversuch rein auf Äußerlichkeiten aufgebaut hat. Diese Äußerlichkeiten umstellen wie die Auslagen von Tiffanys und verhüllen wie die modische Kleidung und die Accessoires als Camouflage eine Person, die eigentlich gelähmt, ausweglos und ohne alternativen Lebensentwurf ist. Heute gilt dagegen der “ Audrey Style ” 5 als Inbegriff einer mondänen und anspruchsvollen Eleganz. Audrey Hepburn scheint besonders geeignet dafür zu sein, sich mit Mode im Film auseinanderzusetzen, weil sie als ‘ femme fragile ’ einerseits einen neuen Frauentyp erfolgreich in den Film der 1950er Jahre einführt, andererseits, weil ihre Filme oftmals mit dem Herstellen eines neuen Looks massiv spielen und ihn inszenieren: Innerhalb der weibliche Kleidung des 20. Jh.s (cf. Kinzel 1990: 217 - 221); vergleiche einführend zum “ Kleinen Schwarzen ” im Film Buovolo 2006. 4 Die Zusammenarbeit von Hubert de Givenchy und Audrey Hepburn begann bereits 1954 beim Film Sabrina (USA, Billy Wilder), für den Edith Head, lange Zeit die einzige führende Kostümbildnerin in Hollywood, 1955 ihren sechsten von acht Oscars für das beste Kostümdesign gewonnen hat. Kolportiert wird dabei, dass Hepburn ihre eigenen Kleider getragen habe (cf. Clarke Keogh 2000); was aus einer übergeordneten Perspektive ex negativo vor allem zielgerichtet der Imagebildung der Hepburn und der Herausbildung eines ganz speziellen, so genannten “ Audrey-Styles ” dient. Person und Rolle gehen hier eine untrennbare Verbindung ein, was vielleicht durch das Vorbild der ersten modernen Stilikone schlechthin begründet ist: George Bryan Brummell, genannt Beau Brummell, der um 1800 den Dandy-Stil erfand, bei dem äußere Erscheinung (als Signifikant) und Persönlichkeit (als Signifikat) auf dem Fundament allgemein menschlicher Werte (Referent) eine Einheit bilden und historischen sozialen Zwängen eine visuelle und soziale Alternative sichtbar und damit denkbar und subversiv gegenüberstellen sollen. 5 So eben der gleich lautende Titel des unreflektiert apologetischen Fan-Buches über den Kleidungs- und Lebensstil von Audrey Hepburn und seine praktische Anwendung für die Leserinnen von heute, cf. Pamela Clarke Keogh 2000. Textile Texte 55 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [55] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Filme Audrey Hepburns wird oft ein Wechsel des Äußeren der von Hepburn verkörperten Figur inszeniert. 6 Dieses neue Äußere der von Hepburn verkörperten fiktionalen Figur überträgt sich dann im Laufe der Zeit als innerfiktionales Image auf Hepburn selbst und wird aus der heutigen Perspektive zu einem Bestandteil ihres außerfilmischen Images, nämlich der Mode- und Stilikone Audrey Hepburn. Beispielsweise inszeniert schon Roman Holiday (Ein Herz und eine Krone, USA 1953, William Wyler) die Personwerdung der Frau vor allem durch einen Kleidungsals Modewechsel. In der Ausgangssituation kann die junge Kronprinzessin Anne nur heimlich dem strengen Hofprotokoll entfliehen: Sie streift bei einem Empfang unter ihrem langen Reifrock die sie schmerzenden Schuhe ab, lässt sich äußerlich aber nichts anmerken. Die Kamera zeigt hier im Blick unter den Rock die wahre Person, die sich mit der Rolle als Prinzessin noch nicht identifiziert, sondern diese nur gehorsam spielt. Erst durch den Ausbruch aus dem goldenen Käfig und das partielle Ausleben individueller Persönlichkeitsanteile gelangt Anne schließlich zu einer neuen Rollensicherheit als Prinzessin und verzichtet zu Gunsten ihrer nationalen Aufgabe als künftiges Staatsoberhaupt ganz bewusst auf eine nicht standesgemäße Liebesromanze mit dem Reporter Joe Bradley (Gregory Peck). 7 Die römischen Ferien sind also eine Heterotopie im Foucaultschen Abb. 1: Mode-Film-Ikone(n): Audrey Hepburn als Holly Golightly im ‘ Kleinen Schwarzen ’ von Hubert de Givenchy vor Tiffanys in Breakfast at Tiffany ’ s (USA 1961, eigener Screenshot) 6 Vergleiche Hepburn beispielhaft in Billy Wilders Sabrina (USA 1954) als Aschenputtel und später als Pygmalion dann in George Cukors My Fair Lady (USA 1964). 7 Der Film ist auf der Folie des Regentschaftsantritts der 26-jährigen Elisabeth II. 1952 und ihrer Krönung 1953 als Versicherung einer domestizierten weiblichen Geschlechterrolle zu lesen: Auch wenn eine Frau Königin, also Herrscherin, wird, bleibt sie dabei eine typische Frau, das heißt ihren von außen an sie heran getragenen Verpflichtungen untergeordnet. 56 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [56] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Sinne, das heißt, sie ermöglichen als Raum einerAbweichung, als partieller Gegenraum zum Hofleben, schließlich den Reifungsprozess der Prinzessin. Dabei inszeniert der Film durchgehend, dass die Personen nur Rollen spielen, also eine Nicht-Identität des äußerlich Sichtbaren mit der eigentlichen Person vorliegt: Joe weiß, dass er sich mit Prinzessin Anne in Rom vergnügt und verschweigt ihr dieses Wissen über ihre wahre Identität, um einen Sensationsbericht über sie zu verfassen. Anne verschweigt Joe ihrerseits ihre wahre Identität, um ihre Freiheit genießen zu können und trägt die typische Kleidung eines jungen, unerfahrenen Mädchens. Diese Rollen halten beide auch aufrecht, als sie schließlich am Ende des Films einander schon durchschaut haben. Soziale Rollen zu übernehmen und dafür egoistische Wünsche nach Autonomie aufzugeben, ist dann der zentrale Wert, den der Film abschließend vermittelt: Genau so, wie Joe aus Liebe zu Anne schließlich darauf verzichtet, auf ihre Kosten mit einem Sensationsbericht über sie seine Karriere voranzutreiben und mit dem erwartbar hohen Honorar seine Schulden zu begleichen, genau so opfert Anne ihre Liebe zu Joe für das nationale Kollektiv. Durch das Selbstopfer reifen beide als Personen, was sich wechselseitig am Filmende beim Pressempfang in einer neuen Rollensicherheit im Umgang miteinander als Reporter und Prinzessin ausdrückt. Bemerkenswert ist nun, dass der Film die weibliche Selbstfindung als Person, die sich mit der vorgefertigten weiblichen Rolle identifiziert, durch einen Kleidungswechsel markiert, der nur die eine Prinzessinnenrolle mit der anderen des Backfischs austauscht. 8 Dabei ist es dann besonders Annes Wahl einer neuen Frisur, die als erste eigene Tat jenseits der Palastmauern einen eigenständigen Persönlichkeitsausdruck und damit eine weibliche Emanzipation kodiert: Zum Backfisch-Outfit passen die langen Haare nicht; die neue Kurzhaarfrisur wird der nur gespielten Rolle des wohlerzogenen Twens aus bürgerlichem Haus angepasst. Das Abschneiden der langen Prinzessinnenhaare und die Wahl einer sehr kurzen Frisur mit frechen Löckchen - die zunächst gegen den Willen des ausführenden italienischen Friseurs aus dem Straßengeschäft, dann schließlich von diesem wohlwollend als perfekt zu Annes Person passender Look onduliert wird - wird vom Filmende aus, in der Differenz von neuer Kurzhaarfrisur und alten Prinzessinnen-Outfits, dann nicht mehr als Ausdruck eines alternativen Looks und Anpassung an die neue, nur gespielte Rolle des Backfischs lesbar, sondern als Ausdruck der eigenen, inzwischen herangereiften Persönlichkeit als Prinzessin. 9 Annes bewusste Wahl einer modischen, stilistischen Alternative wird als Markierung von Identitätsgewinn im Film entwickelt, die Synthese zweier Stilvarianten am Schluss dann als gelungene Initiation und Vereinigung von Person und sozialer Rolle bewertet. 8 Für die Kostüme in Roman Holiday bekam Edith Head 1954 ihren fünften Oscar; danach für die Kostüme im Film Sabrina (USA 1954, Billy Wilder), wiederum mit Hepburn in der weiblichen Hauptrolle, 1955 ihren sechsten Oscar für das beste Kostümdesign. 9 Dass das Abschneiden langer Haare nicht nur redensartlich das Abschneiden alter Zöpfe und damit eine radikalen Neubeginn kodieren kann, sondern für Frauen gar zum existenziellen Topos gerät, mit dem die Frau sich gewissermaßen selbst gebärt und als Person radikal neu entwirft, verdeutlicht vielleicht am Eindrucksvollsten Mia Farrows Wechsel zur modisch-geometrischen Kurzhaarfrisur von Vidal Sassoon in Rosemary ’ s Baby (USA 1968, Roman Polanski). Textile Texte 57 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [57] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 3 Comeback der 1950er Jahre In Stanley Donens Musical Funny Face (Ein süßer Fratz, USA 1957) verkörpert Audrey Hepburn die an Mode zunächst völlig uninteressierte, dafür in der philosophischen Theorie des “ Empathiekalismus ” - eine Parodie auf den Existenzialismus als innerer, geistiger Ebene - aufgehende Buchhändlerin Jo Stockton. Als “ Empathiekalistin ” trägt sie Kleidung, die vom “ existenzialistischen Stil ” beeinflusst ist: schwarz, Hosen, Baskenmütze, rotes Halstuch und als solches im Ganzen als unweibliche Nicht-Mode, als Anti-Mode, gesetzt. Den Standard für die weibliche Kleidung inszeniert der Film im Gegensatz zu Jo mit der Herausgeberin des Frauenmagazins Quality, Maggie Prescott, die mit der Eröffnungsnummer Think Pink normativ ein neues weibliches Modeideal setzt, das sich an der Farbe Pink als Inbegriff von Weiblichkeit orientiert. 10 Zur Umsetzung dieses neuen Frauenideals sucht Maggie Prescott nun einen neuen Frauentyp, den ihr Fotograf Dick Avery (Fred Astaire) bei Modeaufnahmen in Jos Buchhandlung in dieser zu entdecken glaubt. Die Liebeshandlung zwischen Jo und Dick dient dabei im Film vor allem dazu, Jo vom Empathiekalismus als einem verirrten Wunsch nach weiblicher Autonomie zu befreien. Avery muss dagegen erkennen, dass ihm als Mann zum ultimativen Glück statt all der künstlich entworfenen und auf wechselnde Models projizierten idealen Vorstellungen von Frauen die eine echte Frau fehlt: die Ehefrau. Der neue Frauentyp, den Avery und Maggie Prescott schaffen möchten, gut aussehend und zugleich klug dabei, ist also substanziell in keiner Weise ein neuer oder gar intellektueller Frauentypus, der sich am Existenzialismus und damit auch an einer geistigen Eigenständigkeit der Frau orientiert, sondern einfach eine neue, schlanke Silhouette, die von Audrey Hepburn verkörpert wird. Der Star Hepburn ist als Jo im eigentlichen Sinn das junge und frische Gesicht, das Avery nach den ersten Zufallsfotos von ihr im Bild, im Foto, zu sehen glaubt. Ein Frauentyp also, der zwar in der Realität der Diegese schon da ist, aber nicht unmittelbar gesehen und wahrgenommen wird, sondern ein nur visuell neuer Frauentyp, der erst mittels einer medialen Inszenierung und eben der Fotografie im Film und des Films Funny Face selbst medial inszeniert und als solcher hervorgebracht werden muss. Das Modell einer weiblichen Initiation, bei der die Modebranche als Domestikations- und Übergangsraum der Frau zur Hervorbringung einer als natürlich postulierten weiblichen Identität funktionalisiert wird, wie es in Funny Face anhand Audrey Hepburn verkörpert wird, ist auch heute noch - in Varianz - für die US-Filmkomödie bestimmend, wie David Frankels The Devil Wears Prada (Der Teufel trägt Prada, USA 2006) zeigt: Die junge, etwas linkische Andrea Sachs (Anne Hathaway) 11 - von allen “ Andy ” genannt, frisch in 10 Cf. zu Rosa als Farbe weißer Weiblichkeit Kaiser/ Flury 2005, die allerdings das von Elsa Schiappirelli 1936 für Mae West als Provokation “ erfundene ” Shocking Pink völlig unerwähnt lassen, mit dem West auf die sportliche Frau als damals modisch dominierendem Gegentyp reagierte und ihren Status als autonome Frau mit extremen weiblichen Rundungen und einer aggressiven und selbst bestimmten weiblichen Sexualität provokativ gegen den Modetrend der Zeit behauptet hat. Shocking Pink war die Farbe einer hyperbolisch übertriebenen weißen Weiblichkeit und subvertierte das Pink der reinen weißen Weiblichkeit, wie diese eben auch in Jackie Kennedys Pinkfarbenem Chanelkostüm 1963 kulminiert, das sie trug als John F. erschossen wurde. 11 In Anne Hathaways fiktionalem Image, in ihrem Rollenfach, ist die Initiationsgeschichte und damit verbunden ein radikaler Kleidungswechsel schon in ihrem ersten internationalen Durchbruch angelegt: The Princess Diaries (Plötzlich Prinzessin, USA 2001, Garry Marshall). Die filminterne Inszenierung eines neu 58 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [58] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Journalismus absolvierte Abgängerin der Northwestern University (also aus der Provinz Illinois), mit kleinen Auszeichnungen für ihre sozialkritische Berichterstattung - versucht ihren ersten Job in der Metropole New York zu ergattern und damit ihre Karriere als Journalistin zu starten. Trotzdem Andy sich - auch äußerlich sichtbar - weder für Mode interessiert, noch das Magazin Runway (als Parodie auf die US-Vogue) und seine Chefredakteurin Miranda Priestly (Meryl Streep als Parodie von Anna Wintour) kennt, wird sie von Miranda als deren zweite Assistentin eingestellt, weil sie sich im Gegensatz zu den bisherigen Assistentinnen, als Person mit einer besonderen Arbeitsmoral präsentiert: Sie sei klug, lerne schnell und gebe immer ihr Bestes. Der Film führt nun Andys fortschreitenden Assimilationsprozess in die Welt des Modemagazins Runway vor: Zunächst scheitert Andy, weil sie sich zwar Mühe gibt, für Andy der erfolgreiche Abschluss einer Arbeit aber noch nicht als sich selbst genügender Lohn erkannt wird. Die Person soll als erwachsene Person vollständig in ihrer Berufsrolle aufgehen. Weder für das Privatleben, noch für moralische Skrupel bleibt Raum. Dementsprechend schreitet die Handlung des Films vorhersagbar voran: Andy vernachlässigt ihren Freund und ihre Freunde, stattdessen integriert sie sich vollständig in die Welt der Mode und lässt sich nach einer ersten persönlichen Krise vom Art Director des Magazins komplett aus dem Bestand von Runway neu in Prêt-á-porter bekannter Modeschöpfer einkleiden. Andy verwandelt sich unter dem Modediktat von Runway in kurzer Zeit von der in legere Kaufhausmode gekleideten College-Absolventin hin zur perfekt und in allen Accessoires in sich stimmigen Chanel-Schönheit. Mit diesem Wechsel von Kleidung zu Mode wird Andy auch zu einer neuen Person, die von ihrem Freund und ihren Freunden nicht nur äußerlich nicht mehr er- und gekannt wird. Weil Andy alles ihrer Arbeit für Runway und Miranda unterordnet, entfremdet sie sich zunehmend von ihrer sozialemotionalen Bezugsgruppe aus gleichaltrigen Freunden und von ihrem Erotikpartner. Andy wird dabei nicht nur zur perfekten Kopie eines durchgestylten Models, sondern sie ersetzt auch zunehmend Mirandas erste Assistentin Emily, der sie, Emily ausbootend, den Rang bei Miranda abläuft. Andy ist auf dem besten Weg so zu werden wie Miranda: Skrupellos alle Kollegen hintergehend, bloß am eigenen Machterhalt interessiert, despotisch über den Stab der eigenen Mitarbeiter herrschend, die Mode diktierend und ohne glückliches Privatleben oder eine gelingende erotische Beziehung. Die ultra-modische Fassade in The Devil Wears Prada maskiert nur das egoistische Streben nach unumschränkter Macht um ihrer Selbst willen, dahinter steht der Verlust aller Werte, die der Person eigentlich wichtig sind. Als Andy dies begreift, erkennt sie, dass sie nicht wie Miranda sein will, dass sie keine Karriere in der Modebranche machen, sondern ernsthafte Journalistin werden möchte - und dass sie ein Privatleben haben möchte. Am Ende des Films bekommt Andrea eine Anstellung beim fiktiven “ New York Mirror ” , einer sozialkritisch berichtenden Tageszeitung, für die Andy mit ihrem Studium und ihren Auszeichnungen genau die richtige ist; auch ihrem Freund nähert sie sich wieder an. Am Ende glückt also Andys Initiation vom Außenraum des provinziellen College in den Beruf in der Metropole New York und als Abschluss der Reifung zur jungen erwachsenen Frau doch noch, obwohl sie den Umweg hergestellten Looks verbindet Hepburn und Hathaway. Pointiert formuliert lässt sich die These wagen, dass Hathaway die Hepburn des neuen Jahrtausends ist, wie Meg Ryan die Doris Day der 1990er war. Textile Texte 59 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [59] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL über die Modebranche gemacht, gerade aber noch rechtzeitig den Absprung geschafft hat. Ihre ganzen ultra-modischen Outfits schenkt sie Emily, die wieder unangefochten Mirandas erste Assistentin ist. Am Ende des Films ist Andrea aber eine der modischen jungen Frauen, die auch die Anfangstitel des Films als die paradigmatische, junge New Yorkerin vorgeführt haben: Junge Frauen, die modisch, aber nicht zu modisch angezogen sind, sich schminken und auf ihre Figur und ihre Ernährung achten - und einen gut aussehenden Partner haben, den sie in einer schicken New Yorker Innenstadt-Wohnung zurück lassen. Junge Frauen also, die selbst der Welt eines Modemagazins entsprungen sein könnten, die implizit die Leserschaft von Runway bilden und für die Miranda und ihr Stab das Magazin herausbringen. 12 Die Anfangstitel des Films geben damit das optische Ziel vor, dass Andy am Filmende schließlich erreicht: Sie ist eine der - in der Logik des Films - normalen, durchschnittlichen jungen Frauen in New York. Sie ist endgültig in der Metropole und in einer gefestigten sozialen und sich wieder festigenden privaten Rolle angekommen und vom Mädchen zur Frau mit “ normalem ” Modebewusstsein gereift, die weiß, was sie will. Miranda Priestly ist auf der Folie von Andys Entwicklung in der an sich schon extremen Modewelt, die unter der Fassade des schönen Scheins durch rücksichtslosen Egoismus und Ausbeutung aller Mitarbeiter gekennzeichnet ist, das extreme Negativ-Beispiel einer Frau, wie sie der Film abwertet. Von ihr überträgt sich das Merkmal der Maskierung der Person durch Mode auf die High-Fashion, die Miranda und ihre Mitarbeiterinnen tragen und die Gegenstand von “ Runway ” ist: High-Fashion ist nicht Ausdruck der Identität der Person und schlimmstenfalls eine verstellende Maskerade. Auf aktuelle, gemäßigte Mode überträgt sich durch Andy am Schluss dagegen (sie trägt Stiefel, Jeans, taillierte Lederjacke, Rollkragenpullover, die ähnlich auch die Frauen der Anfangstitel präsentiert haben) das Merkmal der authentisch die junge erfolgreiche berufstätige Frau kennzeichnenden Kleidung. Die Kleidung, die die Frauen der Anfangstitel und Andy am Schluss tragen ist zwar keine High-Fashion, als Mode aber Gegenstand des Magazins Runway, dass ja für genau diese implizierten Leserinnen setzt, was Mode ist und was nicht. Wenn nun der Film am Ende die modisch veränderte Andy als die natürliche, zur Frau gereifte Andrea präsentiert, dann dienen die Spielfilmcodes hier, ganz im Sinne von Barthes rhetorischem System über Mode (cf. Barthes 1985), dazu, die Konnotationen, die mit einem mittleren Maß an Mode und eben mit jungen berufstätigen Frauen in New York verbunden werden, zu naturalisieren und die weibliche Geschlechterrolle im Akt der vorgeführten Domestikation zum idealisierten Mittelmaß zu anthropologisieren. The Devil Wears Prada und Funny Face mögen zwar aus unterschiedlichen Jahrzehnten, ja gar Jahrtausenden stammen, trotzdem zeigen sie damit eine gruselige Kontinuität. 12 Erwähnt werden sollte hier, dass der Regisseur David Frankel vor The Devil Wears Prada vor allem als Regisseur der selbst mode- und stilprägenden Serie Sex & the City (USA, HBO 1998 - 2004) in Erscheinung getreten ist. 60 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [60] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4 Mode als weibliche Narrheit: das Beispiel The Women George Cukors Komödie The Women (Die Frauen, USA 1939) 13 vermittelt beispielhaft die semantischen Dimensionen von Frauenmode im Film: (i) Semiotisierung von Kleidung als Kode für andere Bedeutungszusammenhänge, (ii) Indizierung von Geschlecht und sozialem Status und (iii) Markieren weiblicher Initiationsverläufe. Auf dieser Basis entwickelt der Film darüber hinaus (iv) eine filminterne Reflexion über Mode als auf sich selbst bezogenes Nichts. Diese Semantik der Mode als Nichts kaschiert einerseits, dass Kleidung im Filmganzen semiotisiert wird und trägt damit zur Naturalisierung von ja eigentlich konstruierten Konnotationen und Werten und Normen durch das Filmganze bei. Andererseits wird mit der Semantik der Mode als Nichts eine relevante negative Wertung von Mode greifbar, die für die Kultur bestimmend ist. 4.1 Handlung und Moral Der Film beginnt damit, dass die Kamera in einen, eigentlich abgeschirmten, rein weiblichen Raum eindringt: Den Schönheitssalon Sidney ’ s in der Fifth Avenue, der von den (Ehe-) Frauen der New Yorker Oberschicht aufgesucht wird. Hier führt der Film einen weiblichen Mikrokosmos vor, in dem sich alles darum dreht, sich selbst zu verschönern, um 1. einen (neuen) Ehemann zu bekommen und/ oder 2. (s)einen Ehemann zu behalten und 3. alle anderen Frauen als Rivalinnen um Geld und Stellung der Ehefrau, die sich allein aus dem Status des Ehemannes heraus definiert, zu übertrumpfen. Dabei sind vor allem Indiskretionen und Verbalinjurien der Frauen untereinander Mittel des femininen Machtkampfes um die soziale Stellung - sei es im privaten Raum von Boudoir oder Bad, in der eigenen Wohnung, in der Stadt oder auf dem Land; sei es im halböffentlichen Raum des Schönheits- und Modesalons; sei es im öffentlichen Raum der Parfümerie und der Nachtclubs; alles im Übrigen keine Berufswelten. Dass der Status der Ehefrau mit Kindern der einzige, der Frau als solcher angemessene Status ist, vermittelt der Film auf allen seinen Ebenen, sei es direkt verbal, wenn eine Autorin sagt “ Ich bin das, was die Natur verabscheut, eine alte Jungfer, ein eingefrorenes Guthaben ” ; sei es auf der Ebene der Handlung, die mehrfach weibliche Domestikationen vorführt: In der Haupthandlung erfährt Mrs. Stephen Haines (Norma Shearer) durch ihre Freundinnen, dass ihr Mann, ein erfolgreicher Bauingenieur, eine Affäre mit der Parfümverkäuferin Crystal Allen ( Joan Crawford) hat. 14 Mary Haines beharrt nun auf ihrem Stolz und stellt ihren Mann gegen den Rat ihrer eigenen Mutter, zur Rede, was zur Scheidung führt. Der Film setzt hierbei in der vom Filmverlauf bestätigten Konfrontation von Mutter und Tochter, dass (i) es in der Natur des Mannes liegt, 13 Ein erstes Remake erlebte der Film schon 1956 unter der Regie von David Miller als The Opposite Sex (Das schwache Geschlecht, USA); ein zweites Remake des Films unter der Regie von Diane English mit Meg Ryan als Mary Haines entstand 2008. Dieses Remake behält weitgehend die weiblichen Hauptcharaktere bei, verlagert aber die ganze Handlung insgesamt in die New Yorker Modeszene. Mary Haines ist nun eine Modedesignerin und Annette Benning als Sylvia Fowler Herausgeberin eines führenden Modemagazins; nur Eva Mendes als Crystal Allen bleibt eine Parfümverkäuferin bei Saks, Fifth Avenue. 14 Diese Konkurrenz der beiden Figuren mit den beiden damals auch im Starsystem so inszeniert miteinander konkurrierenden Diven Shearer und Crawford zu besetzen, zeigt einmal mehr, wie sehr das Starsystem in Hollywood und die Filmproduktionen ein einheitliches Vermarktungssystem bildeten, cf. einführend zum Zusammenhang von Mode und Starsystem Mosley 2005. Textile Texte 61 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [61] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL sexuell untreu zu sein, um sich wieder jung zu fühlen, die Frauen, mit denen die Ehemänner eine Affäre haben, aber nicht zu lieben, und dass (ii) es einer Mutter aufgrund eines gemeinsamen Kindes und der eigenen Liebe zum Ehemann nicht zukommt, sich scheiden zu lassen. Eine Frau, die Mutter ist und liebt, die kann sich, so die von Mary Haines formulierte Schlussmoral, ihren Stolz nicht leisten. Mary erkämpft sich dementsprechend ihren Ehemann zurück. Mit der Aufhebung der Störung der ehelichen Ordnung, der vorübergehend geschiedenen Ehe von Mr. und Mrs. Stephen Haines, endet auch das für den Film erzählenswerte Ereignis. Da der Mann seiner erotischen Natur nach polygam handelt, muss auf dieser Folie dann vor allem die Geliebte für ihren sozialen Aufstiegswillen sanktioniert werden: Nach ihrer Hochzeit mit Stephen provoziert Crystal die Scheidung, weil sie eine Affäre mit dem Cowboy-Sänger Buck Winston aufnimmt, einem Mann, der seinerseits von seiner reichen Ehefrau aus dem Nichts zu einem Radiostar gemacht wurde und ein “ Zimmermädchenidol ” , also ein Star für die Unterschichten ist. Am Ende haben Buck und Crystal sich nur kurzfristig über ihre jeweiligen Ehepartner in der Oberschicht aufhalten dürfen, am Ende wird die soziale Schranke wieder errichtet: Die Oberschichtfrauen bleiben unter sich, die sozialen Aufsteiger durch Eheschließung, Buck und Crystal, werden aus der Oberschicht entfernt. Die Moral des Films ist also eindeutig: (i) Frauen, die ihre Männer lieben und für die selber sexuelle Affären mit anderen Männern nicht einmal denkbar sind, müssen die sexuellen Eskapaden ihrer Ehemänner um der Kinder Willen stillschweigend durchstehen und um jeden Preis an ihrem Status als ihrem Ehemann untergebene Ehefrau festhalten, denn ein anderer Status ist in der vorgeführten Welt für Frauen nicht denkbar. (ii) Die vor allem von Mary Haines formulierten weiblichen Ansprüche auf eine autonome weibliche Selbstverwirklichung und eine Identität jenseits der Ehefrauenrolle werden von der Handlung zurückgewiesen. 4.2 Kleidung und Stereotyp Kleidung spielt innerhalb des Films eine ganz elementare Rolle bei der bewussten Selbstinszenierung der Frauen und damit für ihre Charakterisierung: Die Protagonistinnen werden durch die Anfangstitel alle mit Tieren emblematisch in Beziehung gesetzt: Es erscheint im Bild zunächst in einer Vignette das Porträt eines Tieres, dann wird in der Vignette mit dem Kopf der weiblichen Figur überblendet und in der Schrift darunter der Name der Schauspielerin und der Figur, die sie verkörpert, eingeblendet, so dass die stereotypen, aus dem kulturellen Wissen bekannten, emblematischen Eigenschaften der jeweiligen Tiere mit den Schauspielerinnen und den Figuren verbunden werden sollen; die Filmmusik trägt das ihre dazu bei, durch Klangfarbe und Orchestrierung diese Konnotationsräume zu bilden: Mrs. Stephen Haines ist unschuldig wie ein Reh, Crystal Allen (ohne Höflichkeitstitel der Oberschicht) ist ein Raubtier auf Beutezug wie ein Leopard, Mrs. Sylvia Fowler ist verschlagen und kratzbürstig wie eine Katze, Mrs. John Day ist dumm und naiv wie ein Schaf usf. Sylvia, die Intrigantin der Geschichte, trägt beispielsweise durchgehend hyperbolisch modische Outfits, die durch Gestik, Mimik und Accessoires gebrochen werden. Sylvia trägt High-Fashion, die sie substanziell als Person nicht ausfüllt und einen Stilbruch nach dem 62 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [62] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL anderen begeht. Beispielsweise strickt sie während einer Modenschau; sie trägt eine überdimensionale Schleife (als Ersatz für einen Hut oder Fascinator Bestandteil der Abendgarderobe) auf dem Kopf zu einem Nachmittagskostüm; sie trägt eine Bluse mit mehreren plastisch gestalteten Augen auf der Brust, die den Eindruck erwecken, das Gegenüber von Sylvia würde von ihr vielfach beobachtet werden. Gerade das letzte Beispiel zeigt dabei, dass Sylvias modische Outfits sie zur Karikatur ihrer Selbst im Film werden lassen, denn sie ist die Frau, die alles über das Privatleben ihrer Freundinnen herausfinden möchte, um sich an den Klatschgeschichten zu erfreuen und sie zu verbreiten und damit ursächlich Mary zur Scheidung zu treiben. Sylvia hat dabei nicht nur keine Kinder, sondern auch einen hysterischen Anfall, nachdem ihr Mann sie verlassen hat und nach ihrer Scheidung einen verdächtigen Hang zur Psychoanalyse. Sylvia kompensiert mit ihren hypermodischen Outfits und ihrer Klatschsucht ein unbefriedigtes Sexualleben, dem mit den Kindern auch die Erfüllung der eigenen Rolle als (Ehe-) Frau fehlt. Sylvia ist - pointiert formuliert - modisch die sich selbst travestierende Ehefrau der Oberschicht. 4.3 Modenschau als Mise-en-abyme In der Mitte des Films, wo alle Handlungen zum entscheidenden Wendepunkt zusammenlaufen, an dem Mary und Crystal direkt miteinander um Stephen Haines konkurrieren, inszeniert der Film nun diesen ersten Showdown, den Crystal noch für sich entscheidet, im Rahmen einer Modenschau in einem Modesalon. Diese Modenschau wird filmisch dabei als besonderer Höhepunkt des Filmes markiert, ist sie doch im Vergleich zum sonstigen Schwarz/ Weiß des Films und seiner perfekten Modulation von Grautönen in gleißendem Technicolor gedreht. Vorgeführt werden dabei Modelle des Modeschöpfers Adrian, der alle Kostüme für den Film entworfen hat. 15 Die Kleider der Modenschau zeigen dabei zwei Linien, die miteinander konkurrieren: Zum einen eine Linie, in der breite Schultern und weite Röcke miteinander kombiniert werden und Anleihen in der Folklore und bei historischen Kostümen gemacht werden, und zum anderen eine sehr körperbetonte, den ganzen Körper von Kopf bis Fuß in lange faltenreiche Stoffbahnen eng ein- und verhüllende Linie. Während die Kleider der ersten Linie als eher konventionelle Alltags- und Festkleidung der Oberschichtfrau präsentiert werden, wird die zweite Linie dazu im Gegensatz als ‘ femme fatale ’ inszeniert. Diese Kleider werden dann im weiteren Verlauf des Films entweder von Crystal getragen, nachdem sie die vorläufig zweite Mrs. Stephen Haines ist, oder aber von Sylvia nach ihrer Scheidung. Bemerkenswert ist die Ankündigung der Modenschau durch die Directrice des Salons als “ kleiner Blick auf die kommende Saison und auch ein Blick in die nahe Zukunft ” . Wenn hier keine Tautologie vorliegen soll, dann bezieht sich die Aussage einerseits im ersten Halbsatz auf die Diegese und die Kleidermode im Film und andererseits im zweiten Halbsatz auf die Präsentation der Mode in einer Farbfilmsequenz und damit auf die Zukunft des Films als Farbfilm, der sich im gleichen Jahr mit The Wizard of Oz (Das zauberhafte Land) und Gone 15 Adrian (1903 - 1959), eigentlich Adrian Adolph Greenberg, war von 1927 - 1941 für MGM einer der bedeutendsten Designer des US-amerikanischen Films der 1930er und 1940er Jahre. Am bekanntesten sind sicher seine Kostüme, inklusive der roten Schuhe von Dorothy, für Victor Flemings TheWizard of Oz (USA 1939), cf. Gutner 2001. Auf ihn gehen auch die Schulterpolster in der Inszenierung des Stars Joan Crawford zurück, die seitdem unausrottbar entweder mal wieder in oder aus der Modes sind. Textile Texte 63 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [63] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL With the Wind (Vom Winde verweht), beide USA 1939 unter der Regie von Victor Fleming, durchsetzt. Schon die Ankündigung der Directrice des Modesalons impliziert also eine selbstreflexive Ebene, die in der Folge in der ganzen farbigen Modenschausequenz mit bestimmend ist. Oberflächlich folgt dabei die Abfolge der einzelnen Modelle dem Tagesablauf: Zuerst sind aus dem Sportbereich, also für den Vormittag, Tennis- und Bademoden, dann aus dem Freizeitbereich für den Nachmittag der Zoobesuch und das ländliche Picknick gewählt, um Abendmode bei einem Theaterbesuch und schließlich extravagante Abendmode wie aus einem Theaterstück oder einem Stummfilm zu präsentieren. Es werden also pro Tageszeit (Vormittag, Nachmittag und Abend) je zwei situative Kontexte vorgeführt, die Frauen beim Müßiggang in Freizeitbeschäftigungen ansiedeln. Als einzige arbeitet hier die Farbige in Dienerinnenlivree, die nach dem Theater die Cocktails für die weißen Mannequins kredenzt. 16 Im Verlauf der Modenschau nimmt die Ebene der Selbstreflexion mise-en-abyme zu: Die Modenschau beginnt und endet mit einer Vignette, die den Vorhang des Laufstegs in der Mise-en-scène genau nachbildet und sich dann in die Bildfüllende Farbsequenz wandelt, wenn der Vorhang aufgeht, ebenso schließt die Farbsequenz. Dem Zuschauer wird also in Farbe nichts Reales, sondern innerhalb der filmischen Diegese selbst eine Inszenierung präsentiert; Farbe ist hier nicht Mittel des Realismus, sondern der Fiktionalisierung. 17 Schon bei den Bademoden fällt dabei auf, das einige der vorgeführten Modelle Details aufweisen, die so kaum tragbar zu sein scheinen: Beispielsweise dient eine skulpturale, plastisch-dreidimensionale Hand in Lebensgröße mit Diamantring und nachgebildeter Rose als frontal dominierender Verschluss eines schwingenden, Hüftlangen Badecapes (vgl. Abb. 2) oder es korrigiert eine Frau ihre Frisur mit überdimensionierten Fäustlingen aus Pelz. Die vorgeführte Mode wird damit insgesamt als hyperbolisch und übertrieben, als nicht ganz real und potenziell auch lächerlich präsentiert. Vor allem aber dienen diese einzelnen Fiktionalisierungssignale dazu, die selbstreflexive Ebene auszubauen. Dementsprechend wiederholt sich zum Beispiel die plastische Hand des Badecapes als Druck auf dem Innenfutter des Capes und als Druck auf dem Badeanzug selbst: das in seinem medialen Variationen redundante Kleidungsdetail dominiert über die Kleidung und wird in seiner seriellen Reproduktion in unterschiedlichen vestimentären Medien in der Mise-en-scène (die Hand als Skulptur und als Textilaufdruck) zum eigentlich dominierenden Hauptmerkmal. Ein sandfarbenes Cape, das bodenlang in übereinander gelegten Schichten weit ausschwingend von einer Kappe aus Plexiglas (! ) ausgeht und über einem gewagt viel Haut zeigenden gleichfarbigen Bikini 18 (! ) getragen wird, erinnert an die Uniform französischer Fremdenlegionäre und wird in einer Überblendung mit einem kleinen Äffchen in einer Miniaturausgabe des gleichen Kostüms montiert. Genau so, wie in den Anfangstiteln Tier 16 Cf. zu diesem typisch unsichtbaren Auftritt einer Farbigen im Hollywoodfilm Dyers 1993 brillantes Essay White. 17 Cf. einen ähnlichen Befund für den deutschen Farbfilm der 1940er Jahre Krah 2004. 18 Cf. zur Geschichte des zweiteiligen Badeanzugs vor 1946 und zum Durchbruch des Bikinis nach 1946 Berger 2004. 64 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [64] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL und Figur gegen geschnitten wurden, genau so wird hier im Film in der Modenschau dieser Motivkomplex aus den Anfangstiteln aufgegriffen und in den Film selber hinein verlegt. Hier, so die Bedeutung, kommentiert eine höhere Erzählebene mise-en-abyme das filmische Geschehen. Gezeigt wird dann nach einer Aufblende von der Ganzgroßaufnahme des Affen zur Halbtotalen des Laufstegs, dass noch andere Affen im Käfig in ähnlichen Kostümen hocken, wie sie die Damen vor dem Käfig in ihrer menschlichen Ausführung tragen. Affen im Käfig und Mannequins davor sind also prinzipiell als gleichwertig gedacht und kommentieren ihrerseits die Figuren der Filmhandlung. Dass damit insgesamt die Mode und Frauen, die modisch angezogen sind, der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollen, zeigt sich im weiteren Verlauf der Modenschau daran, dass die Käfiggrenze zwischen Mannequins und Affen nur visuell, nicht aber paradigmatisch eine Grenze ist. Die Mannequins, die trotz des schriftlichen Verbotes ( “ Don ’ t feed the monkeys! ” ) am Käfig kleine Bröckchen aus Tütchen in den Käfig werfen, drehen sich vom Käfig weg und werfen Bröckchen in Richtung Publikum der Modenschau, das die ganze Farbsequenz über visuell ausgeblendet wird. An die Stelle der Figuren in der filmischen Diegese tritt der Zuschauer des Films in der Farbsequenz; ihm werfen die Mannequins die Bröckchen zu. Die Frauen in der Modenschau des Films, beziehungsweise die filmexternen Zuschauer, die an ihre Stelle rücken, werden in den Rang der den Modenarrheiten verfallenen, lächerlichen Äffchen gesetzt. Wer als Zuschauer über die Modenarrheiten im Filmbild lacht, soll - so der ironische Unterton - auch über sich und seinen eigenen, womöglich lächerlichen Kleidungsstil lachen. Abb. 2: Modenschau in The Women (USA 1939, George Cukor): Skulpturale Hand mit Rose und Ring als Schließe eines Badecapes (eigener Screenshot) Textile Texte 65 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [65] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese Mise-en-abyme der Zuschauer wird in der ersten Abendgarderobenszene noch gesteigert. Zu sehen sind zunächst aus der Sicht einer Sitzreihe in einem Theaterparkett als Kulisse gemalte Theaterränge, also Zuschauer von hinten. Eine simulierte Vorstellung ist zu Ende und aus den Kulissen treten die Mannequins in ihrer Abendmode in den Bühnenvorderraum um Cocktails zu sich zu nehmen. Die Szenerie der Modenschau steigert sich also zur Inszenierung eines Theaterstückes in der Inszenierung der Modenschau in der Inszenierung des Films. Die zweite Szene der Abendmode versetzt die Mannequins dann ganz in eine fiktionale Welt, Sie treten durch eine Drehtür auf eine Bühne, die aus gemalten, überdimensionierten Erlenmeierkolben und Destillen besteht und ein alchemistisches Labor wie das des Rotwang in Metropolis oder eine Art Hexenküche vorstellt. Dabei bewegen sich die Mannequins statuenhaft und mit einem unnatürlichen, stark choreografieren, schleppenden, zeitversetzten Gang und in gespreizten Posen mit in die Hüften gestemmten oder über der Brust gekreuzten Armen, wie dieser Gang aus etwa zeitgleichen Horrorfilmen, beispielsweise der Dracula untergebenen drei weiblichen Vampire in Tod Brownings Dracula (USA 1931), oder aber als Auftritt der Garbo in Mata Hari (USA 1931, George Fitzmaurice) bekannt ist. Dazu wird gedämpfter Saxophon-Jazz in orchestrierte Radio-City-Hall-Sounds montiert und verstärkt die Konnotation lasziver, mondäner Abendmode. Vom Sport und einer nicht unmöglichen, im Rahmen des Konventionellen bleibenden Mode in der ersten Sequenz der Modenschau bis hierher zur in Codes gerade vergangener Spielfilmdiven inszenierten Abendrobe am Ende der Modenschau nimmt also die Fiktionalisierung mit der steigenden Inszenierung mise-en-abyme zu: Zum letzten Kleid trägt das Mannequin Handschuhe mit überdimensionalen Kleiderhaken in Gold mit Kristallknauf auf dem Handrücken. Sinn der ganzen Farbsequenz der Modenschau ist damit, die Mode immer weiter in einen imaginären - positiv gewendet surrealen, negativ gewendet absurden - Vorstellungsraum hin auszuweiten. Die Mode wird damit insgesamt im Film als eine realitätsferne Projektion, als eine Hülle greifbar, zu der das Leben der Oberschichtfrauen in eine reziproke Distanz tritt: Einerseits ist die Mode inhaltsleer, absurd und lächerlich, Frauen in Mode sind nichts weiter als animalische Wesen, dressierte Äffchen, die sich auf Unwichtiges und Äußerliches richten. Allerdings führt der Film ja andererseits umgekehrt auch vor, dass Frauen sich ausschließlich durch ihren Status als Ehefrau, durch Verzichtbereitschaft auf eigene Autonomie und Kompromissbereitschaft hinsichtlich männlicher erotischer Untreue definieren, also nur als den Status des Mannes kennzeichnendes Beiwerk, als seine erweiterte Hülle. Funktional zeigt der Film keinen einzigen Mann im Bild. Am Filmende, als Mary ihrem Stephen in die Arme läuft, blendet der Film schließlich ab, als Stephen ins Bild kommen müsste. Dort, wo der Mann in der Uniform des bürgerlichen Anzugs in der Welt jenseits des Films die Welt gestaltet und bestimmt, da trägt die Garderobe seiner Frau (en) im Film seinen sozialen und ökonomischen Status zur Schau. 19 19 Cf. Hollander (1995: 105 - 183). 66 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [66] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4.4 Mode als Kampfanzug der Selbstinszenierung: Crystal versus Mary Genau in diesem semantischen Rahmen der Mode präsentiert der Film im Anschluss an die Modenschau die Konfrontation von Ehefrau und Geliebter. Vor der Modenschau war Mrs. Stephen Haines mit ihren stichelnden Freundinnen zusammen, die unter der Anführung von Sylvia versuchten, Mary ein Eingeständnis um das Wissen der Untreue ihres Mannes zu entlocken. Nach der Modenschau taucht plötzlich Crystal Allen im Salon auf und schnappt Mary Haines vor der Nase ein sündhaft teures Nachthemd weg. Deutlich fungiert das Nachthemd hier als metonymisch gemeintes Zeichen für das eigentlich Gemeinte: Sex mit Stephen Haines. Als Nachthemd - und sei es noch so ein luxuriöses Negligé - ist es eine eher legere Bekleidung, eher ein Weniger an weiblicher Kleidung und vor allem ohne weitere Unterwäsche unmittelbar auf dem Körper zu tragen. Eine Kleidung, die man im Bett trägt, das stellvertretend für den Ort der ehelichen, der legitimen Sexualität steht. Wenn die Geliebte der Ehefrau das Nachthemd im Modesalon streitig macht, dann macht sie ihr auch ihren Status als Ehefrau und damit als Frau mit Sinn streitig. Während Mary, als sie erfährt, wer Crystal ist, noch versucht die Fassung zu wahren, und Crystal, als sie erfährt, dass Mrs. Stephen Haines auch anwesend ist, zumindest verbal versucht das Gesicht zu wahren und sich als alte Freundin von Stephens für sie fürsorgender Familie auszugeben (also im Topos des 19. Jh.s von der Mätresse als Mündel), stachelt Sylvia Mary schließlich zur direkten Konfrontation an: Sylvia erzählt Mary, dass sie einen Kontakt von Crystal und Stephen mit Marys Tochter beobachtet hätte; Mary sieht sich durch das von Sylvia an dieWand gemalte Bild der Stiefmutter Crystal in ihrer Mutterrolle angegriffen und will Crystal den Umgang mit ihrer Tochter Klein-Mary verbieten. Bemerkenswerterweise findet die Konfrontation der Rivalinnen in einem der luxuriösen Umkleideräume des Modesalons statt. Mätresse und Hausfrau treffen an dem Ort aufeinander, wo sie sich mittels Kleidung als ehrbare Frauen überhaupt erst zu entwerfen versuchen. Beide Frauen tragen dabei Kleider aus der Schau zur Anprobe (vgl. Abb. 3), also noch nicht ganz fertige Entwürfe ihrer Person als Frau und vor allem als Abendgarderobe eben gerade auf einen imaginären und irrealen weiblichen Raum ausgerichtet und zunächst nicht als Kampfkleidung um die soziale Stellung als Frau gedacht. Mary, die Hausfrau, trägt dabei ein schwarzes Tüllkleid, das ihren Oberkörper und ihre Schultern relativ frei lässt, ihren Unterleib allerdings die Kontur auflösend und raumgreifend als konischen Kegel negiert. Die kleinen Brüste Abb. 3: Crystal Allen ( Joan Crawford) und Mrs. Stephen Haines (Norma Shearer) in der Garderobe des Modesalons in The Women (USA 1939, George Cukor, eigener Screenshot) Textile Texte 67 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [67] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL von Norma Shearer werden dabei eher grafisch als Rundung nach oben, denn als kugeliges Volumen inszeniert. Mary trägt das Kleid ohne Hut und damit in den Kleiderkonventionen der damaligen Zeit unvollständig. In der Schau wurde dieses Kleid im Übrigen von einem deutlich älteren Mannequin mit grauen Haaren, dem ältesten Mannequin in der Modenschau überhaupt, vorgeführt. Das Kleid gilt also eher als Kleid für eine - im besten Sinne - Matrone. Damit steht es als Kleid im kulturellen Kontext der Produktionszeit des Films für eine Phase in der eine Frau eher weniger, bis gar keine Erotik mehr hat. 20 Der fehlende Hut und die freien Schultern akzentuieren nun dagegen Marys relative Jugend im Verhältnis zum Kleid der älteren Frau. Crystal Allen, die im Gegensatz zu Mary Haines Sex mit Stephen Haines hat, trägt dagegen ein aufwendiges Ensemble aus Goldlamé, im Gegensatz zu Mary komplett mit Turban (! ), das ebenfalls die kleinen Brüste von Crawford vernachlässigt und den Oberkörper eher flach mit zwei vertikal übereinander geordneten großen Schleifen akzentuiert, deren überdimensionale Größe noch durch die Betonung extrem breiter Schultern die Gesamtkomposition nach oben ziehen. Crystal ist nach oben hin zunehmender ein schillernder, Oberfläche und äußeren Glanz betonender, effekthascherischer goldener (Kleider-) Schrank; sie ist schon rein äußerlich die Verkörperung des weiblichen “ Gold Diggers ” , der Goldgräberin auf dem Beutezug nach einem reichen Mann. 21 Crystal steht damit in totalem Gegensatz zu Mary Haines und ihrem die Kontur auflösenden schwarzen Kleid, das nach unten voluminöser wird und die Nacktheit ihrer Schultern und ihres Kopfes im Gegensatz zum goldenen Kampfanzug Crystals akzentuiert. In ihrem Schlagabtausch erweisen sich Crystal und Mary zunächst als gleichberechtigt. Beide werfen einander jeweils vor, die stereotype Ausgabe einerseits der langweiligen Ehefrau zu sein, die alles hat, worauf es ankommt, “ Namen, Geld und Status ” , und die mit moralischem Dünkel von oben herab alle aus niederen Schichten verachtet, und andererseits die materiell gierige Hure aus der Unterschicht zu sein, die nur auf ihre sexuellen Reize baut, aber keinen Zugang zu echten und erhabenen Gefühlen hat. Allerdings gewinnt Crystal schließlich nach Punkten. Weil Mary nun (halb-) öffentlich zugegeben hat, dass sie von Stephens Verhältnis weiß, ist die Beziehung von Crystal und Stephen ein anerkanntes Faktum in der Oberschicht geworden. Vom latenten Wissen, über das man hinter vorgehaltener Hand geredet hat, ist es durch Mary als betroffene Ehefrau zu einem öffentlich verhandelbaren Faktum und damit zur unleugbaren Realität geworden. Die öffentliche Faktizität des außerehelichen Verhältnisses zwingt in der Konsequenz Stephen auf der Basis von Marys Stolz und Unnachgiebigkeit zur Scheidung von Mary und zur Ehe 20 Am Ende wird dieses Kleid von Flora, der Countess de Lave (! ), getragen, einer alten Frau, die sich mit Buck Winston erfolglos versucht einen jungen Ehemann zu kaufen. Flora wird durchgehend von ihren Ehemännern verraten und ist konstant von deren Ermordungsversuchen bedroht: Eine so alte Frau wie Flora heiratet man nur wegen des Geldes. 21 Vgl. zum Typ des weiblichen Gold Diggers die Filme The Gold Diggers (USA 1923, Harry Beaumont), Gold Diggers of Broadway (USA 1929, Roy del Ruth) und Gold Diggers of 1933 (USA 1933, Mervyn LeRoy). Die weibliche Goldgräberin ist in der Regel das Showgirl, jedenfalls eine Frau, die ihre körperlichen Reize inszeniert und als Quasi-Prostituierte auf der Jagd nach einem reichen (Ehe-) Mann ist. Dieser Frauentyp entsteht relativ früh im US-Film, erfährt einen Höhepunkt um und nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und hat auch noch bis in die 1950er Jahre Relevanz, wie Marilyn Monroe als Lorelei Lee in Gentlemen Prefer Blondes (Blondinen bevorzugt, USA 1953, Howard Hawks) demonstriert. 68 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [68] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL mit Crystal, obwohl er Mary liebt und nicht Crystal, gerade weil er moralische Grundsätze hat: Mary als betrogene Ehefrau ist so verletzt, dass er die Scheidung von ihr als sein Verschulden und seine Strafe akzeptiert. Crystal ist durch die sexuelle Beziehung nur dann nicht entehrt, wenn er sie nach seiner Scheidung von Mary seinerseits durch eine Ehe legalisiert. Am Ende des Wortgefechtes in der Anprobe des Modesalons gewinnt zunächst noch Crystal den Kampf zwischen Mätresse und Ehefrau. Mary versucht, Crystals Kleidergeschmack in Frage zu stellen: Stephen möge solche auffallenden Effekte nicht. Crystal kontert, dass das kein Problem sei, denn wenn Stephen etwas nicht gefalle, dann ziehe sie es aus. Wie die Handlung jedoch zeigt, bestätigt sich Marys Position: Sex allein macht Crystal nicht dauerhaft zu einer Dame der Oberschicht. Die Geschmacksunterschiede zwischen Ober- und Unterschicht erweisen sich rückwirkend als dominant (wie es eine Mode- Verkäuferin erkennt und ausspricht: “ Diese Allen kauft alles, was sie sieht, ohne zu überlegen ” ). In der Schlusssequenz setzt dann auch Mary Haines auf die Effekte der Crystal Allen: Nicht nur, dass sie ihre Nägel in dem aggressiven Dschungelrot, der aktuellen Modefarbe, lackiert hat, sie trägt außerdem ein aufwändig glitzerndes, die Oberfläche betonendes funkelndes Cape über einem weißen weiten Rock. Um den Ehemann zurück zu bekommen, muss und kann die Ehefrau temporär auch mit den Mitteln der Verführerin, der Hure, arbeiten und temporär ihre äußerlichen Effekte adaptieren. Während also die Frau aus der Oberschicht nur äußerlich in ihrer modischen Inszenierung wandelbarer wird, in der Tiefenstruktur aber ihre Heteronomie durch die Handlung befestigt wird, wird die Frau aus der Unterschicht zurück an ihren Platz verwiesen: “ Dann heißt es jetzt wohl für mich zurück an den Parfümstand und für Euch Ladies, gibt es ein Wort, das man hier auf der Park- Avenue-Seite nicht benutzt ” . 5 Abwertung von Mode: Das Beispiel Prêt-à-Porter Wo Cukors The Women mit Hilfe selbstreflexiver Verfahren letztlich ein negatives Bild der Frau als dekoratives Nichts auf der Folie der Bedeutung von der Mode als dekoratives Nichts aufbaut, da vermittelt Robert Altmans Prêt-à-Porter (USA 1994) im Short-Cuts-Erzählmodell 22 in verschiedenen, alternierenden Handlungssträngen, die lose durch situationelles Geschehen miteinander verbunden sind, vor allem drei Paradigmen, die in der dargestellten Welt mit Mode verknüpft werden: (i) In der Modewelt ist alles nur oberflächlicher Schein, unter der Oberfläche ist immer alles ganz anders, meist genau oppositionell. Mode hat hier keine Bedeutung mit eigenem Wert, sondern immer nur die Bedeutung der Verschleierung und Maskierung. (ii) Männer und Frauen können mit- und untereinander nur rein sexuelle Beziehungen führen, eine dauerhafte Bindung zwischen den voneinander isolierten Menschen gibt es weder im erotischen, noch im familiären oder in einem freundschaftlichen oder beruflichen Verbund. (iii) Medien können - bis auf eine signifikante Ausnahme am Ende des Films unter bestimmten Bedingungen - nur vorgegebene Bildwelten immer wieder kopieren und recyceln. Die Behauptung der Reporterin Kitty Potter (Kim Basinger) - die im losen Handlungsrahmen des Films von den mit Filmeinsatz beginnenden Pariser 22 Vgl. dazu Nies 2007. Textile Texte 69 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [69] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Prêt-à-porter-Schauen für den fiktiven Sender Fad-TV im Einzelnen berichtet - , dass die einzige Regel der Mode sei, dass es keine gäbe, stimmt damit nur insofern, als das dass alle Handlungsfäden in groteske oder absurde Situationen überführt werden. 23 Es gilt aber die Regel der sukzessiven (Selbst-) Entlarvung der Scheinwelt der Mode, welche die Filmkamera zunächst für den Zuschauer nur scheinbar und assoziativ dokumentiert; in die fiktionalen Spielhandlungen sind Aufnahmen authentischer Prêt-à-porter-Schauen von Parier Modeschöpfern aus dem Jahr 1993 einmontiert worden. Die zahlreichen ineinander verwobenen Handlungsfäden des Films gipfeln am Schluss in folgendem Geschehen: Die Modeschöpferin Simone Lowenthal (Anouk Aimée), die von ihrem eigenen Sohn (Rupert Everett) an die geschmacklose amerikanische Modebranche ausverkauft wurde, rebelliert symbolisch gegen den Verkauf ihrer Marke “ Simone Lo! ” und das drohende Diktat des neuen Besitzers (Lyle Lovett). Dieser verlangt, dass die Models bei der Schau von Simone Lo! s Kollektion buntfarbige Westernstiefel zu ihrer elegantfemininen Mode in gedeckten Tönen auf der Bühne tragen sollen. Simone wehrt sich, indem sie in ihrer Prêt-à-porter-Schau die Models nackt auftreten lässt, ohne Stiefel und ohne Mode. Dabei schreiten die Models extrem langsam den Laufsteg entlang und zwar in einem perfekten Laufsteg-Gang, so als würden sie Kleider präsentieren. Krönung dieser Schau ist dann das nackte Top-Model Albertine (Ute Lemper) als Braut mit Schleier und Blumenstrauß, das aufgrund seiner weit fortgeschrittenen Schwangerschaft vorher kein Booking bekommen hatte (Wie ein - selbstverständlich heimlich schwuler - Modeschöpfer es ausdrückt: “ Meine Silhouette ist diese Saison so gar nicht schwanger! ” ). Deutlich erkennbar referiert der Film hier intertextuell zunächst auf Hans Christian Andersens Märchen von Des Kaisers neue Kleider: Zunächst wagt keiner diesen Look zu kommentieren. Als Mode erscheint ihr Fehlen, die absolute Nicht-Mode, die Negation von Mode, die allen an der Mode-Branche beteiligten Personen spiegelbildlich zeigt, wie - in der Logik des Films - eitel, verlogen und falsch, wie marginal Mode ist. Als neuer Look wird außerdem, wie Kitty das verwirrt kommentiert, der “ älteste Look ” der Welt präsentiert, der nackte (weibliche) Mensch als solches, die Frau, die in der Funktion der Reproduktion des Menschengeschlechtes gipfelt. Der Mensch in seiner anthropologischen, natürlichen Dimension, der die Kleidermode überwindet, der kommt in der Logik des Films niemals aus der Mode und muss manchmal wieder ins Gedächtnis gebracht werden. Damit etabliert der Film also eine Abwertung der Mode als Kulturprodukt zu Gunsten einer Naturalisierung und Aufwertung des Menschen in seiner biologischen, natürlich-anthropologischen Reproduktionsfunktion. In diesem Sinne kündigt Simone Lo! ihre Schau auch folgendermaßen an: “ Die Kollektion, die Sie gleich sehen werden, entspricht zwei Jahrzehnten einer aufstrebenden Vision: Für mich schließt sich ein Kreis: Etwas Neues beginnt! Etwas Neues … Neues … Neues …” Der Kreis, der geschlossen wird, ist die Rückkehr des Menschen zu einer Welt vor der Mode, die hier zirkulär-paradox als Neuanfang der Mode gesetzt wird. Dementsprechend scheitert dann Kitty als Modereporterin schließlich auch daran, diesen Look zu Ende zu kommentieren und gibt auf. Sie verlässt die Fernsehproduktion und drückt ihrer 23 Vgl. zur Groteske bei Altman June Werrett: Making the Old New Again: Robert Altman ’ s Pret-a-porter. unter http: / / www.thefilmjournal.com/ issue7/ altman.html. 70 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [70] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Assistentin, die immer ihre Texte geschrieben und diese auf Papptafeln hoch gehalten hat, das Mikrofon in die Hand. Auch Kitty plagiiert also etwas, was ihr von jemand anderen medial vorproduziert wurde, wie alle Figuren im Film, zumal die vorgeführten Journalisten. Kittys Assistentin ergreift nun ihre Chance und kommentiert ungefiltert und nicht vorproduziert vor laufender Kamera, 24 dass Simone Lo! ’ s Schau eine Aussage macht, die die Mode für Jahrzehnte beeinflussen wird, weil sie in erster Linie die Frauen in der ganzen Welt angesprochen hat, um “ Ihnen nicht zu erzählen, was sie tragen sollen, sondern wie sie darüber nachdenken sollen, was sie von der Mode erwarten und brauchen. ” Dieser Kommentar wird direkt in die Kamera des Fernsehsenders von Fad-TV gesprochen, aber diesmal nicht wie sonst als Videobild mit der üblichen Rasterung oder aber aus einer achsenverschobenen Perspektive gezeigt. Vielmehr schaut hier die Filmkamera direkt an Stelle der Fernesehkamera in der Diegese auf die kommentierende Assistentin und dann mit der Fernsehkamera direkt auf das als Gruppenbild inszenierte Schlusstableau der nackten Models und der nackten Modeschöpferin hinter einer Glaswand, das durch einen aufgezogenen Vorhang enthüllt wird (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Schlusstableau der Modenschau von Simone Lo! in Robert Altmans Prêt-A-Porter (USA 1994) (eigener Screenshot) Hier formuliert die Assistentin also eine Position, die die ansonsten scheinbar neutrale Erzählinstanz direkt an uns Zuschauer weiter vermittelt. Durch die direkte Adressierung des Filmzuschauers durch die Fernsehkamera wird der Filmzuschauer als Figur in die Diegese inkorporiert. Der so in das Filmgeschehen inkorporierte Zuschauer schaut innerhalb der Diegese wieder nur auf ein verdichtetes, inszeniertes Bild, das enthüllte Gruppenbild der Models hinter der Glaswand. Es liegt nahe, hier eine Spiegelung des Gesamtfilms Mise-en-abyme in die Diegese des Films und damit in dieser Sequenz die 24 Ihr “ On y va? ” im Sinne der Frage “ Kamera läuft? ” ist auch ein deiktischer Index, dass das, was jetzt kommt, live aufgezeichnet und authentisch im Hier und Jetzt spontan und gerade nicht vorproduziert präsentiert und dokumentiert wird. Textile Texte 71 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [71] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL explizit verbalisierte Position des Films zur Mode, die Moral des bisher emblematisch verschlungenen visualisierten Filmganzen zu sehen: Nacktheit soll in der Besinnung auf den menschlichen weiblichen Körper in seiner biologischen Reproduktionsfunktion der Modus sein, in dem die Frauen über Mode reflektieren sollen und dieser Modus der Reflexion auf einer als anthropologisch-natürlich postulierten Basis ist auch der Modus der filmischen Reflexion Altmans über Mode: Von Mode soll als unwichtig abgesehen werden. Und damit schließt sich tatsächlich auch formal ein Kreis, nämlich der des filmischen Syntagmas selbst: Die allererste Modenschau, die der Film zeigt, ist eine Schau für Hundemoden, wo Besitzer ihre Hunde vermenschlichen und in Kleidung gezwängt haben. Vom Ende des Films aus erscheint diese Hundemodenschau damit nicht nur als Perversion von Mode, sondern Mode und die Modeindustrie, die sie hervorbringt, erscheinen als Perversion von Kleidung, die sich an den natürlichen Bedürfnissen des Menschen orientieren soll. 25 Aus dieser Perspektive erstaunt es nicht, dass Altmans Prêt-à-Porter wegen seiner Konzentration auf die Scheinwelt der Mode hier dominant nur mehr oder weniger scheiternde Lebensläufe von Frauen vorführt, sieht man einmal von Albertine ab, die als schwangeres Model einen Widerspruch im System darstellt, der nur in der subversiven Rebellion Simone Lo! ’ s auf den Laufsteg gelangt und damit als Ausnahme die Regel bestätigt, dass Frauen in der Modebranche unglücklich werden: Die Journalistin Anne ( Julia Roberts) streitet ab, eine emotionale Beziehung mit ihrem Kollegen Flynn (Tim Robbins) führen zu wollen, ihre emotionalen Reaktionen indizieren aber das genaue Gegenteil; Isabella (Sophia Loren) ist zwar eine Stil-bewusste Diva in Dior, aber einsam und erotisch unbefriedigt und unglücklich; Kitty wirft verzweifelt ihren Job hin, weil sie öffentlich eingesteht, die Mode nicht zu verstehen. Die Schlussbilder des Films verstärken und verbinden dabei metaphorisch die zentralen Botschaften des Films: Während Olivier de La Fontaine, Isabellas zu Beginn des Films verstorbener Mann, zu Grabe getragen wird, fotografiert Milo O ’ Brannigan (Stephen Rea), der führende Modefotograf, nackte Babys auf einer Wolldecke bei Sonnenschein in einem Park vor eine schwarz/ weißen Trussardi-Reklame, auf der die Oberkörper eines Mannes und einer Frau scheinbar ganz unbekleidet unter dem Slogan “ Get Real! ” zu sehen sind. Zwischen Geburt und Tod, so die emblematische Bedeutung des Schlusstableaus an dieser Stelle, sollen sich die Menschen auf das Wesentliche und damit gerade nicht auf Mode besinnen. 26 25 Damit semantisiert die Hundemodenschau am Anfang in Altmans Film 1993 Mode als Narrheit, die den Menschen ins tierisch Lächerliche zieht. Eine Semantik, die vergleichbar mit der Semantik der Mode in The Women 1939 ist, wo der Film mit der Karikierung der Figuren durch emblematische Tiereigenschaften beginnt. 26 Damit immunisiert Altman seine filmisch konstruierte Abwertung der Mode nach außen hin, denn die in der Diegese parallel zur Spielfilmhandlung dokumentierte reale Werbekampgange vermittelt ja, dass mit Trussardi ein Vertreter der Modebranche selbst Altmans Position der Abwertung von Mode zu Gunsten eines Aufrufes zu menschlicher Authentizität jenseits von Kleidung vertritt. 72 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [72] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 6 Resümee: Funktionen selbstreflexiv thematisierter Frauenmode im Film Altmans Prêt-à-Porter markiert systemisch eine extreme Abwertung von Mode, die auf einer Opposition beruht, die auf alle hier untersuchten Beispiele zutrifft: Kleidung dient wie jedes andere filmische Zeichen in der Mise-en-scène dem filmspezifischen Bedeutungsaufbau. Mode ist dagegen filmintern immer mehr oder weniger explizit ein substanzielles Nichts, die Vorgaukelung von Substanz, wo keine vorhanden ist. Modische Kleidung im Film weist damit funktional eine Paradoxie auf, denn sie vermag einerseits eine Naturalisierung weiblicher Initiationsverläufe vorzunehmen und damit gleichzeitig soziale (Rollen-) Zeichen als Zeichen personaler Identität zu kodieren. Zugleich dient explizit thematische Mode immer als vom Film inszeniertes ästhetisches Zeichen dazu, Weiblichkeitsvorstellungen symbolisch zu formatieren. Diese Weiblichkeitsvorstellung kann dann im einen Extremfall wie in Cukors The Women so aussehen, dass die Frau als substanzielles Nichts, das keinen eigenen Wert außerhalb ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter hat, im substanziellen Nichts der Mode aufgehen kann: Die Frau ist dekorativ heraus geputzte Oberfläche für den Mann und auf ihn als Sinn gebendes Zentrum bezogen. Die Verkleidung der Heteronomie der Frau durch Mode entspricht ihrer Natur als den Mann kleidendes Schmuckstück. Die Irrealität, der Schein, der artifizielle Imaginationsraum der Mode wird von der Frau selbst als ihr eigenes Wesen inszeniert. Im anderen Extremfall kann dann so wie in Altmans Prêt-à-Porter eine anthropologische, natürlich auf biologische Reproduktion ausgerichtete Weiblichkeit als ästhetisches Gegenmodell zur Mode entworfen werden: Die entkleidete Frau bekleidet keine rein modische Rolle mehr, sondern hebt die unnatürliche Entfremdung der Frau durch Mode auf, indem sie sich auf ihre natürliche Rolle als Mutter besinnt. Beide Positionen eint jedoch, dass sie bei ganz unterschiedlichen ästhetischen Formatierungen von Weiblichkeit mittels Mode eine ähnliche ideale Rollenvorstellung der Frau und das auch noch durch die Filmgeschichte hindurch mit immerhin knapp unter 60 Jahren Distanz formatieren. Oberflächlich mögen sich die Moden visuell geändert und auch maximal gewandelt haben, unter der Oberfläche erweist sich dagegen Mode als fest gefügter, abstrakter Konnotationsraum, wie gerade die unter Abschnitt 3 behandelten Beispiele zeigen: Mode ist in ihrer extremen Form als Industrie, Haute Couture oder in ihrer Vermarktung immer Maskerade. Wer sich an die Mode als High-Fashion und um ihrer selbst Willen verliert, dem droht der Selbstverlust. Eine solche normative Abgrenzung von Mode kann dabei mehrere Funktionen haben: Die Filme orientieren sich modisch und ideologisch auf ein kulturelles Mittelmaß, um durch die Ausgrenzung extremer modischer und ideologischer Ränder den kulturell gewünschten Normalfall der weiblichen Rolle vorzuführen: (i) Die Frau als hübsche aber nicht hypermodische Gefährtin des Mannes. (ii) Auf diese Weise geben die Filme auch visuell Orientierungshilfe. Sie ermöglichen das ideologisch und modisch Fremde und Abweichende sichtbar zu machen, es zu erkennen, zu markieren und abzuwehren. (iii) Damit wehren die Filme eine Konzeption von Mode als Wert um ihrer selbst willen ab und legen nahe, dass es gerade das potenziell Unfunktionale der Mode ist, was kulturell als Bedrohung empfunden wird. Modische Kleidung ist, mit Barthes 1985 gesprochen, semantisch gesehen Textile Texte 73 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [73] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL bis auf die Bedeutung leer, dass sie modisch ist. Dass sie modisch ist, ist wiederum eine willkürliche Setzung und nicht aus der Mode als solcher heraus wesensmäßig ableitbar. Indem die Filme visuell und ideologisch klare Orientierungen vorgeben, können sie der Mode über diese minimale Bedeutung hinaus auf der Folie des kulturellen Normalfalles als Abweichung ex negativo Bedeutung und Sinn geben. Auf diese Weise wird die Komplexität der sich saisonal jedes Jahr ändernden Mode sinnhaft in den Filmen reduziert, denn Mode ist gerade nicht in ihrer oberflächlichen visuellen Varianz, sondern ihrer konstanten abstrakten Funktion als Maskerade von Bedeutung, von der sich die Frau verführen lässt, um sich dann in der Abgrenzung von der Mode als Person selbst zu finden und als Frau zu definieren. Bibliographie Barthes, Roland 1985: Die Sprache der Mode, Frankfurt a. Main: Suhrkamp [zuerst als: Système de la Mode, Paris: Edition Seuil 1967] Berger, Beate 2004: Bikini - eine Enthüllungsgeschichte, Hamburg: marebuchverlag Buovolo, Marisa 2006: “ Untrennbare Einheit? - Die Femme Fatale und das ‘ Kleine Schwarze ’” , in: Film- Dienst 3 (2006): 24 - 26 Clarke Keogh, Pamela 2000: Audrey Style, München: Schirmer und Mosel Decker, Jan-Oliver (ed.) 2007: Erzählstile in Literatur und Film (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica, 30.1 - 2 (2007)), Tübingen: Narr Dyer, Richard 1993 a: “ White ” . 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SL Filmografie Breakfast at Tiffany ’ s (Frühstück bei Tiffany, USA 1961, Blake Edwards) The Devil Wears Prada (Der Teufel trägt Prada, USA 2006, David Frankel) Funny Face (Ein süßer Fratz, USA 1957, Stanley Donen) Gentlemen Prefer Blondes (Blondinen bevorzugt, USA 1953, Howard Hawks) The Gold Diggers (USA 1923, Harry Beaumont), Gold Diggers of Broadway (USA 1929, Roy del Ruth) Gold Diggers of 1933 (USA 1933, Mervyn LeRoy) Gone With the Wind (USA 1939, Victor Fleming) Metropolis (D 1925/ 26, Fritz Lang) Morocco (USA 1930, Josef von Sternberg) Ninotchka (USA 1939, Ernst Lubitsch) The Opposite Sex (Das schwache Geschlecht, USA 1956, David Miller) Prêt-à-Porter (USA 1994, Robert Altman) The Princess Diaries (Plötzlich Prinzessin, USA 2001, Garry Marshall) Roman Holiday (Ein Herz und eine Krone, USA 1953, William Wyler) Rosemary ’ s Baby (USA 1968, Roman Polanski) Sabrina (USA 1954, Billy Wilder) Sex & the City (USA, HBO 1998 - 2004, David Frankel) Silk Stockings (USA 1957, Rouben Mamoulian) The Wizard of Oz (USA 1939, Victor Fleming) The Women (Die Frauen, USA 1939, George Cukor) The Women (Die Frauen, USA 2008, Diane English) Textile Texte 75 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [75] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch Benjamin Weiß (Bonn) Naked Lunch (Canada/ UK 1991, David Cronenberg) is a film based on William S. Burroughs ’ infamous novel of the same title as well as on factual events of Burroughs ’ life around the time of the creation of the novel. It serves as an example for self-reflective narration on at least two levels. On one more obvious level the narration focuses on the process of artistic expression through writing. One another level the process of narration itself is reflected by the film ’ s specific narrative strategies. This paper tries to show how these specific strategies (a major one is the transgression of the boundaries between different narrative levels) are used to construct or de-construct certain concepts of authorship represented by the film ’ s artist-hero. Cronenberg ’ s film thus develops its own position towards artistic production and to the process of creating art. Certain theoretical concepts on authorship as well as basic knowledge about William S. Burroughs ’ life and literary themes (sexuality, drug abuse, paranoia) are essential for this analysis. As a result it can be said that authorship in Naked Lunch is shown as necessarily coming with destruction of self and others. Writing is described as work which derives from complex inner processes and physical experiences - both in some way drug related - rather than from intellectual reflection and rational thought. 1 Einleitung - Der Autor auf der Leinwand Für den kanadischen Regisseur David Cronenberg - dessen Kino sich durch die fortwährende Darstellung des Monströsen, des Körperhorrors, des ‘ Abartigen ’ auszeichnet - scheinen Schriftsteller und ihreTätigkeit im Grunde nicht von besonderem Interesse zu sein (cf. Browning 2007: 121): “ The act of writing is not very interesting cinematically [ … ] It ’ s an interior act ” . Mit seiner hybriden Verfilmung des Romans Naked Lunch des US-amerikanischen Schriftstellers William S. Burroughs, zugleich als Literaturverfilmung und als Künstlerbiographie des Autors, wählte Cronenberg folglich einen anderen Fokus und suchte die Herausforderung: Naked Lunch galt lange Jahre als unverfilmbar. David Cronenberg sagte selbst, wollte man das Buch originalgetreu verfilmen, würde das 400 bis 500 Millionen US-Dollar kosten und das Resultat wäre in jedem Land der Welt verboten (cf. Beard 1996: 823). Der Roman war eines der letzten Literaturerzeugnisse, das sich wegen Obszönität vor Gericht verantworten musste (cf. Drews/ Stein 2010). Burroughs selbst Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [76] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL unterstützte dann Anfang der 1990er selber die Adaption seines Kulturomans durch den Kanadier David Cronenberg, 1 der sich in den 1970er und 1980 erst durch Horrorfilme (Scanners, Kanada 1981; The Fly, USA 1986; Dead Ringers, Die Unzertrennlichen, Kanada/ USA 1988) einen Namen gemacht hatte. Cronenberg hat William S. Burroughs in Interviews zu seinem Werk dabei immer wieder als wichtigen Einfluss auf sein bisheriges künstlerisches Schaffen angegeben (cf. Beard 1996: 822). Burroughs hatte nun wie nur wenige Autoren maßgeblichen Einfluss nicht nur auf Cronenberg, sondern auf die amerikanische Gegenkultur und wurde durch seinen Drogenkonsum und den offenen Umgang mit seiner Homosexualität skandalisiert. Nicht nur das Werk, auch der Autor und sein Image sind populärkulturelle Größen. Cronenberg verschmilzt nun in seiner Verfilmung Motive des Romans Naked Lunch mit Motiven und anderer Texte von Burroughs und mit biografischen Anspielungen auf den Autor William S. Burroughs, sodass seine Verfilmung von Naked Lunch zugleich auch eine Reflexion über Burroughs als Künstler ist. Diesen beiden Semantiken möchten die folgenden Ausführungen durch Rekonstruktion der filmischen Erzählebenen nachgehen. 2 Die Vermischung der Erzählebenen im Film Naked Lunch Der Film Naked Lunch bedient sich besonderer erzählerischer und ästhetischer Strategien, mit deren Hilfe bestimmte Konzeptionen von Autorschaft und des kreativen Prozesses verhandelt werden. Es fällt auf, dass die Erzählebenen in Cronenbergs Film Naked Lunch in der Forschung bisher nicht auf ihre mögliche metaleptische Strukur hin untersucht wurden. Auch sehr ausführliche Analysen des Filmes gehen praktisch kaum auf die narrative Struktur des Filmes ein. Aber wie schon bei David Cronenbergs Videodrome (Kanada 1983) vermischen sich auch in Naked Lunch an unterschiedlichen Stellen die Erzählebenen. Es scheint deshalb notwendig, in einem ersten Schritt aus narratologischer Perspektive kurz auf die im Film in diesem Kontext wichtigen Grundlagen für die Analyse der Erzählebenen und einer möglichen Überschreitung dieser Erzählebenen (narrativer Kurzschluss oder Metalepse) einzugehen. 2.1 Vorbemerkung: Narrative Kurzschlüsse/ Metalepsen in Literatur und Film Ein Erzähltext kann sich bekanntermaßen aus mehreren diegetischen Ebenen aufbauen. Kurz seien hier die Genetteschen Kategorien noch mal in Erinnerung gerufen, die durch Grimm 1996 und abgewandelt durch Kuhn 2011 von der Literatur in die Filmwissenschaft übertragen wurden. Die Diegese bezeichnet mit Genette “ das raumzeitliche Universum der Erzählung ” (cf. Genette 1998: 313). Die erste Instanz, welche die Rahmenerzählung hervorbringt, ist immer extradiegetisch, sprich die Erzählinstanz ist außerhalb der erzählten Geschichte angesiedelt (cf. Genette 1998: 163 f.). Wird innerhalb dieser Rahmenerzählung, also innerhalb der Diegese eine weitere Erzählung hervorgebracht, erfolgt dieser Erzählakt auf einer Ebene, 1 Zu der den Filmstart begleitenden Publikation Everything is permitted. The Making of Naked Lunch schrieb Burroughs selber das Vorwort und berichtet über die Entwicklung des Films, die von gegenseitigem Respekt zwischen Autor und Filmemachern geprägt gewesen sein soll (cf. Burroughs 1992: 15). Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 77 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [77] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL die innerhalb der Diegese liegt. Wird in der Erzählung auf der 1. Stufe (extradiegetische Rahmenhandlung) beispielsweise von einer Figur erzählt, die wiederum eine Geschichte erzählt, haben wir es mit einer Erzählung 2. Stufe zu tun (intradiegetische Binnenerzählung), für die gilt, dass “ der Narrationsakt, der sie hervorbringt, ein Ergebnis ist, von dem in der ersten erzählt wird ” (Genette 1998: 163). Auf jeder Ebene können nun neue Erzählebenen eröffnet werden, die sich hierarchisch zueinander verhalten. In die 2. Stufe, die intradiegetische Ebene (erzähltes Erzählen), kann eine Erzählung 3. Stufe eingebettet sein, die Genette metadiegetisch 2 nennt (cf. Genette 1998: 165) (erzähltes erzähltes Erzählen, cf. Martinez und Scheffel 2005: 76). In vielen Erzähltexten sind diese Erzählebenen klar getrennt. Die Erzählebenen können sich allerdings auch gegenseitig durchdringen oder vermischen. In diesem Fall spricht man von einem narrativen Kurzschluss oder einer Metalepse. Ein solcher Kurzschluss kann sich zwischen allen Erzählebenen finden, das heißt, horizontal zwischen zwei gleichrangigen oder vertikal zwischen zwei hierarchisch angeordneten Erzählebenen vorliegen (cf. Genette 1998: 169). Bei einem solchen narrativen Kurzschluss wird dabei die Grenze zwischen der Welt des Erzählens und der erzählten Welt überschritten (cf. Martinez und Scheffel 2005: 79). Eine spezielle Form dieser Grenzüberschreitung stellt dabei die Mise-en-abyme dar, bei der sich Rahmen- und Binnengeschichte gegenseitig zu enthalten scheinen und eine Unterscheidung, welche Erzählebene die andere hervorbringt, nicht mehr möglich ist (cf. Martinez und Scheffel 2005: 79). 3 2.2 Wiederholungsmuster in der Handlung Auffällig sind in der verworrenen und absurden Filmhandlung eine ganze Reihe von Wiederholungsbeziehungen, die mit Hilfe von zwei sich ähnelnden Handlungen um die durch Drogenkonsum ausgelöste Ermordung der Ehefrau/ Geliebten eines Schriftstellers aufgebaut werden. Naked Lunch erzählt in einem ersten Handlungsabschnitt die Geschichte von William Lee 4 (oder kurz Bill Lee), einem Mann mit Drogenvergangenheit, der in New York City im Jahr 1953 sein Geld als Kammerjäger verdient. Seine Anstellung wird dadurch bedroht, dass seine Ehefrau Joan ihm große Mengen seines Wanzenpulvers stiehlt um es sich zu injizieren. Er selbst beginnt damit, den Stoff als Droge zu missbrauchen. Schließlich wird er von den Polizisten Hauser und O ’ Brian festgenommen, in deren Verhörzimmer er eine Unterhaltung mit einer riesigen Wanze halluziniert, die Bill den Auftrag gibt seine Frau zu töten, da sie angeblich als Agentin für die Interzone Inc. arbeitet. Um sich und seine Frau von der Sucht nach dem Wanzenpulver zu kurieren, wendet er sich an Dr. Benway, der ihm als angebliches 2 Folgerichtiger wäre vielleicht die etwas sperrige Bezeichnung intra-intradiegetisch (cf. Decker 2006). 3 Die Metalepse lässt sich in relativ simpler Form etwa anhand von The Purple Rose of Cairo (USA 1985, Woody Allen) veranschaulichen. Dort betrachtet die Protagonisten des Films ihrerseits einen Film im Kino, dessen Protagonist ‘ aus der Leinwand tritt ’ und somit Teil der übergeordneten Rahmenhandlung wird. Somit vermischen sich die Erzählungen erster und zweiter Ebene. 4 Bevor später auf einige der zahlreichen Anspielungen auf Burroughs ’ Biografie kurz eingegangen wird, scheint es hier notwendig anzumerken, dass sich der Name William Lee gleich in doppelter Hinsicht auf William S. Burroughs bezieht: Zum einen veröffentlichte Burroughs seinen frühen Roman Junky ursprünglich unter dem Pseudonym William Lee, zum anderen tauchen Figuren mit diesem Namen in zahlreichen Werken Burroughs auf, darunter etwa Naked Lunch oder Nova Express (cf. Sargeant 2001: 212). 78 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [78] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Hilfsmittel ein Pulver aus dem “ schwarzem Fleisch ” eines Tausendfüßlers verabreicht. Kurz nachdem er seine Frau beim Ehebruch mit seinem Schriftstellerfreund Hank erwischt hat, sagt er zu Joan, es würde wieder Zeit für ihre “ Wilhelm-Tell-Nummer ” 5 , worauf hin sich diese ein Glas auf den Kopf stellt. Bei dem Versuch es ihr vom Kopf zu schießen, trifft er sie tödlich. Der zweite Handlungsabschnitt greift nun Motive des ersten Handlungsabschnitts auf und erzählt eine Variante der bisher erzählten Geschichte: In einer Bar trifft er kurz darauf den jungen Homosexuellen Kiki, der ihn mit einem Mugwump 6 bekannt macht, der ihm den Auftrag gibt, nach Interzone (einem Freihafen in Nordafrika 7 ) zu gehen, um dort als Agent zu arbeiten und “ Berichte ” abzufassen. Er trifft dort auf den US-amerikanischen Schriftsteller Tom Frost und seine Frau Joan, eine Reinkarnation seiner ermordeten Frau Joan Lee, mit der Bill eine Affäre beginnt. Joan Frost/ Lee wird allerdings ein Opfer der Haushälterin Fadela, die als die Schlüsselfigur im Drogenhandel mit dem “ schwarzen Fleisch ” in Interzone erscheint und die auch Joan Frost/ Lee in die Abhängigkeit zwingt. Bill Lee wird schließlich von seiner neuen Schreibmaschine (mit dem Aussehen eines Mugwumps) in einen Hinterhalt gelockt, bei dem sein junger Lover Kiki von dem Schweizer Dandy Cloquet geschändet und getötet wird. Er kann Joan Frost/ Lee am Ende in einer Drogenfabrik aufspüren, in der das extrem abhängig machende Mugwump-Sperma gewonnen wird. Schließlich stellt sich heraus, dass sich hinter Fadela eigentlich Dr. Benway verbirgt. Er bietet Bill an, für ihn zu arbeiten und für ihn in den Nachbarstaat Annexia zu gehen. Bill akzeptiert unter der Bedingung, dass er Joan Frost mitnehmen darf. Am Grenzübergang kommt es zur Wiederholung der “ Wilhelm-Tell-Nummer ” und wieder tötet Bill Joan durch einen Kopfschuss. Die Ermordung der Ehefrau/ Geliebten ist das zentrale Ereignis beider Filmhandlungen. 2.3 Erzählebenen und metaleptische Strukturen: Zum Verhältnis von Roman und Film Zu den beiden oben ausgeführten Handlungen, die um das erotische oder besser das Privatleben der Hauptfigur Bill arrangiert sind, wird im Film ein dritter Handlungsstrang durchgehend inszeniert, der sich um die Rolle Bills als Schriftseller und Künstler dreht und in folgender Szene kulminiert. 5 Im englischen Original “ William-Tell-Routine ” . Der Begriff der ‘ Routine ’ verweist auf ein angeblich von Allen Ginsberg betiteltes Prozedere zum Verfassen von Textfragmenten. “ Die Entwicklung dieser Routines - surreale, in alle Richtungen auf die Spitze getriebene Situationskomik - bildet einen absolut unentbehrlichen Schlüssel zu Burroughs ’ Schreibstil ” (cf. Miles 1993: 57). 6 Fantasiewesen, das auch im Roman Naked Lunch beschrieben wird (cf. Burroughs 2009: 68): “ Mugwumps haben keine Leber und ernähren sich ausschließlich von Süßigkeiten. Hinter ihren dünnen violetten Lippen verbirgt sich ein rasiermesserscharfer Schnabel aus schwarzem Knochen, mit dem sie sich in Kämpfen um ihre Kunden oft gegenseitig in Stücke reißen. Diese Kreaturen sondern aus ihrem erigierten Penis eine Flüssigkeit ab, die süchtig macht und lebensverlängernd wirkt, in dem sie den Stoffwechsel verlangsamt. ” Die Mugwumps im Film tragen im Vergleich hierzu penisartige Ausformungen am Kopf. 7 Der Name verweist auf die nordafrikanische Stadt Tanger im heutigen Marokko, die zwischen 1923 und 1956 als “ Internationale Zone Tanger ” unter der Verwaltung mehrerer internationaler Mächte stand und in der William S. Burroughs in den 1950er Jahren zeitweise lebte (cf. Miles 1993: 90 ff ). Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 79 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [79] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Nach knapp zwei Dritteln des Films sieht man, wie Bill Lee auf den in einem Beutel verpackten Resten seiner kaputten Schreibmaschine (der sich kurz darauf als Beutel voll Drogen herausstellen wird) am “ Strand ” von Interzone liegt. Dort treffen ihn seine New Yorker Schriftstellerfreunde Hank und Martin 8 , die ihn auffordern, das Buch, aus dem er ihnen Fragmente geschickt hat, weiter zu schreiben, da angeblich sogar Martins Verleger daran interessiert wäre. 9 Bill bestreitet jede Kenntnis über einen von ihm verfassten Roman, hat er doch bisher nur “ Berichte ” für seine Auftraggeber verfasst. “ Ein Buch? Mein Buch? ” , fragt er überrascht, worauf Hank entgegnet: “ Ja, das was du ‘ Naked Lunch ’ nennst ” (cf. Naked Lunch, 1: 13: 18 − 1: 13: 22) 10 . Nach einem Schnitt sitzen die drei in Bills Wohnung und sehen das mit Blutflecken besudelte Manuskript, das nur aus losen Seiten besteht, durch. Bill sagt: “ Soll ich euch was sagen, Jungs? Die Seiten hab ich noch nie gesehen. Ich schätze, dass das ein verdammt mieser Schwindel ist ” (cf. Naked Lunch, 1: 13: 37 - 1: 13: 46). Bill glaubt eher an ein Komplott, seine Freunde meinen, er solle das Manuskript unter seinem Namen veröffentlichen, selbst, wenn es nicht von ihm sei. Im Anschluss rezitiert Hank folgenden Auszug aus dem Roman Naked Lunch: 11 [ … ] und machen uns auf nach New Orleans, vorbei an buntschillernden Seen und orangefarbenen Gasfackeln, Sümpfen und Müllhalden und Alligatoren, die zwischen zerbrochenen Flaschen und Konservendosen herumkriechen, an Neon-Arabesken von Motels und auf Inseln von Müll gestrandeten Zuhältern, die vorbeifahrenden Autos Flüche hinterherbrüllen. (Burroughs 2009: 24) Diese Textstelle hat mit der eigentlichen Handlung des Filmes ebenso wenig zu tun wie der an anderer Stelle angesprochene “ Bradley, der Käufer ” . Handlungslogisch erlebt der Zuschauer hier einen weiteren Bruch in der Handlungskontinuität. Dieser Bruch der Handlungskontinuität verweist aber zugleich durch das Zitat aus dem realen Roman Naked Lunch als im Film Naked Lunch entstandener Roman auf die filmexterne literarische Wirklichkeit. Hier macht der Film deutlich, dass er sich auch als die fiktive Entstehungsgeschichte des real existierenden Romans Naked Lunch begreift. Bei dem im Film auftauchenden Romanfragment handelt es sich nun zweifellos um eine (mit Genette gesprochen) intradiegetische Erzählebene, die innerhalb der extradiegetischen Rahmenhandlung (die Geschehnisse in New York und Interzone) situiert ist. Da der Film ja aber auch die Verfilmung dieses Romans ist, taucht hier die filmexterne Vorlage als intradiegetische Ebene auf, die auch die extradiegtische Eben des Films umfasst, der diese Vorlage insgesamt verfilmt. Auch wenn Cronenbergs Naked Lunch damit sicher kein idealtypisches Beispiel für eine Metalepse und eine Mise-en-abyme ist, kann hier sicher von der Vermischung der Erzählebenen gesprochen werden. Dabei kann zusätzlich argumentiert 8 Die realen Vorbilder für Hank und Martin sind unschwer als die Schriftsteller Jack Kerouac und Allen Ginsberg zu identifizieren. 9 Das Ganze ist eine Anspielung auf die reale Rolle Allen Ginsberg bei der Veröffentlichung des Romans Naked Lunch: Ginsberg hat nicht nur die Fragmente des Romans zusammengestellt, sondern Teile davon auch in Zeitschriften untergebracht und an Verleger geschickt. Zur Rolle von Ginsberg und Kerouac bei der Entstehung von Naked Lunch (cf. Miles & Grauerholz 2009: 307 - 325). 10 Hier wie im Folgenden wird die Laufzeitangabe nach der deutschen DVD-Veröffentlichung von Kinowelt/ Arthaus aus dem Jahr 2009 in Stunden: Minuten: Sekunden angegeben. 11 Die deutsche Synchronisation des Films ist leicht abweichend von der deutschen Übersetzung von Burroughs Roman. 80 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [80] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL werden, dass Naked Lunch neben der fiktiven Werkgeschichte des Ursprungsromans auch, die Geschichte einer Figur ist (intradiegetische Ebene), die einen Roman schreibt, an dessen Handlung (intra-intradiegetische Ebene) die Figur selbst an manchen Stellen teilhat oder die Teilhabe halluziniert. Demzufolge wäre auch in der filmischen Diegese noch eine weitere Vermischung der narrativen Ebenen in den Film hinein gegeben. Riepe deutet diese Vermischung mit Bezug auf die visuelle Darstellung des Films psychoanalytisch: Mittels einer eigens entworfenen Bilder-Grammatik visualisiert er [David Cronenberg; BW] dabei Lacans Diktum, nach dem das Unbewußte strukturiert ist wie eine Sprache. So gelingt es Cronenberg, plausibel zu machen, dass Bill Lee den ihm vorgelesenen Text tatsächlich nicht kennen kann, weil dieser Text im Sinne des Freudschen ‘ Primärprozesses ’ das ausdrückt, was Lee in diesem Moment, in diesem Film, erlebt. Schreiben und Erleben fallen halluzinativ zusammen. (Riepe 2002: 131 f.) Wenn jetzt nun Schreiben und Erleben halluzinativ zusammenfallen, ist eine klare Trennung der Erzählebenen nicht mehr möglich. Was Teil des Romans im Film (also der intra-intradiegetischen Ebene) ist und was Teil der im Film vorgeführten Geschichte (also der intradiegetischen Ebene) um William Lee, den Schriftsteller und Agenten, wird vom Film verunklärt. Beide Ebenen beziehen sich in jedem Fall aufeinander und es gibt keine logische Auflösung, die den Status des Erzählten zweifelsfrei klären würde. Es bleibt also unklar, ob die “ Berichte ” , die Bill getippt hat, real oder Teil dessen geworden sind, was Hank und Martin als Naked Lunch identifizieren. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sehen nicht, dass der Protagonist überhaupt irgendetwas schreibt, was später in seinem Buchmanuskript auftaucht, dennoch ist das, was er in Interzone halluziniert, durch Aspekte des Romans geprägt, dessen Autor er sein soll, ohne selber dessen Zeilen zu kennen. Ebenso wenig ist klar, was subjektiv ist und was objektiv, was halluziniert ist und was nicht. Mit Sicherheit verfügt der Film auch nicht über eine allwissende Erzählinstanz (cf. Browning: 124). Zudem existiert der Text, den die beiden Schriftstellerfreunde ihm als Naked Lunch präsentieren und der fraglos das real existierende Buch des empirischen Autors William S. Burroughs sein soll, das der fiktive Autor William Lee in der fiktiven Filmhandlung Naked Lunch geschrieben hat, schon vor seiner Präsentation in der genannten Szene des Films. Schon in New York City rezitiert Martin, während Hank mit Bills Frau schläft, eine Passage aus Naked Lunch. 12 Bill selber rezitiert im Laufe des Filmes an einigen Stellen Romanpassagen (wobei dort an keiner Stelle die Herkunft der rezitierten Stellen fällt). Der Roman Naked Lunch scheint im Film somit zeitlich unabhängig von der Handlung zu existieren, was für die paradoxe Situation sorgt, dass der Film von einem Roman handelt, der erst entsteht, aber gleichzeitig auch bereits existiert. Daraus lässt sich folgern, dass der Roman Teil der 12 Es handelt sich um Teile der folgenden Passage (cf. Burroughs 2009: 67 f.): “ Jünger längst vergessener und nicht mehr vorstellbarer Berufe, die auf Etruskisch vor sich hin kritzeln, Junkies, süchtig nach Drogen die erst noch erfunden werden müssen, Schwarzmarkthändler des Dritten Weltkriegs, Skalpellkünstler, die telepathische Anlagen einfach wegschneiden, [ … ], Amtsträger noch nicht errichteter Polizeistaaten, Makler exquisiter Träume und Erinnerungen, getestet an sensibilisierten Zellen suchtkranker Junkies und eingetauscht gegen den Rohstoff des Willens, Säufer des Starken Saftes, eingeschlossen im durchscheinenden Bernstein der Träume. ” Die deutsche Synchronisation ist wiederum abweichend von der deutschen Romanübersetzung. Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 81 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [81] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Welt ist, in der er geschrieben wird, allerdings erst konkrete Ausmaße (in Form eines Manuskripts) durch die halluzinierte Flucht nach Interzone annimmt, der die Tötung von Bills Frau Joan vorausgeht. Die vor der Handlung im Film liegende, diegetische Existenz des Romans zeigt sich auch darin, dass aus Burroughs Roman nicht nur mündlich durch Figuren Passagen wiedergegeben werden, sondern der Roman auch visuell metaphorisch impliziert wird, bevor er und dann später Teil der (Interzone-)Handlung wird. Nachdem Bill beim Pfandleiher seine Pistole gegen eine Schreibmaschine versetzt hat, wird an die Stelle der Schreibmaschine eine Figur gestellt, die einen Mugwump zeigt, der einen Gehängten schändet. Diese Schaufensterauslage verweist zunächst auf zahlreiche “ Hanging Routines ” in Burroughs Werk. 13 Ganz speziell bezieht sie sich wohl auf das Kapitel “ Hassans Spielzimmer ” (im Original “ Hassan ’ s Rumpus Room ” ) im Roman Naked Lunch, in dem ein Mugwump einen Jüngling schändet und tötet (cf. Burroughs 2009: 92 f.). Martin erwähnt im Film nun den Namen des Kapitels gegenüber Bill, die Figur im Schaufenster wird sozusagen sprachlicher Text. In der Filmerzählung ist die Schaufensterauslage, die auf “ Hassans Spielzimmer ” (und anderer solcher Szenen) anspielt auch eine Vorausdeutung auf ein späteres Ereignis, in dem Bill mit ansehen muss (oder halluziniert mit ansehen zu müssen), wie Kiki von einer Mutation Cloquets in einem Papageienkäfig geschändet wird. Auch hier zeigt sich wieder das Prinzip der Spiegelung und Wiederholung in der Diegese, das auch schon die Handlung strukturiert hat. 3 Die (De-)Konstruktion von Autorschaft An die Strategie des Films, die Ebene des fiktiven Romans im Film und die Ebene der filmischen Rahmenhandlung zu vermischen, lagern sich viele weitere Aspekte und Bedeutungen an, von denen das Konzept von Autorschaft und damit verbunden das Konzept des kreativen künstlerischen Prozesses die wichtigsten sind. Beide werden im Film Naked Lunch zusätzlich noch an Kontexte wie Drogensucht, Paranoia, Sexualität und Gewalt gebunden. Um die Argumentation vertiefen zu können, ist es in der Folge notwendig, den Begriff der Autorschaft etwas zu konkretisieren und einige Anmerkungen zu William S. Burroughs zu machen, die für den Zugang zur weiteren Analyse des Films Naked Lunch wichtig sind. Cronenberg selbst sagt, das Thema des Films sei “ der Schreibvorgang [ … ], der kreative Prozess und wie dieser sich auf das Leben bezieht ” (cf. Lindwedel 2011: 66). In zahlreichen Interpretationen wird dieser, vom Regisseur selbst stammenden, Lesart zugestimmt (cf. Beard 1996: 827, Hoberman 1992, Lindwedel 2001: 68 f.). Mit Manfred Riepe ist Cronenbergs Drehbuch zu Naked Lunch eine “ Deutung, die Burroughs ’ Biographie und Werk virtuell ineinander spiegelt ” (cf. Riepe 2002: 133). Mit Georg Seeßlen ist der Autor “ das Monster nicht als Schöpfer [ … ], sondern als Geschöpf seiner Schöpfungen [ … ] ” (cf. Seeßlen 1992), was bereits auf eine Vermischung der Erzählebenen - und die sich daraus ergebende 13 Diese Passagen handeln meist von jungen Männern, die gehängt werden und dabei unfreiwillig zum Orgasmus kommen und die dabei oft von als abstoßend beschriebenen Kreaturen geschändet werden (cf. Beard 2006: 297 f ). 82 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [82] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL “ Monstrosität ” , also etwas nicht mehr Handhabbares - hinweisen mag. Im Folgenden soll zunächst der Begriff des Autors kurz geklärt werden und mit welchen Ansätzen man das Verhältnis von Biografie, Werk und Rezeption für den Film Naked Lunch erläutern kann. Dabei werden auch das Image des Autors Burroughs und die biografischen Bezüge zu und innerhalb seines Werks kurz erörtert. 3.1 Strukturalistische Ansätze zur Theorie der Autorschaft Durch die Verschmelzung von Werk und (fiktiver) Autorenbiografie in der handlung und der Diegese konfrontiert uns der Film Naked Lunch mit der Frage nach der Relevanz des Autors als Urheber und Figur für das Verstehen des Werkes, sowohl Roman als auch Film. Der Film selber setzt gezielt biografische Erklärungen für den Schreibdrang seines Helden ein und verbindet so mindestens postulativ Burroughs ’ Leben (oder das Leben des Autors an sich) identifikatorisch oder mit seinem Werk. Ein solches biografistisches Verständnis vom Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Text ist in der Literaturwissenschaft schon seit längerer Zeit umstritten. Grundsätzlich hat die Konzentration auf einen Autor, die Katalogisierung und Kanonisierung seines Werkes, eine ordnungsstiftende Funktion für das Publikum, dem es dadurch zudem möglich wird, Lebens- und Wertvorstellungen mit der Literatur zu verknüpfen (cf. Jannidis et al. 2000 b: 7). In seinem sehr einflussreichen Aufsatz Der Tod des Autors wandte sich etwa Roland Barthes allerdings gegen die Konzeption vom Autor als Bezugsgröße für das Verstehen eines Textes: Der Autor beherrscht immer noch die literaturgeschichtlichen Handbücher, die Biografien der Schriftsteller. die Zeitschrifteninterviews und sogar das Selbstverständnis der Literaten, die in ihren Tagebüchern Person und Werk verschmelzen möchten. Unsere heutige Kultur beschränkt die Literatur tyrannisch auf den Autor, auf seine Person, seine Geschichte, seinen Geschmack, seine Leidenschaften. (Barthes 2000: 186) Barthes geht allerdings davon aus, dass jeder Text nur ein “ Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur ” ist (cf. Barthes 2000: 190). Der Schreiber habe “ überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es übersteige [ … ] ” (cf. Barthes 2000: 189). Ihm zufolge ist die Instanz, bei der die Fäden schließlich zusammenlaufen daher viel mehr ein (entindividualisierter) Leser (cf. Barthes 2000: 192 f.). Damit vertritt Barthes, vereinfacht gesagt, die eher leserzentrierte Perspektive, die sich von den anderen beiden grundlegenden Positionen absetzt, die den Autor oder das Werk als Bezugsgröße sehen. Erstere Auffassung, nämlich das Werk und (seinen empirischen) Autor in enger Beziehung zu einander zu setzen, wurde in zahlreichen Ausführungen vertreten: Vom reinem Biografismus etwa bis hin zur psychoanalytischen Literaturwissenschaft eines Sigmund Freud. 14 Hier wird davon ausgegangen, dass der Autor als Urheber der sprachlichen Zeichens “ von sozialen und ökonomischen Bedingungen seiner Zeit sowie von literarischen Traditionen abhängig ” ist (cf. Jannidis et al. 2000 b: 14), deren Einflüsse sein Werk wesentlich prägen. Die dritte Position geht, neben der autor- und der leserzentrierten Perspektive, davon aus, dass die Textbedeutung sowohl unabhängig vom empirischem Urheber als auch vom Leser 14 Für einen Überblick (cf. Jannidis et al. 2000: 11 − 16). Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 83 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [83] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL zu erschließen ist (cf. Jannidis et al. 2000 b: 16 ff.). Umberto Eco führt aus, dass sich die von ihm so bezeichnete Textintention nur aus der Textstrategie, also aus der Argumentation und den Bedeutungspotenzialen eines vorliegenden Textes, ableiten lässt (cf. Eco 2000: 280 f.). Persönliche Aussagen eines empirischen Autors zu seinem Werk, wären folglich nur in Bezug auf die Fragestellung relevant, “ ob er als empirische Person alle die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten vor Augen hatte, zu denen sein Text anregte ” (cf. Eco 2000: 284). Etwaige Aussagen des Autors würden allerdings “ kein Urteil über die Interpretationen seines Textes rechtfertigen ” (cf. Eco 2000: 284). Eco beruft sich dabei auch auf Wayne Booth, der als vermittelnde Instanz zwischen realem Autor und Erzähler den ‘ impliziten Autor ’ nennt (cf. Booth 2000: 145 f.), der so etwas wie ein vom Text konstruiertes Bild des realen Autors darstellt (cf. Genette 2000: 236, der das als Kritik versteht). Im Folgenden soll hier die Größe des ‘ impliziten Autors ’ Verwendung finden, um das im Film konstruierte Image des Autoren Willim S. Burroughs zu untersuchen. Denn das Konzept scheint geeignet, einerseits Merkmale der im Film präsenten Figur mit den andererseits im Film eingestreuten Referenzen auf die filmexterne Person William S. Burroughs zu verknüpfen und auf diese Weise die Filmfigur als eine filmisch manifestes Zeichengeflecht zu beschreiben, das über die Filmhandlung hinaus auf das kulturelleWissen über den Autoren verweist. Ziel ist damit auch zu fragen, wie der Film das Image des Autoren Burroughs verarbeitet und welche Rückschlüsse sich daraus auch für das Verständnis des Films als Kunstwerk und seines Regisseurs ableiten lassen. 3.2 Das kulturelle Wissen über den Autor William S. Burroughs Selbst wenn man den Autor als Verstehensgrundlage eines Textes ablehnt, fällt es schwer das Werk von William S. Burroughs völlig losgelöst von ihm als Autor zu betrachten: Zum einen strotzt sein Werk vor biografischen Referenzen, zum anderen ist er wie kaum ein anderer Autor Teil der populären Kultur geworden. 15 Gespeist wird das Image von Burroughs in der Populärkultur durch drei Aspekte, die jede Burroughs-Rezeption zu prägen scheinen und die auch in Naked Lunch von David Cronenberg eine überaus wichtige Rolle spielen und im kulturellen Gedächtnis mit Burroughs verbunden werden: (i) Burroughs langjährige Drogensucht, (ii) seine Homosexualität und (iii) der Tod seiner Ehefrau Joan Vollmer, die Burroughs 1951 in Mexiko - nach eigenem Bekunden nicht absichtsvoll - erschoss. Burroughs ’ Biograf Barry Miles beschreibt die Szene, wie sie nach Burroughs Erinnerung ablief, folgendermaßen: Bill öffnete seine Reisetasche und kramte die Automatik hervor. Plötzlich sagte ich: ‘ Es ist Zeit für unsere Wilhelm-Tell-Nummer. Stell dir ein Glas auf den Kopf. ’ Eine Wilhelm-Tell-Nummer hatten sie bis dahin noch nicht im Repertoire, aber Joan, die ebenfalls ziemlich getankt hatte, lachte und balancierte ein Wasserglas auf ihrem Kopf. Bill drückte ab. Joan rutschte auf dem Stuhl in sich zusammen, und das Glas fiel scheppernd zu Boden ohne zu zerbrechen. (Miles 1993: 70) 15 Einige Beispiele: 1967 tauchte Burroughs auf dem Cover des Beatles-Albums St. Pepper ’ s Lonely Hearts Club Band auf, später kam es zu Kollaborationen mit Musikern wie Lou Reed, Kurt Cobain oder Tom Waits. Die Gruppe Steely Dan benannte sich gar nach einem in Naked Lunch auftauchenden Dildo. Er nahm selbst Musikalben auf und wirkte beispielsweise als Schauspieler in Drugstore Cowboy (USA 1989, Gus Van Sant) mit. 84 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [84] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Bei Burroughs, geboren 1914 als Sohn einer gutsituierten Familie in St. Louis und gestorben 1997 in Lawrence (Bundesstaat Kansas), scheint durch diesen immer wieder kolportierten Todesfall die kollektive Wahrnehmung über ihn weitgehend von seinem Werk (und auch von der real existierenden Person) abgekoppelt zu sein. Programmatisch für sein Image ist schon alleine der Titel von Ted Morgans 1988 erstmals erschienener Biografie: Literary Outlaw. The Life and Times of William S. Burroughs. Barry Miles, Burroughs Biograf, schreibt etwa: Es ist die Idee Burroughs, die Anklang findet, nicht die Person; der populäre Burroughs, die Kult- Ikone, erreicht seine Leser auf dem Wege gedruckter und elektronischer Medien. (Miles 1993: 11 f., Hervorhebung im Original) Das zeigt sich auch daran, dass Burroughs beispielsweise als fiktive Person in anderen Romanen auftaucht, beispielsweise in On the Road von Jack Kerouac. 16 Auch in Rohstoff von Jörg Fauser taucht Burroughs auf und wird vom Erzähler in seinem typischen Auftreten beschrieben: William S. Burroughs empfing mich nachmittags um drei in seinem spärlich möblierten Apartment in der Duke Street, unweit Piccadilly Circus. Er trug einen schwarzen dreiteiligen Anzug, der mich an die Anzüge meines Großvaters, eines Volksschulrektors, erinnerte, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. (Fauser 2009: 94) Dieses “ dezidiert überzivilisierte[n] Auftreten ” (cf. Groh 2011: 211) ist auch eine der Komponenten, die das Erscheinungsbild William Lees in Cronenbergs Film prägt. Schon zu Beginn, als William Lee als Kammerjäger seinen ersten Hausbesuch abstattet und nur der Schatten eines Mannes mit Filzhut zu sehen ist, schließt der Film an diese bereits vorher bei Teilen des Publikums bekannte Ikonografie Burroughs ’ an (cf. Hantke 2007: 173). Darüber hinaus erinnert der Held im Film Naked Lunch an die ‘ hard boiled ’ -Helden einschlägiger Filme und Romane der schwarzen Serie. Anleihen an diese Filme und Romane lassen sich sowohl in der Melancholie der Erzählung als auch in gewissen Teilen der Personenkonzeption wiederfinden. 17 Dass im Erscheinungsbild die Intellektualität etwas hinter dieser ‘ hard boiled ’ -Aura zurücksteht, schlägt sich auch in der Besetzung William Lees mit Peter Weller nieder, “ der vordem eher durch proletarische, körperliche Darstellungen bekannt geworden ist. ” (cf. Seeßlen 1992) Mit Beard legt der Film mit dem Rückgriff auf das ‘ film noir ’ -Stereotyp, das starke männliche Stärke und Souveränität suggeriert, die Unzulänglichkeit offen, die diese männliche Fassade der Kontrolliertheit mit sich bringt (cf. Beard 2006: 306). Burroughs ’ Verbindungen zur Drogenkultur scheinen dazu im Gegensatz zu stehen. Das Überzivilisierte in der Erscheinung kompensiert im Image des Autors den stets drohenden Selbstverlust durch Drogen. Burroughs ’ Drogenerfahrung zeigt sich in zahlreichen Texten und privaten Aussagen. Sein erster Roman Junky handelt von der Drogenkarriere seines Erzählers in all ihren Aspekten (Verkauf, Beschaffungskriminalität, Entzug usf.) und The 16 In der lektorierten und 1957 erschienenen Fassung von On The Road trägt Burroughs noch das Pseudonym Old Bull Lee, erst in der 2007 veröffentlichten ursprünglichen Fassung tragen er (wie auch seine Frau Joan) Klarnamen. Zudem wird dort auch deren Konsum harter Drogen offen dargestellt. 17 Was Norbert Grob für andere von ihm so bezeichnete “ Noir-Fantasien ” bei David Cronenberg beschreibt, gilt auch zum Teil für Naked Lunch (cf. Grob 2011: 112). Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 85 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [85] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Yage Letters, kompiliert aus dem Briefwechsel mit Allen Ginsberg, beschreibt Burroughs Suche nach der ominösen Droge Yage, die angeblich telepathische Fähigkeiten verleihen soll. 18 Auch der Roman Naked Lunch ist voll von expliziten Beschreibungen von Sucht und Drogenkonsum. Dementsprechend äußern sich Texte über Burroughs, über Naked Lunch und über andere Werke von Burroughs ausführlich zu dessen Drogensucht. Beispielsweise versammelt die 2009 in Deutschland erschienene “ ursprüngliche Fassung ” von Naked Lunch einige dieser Paratexte. Insbesondere sei auf “ Protokoll: Aussage über eine Krankheit ” (cf. Burroughs 2009: 269 − 277) und “ Brief eines Meistersüchtigen zum Thema gefährliche Drogen ” hingewiesen (cf. ebd.: 283 − 304). 19 Auch Burroughs Homosexualität und seine Vorliebe für junge Liebhaber sind fester Bestandteil der Burroughs-Rezeption. In seinen frühen Texten spielt Homosexualität mal mehr, mal weniger offen eine Rolle, der bedeutendste seiner frühen Texte stellt hierbei Queer dar. Was Naked Lunch und einige der späteren Romane vor allem aber berüchtigt machte, waren die absurd gewaltpornografischen Szenen, deren Opfer mitunter auch Minderjährige zu sein scheinen 20 und in denen auch Fantasiegeschöpfe wie überdimensionale Tausendfüßler und Mugwumps auftauchen. Wie bereits erwähnt, sind einige dieser Szenen mit Erhängungsszenarien verbunden. Burroughs selbst wollte diese Textstellen als satirische Anklage gegen die Todesstrafe verstanden wissen (cf. Beard 1996: 833). Literaturhistorisch wird Burroughs dann trotzdem nicht als genuin ‘ queerer ’ Autor wahrgenommen, sondern mit der “ Beat Generation ” assoziiert, zu der neben Burroughs etwa auch Allen Ginsberg und Jack Kerouac gerechnet werden. Es gibt zahlreiche wechselseitige Verflechtungen der Autoren in ihren jeweiligen Werken und auch in David Cronenbergs Naked Lunch wird dies thematisiert. 21 Burroughs wurde auch später auch durch die Einführung der so genannten ‘ Cut-Up ’ -Methode in der Literatur bekannt, die auf den Maler Brion Gysin zurückgeht (cf. Miles 1993: 147 ff.) und eine Technik beschreibt, bei der einzelne Fragmente des Geschriebenen wahllos getrennt und (scheinbar) zufällig wieder zusammengefügt werden. Naked Lunch ist trotz des Verzichts auf eine durchgehende Handlung und eine Kapitelabfolge, die weder einer Logik noch der Chronologie folgt, noch kein klassischer ‘ Cut-Up ’ -Text wie beispielsweise der später erschienene Roman Nova Express. Den Abschluss von Burroughs ’ literarischen Schreibens bildet die so genannte Red Night-Trilogie, die sich wieder an konventionellere Erzählformen annähert. Zudem wurde 18 Mittlerweile ist diese psychoaktive Substanz unter dem Namen Ayuahuasca geläufig und besitzt in manchen Milieus durchaus größere Verbreitung (cf. Hanske & Sarreiter 2015: 137 ff.). 19 Es ist allerdings anzumerken, dass Burroughs zwar selber lange Jahre seines Lebens drogensüchtig war, dass er aber durchaus ein ambivalentes Verhältnis zu Drogen hatte. Marshall McLuhan schreibt (cf. McLuhan 1995: 84): “ Burroughs verschmäht die halluzinogenen Drogen als etwas, das bloßen ‘ Inhalt ’ gebe, als Phantasien, Träume, die man für Geld haben kann. Junk (Heroin) ist notwendig, um den menschlichen Körper selbst zu einer Umwelt zu machen, welche das Universum miteinschließt. ” 20 Genaue Angaben machen die Texte nicht, im Original wird stets nur die Bezeichnung “ boy ” verwendet. Burroughs hat Vorwürfe, die ihm selbst Pädophilie unterstellten, mit aller Vehemenz zurückgewiesen (cf. Beard 2006: 298). 21 Historisch ist bekannt, dass der Romantitel Naked Luch auf Kerouac zurückgeht (cf. Miles 1993: 58.) Ginsberg schrieb beispielsweise das Vorwort zu Junky und erst 2008 (in Deutschland 2010) erschien der - bis dato nicht verlegte - gemeinsam von Burroughs und Kerouac verfasste Roman And the Hippos Were Boiled in Their Tanks (Und die Nilpferde kochten in ihren Becken). Burroughs schrieb seinen Beitrag zu dem Roman unter dem Pseudonym William Lee. 86 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [86] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Burroughs in seinem späten Alter auch durch seine “ Shotgun Art ” in der Kunstszene bekannt (cf. Miles 1993: 281 ff.). Burroughs erscheint damit insgesamt einerseits ein typischer Vertreter der “ Beat Generation ” und der modernen amerikanischen Literatur zu sein; anderseits erinnert seine radikale Existenz auch an ein Dichterkonzept des großen einzelnen Schriftstellers, wie es dominant an die existenzialistischen Positionen der 1960er Jahre gebunden ist. In einem Nachruf skizzierte der Autor Jörg Magenau in der Tageszeitung taz William S. Burroughs ’ Image in wenigen Schlagworten als Ikone und “ Godfather ” der amerikanischen Subkultur der Moderne: Der rauschhafte Lüstling, das Vorbild der Popkultur, der Insektenvernichter, Barmixer, Junkie, Privatdetektiv, der Schriftsteller und der ‘ Vater der Beat Generation ’ ,William Seward Burroughs, ist mit 83 Jahren verstorben. (Magenau 1997: 1) 3.3 Biografische und literarische Bezugnahmen in Cronenbergs Naked Lunch David Cronenbergs Filmadaption speist sich sowohl aus mehreren literarischen Quellen wie auch aus zahlreichen biografischen Bezügen. Die Handlung des Films ist auch als fiktive Werkgeschichte lesbar und verwebt Teile des Romans Naked Lunch mit biografischen Anspielungen und zusätzlichen Motiven aus dem Werk Burroughs ’ . Mit Beard gibt es praktisch keine Figur, die sich nicht in irgendeiner Form auf Burroughs ’ Biografie oder sein Werk beziehen würde (cf. Beard 2006: 279). Die Schriftsteller Hank und Martin beziehen sich auf Jack Kerouac und Allen Ginsberg; das Ehepaar Frost auf Paul und Jane Bowles, die Burroughs aus Tanger kannte (cf. Miles 1993: 93). Die Figur des Kiki ist an einen Liebhaber Burroughs ’ angelehnt (cf. ebd.: 90 f.); die Polizisten Hauser & O ’ Brian entstammen ebenso Burroughs ’ Werk (etwa Junky und Naked Lunch) wie Dr. Benway, der eine besondere Rolle sowohl im Film als auch in Burroughs Werk spielt. 22 Am wichtigsten ist selbstverständlich die komplexe Bezugnahme von Cronenbergs Naked Lunch auf Burroughs 1959 erstmals erschienenen Roman Naked Lunch. Explizit als direktes Zitat haben nur wenige Passagen Eingang in den Film gefunden; stärker rekurriert der Film auf Charaktere, Themen ( “ das schwarze Fleisch ” , Insekten, Drogensucht) und Orte (Interzone) des Romans. Eine bedeutende Passage, die fast wörtlich im Film übernommen wurde, ist die “ talking asshole routine ” (cf. Browning 2007: 112), die im Roman aus dem Munde Benways, im Film aus dem Munde William Lees kommt. Sie handelt von einem Mann, der seinem Anus das Sprechen beibringt. Der Anus beginnt am Ende eigenständig zu denken und zu handeln und am Ende sind die Nervenstränge des Mannes so blockiert, dass das Gehirn funktionslos wird und der Anus vollkommen die Kontrolle über den Körper übernimmt (cf. Burroughs 2009: 154 f. und Naked Lunch, 1: 26: 13 - 1: 27: 57): “ Ganze Nervenbahnen wurden blockiert, infiltriert und atrophiert, so dass das Gehirn keine Befehle mehr 22 Nach Lindwedel etwa sind sowohl William Lee als auch der sadistische Dr. Benway “ Avatare und Masken des Autors ” (cf. Lindwedel 2011: 64). Was Benway betrifft, kann man das etwa im Roman Naked Lunch an einem Dialog zwischen dem Parteivorsitzenden und seinem Stellvertreter ablesen (cf. Burroughs 2009: 145): “ PV: ‘ [ … ] Dem Mann kann man einfach nicht trauen. Der ist zu allem fähig … Macht selbst aus einem Massaker noch eine Sexorgie …’ / SV I: ‘ Oder einen Witz. ’ / PV: ‘ Genau. Künstlertyp … Keinerlei Prinzipien. ’” Insofern ist der Sadist hier wohl genauso ein Künstlertypus wie der Schriftsteller, wobei beide eint, dass sie “ keinerlei Prinzipien ” haben. An dieser Stelle wird also das Konzept des Künstlers als moralische Instanz verworfen. Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 87 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [87] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL erteilen konnte. ” Zum einen spiegelt sich diese “ talking asshole routine ” bereits an einer früheren Stelle im Film, als William Lee bei der Polizei die Unterhaltung mit einer Wanze halluziniert, die aus einer anusartigen Öffnung auf seinem Rücken spricht. Zum anderen steht die Passage auch für den Kontrollverlust des Protagonisten. Die Rationalität verliert also gegen das Nicht-Bewusste, das es nicht kontrollieren kann (cf. Beard 1996: 838). Zu Beginn sagt Bill zu seinem Freund Martin, man solle jeden vernünftigen Gedanken “ vertilgen ” (cf. Naked Lunch, 0: 04: 12 - 0: 04: 14). 23 Er ist zudem als Kammerjäger in der “ Vertilgungsbranche ” , dessen Wanzenpulver Pyrethrum sowohl Insekten tötet als auch als psychoaktive Substanz wirkt, sprich sowohl physisch (bei den Insekten) und psychisch (in Bezug auf das rationale Denken) “ vertilgend ” wirkt. Beard sieht in der “ talking asshole routine ” den Inhalt von Cronenbergs Film metaphorisch zusammengefasst: [ … ] [Naked Lunch] is in toto a story about a man who ‘ taught his asshole to talk ’ and receives orders from it, which result in catastrophe and perdition. He does [ … ] become a genuine artist this way, but the price is too high. (Beard 1996: 838 f.) Durch den Umstand, dass Selbst- und Kontrollverlust hier von Burroughs mit physischer Transformation korreliert werden, lässt sich nicht nur eine Brücke zu Burroughs eigenem literarischem Werk, sondern gerade auch zu anderen Filmen David Cronenbergs schlagen, vor allem zu Videodrome und The Fly (Die Fliege, USA 1996, David Cronenberg) (cf. Beard 1996: 829). Körpermetamorphosen finden sich - in ganz unterschiedlichen Szenarien - in vielen Filmen Cronenbergs. An dieser Stelle wird also diese dezidiert literarische Referenz in einen intertextuellen und intermedialen Kontext eingebettet und verweist damit auf die selbstreflexive Erzählstrategie des Films. Ein weiterer konkreter Hypotext, der in Cronenbergs Film durch den Beruf des Kammerjägers seinen expliziten Widerhall findet ist die Kurzgeschichte Exterminator! , die Teil des gleichnamigen Buchs ist 24 , das zwar mit dem Nachsatz “ a novel ” veröffentlicht worden ist, aber im Grunde nur eine lose Ansammlung von Stories ist. Der Begriff des “ Exterminators ” (in allen deutschen Übertragungen mit dem nicht ganz adäquaten Begriff des Kammerjägers übersetzt) taucht in Burroughs ’ Werk des Öfteren auf, mitunter auch im Roman Naked Lunch. William S. Burroughs hatte auch selbst mal als Kammerjäger gearbeitet (cf. Miles 1993: 46 f.). Als dritter Text von unmittelbarer Bedeutung für den Film ist das erst 1985 veröffentlichte Vorwort zu Burroughs ’ frühem Roman Queer. Von Bedeutung ist der Text deshalb, weil sich der Film der dort getroffenen Aussage von Burroughs anschließt, dass derTod Joan Vollmers erst der Ausgangspunkt seiner Schriftstellerkarriere war (cf. Taubin 1992: 8). Burroughs schreibt in diesem Vorwort: I am forced to the appalling conclusion that I would never have become a writer but for Joan ’ s death, and to a realization of the extent to which this event has motivated and formulated my writing. I live with the constant threat of possession, from Control. So the death of Joan brought me in contact with the invader, the Ugly Spirit, and maneuvered me into a life long struggle, in which I have had no choice except to write my way out. (Burroughs 1986: 18) 23 Im englischen Original sagt Bill “ exterminate all rational thought ” . 24 Das Wanzenpulver Pyrethrum wird in der Story genauso thematisiert, wie die strenge Rationierung durch einen Chinesen (cf. Burroughs 1979: 3 − 8). 88 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [88] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Ansonsten wird der Tod seiner Frau nirgendwo in Burroughs ’ Werk erwähnt (cf. Browning 2007: 110), in Cronenbergs Film ist er jedoch wie hier im Vorwort zu Queer von zentraler Bedeutung. Es lässt sich die These wagen, dass Cronenbergs Film der Versuch einer medialen Reflexion über Burroughs ’ Schaffen mit den Mitteln des Werkes von Burroughs durch den Filter filmischer Zeichen ist (cf. Hoberman 1992). So löst im Film der Tod Joans das Schreiben Williams erst aus und der erste Bericht, den Bill in Interzone abfasst, trägt den Titel “ Report on the assassination of Joan Lee by Unknown Forces. ” (cf. Naked Lunch, 0: 29: 32). Man kann die “ Wilhelm-Tell ” -Routine auch sprachlich doppeldeutig lesen, also zum einen als Rückgriff auf den Schweizer Freiheitskämpfer, zum anderen aber auch als den Imperativ “ erzähle ” - im englischen “ to tell ” (cf. Riepe 2002: 134): Folgerichtig wird bei Cronenberg die Tötungsszene zum Schlüsselerlebnis für Bill Lee, das ihn aus seinem bürgerlichen, heterosexuell geprägten Leben als Kammerjäger ausbrechen läßt in die homosexuell getönte Drogenwelt von Interzone. [ … ] Dabei geht es nicht einfach um ein individualbiographisches Moment des Autors William S. Burroughs, sondern darum, daß Erzählen ( “ to tell ” ) stets nur um den Preis einer Verschuldung an der Gesellschaft möglich wird. “ (Riepe 2002: 135) Die erste Tötung Joans oder besser die Tötung der ersten Joan 25 wirkt also als katalysatorisches Moment der Erzählung und der Film scheint die Tötung Joans als psychologische Erklärung für das kreative Schaffen seines Autors nahe zu legen. Ganz am Ende, als Bill mit Joan Frost die Grenze nach Annexia übertreten will, wird der Zusammenhang zwischen Mord und Schriftstellerei noch mal explizit gemacht: Die Grenzpolizisten - Hauser und O ’ Brian aus der Verhörszene in New York City - fordern Bill auf zu beweisen, dass er Schriftsteller ist (dass er einen Stift mit sich trägt, reicht nicht aus). Somit dreht er sich zu Joan um und sagt wie schon bei der ersten Ermordung der Frau: “ Ich denke, es ist mal wieder Zeit für unsereWillhelm-Tell-Nummer ” (cf. Naked Lunch, 1: 46: 32 - 1: 46: 35). Sie stellt sich das Glas auf den Kopf und Bill erschießt sie. Er kann sich nur als Schriftsteller ausweisen durch den Akt, “ der seine Identität als Schriftsteller begründet hat ” (cf. Riepe 2002: 138). Gegenüber Dr. Benway sagt er in der vorhergehenden Szene noch, er könne ohne sie nicht schreiben. Damit ist aber offensichtlich nicht das Konzept der Frau als Muse des Künstlers gemeint, vielmehr verweist dies darauf, dass das Schreiben für den Helden ohne dieTötung der Frau (oder zumindest den Tötungswunsch) nicht möglich gewesen wäre. Aus dieser Perspektive gesehen kann er ohne die Frau, deren Tod ihn erst zum Schriftsteller gemacht hat, was er durch die Wiederholung der “ Willhelm-Tell-Nummer ” immer wieder neu bestätigen muss 26 , tatsächlich nicht schreiben. 25 Ob Joan Lee und Joan Frost eine Frau sind oder nicht, bedürfte einer ausführlicheren Analyse. In dieser Arbeit wird die These zugrunde gelegt, dass es sich bei Joan Frost um eine halluzinierte Spiegelung Joan Lees handelt. Diese These ist grundsätzlich angreifbar, allerdings scheint sie durch einige Indizien (wie dem immer wieder auftauchenden narrativen Prinzip der Spiegelung) durchaus berechtigt, s. o. 26 Man könnte hier sogar sagen, dass der Film durch diese Wiederholung eine potenzielle Endlosschleife suggeriert: So lange William Lee schreibt, wird er den Tötungsakt immer wieder durchleben müssen. Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 89 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [89] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 3.4 Raumsemantik und Realitätskonzeption in Naked Lunch: durch Drogen von New York City nach Interzone Generell sind die Übergänge zwischen drogenbedingter Halluzination und Realität in Naked Lunch fließend. Ebenso scheint es sich mit den Grenzen von ‘ Innen ’ und ‘ Außen ’ und den Grenzen von Subjekt ( “ Ich ” ) und der Umwelt (den Anderen) zu verhalten (cf. Lindwedel 2011: 64). Der Zustand dieser ständigen Grenzüberschreitungen, der den Protagonisten ständig vom Selbstverlust bedroht, steht mit Beard am Anfang des künstlerischen Prozesses: In Lee ’ s case the original transgression leads him into a realm where he cannot anymore tell the difference between an ‘ objective ’ or rational apprehension of the world and a subjectively apprehend world which is animated by his malign unconscious desires [ … ]. And this is the condition in which writing arises; this is the artist ’ s life. (Beard 1996: 831) Schreiben und Drogenkonsum bedingen einander hier im Film ebenso sehr wie Schreiben und Gewalt. Der Wechsel von New York nach Interzone geht zudem wohl nicht mit einem tatsächlichen Ortswechsel einher, vielmehr wirkt Interzone eher wie ein Geisteszustand (cf. Browning 2007: 123). Vielleicht ist Bill sogar an beiden Orten gleichzeitig (cf. Robnik und Palm 1992 b: 96). Auf jeden Fall ist der Trip nach Interzone klar als Drogentrip markiert, wobei einige Figuren aus Interzone (z. B. der Mugwump und Kiki) schon in New York auftauchen, was wiederum klarmacht, dass sich die Grenzen zwischen diesen beiden Räumen auflösen. Der Mugwump gibt dem halluzinierenden Bill das “ Ticket ” zur Überfahrt nach Interzone, kurz vor der Abfahrt trifft er seinen Freund Martin und zeigt das vermeintliche Ticket. Was aus Bills Sicht vorher die Karte für eine Schiffspassage dargestellt hat, zeigt sich aus Martins Point-of-View als ein Röhrchen mit Wanzenpulver, von dem Bill mittlerweile abhängig ist. Diese Szene zeigt nicht nur sehr eindeutig, dass der Übergang nach Interzone nur durch halluzinogene Drogen bewerkstelligt wird. Sie zeigt auch Bills Freund Martin als glaubwürdige Vermittlerfigur, was wichtig scheint, weil man daraus schließen kann, dass Martin tatsächlich das Manuskript des Romans von Bill bekommen hat, das Ganze folglich kein “ Schwindel ” ist. Interzone ist nach Bills Ankunft von seinem Erscheinungsbild her arabisch und nordafrikanisch konnotiert. Zudem blühen dort die “ Laster ” , die in New York verpönt scheinen: Drogensucht und Homosexualität. Letztere, so der “ Bugwriter ” , also die käferähnliche Schreibmaschine, die sich als Lees Verbindungsoffizier ausgibt, “ ist der beste Deckmantel für einen Agenten. ” (cf. Naked Lunch, 0: 36: 46 − 0: 36: 50). Interzone wird also als Welt von Agenten, Drogenverkäufern, Exil-Schriftstellern und homosexueller Dandys beschrieben. Zudem kann in Interzone telepathisch kommuniziert werden. Der Schriftsteller Tom Frost spricht an einer Stelle explizit davon 27 , gleichzeitig verlaufen die Lippenbewegungen und der Ton von Frosts Stimme asynchron. Auch das ist, neben den drogeninduzierten Halluzinationen und der Vermischung der Erzählebenen, etwas, das den Status alles Gesehenen auch für den Zuschauer in Frage stellt: 27 Tom Frost zu William Lee (cf. Naked Lunch, 0: 42: 08 - 0: 42: 13): “ Alles was sich hier abspielt, geschieht telepathisch. Im Unterbewusstsein. [ … ] Bitte achten Sie auf meine Lippen. Sie werden gleich bemerken, dass ich etwas vollkommen Anderes sage. ” 90 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [90] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Ab diesem Moment können wir der Wahrheit des synthetischen Zusammenhangs von Sprecher und Stimme nicht mehr vertrauen, denn auch wenn in Interzone die Stimme absolut synchron zu den Lippenbewegungen läuft, könnte es sein, dass die Menschen dort eigentlich telepathisch irgendwelche Geheimnisse austauschen und die hörbaren Plaudereien nur ein Vorwand sind. (Robnik & Palm 1992 b: 102) Wenn man so will verfügt Interzone mit der Drogenfabrik am Ende auch über einen Extremraum im Sinne Karl N. Renners. 28 Die Drogenfabrik, in der Süchtige das Sperma angeketteter Mugwumps aus deren Kopfpenissen saugen ist der Höhepunkt der Selbstaufgabe, institutionell ausgeübter Gewalt (durch die Haushälterin Fadela, die sich als Benway entpuppt) und sexueller Abhängigkeit (cf. Beard 1996: 864). Auch das Schreiben ist hier nur noch letzte Verzweiflungstat. Alles was Joan in ihr Notizbuch schreibt, als Bill sie findet, ist “ alles ist verloren ” (cf. Naked Lunch, 1: 39: 17 f.). An diesem Punkt sind also Sex, Gewalt, Horror, Sucht und Melancholie auf die Spitze getrieben und Bill und Joan werden den Ort nur verlassen können, indem sich Bill an den Schurken Benway verkauft. 3.5 Narrative und metaphorische Funktionen von Drogen Im Großteil von William S. Burroughs ’ Werk geht es um tatsächlich existierende Drogen. In Cronenbergs Naked Lunch hingegen sind die wichtigsten Drogen sowohl in New York als auch in Interzone Fantasiedrogen: Wanzenpulver, das schwarze Fleisch des brasilianischen Tausendfüßlers und das Mugwump-Sperma. 29 Die Drogen erfüllen dabei je eine bestimmte narrative Funktion und stehen in ihrer Wirkungskraft in einem hierarchischen Verhältnis (mit dem Mugwump-Sperma als der stärksten Droge): (i) Der Diebstahl von Bills Wanzenpulver durch seine Frau Joan löst erst die Handlung aus (und bringt den Ex- Junkie Bill zurück zur Drogensucht); (ii) das ihm von Benway verabreichte schwarze Fleisch führt mehr oder minder zum Tod seiner Frau (und zur Flucht nach Interzone) und (iii) das Mugwump-Sperma bringt Bill in die Falle einer letzten großen Verschwörung, die Kiki das Leben kostet. Das Wanzenpulver sorgt, mit den Worten Joan Lees, für einen “ literarischen Rausch ” : “ Es ist ein Kafka-Rausch. Du glaubst, ein Käfer zu sein. ” (cf. Naked Lunch, 0: 07: 00 - 0: 07: 04) Joan wird kurz darauf ebenso wie die Wanze, die Bill im Verhörzimmer halluziniert, ihn dazu auffordern, ihr etwas von dem Pulver auf die Lippen zu reiben. Was die wirklichen Insekten ausrottet, führt zur Schaffung viel gefährlicherer “ innerer ” Insekten (cf. Beard 1996: 845 und Beard 2006: 310). Das schwarze Fleisch des brasilianischen Tausendfüßlers wird Bill von Dr. Benway als Kur gegen die Abhängigkeit von Wanzenpulver verkauft, ist aber in Wirklichkeit viel schlimmer. Das Mugwump-Sperma schließlich stimuliert als stärkste Droge 28 Nach Renner führt nach Überschreitung einer Raumgrenze (also beim Übergang von einem semantischen Feld in ein anderes) der Weg des Protagonisten zum Extrempunkt innerhalb des semantischen Feldes, in dem dessen Eigenschaften verdichtet werden (cf. Renner 1987: 128 ff.). In Naked Lunch können wir also New York als Ausgangsraum begreifen, von dem aus der Protagonist die Grenze in den anderen semantischen Raum Interzone überschreitet. Dort findet sich dann die Drogenfabrik als Extremraum. Der Weg weiter von der Drogenfabrik nach Annexia, den “ Nachbarstaat ” von Interzone, kann im Rückgriff auf Lotman als Metatilgung verstanden werden, bei dem die Struktur der Ausgangsräume verändert wird (cf. Krah 2006: 270 f.). 29 Burroughs lobt diese Idee Cronenbergs (cf. Burroughs 1992: 14): “ David ’ s substitution of imaginary drugs [ … ] for rather more mundane heroin and marijuana depicted in the novel is a masterstroke. ” Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 91 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [91] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL einerseits anfänglich die Schreibtätigkeit, andererseits führt sie in komplette Abhängigkeit und zum kompletten Selbstverlust, was sich am deutlichsten in der Drogenfabrik in Interzone darstellt. Sucht führt auch in Burroughs ’ Werk 30 zum Kontrollverlust (cf Lindwedel 2011: S. 64): “ Und was am Ende steht, ist der Süchtige selbst, sein sich zersetzender Körper, seine Selbsterniedrigung und die sich auflösende Grenze von Innen und Außen, vom Ich und den Anderen. ” Mit Beard ist bei Burroughs ist die Drogensucht eine Metapher für die gesamte Existenz: Burroughs builds heroin addiction into an entire allegory of private and social existence, rendering as universal metaphors the addicts need for substance, the power exercised over the customer by both the vendor and the law, [ … ] and the irresistible opportunities for manipulation and control [ … ].(Beard 2006: 296 f.) Auf Ebene der Filmhandlung wird das schon dadurch wiedergegeben, dass Naked Lunch mit der Logik von Agentenfilmen spielt (cf. Robnik und Palm 1992 b: 103). William Lee gerät durch die Drogen in den Teufelskreis aus Kontrolle und Manipulation und die drogeninduzierten Halluzinationen werden zur Basis für die Narration (cf. Beard 1996: 844). Auf dem Fundament dieser narrativ entfalteten Semantik von Drogen entwickelt der Film mit dem Motiv der Schreibmaschine schließlich die zentrale Konzeptmetapher, die Drogenkonsum und schriftstellerisches Handeln aufeinander bezieht. Mit Riepe verfügen die Schreibmaschinen im Film über eine “ phantasmatische Funktion ” (Riepe 2002: 143). Mit Lindwedel werden die Schreibmaschinen “ zu Metaphern des Kreativen, des Schöpferischen, das zugleich eine dunkle Seite des Zerstörerischen offenbart ” (Lindwedel 2011: 68). Die Schreibmaschine ist zunächst die Voraussetzung für William Lees schriftstellerische Tätigkeit. Der Mugwump fordert ihn dazu auf, seine Berichte aus Interzone darauf zu tippen (cf. Naked Lunch, 0: 26: 01 - 0: 26: 16): “ Handgeschrieben wirkt es immer so unprofessionell. ” Daraufhin tauscht Bill beim Pfandleiher seine Schusswaffe gegen die Schreibmaschine Clark Nova, was durch die Substitution von Waffe und Schreibmaschine wiederum die Korrelation von Gewalt und Schreiben hervorhebt. In Interzone ist die Clark Nova (die das Aussehen des Käfers aus dem Verhör angenommen hat), Bills erste Schreibmaschine und zugleich sein “ Verbindungsoffizier. ” Später wird er die von Tom Frost geliehene Martinelli benutzen, die allerdings von der Clark Nova in einem absurd anmutenden Kampf zerstört wird. Mit Beard ist die Martinelli feminin/ heterosexuell konnotiert und ihre Zerstörung durch die Clark Nova bezeichnet möglicherweise den Sieg von Lees homosexuellen Impulsen (cf. Beard 2006: 319). Zusammen mit Joan Frost wird er schließlich Obszönitäten auf einer Schreibmaschine mit Namen Mujaheddin (die nur arabische Schriftzeichen schreiben kann) verfassen, die dabei einen penisartigen Auswuchs samt Erektion bekommt und schließlich von der lesbischen Haushälterin Fadela über die Brüstung gejagt wird. Die Trümmer der Martinelli hat Bill schließlich bei sich, als ihn Hank und Martin antreffen, um ihm von seinem Manuskript zu Naked Lunch zu berichten. Aus dem Blickwinkel Martins sehen wir schließlich, was die Schreibmaschine wirklich ist: Ein Beutel voll mit Drogen und Spritzbesteck. 30 Wobei nach Burroughs Verständnis nur die wenigsten Drogen süchtig machen. Er versteht dabei Sucht im Sinne der biologischen Notwendigkeit des Gebrauchs einer bestimmten Substanz. Ihm zufolge ist dies vor allem bei Morphin der Fall (cf. Burroughs 2009: 283 ff.). 92 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [92] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Mit Hilfe Kikis bringt Bill die Maschine später zu einem Schmied, der sie repariert: “ Wenn wir die Schreibmaschine in Ordnung bringen, bringen wir auch das Leben in Ordnung ” (cf. Naked Lunch: 1: 19: 20 - 1: 19: 25), sagt Kiki. Am Ende wird daraus der “ Mugwriter ” , also eine Schreibmaschine mit dem Aussehen eines Mugwump, der aus seinen Penissen, die aus seinem Kopf herauswachsen, Drogen absondert, deren Wirkung Bills Schreibblockade lösen werden, die die “ feminine ” Martinelli ausgelöst hat. Deutlich wird hier homosexuelles Begehren mit schriftstellerischer Kreativität korreliert (cf. Browning 2007: 117). Mit dem späteren Tod Kikis, der als homosexuelle Muse Bills fungiert, ist dann konsequent auch die schriftstellerische Kreativität erstmal wieder dahin. Auch der “ Mugwriter ” stellt sich im Übrigen als Verbindungsoffizier vor und trägt Bill auf, den Dandy Cloquet zu verführen, was in der Schändung des unschuldigen Kikis endet und Bill schließlich in die Drogenfabrik führt. Auch der “ Mugwriter ” übernimmt damit narrative Funktionen in der Handlung. Ein wichtiger Aspekt bei den halluzinierten Kreaturen (Käfern, Mugwumps) und Schreibmaschinen im Film ist, dass sie alle mit derselben Stimme eines gewissen Edwards sprechen, einem Kammerjäger-Kollegen Bills, der bereits am Anfang eingeführt wird und der - das kommt als Bedeutungskomponente hinzu - ebenfalls an die äußere Erscheinung von William S. Burroughs erinnert. Es ist eben jener Edward, der Bill zu Dr. Benway schickt. Er ist es also die Figur, die die Verschwörung gegen Bill einleitet. Dass er in seinem Erscheinungsbild an Burroughs angelehnt ist und dass die halluzinierten Kreaturen und Schreibmaschinen mit seiner Stimme sprechen, führt im Zusammenspiel mit den bisher herausgearbeiteten Bezügen zu einer komplexen Situation, die analytisch schwer entwirrbar scheint: This delirious configuration of historical human being (Burroughs the man), writer whose works have inspired the film (Burroughs the author), biographically based filmic character (Lee), and sublevels of other characters hallucinated by that character (Benway, giant beetle, mugwump etc.) cannot be disentangled and interpreted to make clear sense - especially not by yet another representation of Burroughs in the person of Edwards. What can be said is that in the film all these perspectives come down to a hall-of-mirrors scenario of a man talking to himself, prompting himself to do things, and disavowing responsibility for terrible things he does as a result. (Beard 2006: 312 f.) Die Schreibmaschinen sind somit ein weiterer Aspekt der narrativen Spiegelungsstrategie des Films, die Kohärenz verhindern soll: Die Schreibmaschinen sind Insekten und zugleich reale Drogen (Pillen und Spritzbesteck); sie liefern halluzinierte Formen von Drogen (Mugwump-Sperma) und sind gleichzeitig sind Verbindungsoffiziere gegen Interzone Inc.; sie sind sowohl sexuelle Monster (die erigierende Mujaheddin-Schreibmaschine) als auch Agenten der Verschwörung des Dr. Benway (was durch Edwards ’ Stimme deutlich wird). Unter Rekurs auf Beard 2006 scheint es tatsächlich die plausibelste Erklärung, die Schreibmaschinen als Projektionen des Geisteszustandes des Schriftstellers zu deuten, der Sachen tut, die nicht mehr seiner Kontrolle unterliegen und ihn selbst in Gefahr bringen. Insofern ist Schreiben wirklich gefährlich, wie Bill selbst in einem Dialog zu Beginn des Filmes sagt. 31 Dies zeigen auch die Transformationen der Schreibmaschinen, die Bill 31 Bill sagt zu Hank und Martin auf deren Aufforderung, er solle den Diebstahl seines Wanzenpulvers als Zeichen sehen und doch besser Pornografie schreiben: “ Ich hab ’ aufgehört zu schreiben da war ich zehn. Zu gefährlich. ” (cf. Naked Lunch: 0: 04: 31 - 0: 04: 49) Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 93 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [93] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL betrügen (oder mit denen er sich selbst betrügt) und in eine immer gewalttätigere Welt abdriften lassen. Eine Steigerung ihrer Bedrohlichkeit in der Narration verläuft analog zu den immer gefährlicher werdenden Drogen, welche die Schreibmaschinen verkörpern und vice versa. Daran zeigt sich auch, dass zum Schreibvorgang, so wie ihn der Film präsentiert, die Schreibmaschine nicht materiell vorliegen muss, sondern dass sie eher als Metapher dient. Bill kauft zwar eine Schreibmaschine, als Hank und Martin ihn treffen, hat er allerdings nur einen Sack Drogen in der Hand. Das von Hank und Martin präsentierte Manuskript zu Naked Lunch ist zwar mit der Schreibmaschine geschrieben, allerdings - so wirkt es - mit keiner der in Interzone vorgeführten Schreibmaschinen. Damit und durch den Umstand, dass Bill (und mit ihm der Zuschauer) das von ihm verfasste Manuskript noch nie gesehen hat, zeigt sich, dass der kreative Prozess weniger vom konkreten Schreiben abhängt, sondern viel mehr aus einer Geisteshaltung resultiert, die der Film durch durch die Schreibmaschinen als Fantasiedrogen illustriert. 3.6 Schreiben und Sexualität Was mit Blick auf Burroughs ’ Werk zunächst einmal verwundern könnte, ist, dass Cronenbergs Naked Lunch eine sehr starke Frauenrolle installiert, die auch an heterosexuelles Begehren seitens des Protagonisten gekoppelt ist. 32 In Burroughs ’ literarischem Werk finden sich nur wenige und im Grunde wenig bedeutsame Frauenrollen, Begierde ist in der Regel immer homosexuell (cf. Browning 2007: 111). Im Film wird dagegen Homosexualität erst ein Thema, nachdem Bill seine Frau erschossen hat. Er trifft in einer Bar den attraktiven Kiki, der ihn dem Mugwump vorstellt, der sich auf “ sexuelle Ambivalenz spezialisiert ” hat; Bill versteht “ sexuelle Ambulanz ” (cf. Naked Lunch, 0: 25: 24 - 0: 23: 33). Der nachfolgende Trip nach Interzone ist somit so etwas wie eine für ihn notwendig erscheinende Flucht, hin an den Ort des Verdrängten (cf. Riepe 2002: 136), welcher tatsächlich Bills “ sexuelle Ambivalenz ” hervorkehrt. Die Schreibmaschine Clark Nova erklärt ihm schließlich, er brauche die Homosexualität als Tarnung, da sie “ der beste Deckmantel für einen Agenten ” sei (cf. Naked Lunch, 0: 36: 45 - 0: 36: 50). Damit einher geht auch die Misogynie, welche die Wesen Interzones inklusive Benways verkörpern. 33 William Lee scheint sich seiner eigenen sexuellen Orientierung nicht sicher zu sein. Von Cloquet auf seine Homosexualität angesprochen, sagt er: Schwul. Ein Fluch der schon seit Generationen auf meiner Familie lastet. Die Lees waren wohl schon immer pervers. Ich werde nie den unaussprechlichen Horror vergessen, der mir meine Lymphflüssigkeit erstarren ließ, als dieses absolut tödliche Wort fast peitschend mein Gehirn durchzuckte: Ich bin ein Homosexueller. (Naked Lunch, 0: 45: 33 - 0: 45: 53) 32 Cronenberg wurde vorgeworfen in Naked Lunch alles andere als ein emphatisches Bild von Homosexualität zu zeichnen (cf. Browning 2007: 120). Auch die homosexuelle Presse kritisierte ihn teilweise scharf (cf. Sargeant 2001: 215 und Taubin 1992: 8). Eine recht ausgewogene Diskussion findet sich bei Beard (cf. Beard 1996; 847 - 850). Cronenberg selbst bezeichnete den Sex in Naked Lunch als “ Sci-Fi-Sex ” , der eine metaphorische Funktion habe (cf. Taubin 1992: 8). 33 Die Clark Nova sagt an einer Stelle (cf. Naked Lunch, 1: 08: 32 - 1: 08: 42): “ Frauen sind keine Menschen, Bill. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Sie sind eine andere Spezies als die Männer, sie haben einen anderen Willen und sie haben andere Aufgaben. ” 94 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [94] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese Dialogzeile ist eine wörtliche Übernahme aus Burroughs ’ Roman Queer (cf. Burroughs 1986: 50) und wenn man so will, verweist der Film auf Burroughs ’ eigene Tendenz zum Selbsthass (cf. Browning 2007: 115). Für Beard sind die verleugneten Impulse der Hauptfigur das Leitthema des Film: The drama of William Lee in the film, then, is to some extent the drama of a character who denies and misrecognizes his own deepest impulses, who is unable to look at them clearly because he feels at some level that they are shameful and wrong, whose resulting inner turmoil gives rise to hallucinations and the acting-out of repressed desires under ‘ cover ’ of a self-invented alibi. (Beard 1996: 834) Der halluzinierte und homosexuell konnotierte Raum Interzone gibt auch Bill die Möglichkeit, sich homosexuell auszuleben. Der Projektionsraum Interzone schlägt sich wiederum in dem Roman nieder, den Bill verfasst. “ Das zentrale Phantasma in ‘ Naked Lunch ’ kreist somit um das Schreiben als unbewußtes Äquivalent für den homosexuellen Akt. ” (Riepe 2002: 144) Dabei zeigt der Film zum einen die positive sexuelle Selbstverwirklichung Bills (mit dem unschuldigen Kiki), während er gleichzeitig grausamen sexuellen Horror miterlebt (Kikis Schändung durch einen zum Insekt mutierten Cloquet). Es ergibt sich also ein tatsächlich ambivalentes Bild zwischen sexuellen Attraktionen und sexuell Abstoßendem (cf. Beard 1996: 847). An diesem Horror ist der Held nicht unschuldig und als er dies einzusehen scheint, ist es zu spät: The heroic artist is transformed into a murderer and a wretched damned soul, after his sad enlightenment as to the true cause and sequence of events, a figure of ultimate self-knowing melancholy. (Beard 1996: 835) Der Künstler befindet sich in einer Zwickmühle, weil er um die Gefährlichkeit seiner inneren Impulse weiß und diese (zumindest in Form von Halluzinationen) auch miterlebt, während er sich dennoch nicht davon lösen kann. Dabei ist Sexualität im Film Naked Lunch, so Seeßlen, “ eine eher freudlose Angelegenheit, intensiv nur dort, wo die Gespenster der unterdrückten Impulse aufeinander losgehen ” (cf. Seeßlen 1992). 4 Selbstreflexion als Strategie der Dekonstruktion von Autorschaft Wie gezeigt wurde, ist der Film Naked Lunch auf vielerlei Art und Weise sehr komplex mit zahlreichen Anspielungen, Selbstbezüglichkeiten und Selbstreflexionen in Form von symbolischen Übersteigerungen durchsetzt, die grundsätzlich ambivalente, unterschiedliche Lesarten zulassen, auch wenn sich wesentliche abstrakte Tendenzen ableiten lassen. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, die Erkenntnisse auf die ursprüngliche theoretische Problemstellung zurückzuführen und die bereits vorgestellte Vermischung der Erzählebenen noch einmal konkret mit Blick auf das vom Film vermittelte Konzept von Autorschaft zu betrachten. 4.1 Dekonstruktion und Selbstreflexion Die Handlung folgt vor allem am Ende keiner wirklichen Kausalkette mehr (cf. Robnik und Palm 1992 b: 104), es ist letzten Endes nicht mal mehr wirklich unterscheidbar, was Realität, was Halluzination, was Teil der Rahmenhandlung, was Teil des Romans ist. Man könnte Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 95 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [95] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL auch noch weitergehen und sagen, Naked Lunch ist durch die zahlreichen Anspielungen, Spiegelungen und durch die vielen losen Fragmente “ eine Parodie jeder Interpretation ” (Seeßlen 1992). Aber das Spiel mit den beiden Erzählebenen (Rahmenhandlung und Roman) wird auch dazu benutzt, um den Begriff des Autors als “ artist hero ” (cf. Beard 2006: 307) zu dekonstruieren. Wenn auch für den Film Burroughs ’ Credo gelten soll, “ Es gibt nur eins, worüber ein Schriftsteller wirklich schreiben kann, nämlich darüber, was ihm im Moment des Schreibens in den Sinn kommt ” (zitiert nach Seeßlen 1992), dann zeigt der Film, wie sehr derAutor als Künstler an sein eigenes Bewusstsein gebunden ist, und dass das Schreiben nur um ihn selbst und seine inneren Zwangsvorstellungen kreist, auch wenn er damit sich und andere ernsthaft beschädigt. Der Autor ist ein Mörder, Drogenabhängiger und jemand, der sich sehr bereitwillig selbst betrügt. Dabei kommt ein Werk heraus, an dessen fast automatischer, tranceartiger Entstehung im Drogenrausch sich der Autor gar nicht mehr erinnern kann. Das Schreiben entzieht sich also seiner Kontrolle, es liegt in der Hand innerer “ Agenten ” und böser Mächte. Er hält sich selbst für eine Art Agent und mit den Worten Dr. Benways ist er schließlich einer, der “ im Begriff ist, seiner eigenen Tarnung auf den Leim zu gehen ” (cf. Naked Lunch, 0: 18: 55 - 0: 19: 00). Der Film stellt durch diese Semantik eine große Verunsicherung her, die ein klares Konzept von Mimesis zwischen Realität, Roman und Film grundsätzlich ablehnt und durch permanente Selbstbezüglichkeit jede kohärente Deutung verunsichert und verweigert. Damit passt der Film Naked Lunch sehr gut in Cronenbergs postmodernes Œ uvre und zu seinen Filmen Videodrome und eXistenZ, die ebenfalls zentral das Thema der verunklärten Repräsentation behandeln: Cronenbergs Filme spielen mit der Dauerkrise von Repräsentation und verschleifen diese mit dem Topos des Unbehagens an der Echtheit der eigenen Welt und des eigenen Körpers. [ … ] In keinem dieser Filme läßt sich [ … ] zu einem beliebigen Zeitpunkt bestimmen, auf welcher der imaginierten Realitätsebenen sich die Figuren befinden. (Meteling 2006: 157) Damit ist der Film Naked Lunch auch eine Aneignung des Romans und der Schriftstellerpersönlichkeit Burroughs durch Cronenberg, der sich in seiner filmischen Adaption von Autor und Werk auch selbst bespiegelt. Nicht nur in Bezug auf Burroughs ist also die Erzählstrategie des Films hochgradig selbstreflexiv. Durch die Halluzinationen untergräbt der Film zusätzlich seinen eigenen Status als fiktive Werkgeschichte und spielt damit, “ weder reine Biografie noch reine Fiktion ” zu sein (cf. Lindwedel 2011: 69). Der Film referiert durch die Vermischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion auch seinen eigenen Status als filmische Adaption (cf. Hantke 2007: 164): Cronenbergs Film ist weniger eine Adaption, als vielmehr ein metareferenzielles Künstlerdrama, das die selbstreflexive Struktur des Romans zum eigenen Prinzip macht. Es ist eine Hommage an Burroughs, ebenso aber auch eine Abrechnung mit dem Kreativitätskult der Beat Generation. (Lindwedel 2011: 68 f.) Schon auf der oberflächlichsten Ebene handelt der Film von der Entstehung von Literatur genauso, wie er offen damit spielt, die Adaption eines “ Kultromans ” zu sein. Es geht bei der fiktiven Entstehungsgeschichte vor allem darum, durch welche Mechanismen man zum Autor wird. Dabei spielt, wie bereits gezeigt, die eigene Schuld eine zentrale Rolle. 96 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [96] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4.2 “ The Mark Inside ” : Kunst zwischen Kontrolle und Kontrollverlust Deviante Sexualität, Drogenkonsum, tranceartiges Schreiben im Rausch, sind, so zeigt es der Film, voller Gefahr für den, der sie auslebt oder mit ihrer Hilfe künstlerisch tätig wird. Der Künstler ist ständig vom Kontroll- und Selbstverlust bedroht. Der kreative Prozess ist, das sagt William Lee selbst an einer Stelle, höchst gefährlich und destruktiv (cf. Beard 2006: 289). 34 Das gilt für andere, es gilt aber insbesondere auch für den filmexternen Autor selbst. Der Film wird durch zwei Motti eingeleitet. Das erste Motto ist ein Ausspruch Hassan I Sabbahs: 35 “ Nothing is true; everything is permitted. ” Das zweite Motto ist eine Textstelle aus dem Roman Naked Lunch: „ Hustlers of the world there is one Mark you cannot beat: The Mark Inside. “ 36 Der Künstler ist zunächst mal, das ergibt sich sowohl aus Burroughs ’ eigenem Schreiben und aus den Anspielungen des Films auf das Agentenfilm-Genre, Teil einer großen Verschwörung, deren Agenten ihn mit aller Gewalt kontrollieren und manipulieren wollen. Dieser paranoide Aspekt macht die Skepsis sowohl des Romans als auch des Films gegen Autoritäten jeglicher Art deutlich. Allerdings wird diese alptraumhafte Verschwörung auch in das Innere des Menschen verlagert. Dabei ist der kreative Prozess im Film Naked Lunch vor allem auch ein Kampf gegen die eigene Ratio, oder wie Seeßlen schreibt: Die Flucht ins ‘ Kreative ’ , so scheint der Regisseur zu folgern, der seinem Helden als kritischer Rationalist in die Spirale der Alpträume folgt, ist keine Lösung. Und übersetzten wir für einen Augenblick das, was der Schriftsteller als Rationalität ausrotten will, mit ‘ Bewußtsein ’ oder, für die Moralisten unter uns, als ‘ Gewissen ’ , dann erleben wir in Cronenbergs Film eine Art Hase-und-Igel- Jagd: Der Autor flüchtet in immer neue Räume der kreativen Phantasie und findet dort doch immer schon die Dämonen seines Bewusstseins. (Seeßlen 1992) Anführer des Plots gegen William Lee sind zum einen die insektenähnlichen Wesen (Riesenwanzen, Mugwumps) und Dr. Benway. Wenn diese Anführer nun allerdings Projektionen des Autors sind, dann liegt der Kern dieses paranoiden Horrors bei diesem selbst: 34 Beard zieht bei dieser Feststellung auch eine Parallele zu anderen Filmen David Cronenbergs, vor allem aus seinem Frühwerk. 35 Hassan I Sabbah, geboren im heutigen Iran, war ein Sektenführer im ausgehenden 11. und frühen 12. Jahrhundert. Vor allem das zitierte Motto wurde von Burroughs immer wieder aufgegriffen (cf. Miles 1993: 149 f.). 36 In der deutschen Fassung ist dies Übersetzt mit: “ Abzocker der Welt, es gibt nur einen Blödmann, den man nicht übers Ohr hauen kann: den Inneren Blödmann. ” (Burroughs 2009: 20) Im das an den Roman Junky angeschlossenen Glossar wird “ Mark ” definiert als: “ Someone easy to rob, like a drunk with a roll of money. ” (Burroughs 1977: 156) In der deutschen Ausgabe, die 1978 in Frankfurt am Main bei Zweitausendeins erschienen ist, fehlt dieses Glossar. Selbstreflexives Erzählen und die Dekonstruktion von Autorschaft in David Cronenbergs Naked Lunch 97 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [97] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL The numerous fantastic manifestations of malignity deriving from Burroughs [ … ] are in the end remorselessly stripped of their agency, the entire epic paranoid drama of the film revealed as a ‘ colossal con ’ played by the artist on himself. 37 (cf. Beard 2006: 306) Der Schriftsteller schreibt nun aber nicht, um den Verlust in dieser Verschwörung zu verhindern. Vielmehr wird er erst durch sie befähigt zu schreiben. Er ist also ein Getriebener der Verschwörung gegen sich selbst, die er eigenverantwortlich (durch Drogenkonsum etc.) angezettelt hat: So writing is not something you do in order to prevent yourself from damaging someone as you have done in the past; rather it is something you are enabled to do after your inner insectinspiration, the asshole you have taught to talk, has started giving you orders. (Beard 2006: 308) Obwohl Bill am Ende hinter die Machenschaften Benways blickt, lässt er sich am Ende doch wieder von ihm anwerben. Die Existenz des Autors schwankt ständig zwischen Widerstand und Unterwerfung unter die Mächte der Kontrolle. Die Wiederholung der Tötung Joans und die von ihm daraufhin gezeigte Melancholie verdeutlichen hierbei, dass der Autor in dieser Tretmühle, aufgebaut auf Wiederholung des immer Gleichen, für immer gefangen zu sein scheint (cf. Robnik und Palm 1992 b: 105): “ Schreiben heißt in Naked Lunch nicht repräsentieren, nachmachen, Ähnliches verfertigen, sondern: wiederholen. ” Diese zirkuläre Erzählstruktur vermittelt auch, dass der Autor kein für sich abgeschlossenes Werk mehr schafft. 38 Der Autor muss sich ständig wiederholen und korrigieren, daher ist sein Werk auch keine statische Größe mehr. Zum Schriftsteller zu werden ist letzten Endes allerdings mit einem (zumindest zeitweiligen) Selbstverlust korreliert, der dem Autor schlimme Qualen bereitet. Der Preis dafür, Autor zu sein, so scheint es, ist also immens hoch (cf. Beard 1996: 839). 5 Der Autor - “ Ein Monster wie du und ich? ” Die biografischen Verweise scheinen gar nicht dazu zu dienen, das konkrete Leben des Schriftstellers - wie man das in einem konventionellen Biopic für normal halten würde - als besonders herausragend oder extravagant zu markieren. Viel mehr wird ein Autorkonzept entworfen, dass davon ausgeht, dass der Autor von persönlicher Schuld und Paranoia getrieben ist. Der kreative Prozess scheint gar nicht möglich, ohne sich an der Gesellschaft zu verschulden, die einem wiederum durch fast totalitäre Kontrollmechanismen auf den Fersen zu sein scheint. Sucht, Sex, Gewalt, Irrsinn und Traumata erscheinen nahezu als Quellen kreativen Schaffens (cf. Hantke 2007: 164). Selbst die Schreibmaschinen entspringen der Halluzination und sondern wiederum halluzinogene Drogen ab, und es ist schwer zu sagen, was kausal auf das andere folgt. Dabei geht der Film durchaus kritisch mit dem Künstler um, beschreibt seinen Selbstbetrug, die Ausbeutung anderer für sein Schaffen ( Joan muss zweimal sterben, damit er Künstler wird und bleibt) und seine Flucht in Drogen. 37 Beard greift mit ‘ colossal con ’ eine Wendung auf, die im Film (in der deutschen Fassung: “ mieser Schwindel ” ) selbst auftaucht und von Bill gebraucht wird, als ihm seine Freunde das Manuskript vorlegen. 38 Das findet auch in gewissem Sinne seine Entsprechung in Burroughs ’ Werk: So wurden bereits publizierte Bücher von ihm von Neuauflage zu Neuauflage umgeschrieben und ergänzt. Er selbst meinte, sein ganzes Werk sei im Grunde ein einziges Buch (cf. Miles 1993: 135). 98 Benjamin Weiß (Bonn) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [98] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Der Film scheint damit anzudeuten, dass die Texte von Burroughs nicht ohne den konkreten Menschen Burroughs zu deuten sind, was vor allem ja daran deutlich wird, dass ein quasi-reales Ereignis (der Tod von Burroughs ’ Frau) als psychologischer Erklärungsversuch für seine Produktivität herangezogen wird. Der Film setzt also den empirischen Autor als wichtige Verstehensgrundlage des Werks, dabei spiegeln sich das Reale (sprich biografische Begebenheiten) und das Imaginäre (das Werk) ineinander. Das Konzept in Cronenbergs Naked Lunch ist also trotz existenzialistischer Tendenzen nicht wie bei Sartre, nämlich dass “ das Erscheinen des Kunstwerks ein neues Ereignis [ist], das sich nicht durch frühere Gegebenheiten erklären läßt ” (cf. Sartre 2000: 110). Zwar bezieht sich der Film auf ein zu großen Teilen literarisch und medial konstruiertes Bild von Burroughs, das durch gewisse Distanzierungen zusätzlich gebrochen wird, dennoch ist der wichtigste psychologische Auslöser im Film ein biografisches Moment, das so - mit Ausnahme des angesprochenen Vorwortes zu Queer - in keinem Werk des realen Schriftstellers vorkommt. Der Film wertet also die Bedeutung der realen Person Burroughs für sein Werk deutlich auf, gerade weil er auf ein Ereignis ( Joan Vollmers Tod) zurückgreift, das (wenn im Film auch verfremdet und wiederholt) auf Wissensbestände zurückgreift, die quasi nur durch die Rezeption von Texten über den realen Autor Burroughs, nicht über die Rezeption von Texten des realen Autors Burroughs bekannt sind. Einerseits ist derAutor damit in gewisser Weise jemand, dessen Werk einerseits zwar Phantasmen und inneren, nicht ausgelebten Horror widerspiegelt. Andererseits ist der Auslöser für die Niederschrift mitunter das real Erlebte. Der Autor in Cronenbergs Film scheint nicht ohne Ausschweifung, Gewalt und Exzesse denkbar, auch wenn dies nie verherrlicht wird. Schreiben ist vielmehr vom Status her dem realen Leben gleichgestellt (cf. Beard 2006: 282). Verabschiedet wird dabei vielleicht nicht weniger als die Vorstellung vom Autor (oder vom Künstler allgemein) als Intellektuellen. Vielmehr ist er hier mit Seeßlen (cf. Seeßlen 1992) ein “ Monster wie du und ich ” . Bibliographie Barthes, Roland 2000: “ Der Tod des Autors ” , in: Jannidis, Fotis et al. (eds.) 2000 a: 185 − 193 Bauer, Ludwig et al. (eds.) 1987: Strategien der Filmanalyse. 10 Jahre Münchner Filmphilologie, München: Diskurs-Film-Verlag Beard, William 1996: “ Insect Poetics: Cronenberg ’ s Naked Lunch ” , in: Canadian Review of Comparative Literature 23.3 (1996): 823 − 852 Beard, William 2006: The Artist as Monster. 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SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Kartografie einer Geschichte Analyse selbstreflexiver Erzählelemente und der Medialität in Cloud Atlas Steffi Krause (New York) By claiming “ everything is connected ” as a slogan the movie Cloud Atlas (2012) already suggests an analytical perspective that goes beyond the decoding of the individual film segments. Instead, coherence is given by intersecting semantics of individual segments and their amalgamation into an overarching film narrative. The latter is established primarily through self-reflective processes and the specific use of media in the film. This essay will therefore focus on both the functions and semantics of the self-reflective narration and the discourse of mediality itself in Cloud Atlas. In a first step, the analysis will retrace the elements and symbols connecting individual episodes while also questioning them regarding their modes of transmission and susceptibility to manipulation. By reconstructing the relevance and semantics of those media artefacts, it is possible to reveal the superordinate level of meaning of the movie as they form an interreferential network and contribute significantly to the creation of meaning for both the protagonists and the film as a unit of meaning beyond itself. 1 Von unverfilmbar zu voll verbunden: Vorüberlegungen Als “ unverfilmbar ” (Pilarczyk 2012) galt das im Jahre 2004 erschienene Buch Cloud Atlas von David Mitchell, welches 2012 schließlich dennoch eine Adaption für die Leinwand erhielt (Cloud Atlas, Cloud Atlas - Alles ist verbunden, USA 2012, Tom Tykwer/ Lana Wachowski/ Andy Wachowski). Nicht zuletzt aufgrund dieser Klassifikation wurde die Veröffentlichung des dreistündigen Films von einer Rhetorik begleitet, die eine Bewertung der Besonderheit des Films teilweise unabhängig von seiner inhaltlichen Qualität betrachtet. So wird er als “ größenwahnsinnig ” (cf. Seeßlen 2012), als “ Mammutwerk ” (cf. Pilarczyk 2012) oder als “ aufgeblasen in seiner Ambition ” (cf. Pilarczyk 2012) bezeichnet. Diese Beschreibungen beziehen sich nicht zuletzt auch auf Aussagen des Romanautors selber (cf. Spines 2012), wodurch der Film Cloud Atlas schon vor seiner Veröffentlichung sowohl einem gewissen Hype als auch einem fixierten Rezeptionsrahmen ausgesetzt war, der sich in beinahe allen Rezensionen widerspiegelt. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [102] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Basis für die Annahme der Unverfilmbarkeit des Buches ist dessen komplexe Handlung (cf. Seeßlen 2012), welche sich in sechs abgeschlossenen narrativen Strukturen über sechs Epochen erstreckt, verschiedene Genres abbildet und an zahlreichen Stellen miteinander verknüpft wird. 1 Besonders der Aspekt der Vernetzung verschiedener zeitlich und räumlich weit auseinanderliegender Handlungsebenen in einem fortlaufenden filmischen, a-chronologischen Kontinuum wird nicht nur innerfilmisch ästhetisch, sondern auch metafilmisch auf allen Distributionskanälen als relevant hervorgehoben. Dem Film wird in der Vermarktung auf Plakaten und Werbematerialien von Warner Brothers das Motto “ Future. Present. Past. Everything is connected ” gegeben; in der deutschen Filmversion findet sich dieses sogar im Titel ( “ alles ist verbunden ” ) wieder. Eine derartige Rahmung des Films offenbart bereits ein Desiderat für seine Untersuchung: Es gilt herauszuarbeiten, inwiefern die einzelnen Segmente oder Fragmente des Films tatsächlich auf eine kohärente und den isolierten Erzählebenen übergeordnete Gesamtbedeutung des ‘ Textes ’ 2 hinarbeiten, welche Funktionen also die zahllosen Korrelationen und Spiegelungen auf den Ebenen des Discours und der Histoire für die koexistierende episodenspezifische und eine mögliche universelle Sinnstiftung erfüllen. So oder so gibt ein derartiges Motto auch unabhängig von einer analytischen Perspektive jedenfalls schon eine spezifische Lesart für die Rezipientinnen und Rezipienten vor, einen Rahmen, der das Verstehen des Films auch ohne dessen Durchdringung bis ins Detail - immerhin dauert der Film drei Stunden - möglich macht. Diese Zuschauerlenkung wird verstärkt, indem die zentral und dominant etablierten Paradigmen, Korrelationen und Bedeutungszusammenhänge redundant auf allen Ebenen und in allen Segmenten vermittelt werden. Angesichts der daraus resultierenden Vielzahl der Zugriffspunkte gehen die folgenden Ausführungen privilegiert auf die Erzählsituation, ausgewählte Elemente der Montage und die Filmmusik ein und arbeiten ihre Funktionen für die Medialität des Films heraus. 2 Alle Stimmen sind geschmolzen zu einer: die Erzählinstanz Cloud Atlas lässt sich jenseits ihrer sie alle vernetzenden Präsentationsebene in sechs voneinander unabhängig erscheinende narrative Strukturen - im Folgenden als Episoden bezeichnet - gliedern, welche zu verschiedenen Zeitpunkten in der - vom Produktionszeitpunkt aus gesehen - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft situiert sind und je eigene, im Grunde abgeschlossene Handlungsstränge entwickeln. Das Figureninventar der jeweiligen Episoden lässt sich dabei grob differenzieren in (i) Hauptprotagonisten, aus deren 1 Die Fragmentierung der sechs Episoden in verschiedene Segmente und ihre Rekombination erzeugt im so genannten ‘ Short Cuts ’ -Erzählmodell den Effekt, dass die einzelnen Teilals simultane Parallelgeschichten semantisiert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass der Beitrag nicht ausführlich auf Cloud Atlas als ‘ Short Cut ’ -Film eingeht. Ausführliche Grundlagen zu ‘ Short Cut ’ -Narrationen liefert cf. Nies 2007, zu Cloud Atlas als eine ‘ Short Cut ’ Narration cf. Nies 2015. 2 Texte wie Literatur und Film werden hier mit Jurij M. Lotman als “ sekundäre Modell bildende Zeichensysteme ” verstanden (cf. Lotman 1993: 22). Kartografie einer Geschichte 103 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [103] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL eingeschränkter Perspektive die Episoden erzählen, (ii) ihnen entgegengesetzte Antagonisten und (iii) Sympathisanten und Helferfiguren (cf. Abb. 1), die in der Erzählung eine unterschiedlich große Rolle spielen. Innerhalb der Diegese gibt es dabei variierende Erzählstandpunkte und Erzählinstanzen, die sich den sechs einzelnen, eigentlich chronologisch aufeinander folgenden Episoden zuordnen lassen. Dabei werden die sechs rekonstruierbaren Episoden fortlaufend so miteinander verschnitten, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer oft während einer Handlung mit Sprüngen durch Zeit und Raum von einer Episode in einer anderen Episode konfrontiert werden. Abb. 1: Übersicht aller Episoden und der sie verbindenden Medien (eigene Darstellung) Die sechs Episoden werden jedoch alle durch eine übergeordnete, intradiegetisch körperlich repräsentierte Erzählinstanz gerahmt. Die Narration wird durch eine zu diesem Zeitpunkt unbekannte Figur initiiert und beendet, wobei diese Rahmenebene weder zeitlich noch räumlich näher bestimmt wird. Hierdurch wird die Rahmenerzählung nicht nur im Kontrast zu den anderen eindeutig zeitlich und räumlich situierbaren Episoden als exzeptionell ausgewiesen. Zu Beginn des Films ist zudem unklar, wer Adressat dieser Erzählung ist. Statt in Richtung eines potentiellen innerfilmischen Publikums, richtet sich der Blick des Protagonisten durch die vierte Wand hinweg direkt in die Kamera (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 00: 01) 3 . Dadurch wird zumindest suggeriert, dass der Sprecher sich an die realen Zuschauerinnen und Zuschauer im Kinosaal wendet. Hierdurch nimmt die Rahmenerzählung eine gewisse Transzendenz des Erzählten über den Film hinaus vorweg, da sie unabhängig von deren Raum und Zeit Gültigkeit beansprucht. 3 Hier wie im Folgenden werden Belege aus dem Film Cloud Atlas mit dem Timecode in Stunden: Minuten: Sekunden angegeben, zu denen die Belegstelle beginnt. 104 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [104] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 2 und 3: Zacharys Erzählperspektive zu Beginn des Films und in der diegetischen Auflösung (eigene Screenshots) Diese Eingangsperspektive wird am Ende des Films teilweise aufgelöst, indem den Zuschauern mithilfe einer Schultereinstellung die Zuhörer dieser Rahmengeschichte gezeigt werden: Eine Gruppe Kinder, die um ein Lagerfeuer versammelt sind (cf. Cloud Atlas, 0: 02: 34). Dies ist insofern keine problematische Auflösung, als der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls weiß, dass der Erzähler der Rahmenebene der gealterte Zachary ist, der Hauptakteur der sechsten Episode. Zachary wird dieser Episode demnach enthoben und bündelt alle Episoden als gleichermaßen isolierte und zugleich doch miteinander verbundene Aspekte einer kohärenten Geschichte. Dieser zunächst auf der Darstellungsebene eingeführte Zusammenhang setzt sich auch auf der Ebene der Histoire fort und wird durch Zacharys Monolog eingeführt: Oh, einsam ’ Nacht. Die Babas brüllen. Wind frisst ‘ rum an Knochen. So ’ n Wind wie der ist mit Stimmen voll. Die Vord ’ ren heulen dir Fabeln zu, Gebrabbel von Geschichten. Alle Stimmen sind geschmolzen zu einer. Aber eine Stimme ist nicht wie die andern. Sie flüstert in der Nacht, beglotzt dich aus dem tiefen Dunkel; der gefressliche Teufel, Old Georgie selber. (Cloud Atlas 2012, 0: 01: 00) Kartografie einer Geschichte 105 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [105] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Hier werden verschiedene Aspekte des Films vorausgegriffen und durch die Rahmung am Ende für den Zuschauer rückwirkend auch als Präsuppositionen sichtbar markiert. Zachary referiert auf den Wind als Medium einer Erinnerungskultur, als Mittler von Stimmen und Mythen, welche sich in der hier gewählten Form der Lagerfeuererzählung wieder materialisieren. Dabei sind viele dieser Geschichten und Erinnerungen zu einer übergeordneten Stimme synthetisiert worden, einem dem Anschein nach der Menschheitsgeschichte übergeordneten Paradigma, welches sich in ihnen wiederfindet. Bereits in dieser Urgeschichte kristallisiert sich ein Antagonist heraus, welcher von Zachary als der Teufel bezeichnet wird, und dem damit ein Konglomerat kultur- und religionsübergreifender negativer Werte und Charakteristika zugeordnet werden kann. Die folgende Geschichte sei ein Bericht des ersten Treffens mit diesem Teufel (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 02: 00), wobei eben keine Überleitung zu Zacharys Episode, sondern zum Fragment von Adam Ewing und dessen erster Begegnung mit Henry Goose erfolgt, die im Jahr 1849 stattfindet. Dieser Anschluss ist jedoch keinesfalls beliebig, im Gegenteil: Goose nimmt in dieser Episode tatsächlich die Funktion des Antagonisten ein. Allerdings erfolgt diese Markierung der Figur als Gegenspieler durch Zacharys Einleitung lediglich für die Zuschauerinnen und Zuschauer, welche also gegenüber Ewing als Figur in der ersten Episode einen Wissensvorsprung haben und die Intention und Handlungen der Figur noch vor deren Inszenierung antizipieren können. Die Rahmenerzählung eröffnet also eine weitere Komplexitätsreduktion, die das Verstehen des Films erleichtert, da sie eine klar binär aufgeteilte Kategorisierung von Figuren in ‘ gut ’ versus ‘ böse ’ zulässt. Zusätzlich zum Rahmenerzähler wird die Handlung der einzelnen Episoden durch eine eigene Erzählinstanz, meist retrospektiv, berichtet. Zwar können die Erzählpositionen in der Regel einem Protagonisten zugeordnet werden, sie wirken jedoch nie nur in ihre eigene Erzählebene hinein, sondern weisen signifikanteVerknüpfungspunkte zu anderen Episoden auf. So wird im Verlauf des Films durch die Montage häufig das Gesagte einer Episode in einer anderen Episode realisiert, erhält eine entsprechende Referenzhandlung und damit sowohl eine von vielen möglichen Interpretationen als auch einen übergeordneten Wahrheitswert innerhalb der Diegese. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet Sonmis Verhör in der fünften Episode, in dessen Verlauf sie über ihre Vorstellung von einem Leben nach dem Tod berichtet. Ich glaube, dass der Tod nur eine Tür ist, wenn sie sich hinter uns schließt, wird sich eine andere öffnen. Wenn ich mir vorstellen wollte, was der Himmel ist, dann würde ich mir eine Tür vorstellen, die sich öffnet und dahinter ist er [ihr Geliebter Hae-Joo Chang, Anm. v. S. Krause] und wartet auf mich. (Cloud Atlas 2012, 2: 34: 00) Gleichzeitig zum Gesagten werden zunächst die Kampfszenen, bei deinen Hae-Joo ums Leben kommt, und dann die Heimkehr Adam Ewings durch die Haustür zu seiner geliebten Frau Tilda aus der ersten Episode gezeigt. Hier wird die metaphorische Tür in der fünften also zu einer konkreten Pforte in der ersten Episode, durch die der Geliebte hindurchtritt. Auffällig geht bei diesem Beispiel auch eine weitere Strategie des Films auf. Beide Paare der jeweiligen Episoden sind mit denselben Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, was die übergreifende Botschaft des universellen Zusammenhangs allen Lebens, den Sonmi proklamiert, bestätigt (cf. Nies 2015: 356). An vielen Stellen wird diese Transzendenz des 106 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [106] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Lebens durch die Mehrfachbesetzung eines relativ überschaubaren Hauptcasts bestätigt, der in den jeweiligen Episoden an verschiedenen Stellen auftaucht. Statt einer Endlichkeit des Lebens manifestiert sich hier also dessen prinzipielle Unendlichkeit, wobei die gesellschaftlichen Funktionen und Rollen der Menschen variieren und sie abwechselnd gut oder böse sind und abwechselnd als Protagonisten oder Antagonisten agieren. Wiedergeburt, wie sie das beschriebene Beispiel suggeriert, wird hier zur Grundannahme der Diegese. Die im Beispiel gezeigte sowohl auditive als auch visuelle Verknüpfung der beiden Paare ist also weder Zufall noch irrelevant, sie verdeutlicht vielmehr die Konkretisierung der filmspezifischen Anthropologie und des narrativen Sinnstiftungsangebots. Während Sonmi und Hae-Joo tragisch sterben, finden Adam und Tilda schließlich glücklich zusammen. Obwohl es insbesondere die Erzählinstanz der Rahmenerzählung ist, die “ eine Kohärenz stiftende narrative Ordnung erkennbar [macht] ” (cf. Nies 2015: 346) tragen auch die Erzählerstimmen der einzelnen Episoden dazu bei, dass die Diegese innerhalb dieses Rahmens als kohärentes Ganzes, als semantisches Gesamtwerk interpretiert werden kann, dessen einzelne Ebenen zwar zum Teil redundant auf sich selbst verweisen, damit jedoch ein dichtes Netz an Interpretations- und Referenzvorlagen zur Verfügung stellen, welche sich als eine Art Verstehensfolie auf den Film projizieren lassen und damit jederzeit den Zugang zu dieser Gesamtsemantik ermöglichen. 3 Nahtlose Übergabe: Verknüpfungselemente zwischen den Episoden Die zunächst durch die Erzählebenen dominant auditive Ebene der Kohärenzschaffung wird vielfach durch visuelle Elemente ergänzt. So bieten entweder vergleichbare Ereignisse oder ähnliche Geräusche Anschlusspunkte für einen Schnitt und eine Fortsetzung in einer anderen Episode. Gleich zu Beginn des Films wird das Laden der Pistole von Robert Frobisher mit dem Klang der magnetischen Fesseln Sonmis überspielt (cf. Cloud Atlas 2012: 0: 03: 00) und eine Bitte um Hilfe, die 1973 telefonisch an Luisa in der dritten Episode gestellt wird, löst sich 2012 durch ein nahtlos anschlussfähiges Telefonat zwischen Timothy Cavendish und seinem Bruder in der vierten Episode auf (cf. ebd. 0: 42: 00). Auch gleiche Bewegungsabläufe und Perspektivierungen bieten Anlass für den Sprung zwischen verschiedenen Sequenzen. Eine Verfolgungsszene in der fünften Episode im Jahr 2144 wird etwa mit einer für den Sklaven Autua vergleichbar lebensbedrohlichen Szene in der ersten Episode im Jahr 1849 parallelgeführt, indem die Schnitte einerseits kürzer und andererseits als Extension des Vorangegangenen eingesetzt werden. Dies wird in der genannten Sequenz mehrfach aufeinanderfolgend vollzogen, etwa durch eine parallele Perspektivierung des jeweils Verfolgten aus der dem Verfolger zurechenbaren Froschperspektive. Hierdurch entsteht nicht nur eine Unmittelbarkeit der Gefahr, welche funktional für die jeweiligen Episoden ist, sondern erneut ein gemeinsamer Rahmen für Erwartungen, die der Zuschauer an den Ausgang des Geschehens stellen kann. Beide möglichen Ausgänge werden dabei exerziert: Während die Verfolgungsjagd im Jahr 2144 mit Sonmis Festnahme und Hae-Joos vermeintlichen Tod endet, wird das Leben des Sklaven Autua im Jahr 1849 verschont. Vergleichbar zu diesem Beispiel bietet auch ein gemeinsames narratives Paradigma wie Verfolgung und Bedrohung oder Freiheit (cf. zum Beispiel Cloud Kartografie einer Geschichte 107 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [107] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Atlas, 1: 21: 00) Anlass zur Verknüpfung. Diese unmittelbaren Kohärenzmittel sind insofern funktional für den Film, als er häufig und nicht chronologisch zwischen den Episoden springt und diese in Abfolgen von ca. 150 Sequenzen präsentiert. 3.1 Der Komet als sinnstiftendes anthropologisches Zeichen Eine weitere filmübergreifende Verknüpfung erfolgt durch das Zeichen des Kometen, welcher in Form eines Muttermals der Protagonistinnen und Protagonisten in allen Episoden auftaucht. Dies ist in zweierlei Hinsicht relevant für die Vermittlung der Filmsemantik: Der Komet repräsentiert erstens sowohl eine Welt abseits der Erde und der Materialität, die den Menschen zugänglich ist als auch die Anwesenheit und Sichtbarkeit von Materie, die eigentlich bereits vergangen ist und nicht mehr existiert. Er kann demnach als Zeichen verstanden werden, welches auf die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft referiert. Dies zeigt sich im Gespräch zwischen Sixsmith und Luisa in der dritten Abb. 4 und 5: Anschluss durch Montage gleicher Bewegungsabläufe (eigene Screenshots, Cloud Atlas 2012, 01: 18: 00) 108 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [108] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Episode, indem Sixsmith das Muttermal erkennt - sein früherer Geliebter Robert Frobisher hatte es ebenfalls in der zweiten Episode - und Luisa als Folge dessen ebenfalls mit positiven Charaktererwartungen versieht. Er macht sie zur Trägerin seines Wissens über die Korruption rund um den Atomreaktor auf der Insel Swannekke und stößt als Konsequenz die eigentliche Handlung dieser Episode an (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 18: 00). Zweitens suggeriert das gleichförmige Muttermal einen genetischen Zusammenhang der Figuren und verstärkt damit den Gedanken einer Verbundenheit allen Lebens, wie er bereits zu Beginn formuliert wird. Folgt man dieser Lesart, wird die entsprechend zugrundeliegende Semantik am Filmende nochmals überhöht, wenn nicht nur das Muttermal auf Zacharys Hinterkopf sichtbar wird, sondern der Film mit einer Totalen auf die bereits eingangs gezeigte Milchstraße endet, welche von einem Kometen gekreuzt wird (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 41: 00). Die Verbindung aller Figuren, welche offenbar kosmische und damit über den Einflussbereich des Menschen hinausgehende Ursachen hat, setzt sich hier also über die Erzählinstanz hinaus fort und etabliert sich als Grundgedanke, der als Teil einer intradiegetischen Offenbarung Sonmis auch verbalisiert wird (cf. Cloud Atlas 2012: 2: 33: 00): “ Unsere Leben gehören nicht uns. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit anderen verbunden. In Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft. ” Sowohl die hier vermittelte Konzeption des Lebens als transzendent und über den individuellen Körper hinausgehend als auch die Vorstellung, dass Handlungen einen Kausalzusammenhang für die Zukunft aller Menschen haben, werden mit keiner einzelnen Religion oder Kultur verknüpft, sondern synthetisieren verschiedene Modelle zu einer universellen Anthropologie. 3.2 Das Wolkenatlassextett als musikalischer Nexus Die Filmmusik wird ebenfalls in diese filmische Anthropologie integriert und dient neben den oben genannten visuellen Beispielen der auditiven Verknüpfung der Handlungsstränge. So komponiert Vyvyan Ayrs mithilfe Robert Frobishers etwa das Stück Ewige Wiederkehr, welches filmintern als gleichermaßen “ vollendet ” und “ tollkühn ” bezeichnet wird (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 50: 00), jedoch semantisch von geringerer Relevanz bleibt. Anders ist dies beim titelgebenden Wolkenatlassextett, welches von Frobisher allein komponiert wird. Dessen Fertigstellung passiert filmisch genau in dem Moment, in dem Sonmi ihre Offenbarung über das Leben hat und sich entschließt gegen die unterdrückerische Regierung aufzubegehren (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 23: 00). Diese Stelle markiert ein im Film wiederkehrendes Paradigma der Autonomiegewinnung einer bisher unterlegenen Person als Repräsentantin eines schwächeren Kollektivs gegen seine Tyrannen, welches durch die spezifische Inszenierung unwiderruflich mit dem Sextett verbunden wird. Es taucht daher an solchen Stellen im Film sowohl in Ausschnitten als auch in voller Länge auf, die diesem Paradigma entsprechen und kontextualisiert diese sowohl explizit als auch implizit als Sequenzen, in denen Figuren gesellschaftlich gesetzte Konventionen zugunsten der Autonomiegewinnung brechen, wie etwa Frobishers Abschiedsbrief an Sixsmith vor seinem Selbstmord (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 00: 00), Sonmis Sexszene mit Hae- Joo (ebd.) oder Cavendishs Liebesszene mit Jugendliebe Ursula (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 59: 00). Auch die Reporterin Luisa stößt bei ihrer Recherche über Sixsmith auf das Sextett Kartografie einer Geschichte 109 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [109] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL und scheint sich entgegen aller Wahrscheinlichkeiten daran zu erinnern (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 57: 00). Erneut werden hier Bezüge zu ihren vorherigen Figurenidentitäten sichtbar, welche sich in der Entstehungsgeschichte des Sextetts widerspiegeln. Frobisher proklamiert, “ komplette Sätze in der Vorstellung geschrieben [zu haben], dass wir zwei [Ayrs und er, Anm. S. Krause] uns in unterschiedlichen Leben und Epochen immer wieder treffen ” (cf. Cloud Atlas 2012: 1: 30: 00). Das Stück ist demnach genuin als Konnex oder auch als Medium angelegt, welcher/ welches Zeit und Raum überwindet und im Discours eine Möglichkeit zur Kontextualisierung, Rahmung und Auflösung von einzelnen Sequenzen bietet - etwa des Traums von Sixsmith, der dramaturgisch mit der Melodieführung gleichgeführt wird (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 00: 00). Dies passiert vor allem an solchen Stellen im Film, an denen keine weitere Verortung oder Verknüpfung durch die Erzählinstanz geleistet wird. Zusammenfassend kann herausgehoben werden, dass der Film sein Motto der Verbundenheit und Kohärenz auf Ebene des Discours selbstreferenziell umsetzt. Die bis zu 150 Sequenzen aus insgesamt sechs Episoden werden redundant sowohl auf einer rein technischen Ebene entweder durch Parallelführungen von Kameraeinstellungen und -perspektiven oder durch Geräusche und Musik als auch auf einer tieferen Ebene durch sich wiederholende Symboliken und Paradigmen sowie das Wolkenatlassextett miteinander verknüpft. Dabei ist das titelgebende Musikstück selbst eine perpetuierte Referenz auf die Struktur des Films: Obwohl dieser aus sechs einzelnen Episoden besteht, kann nur durch die Gesamtheit aller dieser Fragmente ein Gesamtwerk entstehen. 4 Inhaltliche Spiegelungen Die bisherigen Ausführungen haben bereits darauf hingewiesen, dass die Verknüpfung der Episoden und Szenen nicht nur oberflächlich, etwa zur visuellen Kohärenzschaffung, sondern auch als Instrument der Verstärkung der diskutierten Werte und Normen dient. Auf ausgewählte Beispiele, in denen die inhaltlicheVerknüpfung im Vordergrund steht, genauer vier horizontale Spiegelungen, soll nun eingegangen werden. Eine erste Spiegelung lässt sich zwischen Adams und Zacharys Episode identifizieren. Adam Ewing kämpft in der ersten Episode nach der Vergiftung durch den Antagonisten Goose um sein Leben, während letzterer ihn berauben will. Zachary ist mit seinem Schwager und Neffen in der sechsten Episode in einer Schlucht von Kannibalen umzingelt und versteckt sich, während seine Verwandten exponiert sind. Beide Situationen verlaufen zunächst insofern analog, als eine Bekämpfung des Antagonisten Goose oder der Kannibalen jeweils nur durch eine dritte Partei möglich ist. In Adams Fall ist dies der Sklave Autur, während es in der sechsten Episode Zachary ist, der seinen Verwandten das Leben retten kann. Für den Zuschauer wird diese Verknüpfung erst an späterer Stelle verdeutlicht, sie zeigt sich jedoch schon in der an beiden Stellen wiederholten Formel: “ Es wandern die Schwachen den Starken in den Rachen ” (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 34: 00). Die Unterscheidung dessen, wer als stark oder schwach semantisiert wird, zeigt sich in den Handlungen der Figuren. Während Zachary in seinem Versteck bleibt, überwältigt Autur Goose und rettet Ewing das Leben. Die Überwindung des Tyrannen, wie sie bereits oben als Paradigma beschrieben wurde, findet sich auch hier wieder und kann nur durch Mut und freundschaftlichen Zusammenhalt umgesetzt werden. 110 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [110] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Dies bestätigt sich durch eineWiederholung der Gefahrensituation für Zachary, bei der er vor dieselbe Entscheidung des Verharrens oder Helfens gestellt wird (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 27: 00). Relevant sind nun einerseits die eingangs benannte Korrelation zwischen Goose und dem Teufel und andererseits der Fakt, dass sowohl Zachary als auch Goose mit Tom Hanks vom selben Schauspieler verkörpert werden. Gooses Vergangenheit und Untaten in der ersten Episode werden also jetzt in der sechsten Episode durch den Teufel (HugoWeavig als Old Georgie) verkörpert, der Zachary imaginär erscheint. Gooses Vergangenheit und Untaten sind damit transformiert auch in Zacharys Gegenwart präsent. Auffällig ist auch Zacharys Steinkette, die den Westenknöpfen gleicht, welche Goose dem sterbenden Ewing stiehlt (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 27: 00). Erst durch Rückbesinnung auf Sonmis Geschichte, die als Mythos in der postapokalyptischen Welt fungiert, und durch das Zerreißen der ihn symbolisch an diesen Mythos fesselnden Kette im Kampf kann Zachary Meronym helfen und die Kannibalen besiegen. Hier befreit sich der Protagonist also nicht nur symbolisch, sondern auch explizit von den Geistern seiner Vergangenheit und seinen inneren Dämonen und emanzipiert sich von der Unterdrückung seines Denkens und Handelns ebenso, wie von der ihn fremdbestimmenden mythischen Erzählung. Die zweite relevante Spiegelung auf der Ebene der Gesellschaftskonstitution entsteht zwischen der Episode um Adam Ewing und der von Sonmi. Beide Weltmodelle werden von einer initialen als “ naturgegeben ” (Cloud Atlas 2012, 2: 39: 00) konstatierten Weltordnung bestimmt, welche bestimmte ethnische Kollektive (einerseits Sklaven, andererseits Duplikanten) als minderwertig ansieht und unterdrückt. Beide Protagonisten müssen diese Ordnung überwinden, indem sie ein eigenes Weltbild und einen freien Willen entwickeln. Dies ist jeweils nur durch eine emotional-affektive Grenzüberschreitung möglich. Ewing auf der einen Seite freundet sich mit Autur an und erodiert damit die Hierarchisierung zwischen Weißen und Schwarzen. Sonmi verliebt sich in ihren Befreier und schläft mit ihm, wodurch sie die Zweckausrichtung der Duplikanten auf die Arbeit unterläuft. Beide werden zudem in die Lage versetzt, ihr neu erlangtes Weltbild gegenüber Vertretern der traditionellen Weltordnung zu behaupten. Ewing verbrennt den für seinen Schwiegervater gedachten Sklavenvertrag (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 37: 00) und schließt sich den Sklavenbefreiern an. Sonmi gibt ihre Offenbarung vor ihrem Tod an den Verhörleiter weiter, sodass jeweils ein Erhalt des nonkonformen Gedankenguts gesichert ist (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 35: 00). Die dritte betrachtete Spiegelung manifestiert sich auf der Ebene der Paarbeziehungen. So gibt es jeweils zwei Mal eine Paarung, die durch die gleiche Schauspielerin und den gleichen Schauspieler verkörpert wird und die einmal tragisch und einmal glücklich endet. Die beginnende Beziehung zwischen Isaak und Luisa in der dritten Episode etwa wird durch Isaaks Ermordung unmöglich. Zachary und Meronym hingegen finden in der sechsten Episode zueinander. Die Beziehung zwischen Hae-Joo und Sonmi in der fünften Episode endet mit deren Tod, während Tilda und Adam in der ersten Episode zueinander finden. Hier perpetuiert sich die Möglichkeit zur Wiedergeburt, wobei das Verhalten der Protagonisten den Ausgang der Geschichte nur eingeschränkt definiert. Vielmehr wird deutlich, dass die Relevanz emotional-affektiver Beziehungen allgemein im Film besonders hoch ist, da sie Katalysator für Handlungen einerseits und die individuelle Emphase der Figuren andererseits ist, unabhängig von deren Schicksal. Dies zeigt sich auch in der Re- Kartografie einer Geschichte 111 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [111] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Installierung der Beziehung von Cavendish zu seiner Jugendliebe Ursula (Cloud Atlas 2012, 2: 35: 00) oder dem ungebrochenen Glauben des gealterten Sixsmith, dass seine Liebe zu Frobisher auch über dessen Tod hinaus real sei (cf. Cloud Atlas 2012, 2: 29: 00). In einer weiteren Spiegelung wird eine direkte Relation zwischen Adam Ewing und Robert Frobisher hergestellt. Letzterer proklamiert diese Verbindung selbst, indem er sich etwa als Ewing in einem Hotel ausgibt, um nicht erkannt zu werden, oder, indem er in Briefen an Sixsmith darauf hinweist, dass Ewing blind gegenüber seinen potentiellen Antagonisten sei und damit Stellung zu dessen Leben bezieht (cf. Cloud Atlas 2012, 0: 40: 00 & 1: 43: 00). Interessant ist nun, inwiefern diese Relation zum Problem für Frobisher wird. Da er nur das halbe Buch Ewings lesen konnte, hat Frobisher auch keine Kenntnis vom positiven Ausgang der Geschichte. Stattdessen ist er dem Glauben verhaftet, dass die Vergiftung Ewing zum Verhängnis wird. Analog dazu schätzt auch er seine Zukunft als problematisch ein. Die scheinbare Ausweglosigkeit der Situation und die Angst vor der gesellschaftlichen Isolation führen dazu, dass Frobisher Suizid begeht, noch bevor eine dritte Partei eingreifen und ihn retten kann. Als Komponist des Sextetts jedoch hinterlässt er den Konnex zu seiner eigenen Zukunft. Insgesamt fällt auf, dass viele der zentralen inhaltlichen Spiegelungen die zeitlich erste Episode betreffen. Obwohl diese den Ursprung der diegetischen Chronologie bildet, ist sie keinesfalls als genuine Ursprungsgeschichte zu verstehen. Vielmehr erlauben die Rückbezüge auf diese Episode ein Verständnis und eine Grundlage für die weitere Handlung und eine Grundlage, mithilfe derer eine Kategorisierung der anderen Figuren stattfinden kann. Die diesen Kategorien zugrundeliegende Ordnung jedoch, hat ihren Ursprung nicht 1849, sondern erscheint als naturgegebene anthropologische Konstante, welche dem Menschen übergeordnet ist. 5 Medialität in Cloud Atlas Bis hier sollte deutlich geworden sein, dass Medien in Cloud Atlas eine besondere Rolle zugeschrieben wird und man sie hinsichtlich ihrer Reliabilität und ihrer Funktion für die Figuren hinterfragen sollte. Mediale Texte sind insofern relevant für den Film, als sie die signifikantesten Instrumente der Verknüpfung auf der Ebene der Histoire darstellen und damit ihrer genuinen Vermittlerfunktion nachkommen. Dabei greift die jeweils spätere Episode durch ein Medium die Erzählung der früheren Episode auf, wobei jede Querverbindung hinsichtlich des gewählten Mediums und der Verlässlichkeit des Erzählers variiert (cf. Abb. 1, wo die Medien symbolisch zwischen den Episoden visualisiert werden). Verdeutlicht werden kann dies am Beispiel einer Sequenz, die mit dem Tagebucheintrag Adam Ewings in der ersten Episode startet, welches Robert Frobisher in der zweiten Episode als Erzählung 1936 liest und von dem er in seinen Briefen an Sixsmith berichtet, welcher diese 1973 liest (cf. Cloud Atlas 2012: 0: 40: 00 - 0: 41: 00). Zwischen der 1849er und 1936er Episode vermittelt also ein Tagebuch, wobei bereits erwähnt wurde, dass dessen partielle Rezeption katastrophale Konsequenzen für eine der gezeigten Figuren hatte. Frobishers Briefe aus der zweiten Episode dienen als Medium zwischen 1936 und der dritten Episode 1973 und wirken dort sowohl als Initiator der Handlung, sowie als Auflösungselement, indem sie an Familienmitglieder weitergegeben werden. Luisas Geschichte aus der dritten 112 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [112] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Episode wird vom Nachbarsjungen Javier Gomez als Buch aufgeschrieben und das Manuskript 2012 in der vierten Episode von Timothy Cavendish gelesen (cf. ebd. 0: 53: 00). Dieser schreibt seine Geschichte autobiografisch auf; als Medium zur nächsten, der fünften, Episode dient jedoch dessen Verfilmung, welche Sonmi 2144 in Neo Seoul sieht. Auch hier kommt es zu einer partiellen Rezeption des Videos, was erneut zur Eliminierung einer Figur aus der Diegese beiträgt (Cloud Atlas 2012, 0: 31: 00). Erst mit dem vollständigen Sehen und dem Zugang zu weiterem Wissen wird die Medienrezeption für Sonmi als charakterbildend erkannt. Ihre Emanzipation spitzt sich in ihrer Offenbarung zu, welche in die Post- Apokalyptische Zeit Zacharys in der sechsten Episode als göttlicher Mythos übertragen wird. Diese letzte Episode hat nun sogar einen Bezug zur Rahmenerzählung, in der “ filmisch die archaischste Form von Geschichtenerzählen, die mündliche Tradierung ” (cf. Nies 2015: 356) am Lagerfeuer gewählt wird. Insgesamt lässt sich argumentieren, dass Medien im Film eine katalytische Funktion erfüllen. Mit Blick auf diesen Zusammenhang zwischen Rezeption und darauffolgendem Aktionismus in den narrativen Strukturen werden Medien zunächst als gesellschaftlich relevant und positiv eingestuft. Allerdings wird wie im Beispiel von Frobisher auch deutlich, dass Medien und deren Rezeption manipulierbar sind. So wird in der vierten Episode recht eindringlich gezeigt, dass nicht der Inhalt eines von Cavendish verlegten Buchs den Erfolg ausmacht, sondern ein Skandal um dessen Autor für große Absatzzahlen sorgt. Auch die Rolle eines Buchkritikers für die Rezeption wird hier thematisiert, da diese Form literarischer Popularisierung sich als höchst problematisch erweist, ist sie doch Auslöser für alles, was Cavendish zustößt. Mediale Produkte können also nur dann eine positive Funktion für Individuen und damit eine positive Rolle in der Gesellschaft einnehmen, wenn sie einerseits nicht zensiert und fragmentiert werden, wenn also ihre Gesamtbedeutung erhalten bleibt, und wenn sie andererseits durch andere Wissensquellen kontextualisiert werden, wie es für Sonmi oder später Zachary im Umgang mit Sonmis Offenbarung relevant wird 4 . Andernfalls kommt es zu einem Stillstand, der sich als ein Verharren in entweder religiösen oder gesellschaftlichen Status Quo-Zuständen manifestiert, welche in jedem Fall systematisch durch die Protagonisten zu erodieren sind. Hat für Sonmi die Filmrezeption überhaupt erst ermöglicht, ein differenziertes Weltbild zu konstruieren, zeigt sich an anderer Stelle, dass Medien auch die entgegengesetzte Wirkung haben können, dann nämlich, wenn durch sie nur dasjenige einer Geschichte übertragen wird, was überhaupt medial festgehalten ist. Sonmis Offenbarung etwa hat in Zacharys Zeit den Status einer göttlichen Weisung, sie ist in einer Art Bibel festgehalten und Sonmi wird als Gottheit angebetet. Erst Merowyn kann Zachary über die wahre Geschichte Sonmis aufklären und seine Weltsicht damit teilweise säkularisieren. Mediale Übertragungen enthalten also immer auch Leerstellen, Informationen, die nicht übertragen werden, deren Fehlen jedoch den Rezeptionsprozess beeinflussen und neu kontextualisieren und gleichermaßen Umdeutungen, sowie Mystifizierungen zulassen. Dennoch sind es Medien, die überhaupt eine intradiegetische Verknüpfung zwischen den 4 Dies zeigt sich auch an der ersten Episode, deren Erzählanlass erneut ein Schriftstück (der Vertrag mit den Sklavenhändlern) ist, und in der philosophische Texte die Grundlage für die naturgegebene Ordnung zwischen Weißen und Schwarzen festschreiben. Auch hier führt eine Ergänzung des Wissenskontextes durch Adam Ewing dazu, dass das Medium und die darin konservierte Ordnung infrage gestellt werden. Kartografie einer Geschichte 113 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [113] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Zeitaltern ermöglichen. Ihnen werden hier die “ Tradierung, Kohärenzstiftung und die Verursachung neuer Wirkungen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg zugeschrieben ” (cf. Nies 2015: 356), weshalb sie ebenfalls als eine anthropologische Konstante der filmischen Diegese identifizierbar sind. 6 Fazit Cloud Atlas erschafft durch das Maß seiner Selbstreferenzialiät, welche sich auf allen filmischen Ebenen manifestiert, eine Art filmspezifischen Code, einen ‘ Lösungsschlüssel ’ , der das Verstehen der Diegese nicht nur anleitet, sondern überhaupt ermöglicht. Die Redundanz zentraler Semantiken evoziert dabei eine dominante Lesart des Films, welche eventuell fragmentierte oder isolierte Interpretationsansätze konstant unterläuft oder unmöglich macht. Dabei postuliert der Film die Existenz eines übergeordneten Sinns, welcher zwar bereits a priori mithilfe des Distributionskontextes erfassbar ist, der sich jedoch in seiner umfänglichen Semantik erst nach dem Sehen des Films ausdifferenziert. Dieser Sinn und seine Findung kristallisieren im Film in der vorgeschlagenen Anthropologie und Philosophie, welche das Leben vom konkreten Materialismus in den jeweiligen Epochen löst und stattdessen durch Handlungen und deren Kausalitäten determiniert. Obwohl diese Handlungen hochgradig individuell sind, etabliert der Film eine zunächst scheinbar paradoxe Vorstellung des Subjekts. Dieses soll sich aus seiner Gefangenschaft - manifestiert in der Ungleichheit der Geschlechter, dem Sklavenhandel, der Heteronomie diktatorischer Regierungen etc. - befreien und gegenüber seinem Unterdrücker emanzipieren und damit die bestehende soziale Ordnung erodieren. Nies erkennt darin eine “ quasi didaktische Funktion [des Films]: Er begründet die Notwendigkeit von Ethik in Zeiten des Verlustes aller übrigen Glaubens- und Überzeugungssysteme ” (cf. Nies 2015: 357). Erreicht werden kann diese individuelle und gesellschaftliche Aufklärung jedoch in jedem Falle nur mithilfe Dritter, da Problemlösungen stets mit der Konstruktion emotionalaffektiver Beziehungen einhergehen. Diese neu etablierten Kleinstkollektive sind familiär, freundschaftlich oder auch national motiviert, wobei die Problematisierung des vorgeführten Nationalismus gänzlich ausbleibt. Es geht demnach nicht per se um eine völlige Auflösung gesellschaftlicher Kollektive, sondern vielmehr um die Integration des Individuums in für die Individuen funktionale Beziehungen in Gemeischaften. Scheitert diese Integration in solche Gemeinschaften, scheitern auch die Figuren vorläufig, was sich an der Figur Robert Frobisher nachzeichnen lässt. Obwohl beinahe alle Figuren eine relevante Funktion innerhalb der Gesamtchronologie des Films einnehmen und diverse Handlungsstränge anstoßen, kann historische Kontinuität dennoch nur indirekt durch Menschen erreicht werden. Diese erfolgt stets sekundär, indem sie ihre Geschichten medial konservieren und dadurch kulturell spezifisches Wissen 5 für die Nachwelt erhalten. Medien fungieren also als Wissensspeicher, welche zwar hinsichtlich des Leitmediums variieren, insgesamt aber eine Konstante im Film darstellen. Vor diesem Hintergrund betrachtet proklamiert Cloud Atlas als mediales Produkt 5 Dem zugrunde liegt das in Krah 2006 beschriebene Konzept kulturellen Wissens und kultureller Wissensspeicher. 114 Steffi Krause (New York) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [114] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL unserer Kultur ein Modell, welches Fragmentierung zugunsten von dichter Vernetzung, isolierende Individualisierung zugunsten von persönlichen Beziehungen und gesellschaftspolitische Resignation zugunsten von Widerstand und Transformation auflöst. Es bleibt fraglich, inwiefern diese Sinnstiftungsmodelle immer auch extradiegetisch Anspruch auf Gültigkeit besitzen. Dennoch bietet die Persistenz, mit der das Motto des Films entworfen und vermittelt wird ein Gegenkonzept zu “ der empfundenen Orientierungslosigkeit des Einzelnen ” (cf. Nies 2015: 352) und ein Interpretationsangebot sowie Handlungsinventar in Bezug auf zentrale Sinnfragen der Gegenwart. Bibliographie Decker, Jan-Oliver 2007 (ed.): Erzählstile in Literatur und Film, (= KODIKAS/ CODE. Ars Semeiotica 30.1 − 2 (2007)), Tübingen: Narr Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse (=LIMES. 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SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Überwindung von Schuld durch Reflexion Filmische Selbstreflexivität und Metaisierung als Mittel von Subjektkonstruktion Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) This paper examines, by taking the films Stay (USA 2005, Marc Forster) and Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) as examples, how narrative structures use self-referential, self-reflective and meta-referential techniques to negotiate anthropological and poetic concepts. Here we take into consideration both the level of ‘ discours ’ and the level of ‘ histoire ’ as potential carriers of these processes. The films correlate cinematic selfreflexivity with existential questions of guilt and forgiveness for the characters, which can only be dealt with through the process of reflective contemplation and (psycho) analysis. On a superordinate level, the films problematize the phenomenon of media perception and the unreliability of semiotic processes. 1 Einleitung Die sogenannte Postmoderne gilt als Höhepunkt von Erzähltechniken und Darstellungsverfahren, die sich selbst zum Gegenstand machen. In diesen medialen Produkten dient der Vorgang des Erzählens dazu, die Erzählung und das Erzählen als solche selbst zu thematisieren, zu dekonstruieren und bisweilen auch ein Neuverstehen zu provozieren. 1 Im Rahmen eines gefühlten “ Metareferential Turn ” (Wolf 2011b) scheinen konventionalisierte Semiose-Prozesse dekonstruiert und neu konstituiert zu werden. Indem Erzählen und Wahrnehmen als unzuverlässige und hochgradig subjektive Prozesse vorgeführt werden, entwerfen entsprechende Texte und Filme Modelle der Wirklichkeit, die auf zeitgenössisches Nachdenken über Raum und Zeit reagieren. Aus mediensemiotischer Perspektive ist hierbei unter anderem danach zu fragen, welche Funktionen den entspre- 1 Cf. allgemein zu Metaisierung und zur ihrer Begrifflichkeit Wolf (2007: 38 f.). Wolf versteht unter einer Metareferenz einen “ Sonderfall der Selbstreflexivität, bei der innerhalb eines semiotischen Systems von einer Metaebene Aussagen [ … ] über dieses System als solches oder über Teilaspekte desselben gemacht oder impliziert werden. Dergleichen Metaaussagen setzen das Bewusstsein von der Natur des Aussageobjekts nicht als natürlich gegeben, sondern als (Teil) eines semiotischen Systems voraus. Bei medialen Systemen bedeutet dies, dass sich die Metareferenz regelmäßig auf deren ‘ Fiktionalität ’ im Sinne des medialen Artefaktcharakters und/ oder der Referenzqualität und auf damit zusammenhängende Aspekte bezieht und die Rezipienten zu einschlägigen Reflexionen anregt. ” Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [116] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL chenden Medienprodukten dadurch zukommen und welche Leistung sie und die in ihnen kodierten Metaisierungsprozesse für die jeweilige Kultur erbringen (cf. Wolf 2007: 59 - 61). Am Beispiel des Mediums Film deutet sich in der jüngeren Vergangenheit an, dass diese selbstreflexiv auf Umbrüche in der kulturellen Konzeption von ‘ Person ’ und ihrer Beziehung zur Gesellschaft reagieren: 2 So ließe sich zum Beispiel für den populären Film Inception (USA 2010, Christopher Nolan) konstatieren, dass die komplexe Struktur ineinander verschachtelter Erzählebenen ein Mittel ist, im Sinne der Gesellschaft defizitäre Subjekte so lange unter Quarantäne zu stellen, bis diese (wieder) mit den implizierten Normen und Werten der dargestellten Welt kompatibel sind (cf. Großmann & Halft 2014, auch für das Folgende). Der Protagonist Dominick Cobb muss erst in die tiefste Ebene seines Inneren vordringen und sich dort seinen Schuldgefühlen wegen des durch ihn mitverschuldeten Selbstmords seiner Frau stellen, bevor er zu seinen Kindern zurückkehren kann. Auffallend ist dabei auch, dass ans Fantastische grenzende Darstellungsmodi, wenn sie psychopathologische Aspekte metaphorisch abbilden, gerade zur Überwindung dieser negativ semantisierten Figurenzustände funktionalisiert werden. Dies lässt sich auch für die Filme Stay (USA 2005, Marc Forster) und Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) behaupten. Beide Filme analysieren die Disposition ihrer Figuren mittels ihrer Erzähl- und Darstellungsstrukturen. Diese Disposition wird auf metadiegetischer Ebene an den kulturellen Kontext ihrer Entstehungszeit zurückgebunden und reflektiert. Dass die Filme die Figuren potenziell als psychopathologisch konzipieren, verweist weniger auf eine Ausbreitung genuin psychischer Störungen in der Postmoderne, als vielmehr auf eine zunehmendeVerunsicherung über das Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum im Hinblick auf ein normatives Personenkonzept. Dieser Beitrag konzentriert sich im Kern darauf, in einem ersten Schritt die Struktur verschiedener Erzählebenen in den beiden Filmen zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt geht es uns dann jeweils um die Funktionen, die diese konkreten Strukturen in den Filmen erfüllen. 3 So lassen sich aus den Filmen sowohl poetologische wie auch anthropologische Implikationen ableiten, die wesentlich auf der Einführung einer selbstreflexiven Metaebene beruhen. Auffällig ist dabei, dass Selbstreflexivität nicht nur ein Discoursinduziertes Phänomen sein muss. 4 In Shutter Island wird selbstreflexives Potenzial vielmehr auf der Ebene der Histoire generiert. Die verhandelte Geschichte funktioniert wie ein Vexierbild, bei dem sich zwei oppositionelle Deutungsvarianten gleichberechtigt gegenüberstehen. Die Fragen, die dadurch für die Wahrnehmung innerhalb der Diegese aufgeworfen werden, geben überhaupt erst den Blick auf eine metadiegetische Ebene frei. Unseren Ausführungen legen wir das Konzept von Selbstreflexivität von Wolf 2007 zugrunde. Dieser begreift Selbstreflexivität als ein Phänomen, das semiotisches Systembewusstsein voraussetzt sowie durch eine Differenzierung zwischen Aussagen des und Aussagen über das Objekt im Medium selbst generiert wird. Diese Differenzierung regt zur Reflexion über Fiktionalität bzw. den Artefakt-, Medien- und Zeichencharakter eines Textes an. 2 Zur Metaisierung im Medium Film cf. Decker 2007b, Großmann & Halft 2014 und Wolf (2007: 49 - 51). 3 Methodisch basiert unser Beitrag auf einem filmsemiotischen Ansatz, wie er in Gräf et al. (2011) formuliert ist. 4 Dies zeigen sowohl Decker als auch Scheffel für das Medium Literatur (cf. Decker 2006 und Scheffel 2007). Überwindung von Schuld durch Reflexion 117 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [117] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 2 Metaisierung in Stay (USA 2005, Marc Forster) Der Kunststudent Henry fährt mit seinen Eltern und seiner zukünftigen Verlobten Athena durch die Straßen New Yorks. Auf der Brooklyn-Bridge platzt der Reifen seines Autos, wodurch sich dieses überschlägt und ausbrennt. Alle Insassen sind sofort tot, außer Henry, der schwer verletzt auf den Asphalt geschleudert wird. Dort wird er vom Arzt Sam und der Krankenschwester Lila bis zum Eintreffen des Notarztwagens unter Beobachtung von Schaulustigen betreut. Noch bevor der Notarzt eintrifft, stirbt Henry. Mit seinen letzten Worten macht er Lila, die er für Athena hält, einen Heiratsantrag. Durch das gemeinsame Schockerlebnis, den tragischen Unfalltod eines jungen Mannes mitzuerleben und nicht helfen zu können, nähern sich Sam und Lila einander an. 2.1 Rekonstruktion der Erzählebenen Die erzählte Zeit von schätzungsweise fünf bis zehn Minuten wird dadurch auf Spielfilmlänge ausgedehnt, dass die intradiegetische Rahmenhandlung um eine intra-intradiegetische Binnenhandlung 5 ergänzt wird, die sich vor dem inneren Auge des sterbenden Henry konstituiert. Henrys Innenwelt hat einen heterotopen Charakter: Sie ist räumlich und zeitlich nicht direkt an die Außenwelt gebunden und zeitweise offenbar auch nicht an konventionelle Realitätsvorstellungen. In diesem Imaginationsraum fließen sowohl letzte Sinneswahrnehmungen als auch persönliche Erinnerungen sowie auch unterbewusste Wunschträume zusammen und generieren die Handlung der Binnenerzählung. In dieser setzt sich Henry mit der Frage auseinander, ob er die Schuld am Tod seiner Familie trägt. Das Verhältnis zwischen Rahmen- und Binnenerzählung bleibt allerdings bis zum Ende des Films unklar. Die Binnenerzählung beansprucht für sich zunächst einen ‘ normalen ’ Realitätsstatus. Sie fokussiert den Psychologen Sam, der seiner Freundin und ehemaligen Patientin Lila einen Heiratsantrag machen möchte. Sam versucht seinen neuen Patienten Henry von einem geplanten Selbstmord abzuhalten. Indem er Nachforschungen über Henrys Leben anstellt, verstrickt er sich immer tiefer in scheinbar mysteriöse und tendenziell fantastische Strukturen. Aus der Perspektive der intradiegetischen Rahmengeschichte hingegen macht Henry sich in der intra-intradiegetischen Binnengeschichte selbst zum Objekt seiner Gedankenwelt. Er scheint in die Rolle von Sam zu schlüpfen bzw. identifiziert sich mit dessen Rolle als Psychologe, der sich nun selbst analysiert. Die Binnenerzählung ist entlang konventionalisierter Vorstellungen von Bewusstseinsprozessen zum einen vertikal strukturierbar: Henrys Bewusstsein stellt eine mittlere Ebene dar, einen Projektionsschirm, auf dem sich psychische Inhalte überlagern und die erzählte Geschichte in ihrer dargestellten Form generieren. Diese Inhalte stammen einerseits aus Henrys Sinneswahrnehmung, die ihn immer noch mit der intradiegetisch realen Außenwelt ‘ oben ’ verbinden. Diese manifestiert sich nicht nur in Form von Stimmen sondern auch als Figureninventar in der Binnengeschichte. Von ‘ unten ’ fließen andererseits Erinnerungen in die Geschichte ein (cf. Abb. 1). Diese werden vom Film dadurch als ‘ authentisch ’ gekennzeichnet, dass sie auf der mittleren Ebene in dort real gedachten Medien repräsentiert und durch Filter und Ähnliches als ‘ vergangen ’ markiert werden. Beispielsweise sind in einer 5 Zur Begrifflichkeit und ihrer Abgrenzung zur Begrifflichkeit von Genette cf. Decker (2006: 245 ff.). 118 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [118] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL von Henry besuchten Peep-Show auf einer großen Leinwand im Hintergrund Fotos und kurze Filmsequenzen aus seiner Kindheit und Jugend zu sehen sowie Fotos, die ihn und Athena als Liebespaar zeigen (Stay, 0: 49: 30). 6 Während diese Erinnerungen die Binnengeschichte zwar in ihren Grundzügen prägen, bezieht sie ihre Motivierung vor allem aus unterbewussten Inhalten, die sich auf Henrys Emotionen und psychische Dispositionen beziehen. Bezogen auf die Kohärenz der Binnengeschichte liegt ihre Funktion allerdings auch zentral in der Verunsicherung der Zuschauenden, denn zum einen scheint Henry selber diese Projektionen gar nicht wahrzunehmen und zum anderen kennt ihn Athena auf der intra-intradiegetischen Ebene nur flüchtig. 2.2 Semantische Räume und narrative Struktur Die auf der intra-intradiegetischen Ebene dargestellte Binnengeschichte ist mit der Rahmengeschichte strukturell verbunden (was wir hier nicht ausführlich herleiten können). Wesentlich ist jedoch, dass die Binnengeschichte eine konkrete Funktion für die Rahmengeschichte übernimmt: Obwohl Henry hier oft scheinbar nur als Nebenfigur auftritt, dreht sich die Binnengeschichte um ihn und um die Frage, ob er für den Tod seiner Familie verantwortlich ist. Dazu entspinnt Henry eine Geschichte, in der Sam Henrys Leben quasi detektivisch zu rekonstruieren versucht, um ihn, Henry, von einem geplanten Selbstmord abzubringen. Im Zuge dieser Geschichte begegnet Sam Manifestationen von Henrys Unterbewusstsein, mit denen dieser sich ebenso stellvertretend für Henry versöhnt. Währenddessen tauchen markante Objekte immer wieder in unterschiedlichen Sequenzen auf, wodurch sich bereits quasi auf einer ‘ horizontalen ’ Ebene Selbstreferenzen ergeben. Diese lassen sich retrospektiv tatsächlich als vertikale Spiegelungen der Rahmengeschichte in der Binnengeschichte dechiffrieren. Das markanteste Beispiel sind Bilder der Brooklyn-Bridge, Abb. 1: Intra-intradiegetische Ebene in Stay (eigene Darstellung) 6 Hier wie im Folgenden wird auf Sequenzen aus den Filmen so verwiesen, dass der Timecode der DVD in Stunden: Minuten: Sekunden angegeben wird, zu dem eine Sequenz beginnt. Überwindung von Schuld durch Reflexion 119 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [119] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL dem Ort des Autounfalls in der Rahmenebene, die auf der Binnenebene immer wieder zu sehen sind: Über dem Bett von Sam hängen symmetrisch angeordnet 16 Fotografien der Brücke (Stay, 0: 02: 05), in einer Buchhandlung hängt ein von Henry gemaltes Bild der Brücke (Stay, 01: 11: 47), und Lila findet ebenfalls ähnliche Bilder von Henry in ihrem Atelier (Stay, 01: 15: 46). Auch fokussiert der Film einzelne Sätze, die entweder nur Henry zu hören scheint, oder die von immer wieder auftauchenden Figuren wiederholt werden. So sagt ein kleiner Junge in zwei unterschiedlichen Sequenzen beim Anblick Henrys völlig unvermittelt “ Mami, muss der Mann sterben? ” (Stay, 0: 35: 45 und 01: 17: 32). Diese Sequenzen werden dann in der Rahmengeschichte aufgelöst, da hier die Äußerung des Jungen in Kohärenz zum Anblick des schwer verletzten Henry steht (Stay, 01: 24: 40). Während die Binnengeschichte potenziell kathartisch und in Richtung des Publikums auf jeden Fall rehabilitierend wirkt, erschießt sich Henry am Ende der Binnengeschichte selbst. Dieser Moment stellt insofern eine Metalepse dar, da der Film auf der Rahmenebene jetzt an die Stelle zurückkehrt, an der Henry sterbend von Sam und Lila aufgefunden wird. Aufgrund der Umstellung der Chronologie scheint sich die Binnengeschichte (Selbstmord) auf die Rahmengeschichte (Unfalltod) auszuwirken. Auf einer selbstreflexiven Ebene bildet der Film in Bezug auf die Rahmen- und Binnengeschichte eine zeitliche Möbius-Schleife ab, denn am Ende erweist sich die soeben erzählte intra-intradiegetische Handlung als Ausgangspunkt für die nun von außen zu beobachtende Rahmenhandlung. Durch diese rekursive Verbindung der beiden Geschichten erhält die Reflexion Henrys über die Frage nach der Schuld am Tod seiner Eltern und seiner Verlobten eine Nullausdehnung der Zeit. 2.3 Funktionalisierung der Beziehung von Discours und Histoire Nachdem Henry auch in der Rahmenhandlung gestorben ist, nähern sich Sam und Lila einander an. Nur Sekunden nachdem der Film eine widerspruchsfreie Auflösung der verschiedenen Ebene ermöglicht hat, führt er ein Element ein, welches die gerade rekonstruierten Grenzen zwischen Realitätsbereichen potenzielle erneut in Frage stellt: Während Sam Lila zu einem Date einlädt, fokussiert die Kamera sein Gesicht. Durch das konventionalisierte Zeichen seiner ins Weite blickenden Augen wird suggeriert, dass er gerade nachdenkt. Was sich sodann in der Montage direkt anschließt, muss zunächst als Sams Bewusstseinsinhalt interpretiert werden. Was wir sehen, ist jedoch eine Mise-enscène, in der sich Bilder der von Henry imaginierten Binnengeschichte und aktuelle Wahrnehmungen von Sam überlagern. Diese ‘ Gedankenblitze ’ können als Prolepse einer neu beginnenden Geschichte der realen Figuren Sam und Lila gelesen werden. Dies lässt mindestens zwei zunächst vorläufige Deutungsebenen zu: Dadurch, dass vergangene Bewusstseinsinhalte von Henry nun auf Sam und Lila projiziert werden, scheint die Abgrenzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeweicht zu werden. Während Henrys Hellsichtigkeit in der Binnengeschichte noch auf äußere Wahrnehmungen zurückgeführt werden konnte, erscheint er nun ex post als echter Hellseher oder die äußeren Ereignisse als schicksalsgleich determiniert. Da die Inserts direkten Bezug auf Bewusstseinsinhalte nehmen, die nur Henry zugänglich sein konnten, deutet der Film an, dass Henrys Bewusstsein und Unterbewusstsein nunmehr Gegenstand von Sams Bewusstsein werden können und dort ebenfalls wieder eine konventionalisierte Liebesgeschichte generieren, die sich aus Wahrnehmungen und 120 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [120] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Wünschen generiert. Insgesamt wird suggeriert, dass Bewusstseinsinhalte sich möglicherweise aus einer übergeordneten, kollektiven Quelle, das heißt konventionalisierten kulturellen Narrativen, speisen könnten. Abb. 2: Metadiegetische Ebene in Stay (eigene Darstellung) Beide Lesarten machen jedenfalls überhaupt erst eine Ebene zugänglich, die der Film bislang verweigert hat, und die oberbzw. außerhalb der Diegese liegt. Denn nun stellt sich für die Sequenz der ‘ Gedankenblitze ’ die Frage, wer hier sieht und wer zeigt. Hierdurch wird letztlich das vom Film selbst konzipierte Prinzip von Abbildungsprozessen auf den Film im Allgemeinen projiziert: Henrys Bewusstsein bildete einen Projektionsschirm für seine unterbewussten Wünsche, Sehnsüchte und Emotionen sowie für konkreteWahrnehmungserlebnisse. Indem der Film ebendieses Prinzip homolog auch für Sam andeutet, dies aber in einer der Logik der dargestellten Welt widersprechenden Form umsetzt, lenkt er den Blick selbstreflexiv auf sich selbst als projektionsbasiertes Medium. Er stellt Deutungsangebote zur Verfügung, die zwar vom Dargestellten grundsätzlich vorgeformt sind, in deren Interpretation aber subjektive Identifikationsmechanismen des Publikums einfließen. Das konkrete und spezifische Filmerlebnis ist somit - wie auch Henrys Gedankenstrom - ein Amalgam aus den jeweiligen bewussten wie unterbewussten Vorstellungsinhalten und Dispositionen der Zuschauenden (cf. Abb. 2). Durch diese Form der Selbstreferenz eröffnet der Film zugleich eine selbstreflexive Ebene: Durch die zunächst systemimmanente Referenz lässt sich aufgrund der Inszenierung ableiten, dass der Film seinen Status als Medium anerkennt und diesen auf einer Metaebene Überwindung von Schuld durch Reflexion 121 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [121] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL zum Gegenstand macht. Auf dieser Metaebene scheint Stay in Anlehnung an Christian Metz 2000 und Laura Mulvey 1994 auf die Vorstellung zu referieren, dass der Film als Projektionsfläche des “ Ich ” zu verstehen sei. Das heißt, die Zuschauenden identifizieren sich einerseits mit einer der Figuren des Filmes (Henry identifiziert/ spiegelt sich mit/ in Sam). Andererseits projizieren sie eigene Vorstellungen und Wünsche in die dargestellte Welt hinein, sodass diese individuell überformt wird ( ‘ Gedankenblitze ’ von Sam). Diese multiplen Projektionsprozesse verdeutlicht der Film mit dezidiert filmischen Mitteln auf der Ebene des Discours: Gleich zu Beginn bricht der Film den filmischen Kontrakt, indem Henry direkt in die Kamera blickt und auf sie zugeht. Durch die Fokussierung seiner Augen wird dann simuliert, dass die Kamera quasi in sein Bewusstsein eintritt. Diese Großaufnahme wandelt sich schließlich durch eine Überblendung in das Gesicht von Sam, der gerade aufwacht. Auf diese Weise provoziert, markiert und reflektiert der Film schon zu Beginn eine Identifikation mit beiden männlichen Figuren. Damit stellt sich für die letzte Sequenz auch die Frage, inwiefern die Inserts Sam zugerechnet werden können oder augenzwinkernd als gespiegelte Gedanken des Publikums zu verstehen sind. 3 Metaisierung in Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) In Shutter Island steigt das Publikum unvermittelt in eine laufende Handlung ein, die eine Vielzahl oberflächlich inkohärenter Perspektiven vereint. Im Folgenden versuchen wir einen ersten Handlungsüberblick, um dann eine kohärente Lesart des Films auf der Ebene einer strukturell in der Histoire installierten Selbstreflexivität vorzuschlagen. Der verwitwete U. S. Marshall Edward, “ Teddy ” , Daniels setzt zusammen mit seinem neuen Partner Chuck per Fähre auf eine Insel über, auf der es scheinbar einen Fall zu lösen gilt: Eine Patientin der dort angesiedelten Nervenheilanstalt, Rachel Solando, ist verschwunden. Im Rahmen der Untersuchungen scheinen sich Widersprüche zu ergeben, die Daniels vermuten lassen, dass auf der Insel geheime Experimente an Menschen durchgeführt werden. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Daniels Verbindungen zwischen seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, dem Mord an seiner Frau und Vorgängen auf der Insel herstellt. Teddy steht nun vor mehreren, scheinbar korrelierten Fällen, die in letzter Konsequenz auf eine Verschwörung hindeuten. Obwohl die vermisste Rachel plötzlich wieder auftaucht, reist Teddy nicht ab. Seine letzte Erkundung der Insel führt ihn in eine geheime Kammer, in der sich alle Rätsel zu lösen scheinen. Der Film bietet (im Gegensatz zur literarischen Vorlage) 7 aufgrund unterschiedlicher Perspektiven nun mindestens zwei Versionen einer Geschichte an, die beide gleichermaßen möglich aber letztlich auch gleichermaßen inkonsistent erscheinen (cf. Abb. 3): 1. Teddy wurde durch Geschehnisse bei der Befreiung des KZ Dachau traumatisiert. Seine psychisch labile Frau bringt die gemeinsamen Kinder um, woraufhin Teddy sie erschießt. 7 In der literarischen Vorlage hebt eine Rahmung zum Teil Inkonsistenzen der Binnenhandlung auf und favorisiert einen Wahrheitsanspruch für die erste Leseebene: Indem die Geschichte durch einen Prolog von Dr. Lester Sheehan eingeleitet wird, in dem er beschreibt, warum er den Fall aufzeichnen möchte, wird Sheehans Identität als Psychiater bestätigt und damit zugleich seine von Teddy ihm zugewiesene Identität als sein Partner Chuck negiert. Implizit verursacht der Prolog aber dann doch auch wieder eine latente Verunsicherung, da hier Sheehan konsequent von Teddy und nicht von Andrew spricht (cf. Lehane 2005: 11 ff.). 122 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [122] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese Tat führt zu einer Persönlichkeitsspaltung. Seitdem - so die Erklärung des Anstaltsleiters - erhält Teddy eine fiktive Geschichte aufrecht, die sowohl ihn als auch seine Frau entlasten. Basis dieses Konstrukts ist das “ Gesetz der Vier ” , bei dem Teddy - eigentlich Andrew - seinen Namen und den seiner Frau durch Anagramme ersetzt und die negativen Persönlichkeitsanteile jeweils auf fiktive Personen aufteilt. Die Erinnerung an seine Kinder, deren Existenz er in diesem Konstrukt leugnet, erhält er im positiven Sinne aufrecht, indem er ihre Namen ebenfalls in die Anagramme einfließen lässt. Der Fall ‘ Rachel ’ war ein Versuch, Andrew zu heilen, indem man ihn mit Repräsentanten seiner Geschichte konfrontiert. Da dies nicht funktioniert hat, soll er nun lobotomiert werden - es sollen also mittels eines neurochirurgischen Eingriffs Gehirnareale zerstört werden, wodurch sich seine Persönlichkeitsstruktur verändern und seine Identität sowie die Erinnerung an die schuldbeladenen Vergangenheit aufgelöst würden. 2. Teddy ist nicht verrückt, sondern er hat in der Tat eine komplexe Verschwörung aufgedeckt. Gewährsperson hierfür ist die scheinbar echte Rachel, eine ehemalige Psychologin der Anstalt, die Teddy in einer Höhle auf der Insel findet und die seine Geschichte bestätigt: Sie halten mich für verrückt. [ … ] Wenn ich sage, ich bin nicht verrückt, das würde nicht viel helfen, oder? Das ist die kafkaeske Seite daran. Andere behaupten, man sei verrückt und alle Beteuerungen des Gegenteils bestätigen das nur noch. [ … ] Hat man Sie erst für verrückt erklärt, ist alles was Sie tun nur noch Ausdruck Ihrer Störung. (Shutter Island, 01: 21: 30) Abb. 3: Rekonstruktion der Histoire Shutter Island (eigene Darstellung) Überwindung von Schuld durch Reflexion 123 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [123] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Diese Aussage referiert ebenfalls auf die Vermittlungssituation des Filmes: Welche Version der Geschichte die ‘ wahre ’ ist, hängt davon ab, wie der Wahrheitsanspruch bestimmter Figurenaussagen hierarchisiert wird. Für die erste Version spricht, dass gewisse Trauminhalte von Teddy nur innerhalb dieser Version plausibel zu erklären sind (sieht man von komplizierten Erklärungskonstrukten ab) und dass sein Partner Chuck seine Identität als sein behandelnder Psychiater Dr. Lester Sheehan preisgibt. Die zweite Version wird durch die Sympathielenkung des Films auf die Figur Teddy legitimiert, an dessen Perspektive die Präsentation der dargestellten Welt gebunden ist. Dass eine sichere Chronologie der Historie nicht rekonstruiert werden kann, liegt unter anderem auch daran, dass der Film gezielt Gegenstände inszeniert, die ex post doppelt indexikalisch lesbar sind. So sorgt zum Beispiel ein Pflaster, das Teddy von Beginn an auf seiner Schläfe trägt, für Verunsicherung. Es wird zwar vom Film prominent inszeniert, aber eine Erklärung wird nicht gegeben. Da im Film alle Zeichen potentiell bedeutungstragend sind, scheint das Pflaster nur kohärent in den Kontext der Version des Anstaltsleiters zu passen. Dieser erzählt Teddy nämlich, dass er vor zwei Wochen eine schwere körperliche Auseinandersetzung mit einem anderen Patienten der Einrichtung hatte. Vielleicht ist es aber auch einfach ‘ nur ’ ein Pflaster. Auch bietet Teddys Verschwörungsgeschichte gerade das Material dafür, alle gegenläufigen Behauptungen als Teil der Verschwörung zu interpretieren. Dass dies intradiegetisch auch thematisiert wird, löst das Problem nicht auf sondern verschärft es noch. Hiermit erreicht der Film bereits eine selbstreferenzielle Ebene, wenn er sich auf Elemente bezieht, die er selbst generiert hat. 3.1 Rekonstruktion von Erzählebenen Wesentlich ist, dass Shutter Island im Gegensatz zu Stay am Ende keine fassbare Vermittlungsebene einführt: Schon der Beginn des Films spielt mit seiner auf dem unruhigen Wasser und bei dichtem Nebel spielenden Szene auf diese Undurchdringlichkeit an. Auch im Verlauf des Films wird dem Publikum keine zuverlässige Außenperspektive geboten. Somit bleiben nur die Perspektiven der intradiegetischen Figuren, deren Aussagen entweder ebenfalls intradiegetisch relativiert oder durch Strategien der Sympathielenkung manipuliert werden. Hierdurch eröffnet der Film nun eine selbstreflexive Ebene, die basierend auf dem Thema ‘ Schuld ’ angelegt ist. Innerhalb der Diegese wird das Thema Schuld auf mehreren Ebenen folgendermaßen verhandelt: Im Rahmen des NS-Diskurses wird nicht nur die Schuld der Deutschen am Holocaust thematisiert. Es wird auch die Frage gestellt, ob exildeutsche Wissenschaftler in das amerikanische System hätten integriert werden dürfen, wenn diese offenkundig an Experimenten beteiligt waren, die die Menschenwürde verletzten. Dem wird entgegengestellt, dass im Rahmen der Befreiung von KZs auch Selbstjustiz der Befreier geübt wurde, die ebenfalls eine Form von Schuld konstituiert. Neben diesen abstrakten und kollektiven Formen von Schuld verhandelt der Film - so suggeriert zumindest eine der intradiegetischen Versionen - auch persönliche Formen von Schuld: Teddys Frau hat aufgrund einer psychischen Krankheit, die dieser nicht ernst genommen hatte, die gemeinsamen Kinder getötet. Den Mord an seinen drei Kindern sanktioniert Teddy, indem er seine über alles geliebte Frau erschießt. Teddy fühlt sich indirekt schuldig für den Tod seiner Kinder und direkt schuldig für den Tod seiner Frau. 124 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [124] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Im Rahmen der Verschwörungstheorie knüpft der Film an die amerikanischen Antikommunismus-Prozesse der McCarthy-Ära an und thematisiert die zu dieser Zeit begangenen, politisch motivierten Verbrechen ebenfalls als Form von Schuld. Dies wird dadurch aufgegriffen, dass Teddy und die anderen Patienten potenziell Versuchskaninchen für die Entwicklung neuer Psychopharmaka sind. Die ersten beiden Schuldformen werden dabei homolog aufeinander bezogen: (i) Die KZ- Wächter sind gegenüber den in Dachau Gefangenen Schuldige, wie auch Andrew durch Selbstjustiz gegenüber den KZ-Wächtern zu einem Schuldigen wird; (ii) Dolores ist gegenüber ihren Kindern, die sie tötet, eine Schuldige, wie auch Andrew gegenüber Dolores zu einem Schuldigen wird, weil er sie für den Mord an den gemeinsamen Kindern tötet. Bezogen auf die Schuld werden die Elemente ‘ KZ-Wächter ’ und ‘ Dolores ’ jedoch deutlich unterschiedlich bewertet: Dolores ’ Handeln ist durch eine psychische Störung motiviert und sie damit nur bedingt schuldfähig. Die KZ-Wächter hingegen sind uneingeschränkt schuldfähig für die von ihnen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In beiden Konstrukten nimmt Andrew die Position einer Sanktionsinstanz ein. Aus der beschriebenen Logik heraus ist die Sanktion der KZ-Wächter als legitim einzustufen, die Sanktion von Dolores allerdings nicht. Diese ambivalente Bewertung der Schuld von Dolores wird zeichenhaft in einem Traum von Andrew aufgegriffen, in dem er sowohl seine Tochter als auch die Stellvertreterin seiner Frau auf dem gefrorenen Leichenberg in Dachau liegen sieht, sodass an dieser Stelle nicht nur seine Kinder mit den unschuldig ermordeten Gefangenen des KZ korreliert werden, sondern auch seine Frau. Diese Unterscheidung bestärkt der Film in Andrews Personenkonzept dadurch, dass er sich seiner Schuld in Bezug auf die geübte Selbstjustiz in Dachau durchaus bewusst ist, wohingegen er seine potenzielle Schuld am Tod der Kinder sowie seine tatsächliche Schuld am Tod der Ehefrau verdrängt. Diese drängt er ins Unterbewusstsein ab und erschafft fiktive Figuren, die ihn und seine Frau entlasten. Tatsächlich ist die Schuld damit aber nicht getilgt, da sich unterbewusste Inhalte immer wieder zeichenhaft in seinen Träumen manifestieren und auch in der Realität der dargestellten Welt repräsentiert sind. Jeder Versuch Teddys, sein Leben zu rekonstruieren, mündet entweder in ein Schuldeingeständnis, das zugleich seine Schizophrenie beinhaltet, oder aber in die Flucht in die Rolle eines geistig Gesunden, zu dessen Vergangenheit Schuld aber ebenso konstitutiv gehört. In seiner letzten Sequenz zeigt der Film Andrew, der sich scheinbar wieder gemäß seines fiktiven Lebensentwurfs verhält. Das führt konsequenterweise dazu, dass nun die Lobotomie eingeleitet wird. Auch hier sind nun zwei konkurrierende Lesarten mögliche. Entweder kann Andrew seine Schizophrenie tatsächlich nicht überwinden oder aber er hat sich bewusst dazu entschieden, sich der Gehirnmanipulationen auszusetzen, um nicht mehr “ als Monster ” leben zu müssen. 8 Im Gegensatz zu Stay würde Shutter Island damit andeuten, dass Andrew seine Schuld nicht in seine Identität integrieren kann, sondern diese quasi 8 Für die zweite Leseebene, die für den Protagonisten die wahre Identität als Teddy annimmt und eine Verschwörungstheorie darstellt, würde das Ende dann bedeuten, dass es den Psychiatern nicht gelungen ist, dem Protagonisten eine falsche Erinnerung einzupflanzen und er daher nun durch einen neurochirurgischen Eingriff unschädlich gemacht werden soll, damit die geheimen Experimente auf der Insel nicht an die Öffentlichkeit dringen können. Überwindung von Schuld durch Reflexion 125 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [125] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL amputieren will. Damit wird nicht nur die Person Andrew physisch wie psychisch versehrt, sondern es werden im Film auch konkurrierende Therapieformen problematisiert. 3.2 Selbstreflexivität als Histoire-Phänomen So wie der Film keine explizite extradiegetische Ebene zulässt, von der aus die intradiegetischen Versionen harmonisiert und tendenziell relativiert werden könnten, so zieht er auch die Zuschauenden immer wieder in die subjektive Weltsicht von Teddy hinein, ohne ein Außen zu eröffnen, mit dem sich das Publikum über dessen Perspektive erheben könnte. Nur in seiner vorletzten Sequenz signalisiert der Film, dass keine neutrale Vermittlungsinstanz vorliegt. In dieser Filmszene wird die potenzielle Unzuverlässigkeit der Vermittlung, die nur auf einer übergeordneten Ebene aufgelöst werden könnte, visuell vorgeführt: Während Teddys Wahrnehmung eine scheinbar echte Waffe zeigt, mit der er auf den Anstaltsleiter schießt und dessen Blut als Folge des Schusses verspritzt, wird diese Wahrnehmung sofort wieder zurückgenommen, da der Anstaltsleiter nicht tot umfällt und die Waffe in Kunststoffteile zerfällt. Abb. 4: Metadiegetische Ebene Shutter Island (eigene Darstellung) Hier wird erstmals explizit mit filmischen Mitteln abgebildet, was auf der Ebene der Histoire bereits latent angelegt wurde: Teddys ‘ Wahrnehmung ’ der dargestellten Welt und die ‘ Realität ’ der dargestellten Welt sind nicht deckungsgleich. Daraus wird auch für die gesamte Handlung rückwirkend die Frage aufgeworfen, inwiefern die Vermittlungsinstanz des Films an die Perspektive von Teddy gebunden und damit unzuverlässig ist (cf. Abb. 4). Gerade indem der Film auf diese Weise die Ebene der Darstellung - konkret: Wahr- 126 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [126] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL nehmungsperspektive und Informationsvermittlung - fokussiert, zeigt er ebenfalls semiotisches Systembewusstsein. Er differenziert zwischen sich als Medium einerseits und einer Reflexion über seinen sekundär-semiotischen wie modellbildenden Charakter andererseits. 4 Fazit: Anthropologische und poetologische Konzepte in Stay und Shutter Island Der selbstreflexive Gestus der Filme leistet aus unserer Sicht einen kulturellen Beitrag zur Verständigung über epistemologische Grundannahmen: Die Filme problematisieren im Kern das Phänomen medialer Wahrnehmung. Bei beiden Protagonisten werden äußere Eindrücke in eine innere Geschichte übersetzt. Diese scheint im Wesentlichen dazu zu dienen, ebendiese äußeren Eindrücke und Umstände in eine subjektiv sinnhafte und kohärente Wirklichkeit zu überführen, also Sinn zu stiften. Etwaige Abweichungen von der äußeren Realität und der inneren Wunsch-Wirklichkeit werden dabei zunächst scheinbar unterschlagen, durchsetzen aber zum Beispiel als sekundär semiotisierte Objekte die Diegesen. Hierdurch semantisieren die Filme die männlichen Protagonisten einerseits als nahezu solipsistische Existenzen. Die Geschichten selbst verhandeln dann aber andererseits durch selbstreferenzielle Bezüge selbstreflexiv die Themen Schuld und Verantwortung, wodurch das solipsistische Figurenkonzept problematisiert wird. Die Versuche der Protagonisten, selbstreferenziell sich selbstreflexiv selber zu erzählen, problematisieren dabei dann auch das filmische Erzählen an sich, dessen Zeichen eben in ihrer Eigenschaft als mediale Zeichen transparent gemacht werden. Das heißt, die Filme vermitteln den Zuschauenden im Sinne postmoderner Ästhetik, dass die Filme die Zuschauerinnen und Zuschauer mit zu deutenden medialen Zeichen, nicht aber mit validierbarer Wirklichkeit konfrontieren. Während Stay selbstreflexive Mechanismen nutzt, um den Film zumindest für das Publikum auch als kathartisches Medium zu etablieren, entlarvt Shutter Island diese selbstreflexiven Maßnahmen als unzuverlässig und potenziell manipulativ. Ironischerweise können beide Filme dies nur tun, indem sie massiv auf genuin filmische Darstellungsmittel zurückgreifen und kohärent an ein modernes Kinopublikum die Binsenweisheit vermitteln, dass eine eindeutigeWirklichkeit in medialen Zeichen zumindest prekär geworden ist. Bibliographie Blödorn, Andreas et al. (ed.s) 2006: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/ New York: de Gruyter Decker, Jan-Oliver 2006: “ Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität in Hermann Hesses Der Steppenwolf ” , in: Andreas Blödorn et al. (ed.s) 2006: 233 - 265 Decker, Jan-Oliver (ed.) 2007 a: Erzählstile in Literatur und Film, (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica 30. 1 - 2 (2007)) Decker, Jan-Oliver 2007 b: “ Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘ Postmoderne ’ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Vergissmeinnicht, USA 2004) ” , in: Jan-Oliver Decker (ed.) 2007 a: 153 - 175 Genette, Gérard 1994: Die Erzählung, München: Fink Überwindung von Schuld durch Reflexion 127 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [127] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Gräf, Dennis et al. 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Großmann, Stephanie & Halft, Stefan 2014: “ Transitorische vs. transformierende fantastische Räume. Versuch eines diachronen Vergleichs der kulturellen Funktionen fantastischer Räume ” , in: Pascal Klenke et al. (ed.s) 2014: 69 - 83 Hauthal, Janine et al. (ed.s) 2007: Metaisierung in der Literatur, Berlin/ New York: de Gruyter Klenke, Pascal et al. (ed.s) 2014: Writing Worlds. Welten- und Raummodelle der Fantastik (= Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik, 1), Heidelberg: Winter Lehane, Dennis 2005: Shutter Island, Ullstein: Berlin Metz, Christian 2000: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino (= Film und Medien in der Diskussion 9), Münster: Nodus Mulvey, Laura 1994: “ Visuelle Lust und narratives Kino ” , in: Liliane Weissberg (ed.) 1994: 48 - 65 Scheffel, Michael 2007: “ Metaisierung der literarischen Narration: Überlegungen zu ihren systematischen Voraussetzungen, ihren Ursprüngen und ihrem historischen Profil ” , in: Janine Hauthal et al. (ed.s) 2007: 155 - 171 Weissberg, Liliane (ed.) 1994: Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main: Fischer Wolf, Werner 2007: “ Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien ” , in: Janine Hauthal et al. (ed.) 2007: 25 - 64 Wolf, Werner et al. (ed.s) 2011a: The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media. Forms, Function, Attempts at Explanation, Amsterdam/ New York: Edition Rodopi B.V. Wolf, Werner 2011b: “ Is there a Metafictional Turn, and If So, How Can It Be Explained? ” , in: Werner Wolf et al. (ed.s) 2011: 1 - 47 Filmographie Inception (USA 2010, Christopher Nolan) Shutter Island (USA 2010, Martin Scorsese) Stay (USA 2005, Marc Forster) 128 Stephanie Großmann & Stefan Halft (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [128] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreflexion in der Arena? Zur Raumsemantik der Hunger Games Marietheres Wagner (Passau) The Hunger Games trilogy, written by Suzanne Collins, has enjoyed widespread popularity. The books, published between 2008 and 2010, are worldwide bestsellers, and the film adaptations (2012 − 2015) achieved record attendance. At first glance, the text seems broadly self-reflective: the plot seems to be located within a reality show, a type of text that has also enjoyed worldwide popularity since the turn of the millennium. However, the surface parallels between these elements are later complicated, and the central theme of self-reflection is consequently subverted. This essay explores how this subversion is made possible through a literal and figurative narrative space: the arena. To what extent does the arena ’ s built-in dramaturgy further, or hinder, the development of the theme of self-reflection? 1 Selbstreflexivität als potenzielles Thema eines populären Romans und Films der Gegenwart “ Einmal mussten wir den Spielern der Hungerspiele dabei zusehen, wie sie nachts reihenweise erfroren ” (TVP 2009: 47), Katniss Everdeen, die Protagonistin der Romantrilogie Die Tribute von Panem (cf. The Hunger Games, Suzanne Collins 2008 - 2010), kommentiert als autodiegetische “ Ich ” -Erzählerin, wie sie eine Welt wahrnimmt, in der das Fernsehen allgegenwärtig ist. Als ‘ medienkritisch ’ wird der Weltbestseller der amerikanischen Autorin Suzanne Collins häufig klassifiziert (cf. stellvertretend Barg 2013: 175 - 188 und Grimm 2014: 55 f.). Denn der Text beschreibt ein dystopisches Land namens “ Panem ” , in dem ein Fernsehformat im Stil einer Reality-Show das gesamte Leben aller Bewohner grausam fremd bestimmt: Nach einem Losverfahren werden Teilnehmer für eine Show ausgesucht, die “ Hungerspiele ” , eine Mischung aus Gladiatorenspielen und Casting-Show. Den Spielregeln nach kann nur eine Person überleben, die anderen sterben entweder bei der Überwindung der Hindernisse in einem künstlich angelegten Dschungel- Gelände oder durch Attacken ihrer Konkurrenten. Die 16-jährige Katniss Everdeen meldet sich zu Beginn der Romanhandlung freiwillig zur Teilnahme an den Spielen, um ihre jüngere Schwester Primrose zu schützen, auf die das Los gefallen ist, als so genannter “ Tribut ” an den Hungerspielen teilzunehmen. Im Roman begleitet dabei die reflexive Gedankenstimme der Erzählerin fortwährend das Geschehen. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [129] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Die “ Ich ” -Erzählerin spricht zu ihrer Leserschaft im Ton einer vertrauten Freundin im Plauderton, sie erklärt auch die Spielregeln: “ Über mehrere Wochen hinweg müssen die Konkurrenten einander bis auf den Tod bekämpfen. Der Tribut, der als letzter übrig bleibt, hat gewonnen. ” (TVP 2009: 24) In den gleichnamigen Filmadaptionen wird die Trilogie auf vier Teile ausgedehnt (The Hunger Games, USA 2012 - 2015). Auf die Kommentarstimme aus den Romanen wird hier verzichtet. Katniss Everdeen wird als gut durchtrainierte Protagonistin zunächst in einem Ausgangsraum am Rande des Landes Panem gezeigt, dem waldreichen “ Saum ” . Die junge Frau jagt dort mit Pfeil und Bogen Tiere, um für das Überleben ihrer Familie zu sorgen. Ihre herausragende Eigenschaft ist eine besondere Treffsicherheit als Bogenschützin. Weil ihr Vater verstorben ist und ihre Mutter sich apathisch verhält, fühlt Katniss sich für ihre jüngere Schwester verantwortlich. Als eine von 24 “ Tributen ” , wie dieTeilnehmenden der Hungerspiele heißen, wird Katniss in einem Luxuszug in die städtische Zentrale des Landes Panem gebracht. Dort befindet sich ein Regierungssitz mit integriertem Fernsehsender, der das “ Kapitol ” genannt wird und von einem Präsidenten namens Snow regiert wird. Snow tritt im Fernsehen auf und kontrolliert zugleich dessen Programm. Er wird als alleinherrschender und allmächtiger Diktator in den und mit den jeweils intradiegetischen Medien dargestellt. Die Titel gebenden Hunger Games werden darin zum eigentlichen Schauwert. Thematisiert wird damit die Rolle der Reality Shows als Teil des Mediums Fernsehen. 2. Selbstreflexive Elemente in der Exposition von Roman und Film: Die Reality Show Im Anfangsteil des Romans sowie in den ersten 30 Minuten der Filmadaption des ersten Teiles wird der Eindruck einer medienkritischen Selbstreflexion erweckt, weil zahlreiche Anspielungen auf Reality-Shows der Gegenwart gemacht werden. So gibt es einen “ Mentor ” namens Haymitch, der einschlägig bekannten Figuren aus Casting-Shows ähnelt und als zynisch agierender Alkoholiker vorgestellt wird. Im Roman kommentiert die Gedankenstimme der “ Ich ” -Erzählerin Katniss seine Funktion: “ Wenn wir erst mal in der Arena sind, ist er alles, was wir haben ” (TVP 2009: 56). Die Protagonistin hebt hervor, dass der ihr als Helfer zugeordnete Mentor so betrunken sei, dass er sich nicht auf seinen eigenen Beinen bewegen könne, sondern getragen werden müsse. Die “ Ich ” -Erzählerin vergleicht Kamerateams mit Bussarden, die auf Dächern sitzen und stellt das Fernsehen als allübergreifende Institution dar, das von einem diktatorischen Staat verordnet wird (cf. TVP 2009: 22 f). Sie stellt sich mit diesen verbalen Äußerungen als reflektierende Person dar, die sich durch eine medienkritische Haltung auszeichnet. In der Filmadaption fehlt zwar die Erzählerstimme von Katniss, mit der sie im Roman fortwährend ihre Sicht der Dinge formuliert. Doch in den ersten 30 Minuten des ersten Teils ist auch hier Selbstreflexivität das Thema. Denn der Text referiert eindeutig auf eine Textsorte der Gegenwart, die Reality Show. Modelle der Filmdramaturgie, wie sie auch für Reality Shows gelten, basieren grundsätzlich auf dem Prinzip des narrativen Konfliktes. Dieser Konflikt resultiert daraus, dass eine Hauptfigur ein Ziel anstrebt und/ oder ein Bedürfnis befriedigen will, davon aber durch 130 Marietheres Wagner (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [130] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Hindernisse abgehalten wird, die es zu überwinden gilt. Wie Protagonisten diesen zentralen Konflikt und die damit verbundenen Aufgaben bewältigen, bestimmt nach Fields populärem Modell der Filmdramaturgie den Handlungsverlauf (cf. Field 2006: 12 f). Was aber wäre nach diesem Modell der Konflikt in dem Spielfilm Die Tribute von Panem? In der sechsten Minute des Films wird zunächst eine Frage durch eine Stimme im Off gestellt und in Varianten wiederholt: “ Was wäre, wenn keiner mehr zuschauen würde? ” Doch der narrative Konflikt wird durch die Hauptfigur definiert. Und Katniss Everdeen bleibt keine Figur aus dem Publikum, sondern sie wird zur Akteurin in der Arena. Folglich wird die eingangs aufgeworfene Frage schnell wieder fallengelassen und vergessen, bevor diese interessante Möglichkeit tatsächlich thematisiert werden könnte. Verantwortlich dafür, dass Kämpfe bis auf den Tod vorgeführt werden, ist nun offenbar doch nicht das Publikum, sondern eine einzige Person, der alle anderen Bewohner des Landes Panem unhinterfragt gehorchen müssen: Präsident Snow. Wie es möglich sein soll, dass eine Einzelperson ohne Unterstützung von anderen Menschen über so viel Macht verfügen kann, bleibt allerdings eine Leerstelle. Das Publikum der Show, wird pauschal als kindlich, unmündig und weitgehend gesichtslos wie in einer Dauermaskerade dargestellt. Eine durch bunte Kostümierungen kaschierte allgemeine Dumpfheit wird wie ein naturgegebenes Faktum dargestellt. Die Darstellung beschränkt sich auf die Oberfläche, die Beobachtung von Katniss konzentriert sich auf Make-Up, Kostüme oder Stimmlage. Im Roman kommentiert Katniss: Warum sprechen diese Leute mit so hoher Stimme? Warum machen sie beim #Sprechen kaum den Mund auf ? Warum geht ihre Stimme am Ende eines Satzes immer in die Höhe wie bei einer Frage? Komische Vokale, abgehackte Wörter und ein zischendes S … Kein Wunder, dass sie immer nachgeäfft werden. (TVP 2009: 71) 3 Die Raumsemantik der Arena von Panem Der narrative Raum, den die Protagonistin betritt, wird als überdimensionale Arena dargestellt, deren Raumsemantik den Verlauf der Handlung bestimmt. Hauptmerkmal der Arena von Panem ist die Zwangsrekrutierung der Teilnehmenden, die darin auftreten müssen. Die Raumsemantik des Textes verschwimmt damit schon im Anfangsteil ins Ungenaue, weil ja das Figurenpersonal von Casting-Shows, auf das der Text referiert, in der Regel freiwillig dort auftritt. Auch die in der sechsten Minute des Films kurz angerissene Frage nach der Verantwortlichkeit des Publikums wird damit zerstreut. Denn statt der Frage weiter nachzugehen, was wäre, wenn das Publikum nicht mehr zusehen würde, wird vorgeführt, dass die Sendung der Show zwangsverordnet sei. Als verantwortlich dafür wird eine Einzelperson dargestellt, Präsident Snow. Snow wird durch genau zwei Eigenschaften charakterisiert: erstens ist er allmächtig und zweitens ist er von grausamer Bösartigkeit. Für die Protagonistin Katniss Everdeen kann es im Folgenden nur noch darum gehen, wie sie der Gefangenschaft in der Arena entkommen und wie sie die Spiele überleben kann. Da der Raum Panem als Reality Show auch eine mediale Textsorte ist, bedeutet dies zugleich: Es geht darum, wie die Protagonistin diesen sie fremd bestimmenden medialen Text der Reality Show verlassen kann. Damit ist die dramaturgische Grundkonzeption des Textes - sowohl für den Roman als auch für den Film - selbstreflexiv angelegt. Es könnte anhand der Selbstreflexion in der Arena? 131 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [131] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Protagonistin und ihres Emanzipationsversuchs von der sie fremd bestimmenden Reality Show die Frage thematisiert werden, inwiefern kollektive Erzählmuster kulturelle Modelle des Denkens und Handelns nicht nur spiegeln, sondern sozial prägen. Das Problem des Films Die Tribute von Panem ist nun aber, dass die Protagonistin sich von der Raumsemantik der Reality Show als Arena nicht löst. 4 Zur Semantik der Arena als Raum kollektiver Identität Eine Arena ist ein Raum, der in der griechischen Antike dazu konstruiert wurde, Wagenrennen oder Wettkämpfe vor Publikum zu veranstalten. In der römischen Antike wurde die Arena zum Raum von Gladiatorenkämpfen deformiert. Statt sportlicher Wettkämpfe wurden nun blutige Schaukämpfe vorgeführt (cf. Ramage und Ramage 2012: 82 - 97). Die Tribute von Panem referieren eindeutig auf die römische Variante. Darüber hinaus hat jede Arena grundsätzlich Bühnencharakter und lässt sich durch wiederkehrende Merkmale definieren: In einer Arena werden Wettkämpfe nach vorgegebenen Spielregeln vorgeführt, bei denen in der Regel ein größeres Publikum zusieht. Die Akteure in der Arena befinden sich in einer Wettkampfsituation, konkurrieren also untereinander um Sieg oder Niederlage. Veranstaltungen in einer Arena finden in einem zeitlich begrenzten Rahmen statt, sodass es einen Abschluss gibt, der durch Spielregeln vorgegeben ist. Wie sich aus dem Vergleich zwischen der Bedeutung der Arena im antiken Griechenland und im antiken Rom ableiten lässt, hat die Raumsemantik einer Arena mit grundsätzlichen Vorstellungen eines Kollektivs von modellhaften Wettkampfsituationen oder deren Bedeutung und Funktion zu tun. Ob diese Formen der Unterhaltung mehr spielerisch und an sportlicher Fairness orientiert sind oder aber mehr kämpferisch und an gewalttätiger Willkür, spiegelt jeweils kollektive Vorstellungen des Arena-Publikums. In der Arena bildet sich die geistige Verfassung eines Kollektivs ab und spiegelt dessen Identität. Die Massenmedien der Gegenwart haben die Freiluftbühnen der Antike zum einen abgelöst und zum anderen integriert. Fußballstadien, die im Fernsehen gezeigt werden, sind ein Beispiel dafür. Arenen sind in verschiedensten Varianten anzutreffen - von Räumen, in denen Podiumsdiskussionen vor Publikum stattfinden bis zu Reality-Shows mit Dschungelgelände. Arenen kommen in allen Textsorten vor und prinzipiell können alle Räume in Arenen umgewandelt werden. Eine Arena kann in einem Fantasy-Roman der Platz sein, in dem im Finale der Kampf des Helden mit einem Drachen stattfindet. Eine Arena kann aber auch ein Hotelfoyer in einer Romantischen Komödie sein, in dem eine Liebeserklärung vor Publikum inszeniert wird. Grundsätzlich ist die Raumsemantik einer Arena weder positiv noch negativ besetzt (zur Arena-Dramaturgie cf. Wagner 2013: 81 - 198 sowie 199 - 226). 5 Zeitkonzeption in der Arena Nach Modellen der Filmdramaturgie besteht ein Film aus drei Akten, die hier kurz als Anfang, Mitte und Schluss benannt seien. Der Höhepunkt ist dem Schluss, also dem dritten Akt, vorbehalten. Häufig gibt es hier eine Wettkampfsituation zwischen zwei gleich starken Gegnern, in der die Hauptfigur mit ihrer größten Angst konfrontiert wird, die es zu 132 Marietheres Wagner (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [132] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL bewältigen gilt. Ein Raum mit der Semantik einerArena kann im Schlussteil einer Erzählung ermöglichen, einen Konflikt zuzuspitzen und aufzulösen. Doch es gibt auch Erzählweisen, die einen Konflikt nicht erst im Schlussteil, sondern bereits im Hauptteil in eine Arena umlenken. Dies bewirkt, dass weniger das Thema des Konfliktes im Fokus steht, sondern mehr die Kampfhandlung selbst. Damit ist in der Regel verbunden, dass Kampfszenen oder Action-Szenen anderer Art, zum Beispiel Autoverfolgungsjagden, zeitlich überdimensional lange ausgedehnt werden. Eine solche Dramaturgie erweckt tendenziell den Eindruck von Trivialität, und wird häufig vom spekulativen oder inflationären Einsatz starker Schlüsselreize begleitet. Kompensiert kann dies werden durch das Zelebrieren der Gewalt in ästhetisierter Form (cf. Wagner 2013: 183 - 198). Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten einer “ Arena-Dramaturgie ” : (i) Das exzessiv ausgedehnte Vorführen von Gewaltszenen ist die eine Variante einer solchen Dramaturgie, bei der sich der Hauptteil der Handlung in einerArena abspielt. (ii) Die andere Variante ist das Bedienen illusorischer Wunschvorstellungen, wenn zum Beispiel in Reality- Shows der Eindruck vermittelt wird, es sei möglich, innerhalb weniger Wochen oder Monate Popstar oder Topmodel zu werden (cf. Wagner 2013: 168, 172 - 183) 1 . 6 Die Protagonistin Katniss Everdeen in der Arena von Panem Die Hunger Games-Filme scheinen Casting-Shows und ihre Dramaturgie zunächst zu persiflieren. Der Text ist also im Anfangsteil eindeutig medien- und damit auch latent selbstreflexiv. Doch bereits in der zwölften Minute der Filmadaption des ersten Teiles (Tödliche Spiele) wird die Dramaturgie auf den bereits erwähnten Punkt hingelenkt: Es geht primär um die Auswahl der Teilnehmer, die nicht als freiwilliger Akt dargestellt wird, sondern als Zwang. In der vierzehnten Minute wird Katniss ’ jüngere Schwester Primrose als unschuldiges Kind durch das Los als Teilnehmerin für die Spiele ausgewählt und Katniss meldet sich freiwillig, um sie zu schützen. Sie springt damit selbst in die Arena und kann damit als Figur nur die dort vorgesehene vorgegebene Rolle übernehmen. Dies wird als heroischer Akt der Selbstaufopferung dargestellt. Geopfert wird damit auch der selbstreflexive Charakter des Textes, weil die Protagonistin dadurch nun selbst Teil der Arena wird, deren Raumsemantik die Erzählstrategie bestimmt, anstatt sie zu dekonstruieren. Sobald Protagonisten eine Arena betreten, wird Selbstreflexion grundsätzlich schwierig oder ist nur noch sehr eingeschränkt möglich. Denn ob es sich um einen Fußballspieler oder um eine Gladiatorin handelt: Wer Protagonist in einer Arena geworden ist, kann sich tendenziell kaum der Rolle entziehen, die damit einhergeht. Wer sich in einer Arena befindet, ist Teilnehmer eines Spieles, das Regeln folgt. Der Raum Arena erzwingt durch seine Semantik sozusagen die Handlung. Grundsätzlich wäre durchaus denkbar, dass ein Text dieses Prinzip aufbricht und damit selbstreflexiv wird. Dazu müsste allerdings schon etwas Ungewöhnliches passieren, vergleichbar beispielsweise mit zwei Fußballspielern, die eine WM unterbrechen, um vor den Augen der versammelten Menschenmenge im Stadion einen Dialog über die FIFA, ihr Privatleben oder anderes zu führen. In der Romanvorlage der 1 Vgl. zur Casting Show Germany ’ s next Topmodel einführend Decker 2011 Selbstreflexion in der Arena? 133 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [133] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Hunger Games wird zwar durch die Gedankenstimme der “ Ich ” -Erzählerin der Eindruck von Reflexion erweckt, weil Katniss Everdeen alles Geschehen dort fortwährend kommentiert. Der Handlungsverlauf selbst aber folgt den vorgegebenen Spielregeln. In der Filmadaption treten durch die fehlende Gedankenstimme die selbstreflexiven Elemente noch weiter in den Hintergrund. Von Bedeutung ist in jeder Arena und auch für Katniss Everdeen die Frage, an welcher Stelle des Textes die Protagonistin die Arena betritt. Jurij Lotman weist darauf hin, dass die kodierende Funktion dem Anfang und die sujetmäßige, “ mythologisierende ” dem Ende zugeordnet sei (cf. Lotman 1972: 311). In Modellen der Filmdramaturgie ist das Ende einer Erzählung grundsätzlich mit der Lösung des narrativen Konfliktes verbunden. Auch aus dem Konzept des anderen Raumes (Kanzog 2002) lässt sich ableiten, dass Konfliktlösung und Raumsemantik in Zusammenhang stehen. Denn das Eintreten in den neuen Raum kann eine neue Perspektive ermöglichen, von der aus Probleme oder Konflikte des Ausgangsraumes von außen und damit auf eine neue Art und Weise wahrgenommen werden können. Dieser Blick von außen kann eine angemessene Konfliktlösung einleiten. Wenn aber ein Protagonist in eine Arena tritt, ist dieser Blick von außen zurück in den Ausgangsraum kaum mehr möglich, weil eine Arena von ihrer Grundkonstruktion her kein Raum ist, der eine neue Perspektive ermöglicht, sondern ein Raum mit vorgegebenen Spielregeln. Ein Konflikt kann zwar durchaus in einerArena beendet werden, aber die Arena lenkt durch ihre oben beschriebenen Merkmale ab vom möglichen Blick zurück in den Ausgangsraum und ist damit per se kein Raum der Reflexion. Im Schlussteil einer Erzählung kann der Eintritt von Protagonisten in eine Arena durchaus angemessen sein, weil es hier um eine Lösung bzw. die Auflösung des Konfliktes geht. Außerdem implizieren die Merkmale einer Arena grundsätzlich, dass es in diesem Raum ein Ende oder einen Abschluss geben muss. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in der Arena tatsächlich immer der Ausgangskonflikt gelöst wird. Denn die Merkmale der Arena können diesen auch umleiten in einen Ersatzkonflikt, der in der Arena ausgetragen wird. Das kann ein Wettbewerb sein und tendenziell sind dessen Regeln vorgegeben. Eine Variante davon ist das obligatorische Pistolen-Duell im Genre des Western auch bekannt als “ Show-Down ” (cf. Wagner 2013: 165 - 198). Für die Thematisierung eines Konfliktes und seine Lösung ist also entscheidend, in welchem Teil der Erzählung die Hauptfigur die Arena betritt: erst im Schlussteil oder bereits in der Mitte. Während eine Arena durchaus der adäquate Raum zur Konfliktlösung im Schlussteil sein kann, lenkt ihre Raumsemantik fast zwangsläufig vom Konflikt ab, wenn der Weg einer Hauptfigur bereits im Mittelteil in eine Arena führt. Letzteres ist bei den Hunger Games der Fall. Ausgehend davon, dass in der Filmdramaturgie die ersten 30 Minuten der Exposition vorbehalten sind, 60 Minuten dem Hauptteil, und maximal 30 Minuten dem Ende (cf. Field 2006: 12), betritt Katniss Everdeen bei der Filmadaption des ersten Teils bereits in der 35. Minute als “ Tribut ” die Arena. Bis zur 60. Minute geht es zwar dann noch um das Training und die Vorbereitungen für die Kampfspiele und es tauchen dabei auch noch einzelne selbstreflexive Elemente auf. Aber schon ab der 35. Minute liegt der Fokus nur noch auf der Frage, wie Katniss Everdeen den Kampf gewinnen kann. Ab der 60. Minute geht es um nichts anderes mehr. Die Gesamtlänge des Films beträgt 137 Minuten, sodass die exzessiv ausgedehnten Kampfszenen - mehr als die Hälfte des Films - die 134 Marietheres Wagner (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [134] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL anfänglich selbstreflexiven Elemente mehr und mehr in den Hintergrund treten lassen. Die Fortsetzungen der Hunger Games werden dieses Prinzip dann weiter reproduzieren. 7 Selbstreflexivität und dramaturgische Tempi Grundsätzlich ist Geschwindigkeit oder Tempo in unserem Alltagsleben ein Begriff, der drei Möglichkeiten beinhaltet: Das Tempo kann angemessen, zu schnell oder zu langsam sein. Wie oder ob wir dies subjektiv empfinden, bewerten, objektiv festlegen oder sogar regelhaft festlegen, kann sich zum Beispiel durch Geschwindigkeitsbegrenzungen beim Autofahren ausdrücken. Die Angemessenheit des Tempos hängt grundsätzlich mit der Beschaffenheit eines Raumes zusammen: Auf der Autobahn wird schneller gefahren als auf einem Feldweg oder im Stadtzentrum. Und ganz ähnlich hängt auch das Tempo der Konfliktlösung in einem narrativen Text mit der Beschaffenheit seiner Raumsemantik zusammen. Der Konflikt und die Raumsemantik stehen in Zusammenhang, weil Konflikte inszenatorisch häufig in spezifischen Räumen situiert sind. Unter den Tributen von Panem ist z. B. Rue, ein dunkelhäutiges Mädchen, etwa gleichaltrig mit Katniss ’ jüngerer Schwester Prim. Rue hilft der Protagonistin Katniss aus einer ausweglosen Situation und rettet ihr damit das Leben. Zwischen Katniss und diesem Mädchen bahnt sich eine Freundschaft an. Doch nur eine von beiden kann gewinnen. Und gewinnen kann sie nach den Spielegeln des Raumes Panem nur, wenn die andere stirbt. Dies wäre nun ein Konflikt, der auch emotional berührend auf die Rezipienten wirken könnte. Genau an dem Punkt aber, an dem diese Wirkung eintreten könnte, setzt die physische Kampfhandlung ein. Physische Kämpfe auf Leben und Tod wirken wahrnehmungsphysiologisch als starke Schlüsselreize. Der Kampf mit dem drohenden Tod vermag deshalb von seiner emotionalen Wirkung tendenziell alle anderen Themen zu überdecken. Dieses Prinzip wird in den Hunger Games exzessiv eingesetzt. Hier kann man von einer Umleitung sprechen, der Funktion die Verlangsamung der Konfliktlösung in der weiteren Inszenierung darstellt. Mit Beendigung des Kampfes wird mit einer solchen Erzählweise suggeriert, dass zugleich jeder andere anfangs dargestellte Konflikt gelöst sei. In der Regel endet der Kampf mit dem Tod eines als überlegen oder in einer Übermacht dargestellten Gegenspielers. In der Arena von Panem wird als gefährlichster Kampfteilnehmer ein junger Mann namens Cato dargestellt, wobei von Anfang an klar ist, dass Katniss und er sich beim Finale der Spiele begegnen werden. Das Töten der Gegner erledigen bis dahin andere Mitspieler für Katniss. Sie selbst kommentiert als “ Ich ” -Erzählerin am Ende des ersten Romanteiles: “ Mitleid, nicht Rachsucht lässt mich einen Pfeil in seinen Schädel schießen ” (TVP 2009: 379). Die Umleitung des tatsächlichen narrativen Konfliktes in eine Kampfhandlung impliziert eine Verlangsamung des dramaturgischen Tempos, weil die Konfliktlösung verlangsamt oder sogar blockiert wird. Der Weg durch die Arena führt nicht auf den Konflikt zu oder durch den Konflikt hindurch zu einer Lösung, sondern vom Konflikt weg und um den Konflikt herum. Kompensatorisch werden in solchen Konstrukten häufig exzessiv ausgedehnte Kampf- und Action-Szenen eingesetzt, die ein schnelles Grundtempo haben - vergleichbar einem Auto, das in hohem Tempo einen Umweg fährt (cf. Wagner 2013: 183 - 198). Selbstreflexion in der Arena? 135 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [135] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Der Weg der Umleitung des narrativen Konfliktes in die Arena beinhaltet dabei nicht nur einen stereotypen Handlungsverlauf, sondern auch eine stereotype Figurenstruktur, die aus einer Opfer-Täter-Opposition besteht. Die Protagonistin ist das Opfer, der Antagonist der Täter - der auch im Plural auftreten kann und dann noch bedrohlicher wirkt. Sie kämpfen also in einer Meute. Was mich nicht besonders überrascht. In den frühen Phasen der Spiele bilden sich oft Bündnisse. Die Starken schließen sich zusammen und jagen die Schwachen, und wenn die Spannungen zu groß werden, fallen sie übereinander her. Es ist nicht schwer zu erraten, aus wem dieses Bündnis besteht. Es werden die verbliebenen Karrieretribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 sein. Zwei Jungen und drei Mädchen. Die immer gemeinsam zu Mittag gegessen haben. (TVP 2009: 180) Die Protagonistin bereitet sich auf einen physischen Kampf vor, bei dem klar ist, dass sie in einem Kampf auf Leben und Tod schließlich einem Gegner gegenüberstehen wird, der besonders angsteinflößend ist: “ Der riesige Junge aus Distrikt 2 ist eine skrupellose Tötungsmaschine ” . (TVP 2009: 141) Betont wird zwar, dass die anderen Wettbewerbsteilnehmer nicht die wahren Feinde seien, aber statt einer tatsächlichen medialen Selbstreflexion bleibt der Text durchgehend in der schon erwähnten Behauptung stecken: Präsident Snow, der Einzeltäter und allmächtige Diktator wird als allein verantwortlicher Täter dargestellt, alle anderen Figuren als seine Opfer. 8 Dramaturgie der Arena Sobald die Protagonistin die Arena betreten hat, wirkt das Gesetz dieses Raumes, das nur zwei Möglichkeiten kennt: Sieg oder Vernichtung. In diesem Raum scheint es unhinterfragt eine Art Naturgesetz zu sein, dass die Protagonistin Katniss sogar den Tod des Mädchens Rue, das ihr das Leben gerettet hat, ohne größere Gefühlsregung hinnimmt. Für Katniss ergeben sich daraus weitere Vorteile. Nach dem Modell des - heute politisch inkorrekten Titels - Zehn kleine Negerlein werden der Reihe nach all ihre Konkurrenten abgeschlachtet, bis am Ende nur noch Katniss und Peeta übrigbleiben. Peeta ist ein junger Mann, von dem behauptet wird, er sei schon seit langer Zeit in Katniss verliebt. Auch in dieser Figurenkonstellation blitzt ansatzweise der Grundkonflikt auf: Unterwirft Katniss sich dem Druck der von der Arena vorgebenen Spielregeln, des Konkurrenz- und Kampfprinzips oder traut sie ihrer Wahrnehmung und folgt sie ihren Gefühlen. Dabei wird von Anfang an eine Romanze zwischen Katniss und Peeta angelegt, sodass auch hier der Konflikt nicht wirklich entfaltet wird. Es ist zu deutlich absehbar, dass weder Katniss Peeta töten würde noch Peeta Katniss. Dieser Grundkonflikt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung wird im Anfangsteil selbstreflexiv als Spiegel unserer Gesellschaft der Gegenwart thematisiert. Es werden dabei Prinzipien unseres globalen Wirtschaftssystems dargestellt, dessen momentane Zuspitzung sich in medialen Formen wie Casting-Shows spiegelt. Gelöst wird dieser Konflikt jedoch nicht. Er wird auch nicht gesteigert oder zugespitzt. Stattdessen folgt der gesamte Handlungsverlauf in drei Romanbänden und vier Filmadaptionen dem stereotypen Erzählverlauf derjenigen Textsorte Reality Show, die anfangs scheinbar selbstreflexiv dargestellt wird. 136 Marietheres Wagner (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [136] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Das Prinzip einer sensibilisierenden Exposition, der eine Umleitung des Konfliktes in ein exzessives Ausdehnen physischer Kampfszenen folgt, fällt nicht nur bei den Hunger Games auf, sondern auch bei anderen sogenannten “ Blockbuster-Filmen ” wie zum Beispiel Avatar (USA 2009, James Cameron). Dieses Erzählprinzip ermöglicht es, in der Exposition Themen aufzugreifen, die insbesondere auch Jugendliche als Zielgruppe zur Identifikation einladen und diese dann in einen Raum umzuleiten, der Merkmale einer Arena aufweist. Auf diese Weise können auch Themen oder Erzählweisen, die eher zur Reflexion als zur Zerstreuung einladen, in einer Exposition aufgegriffen und im Hauptteil in eine “ Arena-Dramaturgie ” umgelenkt werden (cf. Wagner 2013: 257 - 259). Dabei wird in der Exposition der Hunger Games eine Variante der Semantik einer Arena durchaus treffend dargestellt: die Spiele-Show, die einen Weg der Abkürzung impliziert. In unserer Alltagssprache bedeutet eine Abkürzung, dass ein Ziel schneller als erwartet erreicht werden kann. Sie ist das Grundprinzip sämtlicher Casting-Shows, in denen zum Beispiel behauptet wird, es wäre möglich, innerhalb von Wochen oder Monaten Pop-Star zu werden. Auch die Romantische Komödie ist ein Genre der Abkürzung, wenn zum Beispiel mittellose Protagonistinnen Millionäre heiraten und damit ihrem Publikum einen abkürzenden Weg zum sozialen Aufstieg vorführen. Die Figurenkonstellation in der Abkürzung basiert grundsätzlich auf dem Prinzip der metaphorischen Infantilisierung: Die Protagonistin oder der Protagonist weist kindliche Züge in ihrem oder seinem Verhalten auf. Praktisch alle weiblichen Figuren im Raum Panem außer Katniss Everdeen selbst werden so dargestellt. Die Abkürzung besteht dann darin, dass das metaphorische Kind durch einen metaphorischen Elternteil aus einer schlechteren in eine bessere Position gehoben wird. Alle Casting-Shows und die meisten Realitiy-Formate sind nach diesem Prinzip aufgebaut (cf. Wagner 2013: 172 - 183). Die Hunger Games sind in der Exposition selbstreflexiv, weil in diesem Anfangsteil die metaphorische Infantilisierung problematisiert wird und die Textsorte Reality-Show damit in Verbindung gebracht wird. Über diffuse Andeutungen kommt der Film dabei aber leider nicht hinaus. 9 Fazit Während Reflexion eine Distanzierung des Zuschauers vom Text ermöglicht, lebt das Prinzip der “ Arena-Dramaturgie ” davon, dass jede Distanz verhindert wird und Grenzen zwischen Text und Zuschauer verwischt werden. Mit Eintritt in einen Arena-Raum wird eine Figur aus ihrem Ausgangsraum gelöst. Der Übertritt einer Grenze von einem Raum in einen anderen impliziert zunächst die Möglichkeit, dass von diesem anderen, neuen Raum aus der alte Raum auf neue Weise gesehen werden kann. Es ist ein dramaturgisches Prinzip und eine der Möglichkeiten von Kunst, dass gerade diese Distanzierung es ermöglicht, beispielsweise einen Konflikt oder ein Problem daraufhin auf neue Weise zu betrachten oder von außen etwas zu sehen, was zuvor, von innen, nicht wahrgenommen werden konnte. Selbstreflexion kann Wahrnehmung schärfen, um auf die Semantik eines medialen Raumes aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren. Mit der Verlagerung des Hauptteiles in einen Raum, der die Semantik einer Arena aufweist, wird genau diese Möglichkeit der Wahrnehmung und der Sensibilisierung verhindert, weil die Arena ein Raum ist, der die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkt. Selbstreflexion in der Arena? 137 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [137] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Die “ Arena-Dramaturgie ” mit ihren zwei Varianten von Tempi, der Abkürzung und der Umleitung, ist das vorherrschende dramaturgische Prinzip in populären Texten der Gegenwart. Die Raumsemantik der Arena ermöglicht, dass eine stereotype Form der Konfliktbewältigung als erfolgversprechend und wünschenswert vorgeführt wird. Denn dazu ist lediglich der “ Sieg ” einer Identifikationsfigur notwendig. Die Hunger Games führen darüber hinaus vor, wie die zwei Möglichkeiten der “ Arena-Dramaturgie ” sich gegenseitig selbst aufrechterhalten können, wenn als Gegensatz zur “ Abkürzung ” die “ Umleitung ” als Lösung vorgeführt wird. Der Text spiegelt damit zwar die beiden zentralen Denkmodelle, die die Raumsemantik der Arena repräsentiert, aber er bleibt ihnen selbst verhaftet. Der Ansatz zur Selbstreflexion wird zerstreut und in Ablenkung von der Reflexion übergeleitet. Medienkritisch sind die Hunger Games-Filme damit allenfalls an der Oberfläche ihrer Inszenierung, nicht aber strukturell. Bibliographie Barg, Werner 2013: “ The Hunger Games - Die Tribute von Panem ” , in: Kurwinkel & Schmerheim (eds) 2013: 175 - 188 Decker, Jan-Oliver (ed.) 2007 a: Erzählstile in Literatur und Film (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica, 30.1 - 2 (2007)), Tübingen: Narr Decker, Jan-Oliver 2007 b: “ Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘ Postmoderne ’ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine oft he Spotless Mind (Vergissmeinnicht, USA 2004) ” , in: Decker 2007 a: 153 - 175 Decker, Jan-Oliver 2011: “ Germanys Next Topmodel - Zur Konzeption der ‘ schönen Person ’ durch Rituale der Domestikation im TV. ” , in: Grimm & Zöllner (eds.) 2011: 135 - 156 Field, Syd u. a. 2006: Drehbuchschreiben für Fernsehen und Film. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, 4 2006, Berlin/ München: Ullstein Gräf, Dennis et al. 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Grimm, Petra & Oliver Zöllner (eds.) 2011: Medien - Rituale - Jugend. Perspektiven auf Medienkommunikation im Alltag junger Menschen (=Medienethik 9), Stuttgart: Steiner Kanzog, Klaus 2002: “ Das Betreten und Wiederverlassen des ‘ anderen Raumes ’ . Therapeutische Funktionen der ‘ Grenzüberschreitung ’” , in: Krah & Ort (eds.) 2002: 15 - 34 Krah, Hans (ed.) 2001 a: All-Gemeinwissen. Kulturelle Kommunikation in populären Medien, Kiel: Ludwig Krah, Hans 2001 b: “ Vorwort ” , in: Krah 2001 a: 5 − 8 Krah, Hans & Claus-Michael Ort (eds.) 2002: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten - realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel: Ludwig Kurwinkel, Tobias & Philipp Schmerheim (eds.) 2013: Kinder- und Jugendfilmanalyse, Konstanz: UVK Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink Scheffel, Michael 1997: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen: Niemeyer Schmid, Wolf 2005: Elemente der Narratologie (2., verbesserte Auflage), Berlin/ New York: de Gruyter Rabenalt, Peter 2011: Filmdramaturgie, Berlin: Alexander Ramage, Nancy H. & Andrew Ramage 2012: Das alte Rom. Leben und Alltag, Darmstadt: Theiss [London 2008: British Museum Press] 138 Marietheres Wagner (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [138] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Wagner, Marietheres 2013: Dramaturgie im Raum. Arena, Tempo und Wege. Ein Analysemodell zur Filmdramaturgie, Zürich: Midas Wagner, Marietheres 2014: Prinzip Hollywood. Wie Dramaturgie unser Denken bestimmt, Zürich: Midas Wünsch, Marianne et al. 1996: Das Wertesystem der Familienserien im Fernsehen, Kiel: Malik Internetquellen Dauner, Dorea 2009: Literarische Selbstreflexivität, Stuttgart: Diss. Phil., im Internet unter https: / / elib. uni-stuttgart.de/ bitstream/ 11682/ 5349/ 1/ DissDaunerPublish.pdf [04. 08. 2018] Grimm, Jürgen 2014: Identitätsbildung durch Kino? Filmnutzung und Filmwirkungen bei Jugendlichen am Beispiel von Chronicle - Wozu bist Du fähig? , Die Tribute von Panem - The Hunger Games, Kriegerin und Dirty Girl, in: Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen Rheinland-Pfalz / Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH (eds.) 2014: 44 - 61, im Internet unter https: / / www.spio-fsk.de/ media_content/ 3005.pdf [04. 08. 2018] Klingelhöfer, Arndt 2014: “ Die ausgewählten Filme ” , in: Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen Rheinland-Pfalz / Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH (eds.) 2014: 19 - 40, im Internet unter https: / / www.spio-fsk.de/ media_content/ 3005.pdf [04. 08. 2018] Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen Rheinland-Pfalz & Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH (eds.) 2014: Medienkompetenz und Jugendschutz IV. Körper, Geschlecht, soziale Identität. 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Selbstreflexivität in der transmedialen Fernsehsendung About: Kate Amelie Zimmermann (Passau) This paper discusses the reflexive structures in the transmedial project About: Kate which consists of a TV-series and a number of paratexts communicated via a second screen app, a website and the social network Facebook. The project traces the story of the series ’ protagonist Kate and her recovery from a mental disorder. Being part of a hypermediated society severely disturbs and challenges her and induces a massive identity crisis. As she recovers in a psychiatric hospital, she discovers that identity is highly connected to perception, signs and signifying structures and that media are fundamentally involved in creating identity. Thus, the series suggests that using different types of media in a playful but self-conscious way can have a positive impact - not only on the protagonist but also on the recipient. This is communicated through the transmedial logic of the project on a thematical level - the histoire level - as well as the discourse level in each paratext. 1 Selbstbezüglichkeit in transmedialen Konstrukten Dieser Beitrag thematisiert Selbstreflexivität in transmedialen Konstrukten am Beispiel der deutsch-französischen Fernsehserie About: Kate (cf. Nandzik 2013). Die Serie reflektiert sowohl auf thematisch-inhaltlicher Ebene, der Histoire, als auch auf Vermittlungsebene, dem Discours, den Einfluss von Medien auf die Konstruktion von Identität in unserer medialisierten Welt. Dies geschieht nicht nur durch den audio-visuellen Kerntext, die TV- Serie, sondern paradigmatisch plurimedial: Neben der Serie bilden eine speziell für die Serie entwickelte App, Facebook-Profile sowie eine Webseite mit verschiedenen Funktionen das transmediale Konstrukt. Bevor näher auf das konkrete Beispiel About: Kate eingegangen wird, stehen Konzepte des Selbstbezugs und deren Anwendung auf intendierte Medienverbunde im Vordergrund. 1 1 Dieser Beitrag konzentriert sich auf Selbstbezüglichkeit in About: Kate. Eine ausführliche Diskussion über transmediale Konstrukte, transmedia Storytelling und die einende Hyperdiegese im Beispiel About: Kate findet sich in cf. Zimmermann 2015. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [140] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Selbstreferenz 2 , Selbst- oder ästhetische Reflexivität 3 , Metafiktion 4 , Selbstbezüglichkeit 5 , Metaisierung 6 , Potenzierung 7 etc. - die Begriffe für mediale Phänomene, die sich im weitesten Sinne mit sich selbst, mit ihrer Textualität und Medialität beschäftigen, sind vielfältig. Ebenso, wie sich die Benennungen unterscheiden, divergieren auch die dahinter liegenden Konzepte. Dieser Beitrag kann es nicht leisten, die verschiedenen Konzepte zu skizzieren und ihre Unterschiede heraus zu arbeiten; ebenso wenig ist das Ziel dieses Beitrags, eine allgemeingültige Definition des Phänomens des Selbstbezugs zu erarbeiten. 8 Indes ist es zielführend, einen weitläufigen Begriff der Selbstbezüglichkeit zugrunde zu legen, der es ermöglicht, die verschiedenen Formen der Selbstthematisierung im untersuchten Gegenstand zu inkludieren, um so die vermittelte Bedeutung des medialen Texts About: Kate rekonstruieren zu können. Dementsprechend wird Selbstreflexion hier verstanden als “ eine Tätigkeit, die sich [ … ] wahlweise als ‘ Sich-Selbst-Spiegeln ’ oder als ‘ Sich- Selbst-Betrachten ’ spezifizieren läßt ” (cf. Scheffel 1997: 47). 9 Der Fokus soll hier also nicht darauf liegen, die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der verschiedenen Theorien zu medialer, textueller und zeichenhafter Selbstbezüglichkeit einander gegenüberzustellen und synthetisch zu einer möglichen Konzeptuierung zusammenzuführen. Vielmehr zeigt dieser Beitrag auf, wie Selbstreflexivität/ Selbstreflexion/ Selbstreferenzialität in transmedialen Konstrukten genutzt werden kann, um damit den Umgang mit Medien in einer medialisierten Gesellschaft durch Identitäts(re-)konstruktion möglich zu machen und sinnvoll zu gestalten. Der Fokus liegt damit klar auf der Funktionalisierung von Selbstreflexion. Kirchmann löst die Frage danach, ob “ jeder Film, der als Setting ein Filmstudio wählt, schon zu Recht als selbstreflexiv einzustufen ist ” (cf. Kirchmann 1996: 72) damit, dass er verstärkt nach der “ Intention ” des Selbstverweisens fragt. 10 Daraus resultiert für ihn eine theoretische Abgrenzung der Selbstreferenzialität (das “ Selbstbezügliche ” , cf. Kirchmann 1996: 74, Hervorhebung im Original) als “ spezifische Form ” der Selbstreflexivität (der “ ästhetischen Selbstbespiegelung ” , cf. Kirchmann 1996: 74, Hervorhebung im Original). Selbstreferenzialität versteht Kirchmann als ein eng mit der Moderne verknüpftes Phänomen, das den Begriff des Subjekts und die erkenntnistheoretische Aneignung der das Subjekt umgebenden Welt miteinander verbindet. Ohne die gewählten Begrifflichkeiten mit diesen Definition übernehmen zu wollen, ist es doch fruchtbar, Kirchmanns Verweis auf den Zusammenhang des Phänomens mit dem ideengeschichtlichen Diskurs zur 2 Diese Begrifflichkeit zieht Werner Wolf vor (cf. Wolf 2001). 3 Von Selbstreflexivität spricht beispielsweise Michael Scheffel (cf. Wolf 2001 vorgelegt worden. 4 Beispielsweise cf. Nünning 1995. 5 Diese Begriffsverwendung findet sich in der Forschung häufig genannt mit anderen Bezeichnungen, beispielsweise cf. Nöth 2006 oder cf. Hettich 2014. 6 Cf. Hauthal et al. 2007 b. 7 Cf. Fricke 2003. 8 Die beachtenswertesten Arbeiten mit der Zielsetzung einer umfassenden Beschreibung bzw. Typisierung selbstbezüglichen Erzählens sind vermutlich von Scheffel 1997 und Wolf 2001 vorgelegt worden. 9 Scheffel unterscheidet Selbstreflexion und Selbtsreflexivität, wobei erstere Bezeichnung den prozessualen Charakter des Phänomens hervorhebe (cf. Scheffel 1997: 47). Die beiden Begriffe werden hier jedoch synonym verwendet. 10 Kallweit löst die Frage insofern auf, als dass “ aus dem Film ableitbar sein [muss], welche Merkmale dem jeweiligen Medium innerhalb des Films zugewiesen werden ” (cf. Kallweit 1999: 213). Neue Medien - neue Identität? 141 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [141] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Selbstbestimmung und Weltaneignung für die Analyse selbstbezüglicher Konstrukte zu beachten. Insbesondere gilt dies im Zusammenhang mit der Identitätsproblematik in About: Kate. Transmediale Konstrukte, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden, sind intentional plurimedial - sie bestehen bewusst aus (1) mehreren Kommunikaten und (2) mehreren beteiligten Medien. Die Rezeption der einzelnen Teile ist in bestimmter Weise (synchron und/ oder diachron) angelegt. 11 Schließlich beziehen sich alle Teile eines transmedialen Konstrukts auf eine gleiche (wenn auch nicht dieselbe) dargestellte Welt; Ryan verwendet hierfür den Begriff “ Storyworld ” (cf. Ryan 2013: 90), Evans und Hills “ Hyperdiegese ” (cf. Evans 2011; cf. Hills 2002) während Decker mit Rückgriff auf Genettes Begrifflichkeit von einer “ Hypodiegese ” (cf. Decker 2016: 157) spricht. Gemeinsame Welt meint, dass gleiche geografische Faktoren, historische Bezüge, Figuren, Regeln, Werte, Normen und Konflikte in den einzelnen Texten auftauchen und so intertextuelle Referenzbeziehungen zwischen den Texten eines transmedialen Projekts etabliert werden. Transmediale Konstrukte zeichnen sich durch mehrere Kommunikate aus, die über unterschiedliche Medien durch gemeinsame kanonische Elemente verbunden werden. In einem solchen Textverbund ist Selbstreflexivität auf mehreren Ebenen möglich: Auf Zeichenebene, auf Ebene des einzelnen Medienprodukts und auf Ebene des gesamten Konstrukts. Abb. 1: Ebenen der Selbstreflexivität im transmedialen Konstrukt (eigene Darstellung). 11 Selbstverständlich kann hierbei auch eine lose Verweisstruktur vorliegen, die keine zwingende Rezeption des Teils notwendig macht; dies ist häufig in Alternate Reality Games (ARGs) der Fall. 142 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [142] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Selbstreflexivität auf Konstruktebene setzt eine Selbstreferenzialität auf Zeichenebene und der einzelnen Textebene voraus. Transmediale Konstrukte thematisieren also nicht nur ihren Aufbau als Medien- und Textverbund, sondern immer auch ihre mediale Gemachtheit als Text aus einzelnen, zusammengefügten Zeichen. Auf Konstruktebene wird durch Reflexion der unterschiedlichen, am Konstrukt teilhabenden Medien gleichzeitig auf einer Metaebene die Allgegenwärtigkeit von Medien und deren Interdependenz thematisiert. Transmediale Konstrukte führen so vor, wie es das Beispiel About: Kate zeigen wird, dass medialer Konsum in verschiedene Bereiche des Lebens vordringt. Ihrem Einfluss kann sich das Individuum als Teil der Gesellschaft und Mediennutzerinnen und Mediennutzer nicht entziehen. Selbstbezüglichkeit in transmedialen Konstrukten meint auch, dass sich die gemeinsame Diegese nicht nur zwischen den einzelnen Medienprodukten ausbreitet, die Texte also auf eine gemeinsame Hyperdiegese referenzieren. Gleichzeitig thematisieren selbstbezügliche transmediale Konstrukte häufig auch die Grenze, welche die Diegese von der textexternen Welt trennt. Diese “ bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird ” (cf. Genette 1998: 168 f.) wird häufig betont, etwa dadurch, dass fiktive Elemente, die eigentlich innerhalb der Diegese anzusiedeln sind, auch textextern zu finden sind. Dabei kann es sich um Objekte handeln, oder auch um Figuren - wie es das Beispiel About: Kate mit den aktiven Figuren im Online-Netzwerk Facebook zeigt (cf. Kapitel 2.2.3). Deutlich wird dies auch durch narrative Metalepsen, die Erzählebenen eines Textes logikwidrig miteinander verknüpfen (cf. Genette 1998). Metalepsen können nicht nur innerhalb eines Textes zu finden sein, sondern auch die Grenze des Textes nach außen thematisieren. Dies ist unter anderem der Fall, wenn Figuren Kontakt zum Publikum aufnehmen und so - durch die Thematisierung ihrer Selbst als fiktive Figuren - ihren Konstruktcharakter hervorheben. Das Aufzeigen der Grenze ist ein Thematisieren der medialen Erzählmöglichkeiten und damit ein Hinterfragen geltender Realitätskonstrukte und Sinnetablierungen. Für das selbstbezügliche, transmediale Konstrukt About: Kate kann Genettes Kommentar gelten: Das Verwirrendste an der Metalepse liegt sicherlich in dieser inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese, wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten, d. h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören. (Genette 1998: 153) Auch wenn sich Genette auf (literarische) Einzeltexte bezieht, so ist seine Aussage auf plurimediale Konstrukte übertragbar, die - wie About: Kate - metaleptische Strukturen als Prinzip nutzen, um die medialisierte Gesellschaft und die Abhängigkeit der individuellen Identität auch narrativ zu thematisieren. 2 About: Kate als Beispiel für transmediale Konstrukte Das transmediale Projekt About: Kate nutzt verschiedene Medien, um den Identitätsfindungsprozess der Endzwanzigerin Kate Harff zu erzählen. Eine Fernsehserie, eine umfassende Homepage im World Wide Web, eine App für das Smartphone und schließlich Neue Medien - neue Identität? 143 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [143] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL die Präsenz der Figuren im sozialen Netzwerk Facebook formen das von Janna Nandzik erdachte und von der Ulmen Television GmbH in Zusammenarbeit mit der Digitalagentur Netzbewegung produzierte Konstrukt. Die 14-teilige Serie wurde eigens von ARTE in Auftrag gegeben und lief dort von April bis Juli 2013. Die kommunizierte Botschaft: Eine Aufforderung zum Spiel mit Wahrnehmung. Die Serie vermittelt sowohl durch die Histoire als auch über den Discours, dass Fiktionalität und Faktualität nichtunterscheidbare Größen sind und dass das Konzept der Person, das Formieren einer eigenen Identität, untrennbar mit Selbst- und Fremdwahrnehmung und einer bewussten spielerischen Inszenierung des Selbst medial und unmittelbar einhergeht. Zeicheninterpretation, Verweise, Bedeutungen, Bezeichnen und Wiederbezeichnen sind fundamentale Paradigmen des Projekts, die auf der Histoire-Ebene etabliert und gleichzeitig auf der Discours-Ebene gespiegelt und reflektiert werden. Das Konstrukt aus mehreren Kommunikaten verfolgt verschiedene Strategien zur Vermittlung dieser nicht nur für die Hauptfigur Kate geltenden, sondern ebenso auf das Publikum zu übertragenden medialen Rezeptionsanleitung zur Formierung der Person in der heutigen Mediengesellschaft: (1) Zum einen, indem die Themensetzung inhaltlich am Selbstfindungsprozess der Protagonistin beispielhaft vorgeführt wird. (2) Zusätzlich breitet sich die Diegese, die primär über den Kerntext, die Fernsehserie, vermittelt wird, durch die anderen medialen Kommunikate als Hyperdiegese aus. So wird die Allgegenwärtigkeit der Medien und damit der partielle Ursprung für Kates Selbstverlust auf den Rezipienten übertragen, da auch er auf allen Endgeräten und verschiedenen (Medien-)Plattformen mit dem Konstrukt konfrontiert wird. (3) Dieser Effekt wird noch verstärkt, indem der Rezipient direkt angesprochen und vor allem über die Medien App und Webseite die Rolle eines Prosumenten einnehmen kann. (4) Alle drei Stufen der Reflexivität in transmedialen Konstrukten sind erfüllt: Zeichen und deren Referenzcharakter werden auf Discours- und Histoire-Ebene thematisiert und Signifikanten mit Sinifikaten neu verknüpft. Intertextualitätsphänomene werden durch Zitation, Modifikation und Erweiterung anderer, im deutsch-französischen Kulturraum bekannter Kommunikate integriert. Auch über die narrative Struktur des Konstrukts findet durch Aufzeigen der Grenzen einzelner Erzählebenen und ihr partielles Überschreiten eine mediale Selbstreflexion statt. Die funktionalisierte Selbstreflexivität des Textes ist mithin eine der Textstrategien, die im Zusammenhang mit den anderen zu sehen ist, um die Tiefenstruktur des Gesamtkonstrukts nachzeichnen zu können. 2.1 Selbstverlust und Selbstfindung Die Serie About: Kate spielt in Berlin und erzählt die Geschichte von Katherine Sophie Harff. Kate ist 29 Jahre alt, als sie sich in der Nacht vom 31. 12. 2011 in eine Nervenklinik (primärer Raum der Erzählung) einweist, um ihren Vorsatz für das neue Jahr in die Tat umzusetzen: Kate will überleben. Ihre schlechte psychische Verfassung, so erklärt es die Serie im Verlauf der Erzählung, geht zum einen auf einen Autounfall zurück, den sie verschuldet hat und bei dem ihr Bruder, eine der wenigen Figuren, die bedingungslos positiv von Kate bewertet werden, verletzt wurde. Ebenso belastet sie noch immer dieTrennung von ihrem Ex-Freund. Und schließlich empfindet sich Kate als verloren im Umgang mit Medien. Sie hat auch in der Psychiatrie ihr Smartphone und ihren Laptop in ständiger Benutzung und reflektiert 144 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [144] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL darüber, was die mediale Darstellung ihrer selbst, die sie partiell selber beeinflussen kann, mit der Person zu tun hat, die sie tatsächlich ist. Kates Heilungsprozess umfasst ein Jahr erzählte Zeit. Mit dem Selbstmord ihres “ Frenemys ” Anne wird die Auferstehung Kates an Silvester 2012/ 13 gleichgesetzt. Das ist konsequent in Bezug auf den Serienbeginn, wo der Selbstverlust Kates bereits mit dem Verwirrspiel zwischen ihr und Anne Vogel korreliert wird. Der “ Frenemy ” , wie Anne von Kate selbst bezeichnet wird, ist Kates Gegenspielerin 12 und nicht nur äußerlich Kates Gegenteil. Die Serie beginnt mit einer Portraitaufnahme von Anne, die direkt in die Kamera die Frage danach stellt, ob “ Du ” Kate irgendwo gesehen hast. Die Stimme von Kate antwortet aus dem Off, dass sie, die antwortet, doch Kate sei, was von Anne verneint wird. Die Kamera schwenkt nach links auf eine dunkelhaarige junge Frau, die vermeintlich Kate ist und ebenfalls direkt in die Kamera blickt. Nun zeigt der Arm von Anne direkt auf Kates Nasenspitze, ein Tastenklicken ertönt und rechts neben Kates Kopf erscheint eine kleine weiße Fläche mit der Inschrift “ Anne Vogel ” . Kate schüttelt bestimmt den Kopf, woraufhin der Finger zu der Beschriftung geführt wird und ein erneutes Klick-Geräusch ertönt, was zur Folge hat, dass um Kates Gesicht herum ein weißer Rahmen erscheint, während gleichzeitig die Schrift mit dem Namen verschwindet. Diese Darstellung eines Traums thematisiert zwei zentrale Konflikte Kates: Wer ist sie und ist sie Kate Harff ? Und welche Rolle spielen die Medien im Zusammenhang mit der Identität? Gleichzeitig wird ihre scheinbare Identität als Anne Vogel durch Medien festgestellt: Die Geräusche, der weiße Rahmen um das Gesicht und der Name daneben sind der Verlinkung von Personen auf Fotos im Online-Netzwerk Facebook entlehnt. Es ist kulturelles Wissen zur Entschlüsselung des Dargestellten notwendig. Zu Beginn der Serie wird online und virtuell gesetzt, dass die dunkelhaarige Frau nicht Kate Harff ist, sondern Anne Vogel. Im Kontext der weiteren Szenen wird allerdings deutlich, dass die dunkelhaarige Frau Kate Harff und die blonde Frau Anne Vogel ist. Das Verwirrspiel aus Bezeichnetem und Bezeichnendem steht bewusst direkt am Anfang der Serie und führt den Rezipienten so unmittelbar zu den zentralen Themen des Projekts. 13 So zeigt der Serieneinstieg bereits den zentralen Konflikt der Serie: Wer ist Kate Harff ? 14 Zudem wird durch das Einblenden des Namens und eines Fensters um das Gesicht herum eine Verbindung zwischen Text und Bild geschaffen, die dem Rezipienten vom sozialen 12 Wer Anne Vogel genau ist, erschließt sich dem Rezipienten nicht völlig. Dies ist allerdings intendiert, wie die Figur Erika in Folge 14 Das Feuerwerk erklärt. Nachdem Kate die Nervenklinik verlassen hat, reflektieren die Figuren ihre Rollen innerhalb der Erzählung. Erika liest den anderen vor: “ MacGuffin. Ein MacGuffin ist ein von Alfred Hitchcock geprägter Begriff für an sich vollkommen bedeutungslose Objekte oder Personen, [ … ] die in einem Film meist dazu dienen, die Handlung auszulösen oder voranzutreiben ohne selbst von besonderem Interesse zu sein. [ … ] Ein anschauliches Beispiel für einen MacGuffin ist etwa der Koffer, der in Pulp Fiction herumgetragen wird. Er ist der Anlass der ganzen Geschichte. Der Zuschauer erfährt jedoch an keiner Stelle des Films, was es mit dem Koffer eigentlich auf sich hat. Andere Beispiele für MacGuffins sind etwa der Spionagering in Die 39 Stufen, die gepfiffene Melodie in Eine Dame verschwindet oder die Figur der Anne Vogel in About: Kate. ” 13 Demgegenüber steht ein Traum in der letzten Folge, in dem alle Figuren der Serie gemeinsam ein Lied singen, dass der Pfleger Ingo auf dem Klavier begleitet. Kate tritt dazu und es wird gemeinsam getanzt. Diese frohe Stimmung steht ebenso diametral dem skizzierten ersten Traum zu Beginn der Serie entgegen, wie die erste Zeile innerhalb des gemeinsam gesungenen Liedes: “ You know who I am ” (Folge 14 Das Feuerwerk). 14 Die Frage wird ebenfalls in den begleitenden Texten, wie beispielsweise der Webseite gestellt. Neue Medien - neue Identität? 145 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [145] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Netzwerk Facebook bekannt ist. Dort lassen sich durch eben dieses Verfahren Freunde auf Bildern verlinken. Die Serie greift also eine bekannte Handlung aus einem sozialen Netzwerk auf und stellt sie infrage, indem sie daran die zentrale Frage veranschaulicht. Medien über das Fernsehen hinaus werden folglich direkt in der ersten Sequenz der Serie miteinander verbunden und der Selbstverlust, den die Protagonistin empfindet, an einer solchen Medienverbindung vorgeführt. Mit dem Selbstmord von Anne Vogel ist der Autonomieprozess der Protagonistin abgeschlossen: In der Darstellungsoptik eines verpixelten Videospiels entsteigt Kate Harff am Schluss der Serie dem Grab von Anne Vogel (und läuft auf eine Tür zu, die mit “ Log Out ” beschriftet ist). Das Verwirrspiel zwischen den beiden, das den Start der Serie markierte, wird nun hin zu einem selbstbewussten Auferstehen der Protagonistin gewandelt. Das Konzept der Person, was die Serie hier durch den Selbstfindungsprozess nachzeichnet, ist ein spätmodernes: Identität ist nicht von Natur gegeben oder angelegt, um sich in bestimmten Handlungen oder Situationen zu entfalten, sondern wird als prozessualisiert und wandelbar inszeniert und an Wahrnehmung geknüpft. Für die Identitätskonstruktion fundamental setzt die Serie zwei Leitdifferenzen, anhand derer sich auch die Genesung Kates entlang bewegt: Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie autonomes Handeln und Fremdbestimmung. Es wird deutlich, dass die Möglichkeit der Inszenierung eines geformten Selbstbildes, wie sie medial in sozialen Netzwerken möglich und anscheinend in Kates sozialem Umfeld notwendig war, bei Kate zum Verlust der eigenen Identität geführt hat. Paradox steht damit das Formen eines eigenen Selbstbildes dem Verlust der eigenen Identität gegenüber. Zumindest solange das Formen des eigenen Selbstbildes unreflektiert und nicht spielerisch erfolgt. Kate und ihre Therapeutin leiten gemeinsam das Selbst als Resultat aus Beziehungen her, aus Spiegelung in und mit der Umwelt. Bekräftigt wird dieses Verständnis von Identität durch die Erzählung hindurch in zahlreichen Szenen, die sich mit Wahrnehmung, Sehen und Erkennen beschäftigen. Vor allem bildhafte Darstellungen dienen Kate oder Dr. Desmarin als Projektionen des Selbst und werden als solche in Zusammenhang mit dem eigenen Selbstverständnis analysiert. Fotos, wie im Online-Netzwerk, Spiegel oder eine Puppe, die Kate innerhalb ihrer Therapiesitzungen so verändern soll, dass sie sich damit identifiziert, stellen Hilfsmittel dar, um Kates Krankheit zu illustrieren, aber auch ihre Genesung voranzubringen. Dabei wird die Ähnlichkeit des Bildes zu dem Abgebildeten ebenso wie die Diskrepanz dazwischen verhandelt. Der Verweischarakter von Zeichen - insbesondere ikonischer Zeichen - und dessen fundamentaler Einfluss auf die eigene Identität wird damit auf inhaltlicher Ebene eingehend thematisiert. Ein Selbst in Balance zwischen Identität und Umwelt wird durch Wahrnehmen des Zeichencharakters medialer (Selbst-)Repräsentation und bewusster Setzung eigener medialer Zeichen als mediale Zeichen herstellbar. Im Raum der neuen Medien wird somit die mediale Selbstdarstellung im Medienverbund zum Merkmal moderner Identität, wie sie für Digital Natives gelten kann. Allerdings nur “ als Spiel, als bewusstes Spiel kann es uns helfen, uns von außen zu betrachten ” , wie Dr. Desmarin feststellt (Folge 14 Das Feuerwerk). Dieses zeichenhafte Selbst ist zudem eine Zusammensetzung verschiedener, fragmentarischer Merkmale. Ebenso wie die Serie selbst auf der Ebene des Discours: Denn die Serie spielt mit den verschiedenen Darstellungspraktiken, die das audiovisuelle Medium Film 146 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [146] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL bieten kann. Die Filmaufnahmen sind durchsetzt von Comicdarstellungen, Zeichnungen, Collagen, Fotos etc. und unterstützen damit medial die Darstellung des Selbst auch hier als Mosaik aus unterschiedlichsten Fragmenten. 2.2 Selbstreflexivität in den einzelnen Kommunikaten Die Fernsehserie About: Kate kann durch ihre geschlossene narrative Struktur, die Erzählung des Selbstfindungsbzw. Genesungsprozesses der Protagonistin, als narrativer Kerntext allein stehen, wird aber im transmedialen Konstrukt von verschiedenen Paratexten begleitet, die durch ihr verwendetes Medium andere Funktionen erfüllen. Es ergibt sich eine sekundäre Semiotisierung der Paratexte: Ihre Bedeutung konstituiert sich umfassend nur in Verbindung mit dem Haupttext Serie. Das Momentum des Bruchs, das Verwirrung- Stiften, das Fokussieren der Wahrnehmung, der Fragmentcharakter und die Mosaikstruktur finden sich in allen beteiligten Kommunikaten. Im Folgenden wird das selbstbezügliche Moment in den einzelnen Teilen des transmedialen Konstrukts betrachtet. 2.2.1 Der Kerntext Serie Die in einer chronologischen Zeitfolge erzählten Erlebnisse Kates in der Klinik werden insbesondere von eingeschobenen Filmen, Zeichnungen und Fotos begleitet, deren Darstellungsmodi und meist auch das Dargestellte sich nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber der Rahmenerzählung unterscheiden. So besteht die Serie aus eingeschobenen Bildern und Filmen, Comics, Collagen aus Filmsequenzen, Ausschnitten aus einem Tele-Englischkurs, Schwarz-weiß-Zeichnungen etc. Diese formulieren ihren eigentlichen Sinn nur in Verbindung mit anderen Zeichen, meist der Rahmenhandlung. Die wichtigere Konnotation im Gegensatz zur Denotation dieser Fragmente entsteht für die eingeschobenen Filme aus deren Relevantsetzung innerhalb der Rahmenhandlung. 15 Die Fernsehserie des Projekts About: Kate setzt sich auch aus Szenen zusammen, die eindeutig als Träume zu identifizieren sind. Inhaltlich wird in der Therapie ein Schwerpunkt auf die Arbeit mit Träumen gelegt, was auf das verbreitete kulturelle Wissen über Sigmund Freuds Tiefenpsychologie verweist. Kate schreibt ein Traumtagebuch, das in der Therapie 15 Beispielsweise konfisziert der Pfleger Ingo in Folge 6 Das Tribunal wegen Kates Fehlverhalten erst ihren Laptop und später ebenfalls ihr Smartphone. Ein eingeschobener Trickfilm illustriert, wie Kate den Eingriff in ihre Privatsphäre wahrnimmt: Der Zeichentrickfilm zeigt eine Krake, die einen Laptop davonträgt, und ein Buch, das erst versucht, ein Handy zu zerstören und es schließlich ebenso wie einen Laptop anzündet. Auf gelbem Grund sind grüne Zeichnungen und violette Flammen zu erkennen. Begleitet wird die Bildfolge auditiv zuerst von Trippelschritten und schließlich von zunehmendem Gekicher und Gelächter. Der Trickfilm wird nicht in einem Stück gezeigt, sondern ist durchbrochen von der Rahmenhandlung. Im Kontext der vorhergehenden Szene wird Ingo aufgrund des eingefügten Films sekundär als Krake semantisiert. Diese zeichnet sich durch ihre acht Gliedmaßen aus. Die Verbindung zum Kontext der Rahmenhandlung attribuiert Ingo als jemanden, der sich ungefragt einmischt, der überall ‘ seine Finger im Spiel hat ’ . Ebenso zeigt der Zeichentrickfilm die intendierte Zerstörung der neuen durch die alten Medien. Ob dies gelingt, ist irrelevant. Vielmehr ist in dieser Sequenz wichtiger, dass es Bücher sind, die versuchen, die neuen Technologien zu zerstören. Dies zeigt eine konservative Einstellung zu Kommunikationsmitteln, welche das Medium Buch diametral den elektronischen Medien gegenüberstellt, anstatt sie als Ergänzung aufzufassen. Mithilfe des eingeschobenen Zeichentrickfilms werden die Regeln zum Ausdruck gebracht, die in der dargestellten Welt in der Klinik gelten und die sich in der Konfiszierung der Kommunikationsmittel manifestieren. Diese Regeln werden als ebenso veraltet erachtet wie die Ansicht, dass neue Medien eine Gefahr darstellen. Neue Medien - neue Identität? 147 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [147] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL helfen soll, ihren Gesundheitszustand zu bessern. Träume werden folglich nicht als unwirklich und damit unwichtig abgetan. Ihnen wird vielmehr eine semantische Funktion zugeordnet, da sie - so setzt die Serie - Unbewusstes zu Tage fördern. 16 Die Traumszenen stellen als solche bereits Brüche der Rahmenhandlung dar, ebenso wie dies für die eingeschobenen Kurzfilme und Bilder konstatiert werden konnte. Zudem werden sie als weitere Erzählebene genutzt, um logikwidrige Brüche zwischen den Erzählebenen aufzubauen. Besonders eine Szene soll im Rahmen der hier vorgestellten Traumsequenzen noch erläutert werden, da sie im Besonderen das Vermischen der Erzählebenen verdeutlicht. Die Folge Nicht im Traum beginnt mit einem Bildausschnitt, in dem ein junger Mann vor einer weißen Wand zu sehen ist. Der Mann hält ein großes Mikrofon über den Kopf, wie es beim Film verwendet wird. Mehr als eine Minute wird nichts anderes gezeigt. Das Entscheidende in dieser Szene ist die Unterhaltung, die zu hören ist, welche die Gemachtheit der Serie herausstellt. Die Szene suggeriert ein Gespräch zwischen der extradiegetischen Regie der Serie und der Protagonistin: Person 1 : Kamera ab. / Person 2 : Läuft. / Person 1 : Und bitte. [Pause] Und bitte. [Pause] Hallo, können wir jetzt loslegen? / Person 3 : Es ist niemand da. / Person 1 : Abbruch. Was zur Hölle heißt das? Irgendjemand muss doch da sein. Mama, Papa, dieser Franzacke - die soll mir da jetzt irgendjemand hinstellen. / Person 3 : Ich befürchte, sie hat die REM-Schlafphase bereits verlassen. / Person 1 : Ich befürchte, sie hat die REM-Schlafphase schon verlassen. Schwachsinn. Außerdem kann man auch außerhalb der REM-Schlafphase träumen. / Person 3 : Kate, kannst du mich hören? / Kate: Ja, was gibt ’ s? / Person 3 : Wir sind jetzt alle da. Du könntest jetzt loslegen. / Kate: Ah, ich weiß auch nicht. / Person 3 : Schmeiß einfach ein bisschen Stammpersonal rein. Wir kümmern uns dann um den groben Rest. / Kate: Ich glaube, ich habe heute keine Lust zu träumen. / Person 3 : Sie hat keine Lust zu träumen. / Person 1 : Oh mein Gott. Wir sind hier nicht in einem verschissenen luziden Traum. Die Trulla kommt doch schon im Wachzustand nicht klar. Jetzt will sie das hier auch noch dirigieren, oder was? / Person 3 : Ich red noch mal mit ihr. Kate? / Kate: He? / Person 3 : Kate? [Pause] Ah, Mann, wir sehen die ganze Zeit nur weiß. Die Zuschauer schalten gleich ab. Du spuckst jetzt irgendeinen Lackaffen, mit dem du heimlich vögeln willst, hier hin. [Pause] Kommt da jetzt was? [Pause] / Person 1 : Ruhe bitte, wir drehen. / Person 2 : Kamera set. (About: Kate, Folge 5: Nicht im Traum) Die Sequenz stiftet Verwirrung, indem mehrere Erzählebenen logikwidrig miteinander verknüpft werden. Wie sich aus dem Gespräch ergibt, soll ein Traum gezeigt werden, der selbst als Inszenierung dargestellt wird: Er verweist selbstreflexiv auf seine Gemachtheit als mediales Konstrukt. Dabei stellt er die zweite Erzählebene neben der ersten, den Erlebnissen von Kate in der Klinik, dar. Es sind Kates Träume, die sich in dem weißen Raum abspielen und deren Inhalte als fiktiv semantisiert werden. Und Kate ist als alleinige Verantwortliche für das Gezeigte zu ermitteln. Aus dem Gespräch geht hervor, dass das Filmteam nur zum Aufzeichnen dessen da ist, was Kate ihnen präsentiert. Alles, was die Regie tun kann, ist Kate an ihreVerantwortung gegenüber dem Zuschauer zu erinnern, der nur weiß sähe - was faktisch nicht der Fall ist. Damit wird dem Traum an sich nicht nur gegenüber Kate, sondern auch gegenüber den Erzählern der Serie der Status des Unbewussten attestiert, auf den niemand - weder Kate noch die Erzählenden - Einfluss hat. Trotzdem liegt die Verantwortung dafür bei der träumenden Protagonistin. 16 Dies wird ebenfalls von Dr. Desmarin so kommuniziert., cf. Folge 3 Paranoia. 148 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [148] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 2: Vermischen der Erzählebenen über den Traum-Diskurs. Eigene Darstellung. Der eigentlich extradiegetische Erzähler - das Filmteam - tritt in eine Kommunikationssituation mit der Figur Kate ein. Es handelt sich dabei nicht um die Schauspielerin Natalia Belitzki, wodurch die Szene logisch rein textextern anzusiedeln gewesen wäre, sondern um die Figur Kate der ersten Erzählebene innerhalb der Diegese. Die metaleptische Struktur wird noch weiter ausgereizt, wenn sich die Regie zu einem späteren Zeitpunkt in der gleichen Episode an die Figuren Frederic von Eden und Léon d ’ Hervey de Saint-Denys innerhalb des Traums wendet und deren Tätigkeit als Komparsen für beendet erklärt. Diese rechtfertigen sich: “ Wir können doch gar nichts dafür, das hat sie sich doch alles nur … [ausgedacht, Anm. A. Zimmermann] ” (cf. About: Kate, Folge 5: Nicht im Traum). Mit der Aussage, dass Kate für den Inhalt ihrer Träume verantwortlich sei, werden auch die Figuren der zweiten Erzählebene mit in das metaleptischeVerwirrspiel einbezogen. Indem sie direkt in die Kamera sprechen und fragen “ Hattet ihr eine gute Zeit oder hattet ihr keine gute Zeit? ” (cf. About: Kate, Folge 5: Nicht im Traum) treten sie mit der textexternen Ebene, mit den Rezipienten, in Kontakt, so muss der Zuschauer vermuten. Jedoch antwortet erst Kates Minime 17 und schließlich die Regie. Sie kommunizieren folglich mit der extradiegetischen Ebene außerhalb des Traums, die jedoch innerhalb der Diegese anzusiedeln ist. Somit werden sie als fiktive Figuren entlarvt. 17 Eine 11-jährige Kate, die immer wieder in Szenen - teilweise auch mit der erwachsenen Kate zusammen - auftritt. Neue Medien - neue Identität? 149 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [149] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 3: Erweiterte Vermischung der Erzählebenen im Traum-Diskurs. Eigene Darstellung. Die Serie verbleibt nicht in der Logik der Erzählebenen, sondern verbindet diese auf unkonventionelle Weise. Dafür nutzt sie die in der Serie als zweite Erzählebene etablierten Träume Kates als Grund für die Kommunikation sowie zum Grenzübertritt der Erzählebenen selbst. Die Szenen befinden sich durch die metaleptische Struktur in einem Status zwischen den Erzählebenen. Das Prinzip des Bruchs lässt sich nicht nur für die eingeschobenen Bilder und Bildfolgen oder die Szenen, die als Träume zu identifizieren sind, feststellen, sondern auch vielfältig innerhalb der Rahmenhandlung selbst. Obwohl die Welt von Kate an die mimetische extradiegetische Außenwelt angelehnt ist, wird dieser Eindruck häufig bewusst gebrochen. Deutlich wird dies beispielsweise in der Szene, in welcher der Pfleger Ingo Kate ihre Kommunikationsmittel abnimmt. Nachdem er sich ihres Laptops bemächtigt hat, verlässt er das Zimmer durch die Tür, taucht dann aber durch eine Schranktür wieder auf, um ihr auch das Smartphone zu entwenden. In der dargestellten Welt scheint es folglich möglich, Zimmer auch durch Schränke betreten zu können. 18 In Anbetracht der Tatsache, dass Kate generell ihrer Wahrnehmung nicht traut, ist es aber auch möglich, dass sich das Konfiszieren des Laptops und des Smartphones nicht so abspielt, wie es gezeigt wird, sondern nur in dieser Form von Kate wahrgenommen wird. Die häufig gewählte Perspektive der internen Fokalisierung unterstützt diese Annahme. Somit wären die gezeigten Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der Diegese nicht möglich, die Darstellungsweise dient jedoch der Übermittlung von Kates Problem der Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion an den Rezipienten. Ebenfalls werden Brüche dadurch aufgeworfen, dass Requisiten logikwidrig auf verschiedenen Erzählebenen zu finden sind. Auf der ersten Erzählebene spielt beispielsweise 18 Diese Bewegungsfreiheit gilt nicht nur für Ingo. Auch einer der Mitpatienten kommuniziert partiell aus dem Schrank heraus (cf. About: Kate, Folge 12: Mama ex machina). 150 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [150] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL das Körbeflechten als Aktivität der Patienten der Nervenklinik eine große Rolle. In der Folge 2: Tot oder lebendig erzählt eine vermeintliche Rückblende von Kate als Kind, die von Zuhause ausreißt. In ihrem Rucksack hat die kleine Kate allerdings einen jener geflochtenen Körbe, die in der Klinik hergestellt werden. Ein Vermischen von Vergangenheit und dem Status quo wäre an sich nicht möglich; in der Häufigkeit des Auftretens solcher Verflechtungen muss dies allerdings als ein konstituierendes Kriterium für die Diegese angesehen werden. Kate imaginiert sich als Zusammensetzung aus ihrer kindlichen und erwachsenen Version. Sie verarbeitet ihre Realität als Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und teilweise möglicher Zukunft. Innerhalb der Diegese ist es außerdem möglich und vor allem von den gesunden wie verwirrten Figuren akzeptiert und geschätzt, wenn Dinge geschehen, die in der textexternen Welt als unmöglich oder unwahrscheinlich gelten würden. Das Café, welches die Mini-Kate im Gestrüpp um die Klinik herum in Miniformat eröffnet, hat weder handlungskatalysatorische Funktion noch gibt es einen inhaltlich etablierten Kaffeemangel, der es nötig gemacht hätte. Es ist überflüssig und irreal - müssen wir doch annehmen, dass Kates Minime nur eine Projektionsfläche ihrer selbst ist, die ihre Verwirrtheit illustriert - und genau aus diesem Grund konsistent zur etablierten dargestellten Welt. Es lassen sich noch weitere Beispiele für Brüche in der Rahmenhandlung finden, das zentrale Prinzip dürfte jedoch bereits deutlich geworden sein: Die Diegese von About: Kate, wie sie durch die Serie kommuniziert wird, ist nur konsistent in ihrer Inkonsistenz. Sie ist gekennzeichnet durch das Zusammensetzen unterschiedlichster Texte und das Widerlegen etablierter Sinnstrukturen. So kommuniziert die Serie auch über ihren Discours, dass die Identität an das Spiel aus zeichenhafter Wahrnehmung und Inszenierung gekoppelt ist. 2.2.2 Das Smartphone als Second Screen Die Fernsehserie wurde von einer ebenfalls aus 14 Folgen bestehenden App für iOs und Android begleitet, die das Smartphone in einen Second Screen neben dem Fernsehbildschirm verwandelte. 15.000 Downloads der Applikation gab es insgesamt. 19 Die Folgen der App waren durch die Technik synchron an die Serienfolgen gebunden und somit in hohem Maße abhängig vom Kerntext. Der Textaufbau der App ist schlicht gehalten: Auf der Startseite wird Kate dargestellt, die damit vom ersten Moment an präsent ist. Der Bereich ‘ Sitzung ’ enthält eine Hauptseite, die einen leeren Raum zeigt. Im Verlauf jeder Sendung fallen einzelne Bildausschnitte, die Teile von Kates Gesicht zeigen, von oben herab und bieten Verlinkungen, die durch Antippen darauf aktiviert werden. Semiotisch ist die Darstellung besonders interessant: Ein vollständiges Bild Kates ergibt sich auch hier nur aus einem Zusammensetzen der gelieferten Fragmente. So, wie sich die App aus Verweisen formiert, so fügt sich auch die Identität Kates und das transmediale Konstrukt als solches zusammen. Das inhaltliche Thema der Serie wird also mit den Darstellungsmöglichkeiten der App auf Ebene des Discours gespiegelt. Ein Verweis auf die ‘ psychische Verfassung ’ wird schriftlich auf der Startseite der App gegeben, wodurch die Nähe zum Spielplatz der Serie, der Psychatrie, hergestellt und die primäre Aufgabe des Second Screen herausgestellt wird: Die Applikation präsentiert sich als 19 Die Information stammt aus einer Korrespondenz mit ARTE-Mitarbeitern. Neue Medien - neue Identität? 151 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [151] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL psychotherapeutische Sitzung, die dem Rezipienten in jeder Episode mehrere Fragen zu einem Thema stellt und diese im Anschluss auswertet. Zu Episode 3: Paranoia beispielsweise konzentrieren sich die Fragen der Applikation auf die Beziehungsfähigkeit. In der Episode der Fernsehserie stellt dies ebenfalls den Schwerpunkt der Sitzungen zwischen Dr. Desmarin und Kate dar. Unter anderem erstellen die beiden ein Diagramm zu Kates sozialen Kontakten. Mit der Inszenierung einer psychotherapeutischen Sitzung, in welcher der Rezipient die Rolle des Patienten einnimmt, ist die Funktion der Applikation noch nicht erschöpft. Die App hält neben den Tests Zusatzinformationen und Verlinkungen zu anderen Internetseiten bereit, erklärt Verweise innerhalb des Textes Serie oder verweist selber weiter und dient entsprechend der medientypischen Kommunikation als Telefon zur Inszenierung einer faktualen Gesprächssituation mit Kate. Vielfältige Informationen zu Inhalten und intertextuellen Verweisen innerhalb der Serie werden dem Rezipienten mit der App übermittelt. Einige dienen dazu, die Diegese mit der extradiegetischen Welt zu verbinden, wie etwa durch Verweise auf Bücher, die es nicht nur in der diegetischen Welt gibt. Ähnlich verhält es sich mit dem Hinweis in der App, dass die beiden Figuren Frederic von Eden und Léon d ’ Hervey de Saint-Denys, die wegen ihrer Hinwendung zum Zuschauer schon thematisiert wurden, wirklich gelebt haben. Ihre Fiktivität wird damit als Rückgriff auf die Realität und ihre Verarbeitung dargelegt. Die beiden “ Klartraumpioniere ” (Folge 5: Nicht im Traum) verbinden die verschiedenen Erzählebenen außerdem dadurch, dass sich Kate auf der ersten Erzählebene im Wachzustand mit ihren Aussagen beschäftigt, hat sie doch ein Buch von Frederic von Eden neben sich im Gras liegen. Die Applikation dient auch dazu, Verweise innerhalb der Serie zu erklären. Als das Minime von Kate im Gebüsch der Klinik ein Café eröffnet und die Kioskbesitzerin dazukommt, um gemeinsam mit dem Minime Kaffee zu trinken, informiert die App darüber, dass die Serie hier auf Alice in Wonderland rekurriert. Gleichzeitig wird dadurch metareflexiv auf die Medienspezifität in transmedialen Konstrukten verwiesen, da sich in der Forschung ein Terminus etabliert hat, der seinen Ursprung in Alice in Wonderland hat: Jeder Text eines transmedialen Konstrukts führt in die übergreifende Diegese hinein und fungiert somit als “ rabbit hole ” . Solche “ rabbit holes ” sind Schlupflöcher aus der Realität hinein in die fiktive diegetische Welt und rekurrieren damit auf die Geschichte von Alice im Wunderland und die Bewegung der Protagonistin zwischen den Welten (cf. Rampazzo Gambarato o. J.). Herauszustellen ist in Bezug auf Selbstreflexivität auch eine weitere Funktion der App, die dem Kommunikationsmittel Handy entspricht: Die Inszenierung einer faktualen Kommunikationssituation. In den 14 Folgen der App klingelt einige Male das genutzte Smartphone, um einen Anruf von Kate anzuzeigen. Wie bei jedem anderen Anruf kann abgehoben werden oder nicht. Kate spricht den Empfänger in der zweiten Person Singular 20 oder mit “ Mama ” 21 an. In ihren Anrufen bittet sie den Empfänger um Unterstützung, da sie sich Vorkommnisse nicht erklären kann oder meint, dass ihr mediale Möglichkeiten 20 “ Weißt du, was da passiert ist? ” Kate in der App zu Folge 3 Paranoia. 21 “ Hallo, Mama. ” Kate in der App zu Folge 5: Nicht im Traum. Kate ist hier allerdings betrunken. 152 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [152] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL versperrt bleiben, die “ Dir ” jedoch möglich sein müssten. Logikwidrige Übertritte der Erzählebenen, narrative Metalepsen, lassen sich also nicht nur innerhalb der Serie feststellen, sondern kommen ebenfalls in der App vor. Gerade durch die Imitation einer faktischen Kommunikationssituation mithilfe der App wird die ‘ vierte Wand ’ zum Zuschauer eingerissen und Kate deutet mithilfe der medialen Möglichkeiten an, die textexterne Wirklichkeit zu verlassen. 22 2.2.3 Positionierung der Figuren im sozialen Netzwerk Ähnlich wie in der App die Grenze zum Rezipienten und damit die Grenze des Mediums als Mittler eines fiktionalen Erzähltextes durch die inszenierten Anrufe der Protagonistin thematisiert werden, nimmt auch der Paratext der Facebook-Kommunikation das selbstbezügliche Moment in ähnlicher Weise auf. Während derAusstrahlung der Serie waren fünf Figuren, die in der Serie auftauchen, als Figuren auf Facebook aktiv. 23 Auf einen Facebook-Post Kates soll eingegangen werden, da er in besonderem Maße für das Thema Selbstbezüglichkeit interessant ist. Einen Tag nach Ausstrahlung der letzten Folge der Serie postete Kate ein weißes Bild, auf dem nur “ 2. Start over ” zu lesen war. Mit der Aussage, noch einmal von vorne anzufangen, nimmt Kate online Bezug auf das Ende der Fernsehserie. Dies deutet inhaltlich auf ihre Heilung hin, die in der letzten Episode der Serie festgehalten wurde, und die ihr einen Neuanfang möglich macht. Ebenso deutet die Aussage auf einen Neuanfang des Projekts an sich hin. Während die letzte Folge der Serie den Neuanfang für Kate auf die bereits so bedeutungstragende Silvesternacht legt, wird dieser online auf den 28. 07. 2013 gelegt. Die erzählte Zeit der virtuellen Kommunikation orientiert sich an der Erzählzeit, während die erzählte Zeit der Serie das Jahr 2012 umfasst. Dieser Bruch ist zwar einerseits der Etablierung einer kohärenten Hyperdiegese zwischen den verschiedenen Texten abträglich, stärkt sie andererseits jedoch dadurch, dass das primäre Merkmal der Hyperdiegese, der Mosaikcharakter durch das Prinzip des Bruchs, strukturell gespiegelt wird. Der “ 2. Start over ” verweist dabei auch selbstreflexiv auf die virtuelle Kommunikation als Teil des Gesamtkonstrukts, die nun einen Neustart erlebt, da die Serie oder zumindest die Staffel zu Ende erzählt ist und die Profile nun gelöscht werden. Kates Beiträge auf Facebook unterscheiden sich insgesamt stark voneinander. Ebenso wie die Rahmenhandlung der Serie von eingeschobenen Filmen und Fotos verschiedenster Art begleitet wird, differieren auch die Kommentare Kates im sozialen Netzwerk in Stil, Inhalt und Aussage. Der aus Fragmenten zusammengesetzte Charakter, der so zentral für die Erzählweise der Serie ist, wird somit in der Online-Kommunikation wieder aufgegriffen. Stilistisch ist die Verbindung zur Serie damit besonders hoch, indes verweisen die Kommentare nicht ständig auf Vorkommnisse innerhalb der Serie, weswegen die Bindung der Online-Kommunikation an den Haupttext der Serie zwar gegeben, aber nicht besonders ausgeprägt ist. Facebook ermöglicht auch die Kommunikation zwischen Personen über einen Chat. Es war in diesem sozialen Netzwerk damit möglich, mit Kate und den anderen Figuren in 22 Sofern ihr dies möglich ist. Natürlich ist ein Gespräch, verstanden als Frage-Antwort-Kommunikation aufgrund der Produktion im Vorhinein nicht möglich, es wird jedoch als solches angedeutet. 23 Bereits einen Monat vor Ausstrahlungstermin wurden die Figuren angelegt. Neue Medien - neue Identität? 153 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [153] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Kontakt zu treten und sich mit ihnen zu unterhalten. Wie auch für die App wird hier die metaleptische Struktur genutzt, um Kates Welt mit der extradiegetischen Welt zu vermischen und die Suggestion zu fördern, dass es sich dabei um eine Welt handle. 2.2.4 Der Rezipient als Prosument Selbstreflexive Elemente auf Kommunikatsebene finden sich auch für die Webseite des transmedialen Konstrukts About: Kate. So zeigte die Webseite unter den einzelnen auszuwählenden Reitern beispielsweise Kate mit ihrem selbstgeflochtenen Korb über dem Kopf in ihrem Zimmer. Im Gegensatz zum Original des Bildausschnittes in der Serie suggerieren hier einige Striche, dass das Foto Schaden genommen hat und sich nun aus Scherben zusammensetzt. Die Homepage übernimmt damit einen Teil aus der Serie und kommentiert ihn gleichzeitig metareflexiv: Was wir sehen, ist eine gebrochene Kate, deren verschiedene Bruchstücke zu einem Ganzen zusammengesetzt werden müssen. Kate ist - ebenso wie die Serie und wie das gesamte Projekt - eine mediale Darstellung, die nur in verschiedenen Einzelteilen vorliegt. Ebenso wie sich die Identität der Protagonistin aus einzelnen Fragmenten zusammensetzt. Über die Homepage konnte der Rezipient dabei die Ergebnisse des Psychotests einsehen, den er über die App absolviert hat, und die Folgen anschauen - so war er nicht mehr an die Ausstrahlungszeiten der Serie im Fernsehen gebunden - oder Einfluss auf die Serie nehmen: Während des Ausstrahlungszeitraums der Serie wurden Aufgaben für die Rezipienten gestellt, die sie erfüllen und einsenden konnten. In der Produktion der Serie wurden ab der dritten Folge Slots freigelassen, die noch im Zeitraum der Ausstrahlung mit Zuschauerbeiträgen gefüllt wurden. Dabei handelte es sich um Fotos oder Videos mit bestimmter Länge zu vorgegeben Themen wie “ Betrunkene dekorieren! ” 24 , “ Food Prank! ” 25 oder “ Aber wie stellt ihr euch das Ende vor? ! ” 26 . 3 Plurimediale Strategien der Selbstbezüglichkeit: Identitätsstiftung mit, in und durch Medien Die Paratexte im transmedialen Konstrukt About: Kate sorgen für eine umfassende mediale Ausbreitung der Welt von Kate. Der Rezipient wird nicht nur beim Fernsehen mit der fiktionalen Welt von Kate konfrontiert, sondern bei vielerlei Mediennutzung über seinen Tag hinweg. So verschwimmen die Grenzen zwischen intradiegetischer und extratextueller Welt bereits dadurch, dass das Konstrukt über sehr viele mediale Kanäle präsent ist. Das Konstrukt begleitet den Rezipienten also fortlaufend, ebenso wie sich Kate als Protagonistin der Serie nicht der Mediennutzung entziehen kann, es aber eben auch nicht will. Sie lernt den richtigen, nämlich spielerischen Umgang mit Inszenierung und Wahrnehmung in der Nervenklinik - ebenso wie der Rezipient dies lernen soll: Frau Dr. Desmarin zeigt bezeichnend auf die Beschilderung “ Rezeption ” am Eingang der Psychatrie und resümiert: 24 Zu Folge 10 Striptease. 25 Zu Folge 3 Paranoia. 26 Zu Folge 14 Das Feuerwerk. 154 Amelie Zimmermann (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [154] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL “ Das was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern, was wir sind. ” (Folge 14: Das Feuerwerk). Als Folge ist die fiktionale Erzählung über Kate in den Paratexten als solche nicht durchgängig zu erkennen. Vielmehr führt die mediale Ausbreitung dazu, dass die Grenzen zwischen fiktionaler und faktualer Welt zunehmend verschwimmen. Die Diegese der TV- Serie wird durch die Paratexte aufgegriffen und erweitert und der Rezipient partiell direkt angesprochen. Die vierte Wand, die diegetische Grenze, wird so sichtbar gemacht und bewusst eingerissen. Die Beispiele für Intertextualität in der Serie sind dementsprechend zahlreich. About: Kate präsentiert eine Mosaikstruktur, die sich aus verschiedensten Teilstücken zusammensetzt. Es kann als ein großes Palimpsest (Genette 1993), als ein mehrfach beschriebenes Pergamentstück, angesehen werden - ein Text, der aus der Überlagerung verschiedener Sinnebenen durch Zitierung, Nachahmung und Transformation anderer Texte den Leser fordert. Selbstverständlich wird die Forderung des Lesers durch die Erklärungsfunktion der Applikation wiederum in geringem Maße eingeschränkt. Die App verdeutlicht, dass das Spiel mit Zeichen zentral ist und sich auch der Rezipient darauf einlassen und selbst auf die Suche gehen soll. Ein fundamentales Beispiel für die Selbstreferenzialität und Intertextualität des Textes sei noch gegeben. Die Konstruktion von Bedeutung durch Verweise auf bestehende Zeichen und andere Zeichenkonstrukte wird in der Serie in einer Szene besonders deutlich hervorgehoben. In Folge 6: Das Tribunal wird Kate von der Klinikleitung wegen ihrer Verstöße gegen die geltenden Bestimmungen gerügt. Der Leiter der Klinik schnippt eine Pappierkugel an Kate vorbei auf den Boden, während er betont, sie nicht bestrafen, sondern ihr helfen zu wollen. Sie folgt der Kugel mit den Augen und ein eingeschobener Kurzfilm kommentiert die Situation. In dem Kurzfilm wird eine Fußfessel mit einer Eisenkugel auf einen Tisch gelegt. Die intradiegetischen Geräusche verstärken die Annahme, dass es sich dabei um einen schweren Gegenstand handelt. Die Unterschrift “ Dies ist keine Kugel ” entspricht damit nicht dem, was visuell und auditiv kommuniziert wird. (1.) Innerhalb der Diegese liegt eine Eisenkugel auf einem Tisch vor. Für den Zuschauer allerdings zeigt sich nur die mediale Abbildung einer Kugel. Insofern trifft die schriftliche Aussage aus der Perspektive des Rezipienten vor dem Fernseher zu. Der Widerspruch, der durch die mediale Vermittlung der Szene entsteht, verdeutlicht erneut die filmische Gemachtheit der Serie. Reale Dinge in einem dreidimensionalen Raum werden medial eben nur abgebildet. (2) Im Kontext der vorher geschnippten Papierkugel trifft die Bezeichnung wiederum zu: Die Papierkugel ( “ boule ” ) ist keine Eisenkugel ( “ boulet ” ). Sprachlich wird von der Klinikleitung aus ebenso argumentiert: Für sie ist der Entzug der Kommunikationsmittel keine Bestrafung - für Kate schon. Je nachdem, ob die Kugel also als Eisenkugel oder als harmlose Papierkugel wahrgenommen wird, hängt von der kontextuellen Perspektive ab. Zudem verweist dieser Ausschnitt auf René Magrittes La Trahison des Images. Das Bild des französischen Künstlers, das eine Pfeife mit dem Untertext “ Ceci n ’ est pas une pipe ” zeigt, macht seine eigene Gemachtheit zum Thema. Das, was gezeigt wird, ist eben nur die Abbildung einer Pfeife, aber keine wirkliche Pfeife. Das Bild der Pfeife verweist ikonisch auf seinen realen Referenten, die Pfeife. Darunter findet sich außerdem der Signifikant Pipe. Ebenso verhält es sich mit dem Ausschnitt aus About: Kate, wobei hier der Unterschied zum Neue Medien - neue Identität? 155 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [155] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Film deutlich wird, der - wie die Serie - Dreidimensionalität abbilden kann. 27 Auch durch dieses Beispiel zeigt About: Kates Zeichenspielcharakter und das Herausstellen der eigenen medialen Gemachtheit. Geltende Realitätskonstrukte und Sinnetablierungen werden hier erneut in Frage gestellt. Das transmediale Konstrukt About: Kate macht mit den verschiedenen Kommunikaten und deren jeweiligen medialen Eigenheiten aufmerksam auf seinen Status als fiktionales Konstrukt. Wahrnehmung und der Verweischarakter von Zeichen sind die zentralen Themen des Projekts. Die Protagonistin Kate weiß nicht mehr, wer sie ist. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten, sich medial darzustellen, kann sie nicht mehr definieren, was sie als Person ausmacht. Diese inhaltliche Ausrichtung wird durch die Art des Erzählens gestützt: Der Discours der Serie ist geprägt von zahlreichen Einschüben und Verweisen in Form von Fotos, Bildern, Filmen, Comics und Zeichnungen. Mit seiner Schwerpunktsetzung auf Zeichen und deren Semantiken macht das Projekt About: Kate sich selbst als mediales und transmediales Konstrukt transparent. Selbst- und metareflexiv wird Medialität inszeniert und analysiert und der Umgang mit ihr - der zumindest partiell für Kates Krankheit verantwortlich ist - verhandelt. Als Lösung für eine Identitätsstiftung in der medialisierten Gesellschaft präsentiert das transmediale Konstrukt selbstreflexiv den bewussten und spielerischen Umgang mit Medien. Victor, Kates Ex-Freund, macht Medien sowohl für Kates Krankheit als auch für ihren Heilungsprozess verantwortlich, indem er in der letzte Folge der Serie Wagners Parzival resümierend zitiert: “ Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schuf ” (Folge 14 Das Feuerwerk). Bibliographie Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen − Struktur − Funktion ” , in: Hennig & Krah (eds.): 137 - 169 Evans, Elisabeth 2011: Transmedia Television. Audiences, New Media and Daily Life, New York: Routledge Fricke, Harald 2003: “ Potenzierung ” , in: Müller, Jan-Dirk et al. (eds.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/ New York: de Gruyter: 144 - 147 Genette, Gérard 1992: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Studienausgabe, Frankfurt/ New York: Campus Genette, Gérard 1993: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. 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Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ‘ mise en cadre ’ und ‘ mise en reflet/ série ’” , in: Helbig (ed.) 2001: 49 - 84 Zimmermann, Amelie 2015: “ Blurring the Line Between Fiction and Reality. Functional Transmedia Storytelling in the German TV Series About: Kate ” , in: Image 22 (2015): 22 - 35 Internetquellen Hettich, Katja 2014: “ Reflexivität und Genrereflexivität im Spielfilm. 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SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt Matteo Riatti (Stuttgart) With their gameplay and their narrations videogames are putting gamers under their spell. To enhance this immediate experience, graphic techniques are used to render the medium itself invisible. However, this trend towards realism has since been juxtaposed by self-referential ludic or narrative elements in gaming. This article follows the assumption, that immersion does not depend on the videogame hiding its fictionality. Therefore, all examples of ‘ metalepsis ’ which address the framing of a narration and paratextual elements in virtual worlds will be analyzed. 1 Es ist doch nur ein Spiel In seinem ersten Abenteuer hat der Möchtegern-Pirat Guybrush Threepwood gestohlen, geplündert, gelogen und geraubt. Alles, was einen echten Piraten im Slapstick-Adventure The Secret of Monkey Island (Lucasfilm Games 1990) ausmacht. Nachdem er den bösen Geisterpiraten LeChuck besiegt hat, stellt er gegenüber seiner Angebeteten Elaine Marley fest, dass er gereift ist: “ At least I learned something from all of this … Never pay more than 20 bucks for a computer game. ” Es ist die Schlusspointe des ersten Computerspiels einer Reihe, die in mehreren Ablegern mit der vierten Wand bricht und keinen Hehl um die eigene Fiktionalität macht. Im zweiten Teil LeChuck ’ s Revenge (Lucas- Arts 1991) setzt sich diese Art des Humors fort, wenn sich Guybrush im Dschungel von Dinky Island verläuft und zur Hilfe die Servicehotline des Entwicklerstudios Lucas- Arts anruft. Guybrushs Einfall ist clever: Für die Figur gibt es keine mächtigere Instanz als seinen Autor. Dort darf sich Guybrush sogar persönlich über einen Streich beschweren, der ihm von den Entwicklern im ersten Teil gespielt wurde. Zu seinem Unglück sind die Witze in Monkey Island darauf ausgelegt, jede Erwartungshaltung zu enttäuschen. So Abb. 1: The Secret of Monkey Island (Lucasfilm Games 1990, eigener Screenshot) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [158] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL werden Beschwerde und Hilfegesuch zynisch quittiert und die Anrufung des eigenen Schöpfers bleibt unbeantwortet. Die Pointe ist dann, mit der lebhaften und unbeirrbaren Art des tollpatschigen Protagonisten daran zu erinnern, dass alles nur ein Spiel ist. Wie verhält es sich bei einem Bruch mit der vierten Wand, wenn die Spielfigur aus dem Werk hinaustritt, um sich Vorteile zu verschaffen? Ist der Spieler dann sein eigener Autor? Gerade durch diese an das Videospiel oft herangetragenen Fragestellungen erscheint es sinnvoll, die grundlegende Struktur von Videospielen zu erläutern und sie am Beispiel der Metalepse als narrativem Stilmittel in den Kontext von literaturwissenschaftlichen Theorien zu stellen. Die zentrale Frage, der hier nachgegangen werden soll, ist dabei, welche Funktionen die Metalepse für die Semantik des Videospiels haben kann. 2 Von Rahmen und Regeln des Videospiels Die Game Studies sind als Videospielwissenschaften im Spannungsfeld zwischen Spiel- und Literaturwissenschaften entstanden. Dass die Felder als verwandt angenommen wurden, liegt vermutlich im Untersuchungsgegenstand: Die Avantgarde der Videospiele hat seit den 1980er Jahren Geschichten in spielerische Systeme eingebettet. Schon die namhafte Reihe Ultima (Origin Systems 1981) setzt seit 1981 konstant auf die narrative Struktur der Heldenreise und wurzelt so in einer Struktur klassischer Erzähltheorie. 1 Heute ist es in Spieler- und Journalistenkreisen gängig, Videospiele danach zu unterscheiden, ob Sie eine Story und einen Plot haben oder nicht. Jenseits des Vorhandenseins einer narrativen Struktur sind Videospiele aber zunächst einmal und zuerst Spiele: Sie werden auf einem Computer realisiert und mit seiner Hilfe dargestellt. Der Computer ist wie das Brett beim Brettspiel die Plattform für die spielerische Praxis. Jenseits narrativer Kurzschlüsse zwischen zwei Erzählebenen ist damit die Frage nach der Metalepse im Videospiel also auch die Frage nach der Metalepse im Spiel allgemein: Kann es Metalepsen geben, wenn in Videospielen keine narrativen Strukturen im Sinne von Erzählebenen vorliegen, beispielsweise aber scheinbar inszeniert wird, dass sich Videospielrealität und Realität des Spielers vermischen? Problemfrei lässt sich der Begriff des literarischen Stilmittels dementsprechend nicht auf die Welt des Spiels übertragen, denn Spiele sind Spiele und Narrationen sind Narrationen. Abb. 2: Monkey Island II: LeChuck ’ s Revenge (LucasArts 1991, eigener Screenshot) 1 Joseph Campbells Struktur der Heldenreise liest sich schon wie ein Klappentext für Videospiele des RPG (Role-playing-Game)-Genres (cf. Campbell 1968: 30): “ A hero ventures forth from the world of common day into a region of supernatural wonder: fabulous forces are there encountered and a decisive victory is won: the hero comes back from this mysterious adventure with the power to bestow boons on his fellow man. ” Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 159 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [159] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Aber Spiele können Narrationen sekundär hervorbringen. Mit literaturwissenschaftlichem Inventar haben sich Espen Aarseth und Gonzalo Frasca damit auseinandergesetzt, wie Narrationen im Spiel entstehen (cf. Aarseth 1997: 1 − 23, Aarseth 2013; Frasca 1999). Aarseth greift dabei auf das von Mikhail Bachtin entwickelte Konzept des Chronotopos (cf. Bachtin 2008) zurück. Wenn der Autor eines Romans seinen Protagonisten in eine Welt mit ihren eigenen Ordnungssätzen und Regeln stellt, dann entscheidet der Autor für den Pfad des Helden. Beim Spiel liegt die Handlungsfreiheit dagegen scheinbar privilegiert beim Nutzer, der sich mit begrenztem Freiraum bewegen kann und seinen eigenen Pfad durch die Geschichte erspielt. Was sich bei sowohl Spielen als auch bei Narrationen jeden Mediums abzeichnet ist, dass sich die Handlung in einem Rahmen abspielt. Dieser Rahmen wird beim Spiel als ‘ Regelwerk ’ bezeichnet und beim Roman als ‘ Diegese ’ . Die dargestellte Welt ist einer Ordnung unterworfen, die sämtliche Bedeutungsträger strukturiert und untereinander hierarchisert. Werke des Films, der Literatur, der Kunst oder Spiele bestehen als in sich geschlossene, semiotische Konstrukte. Sie bauen auf der Sprache als primärem Zeichensystem auf und modellieren so sekundär den Entwurf einer eigenen Welt. Die Anordnung von Zeichen auf der Ebene der Syntax ergibt den Text: das heißt eine bedeutungstragende Textur. Während der Text bei einem geschriebenen Buch in gedruckter Form vorliegt, so wird er im Videospiel erst im Verlaufe produziert - man könnte sagen, aus einer Datenbank an Möglichkeiten abgerufen. An der Produktion des Textes wird der Spieler im Videospiel wohl beteiligt, zum Autor macht ihn das jedoch nicht. Es ist nur eine Illusion von Freiheit, da er sich doch durchgehend auf den Schienen des Regelwerks befindet, die ihn auf den vorprogrammierten Pfaden halten. Jedes Kunstwerk hat einen Rahmen. Also eine Grenze, die es nach außen hin trennt. Diese Grenze ist jedoch nicht der Rahmen des Gemäldes, der Rand der Kinoleinwand oder der Bildschirm. 2 Die eigentliche Grenzüberschreitung hinein in das Kunstwerk bezeichnet Kendall Walton als make-believe, also die willentlichen Annahme seiner Requisiten (props) und ihrer Regelgebundenheit. 3 In der Fiktion wird eine Sphäre aufgebaut, wie eine Spielsphäre, deren Betreten nur im Verständnis seiner Regeln und damit auch seines 2 Videospiele wie World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004) zeigen, dass eine Spielwelt ungebunden von einem Spielgerät existieren kann. Auch wenn der Computer aus ist, ist das Spiel nicht zu Ende. Die einzelnen Spielsessions sind natürlich an den Computer gebunden, aber wirklich austreten aus World of Warcraft kann der Spieler nur, wenn er sich entschließt, nicht mehr ein Teil der Welt zu sein und dem Spiel sozusagen abschwört. 3 Kendall stellt das ‘ make-believe ’ in den Vordergrund seiner Untersuchung der Formen Kunst, Literatur und etwa Film (cf. Walton 1993: 4): “ What all representations have in common is a role in ‘ make-believe ’ . Makebelieve, explained in terms of imagination, will constitute the core of my theory. ” Fiktion entsteht durch das ‘ ins Leben Rufen ’ der Vorstellung, die einem ein Kunstwerk anbietet oder nahelegt. Chris Bateman beruft sich auf Kendall, wenn er das Konzept auf Videospiele überträgt (cf. Bateman 2011: 70 f.): “ The principle contribution I am attempting to make via this exposition of the make-believe theory of representation is to show how it applies to board games, digital games, role-playing games and many other kinds of play that tend to fall into that gigantic crevasse between toy and art such that the esteem implied by the term ‘ art ’ is all too often denied to them. [ … ] [V]ia Walton ’ s theory [ … ] we can understand representational art as a kind of game. ” 160 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [160] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Rahmens gelingt. 4 Bedeutung erschließt sich demjenigen, der die Kodes kennt. Was bei einem Renaissancegemälde also ein Verständnis für Perspektive bedeutet, bedeutet im Roman die Kenntnis der Sprache und im Spiel die Kenntnis des Regelwerks. Die Bereitschaft, sich auf kulturelle Regeln einzulassen, und die eigene Erfahrung mit dem Kunstwerk spielen also eine Rolle für den Grad an ‘ Echtheit ’ , den der Rezipient erfährt. Wenn der Rezipient den Entwurf mit Bedeutung auflädt, dann ruft er die dargestellte Welt ins Leben: Der Leser durchdringt den Text, der Kinogänger vergisst die verstreichende Zeit, der Videospieler bedient un- oder unterbewusst den Controller und der Museumsbesucher verharrt für Minuten über Minuten vor einem Kunstwerk. Der Rezipient wird in das Werk ‘ hineingesogen ’ . Diese Immersion ist für alle Formen der Darstellung gegeben, ungeachtet des Grades medialer Simulation von ‘ Echtheit ’ . Denn die Fiktion entsteht nicht in der täuschenden graphischen Darstellung des Videospiels oder des Films, sondern im Kopf des Rezipienten. 5 Manch einer verliert sich mehr im Buch als er sich im Film verliert und umgekehrt. Gerade beim Spiel wird evident, dass die Regeln erst Bedeutung konstituieren. Was denkt man von einer Person, die sich konzentriert in redundanter Handlung beschäftigt? Wer jemals einen Menschen beobachtet hat, dessen Handeln partout keinen Sinn ergeben wollte, hat wohlwollend unterstellt, er spiele ein Spiel. Andernfalls müsste man die Person für verrückt halten. Und so falsch ist der Vorwurf nicht, Spielende als verrückt zu bezeichnen. Denn das Spiel ist eine in sich geschlossene, zweckfreie (aber nicht nutzlose) Beschäftigung. 6 Was machen Fußballspielende? Sie schieben einen Ball über eine Linie und bezeichnen dies als ein Tor. Und danach? Danach wiederholen sie das Ganze und freuen sich, Hände in die Höhe werfend, über die Redundanz ihres Handelns. Die Regeln eines Spiels konstruieren die Struktur, aus der die Bedeutung entspringt. Wer die Regeln kennt - explizit oder implizit - versteht das Handeln. Und nicht anders verhält es sich bei Filmen, der Literatur oder der Kunst. Die Bedeutung liegt in der Entschlüsselung der Struktur. 3 Von Metalepsen und Brüchen Eine implizite Regel ist also der Rahmen des Werkes. Der Leser nimmt an, die Figuren seien Teil ihrer Welt. Bei der Metalepse entflieht eine Figur dem Rahmen der sie konstituierenden 4 Roger Caillois definiert das Spiel als regelgeleitete Fiktion (cf. Caillois 1967: 43): “… le jeu [est] une activité: [ … ] reglée: soumise à des conventions qui suspendent les lois ordinaires et qui instaurent momentanément une législation nouvelle, qui seule compte; [et] fictive: accompagnée d ’ une conscience spécifique de réalité seconde ou de franche irréalité par rapport à la vie courante. ” 5 So Umberto Eco (cf. Eco 1979: 52): “… un testo vuole lasciare al lettore l ’ iniziativa interpretativa, anche se di solito desidera essere interpretato con un margine sufficiente di univocità. Un testo vuole che qualcuno lo auiuti a funizionare. “ 6 Die Isoliertheit der spielerischen Sphäre kommt etwa in Johann Huizingas Spieldefinition zum Ausdruck (cf. Huizinga 1991: 37): “ Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‘ Andersseins ’ als das ‘ gewöhnliche Leben ’ . ” Die Zweckfreiheit spielerischen Handelns bezieht sich auf die spielerische Zielsetzung, die in sich geschlossen ist. Dies ist auf keinen Fall mit Nutzlosigkeit gleichzusetzen (cf. Scheuerl 1975). Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 161 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [161] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Struktur und stellt damit auch die Zwänge und Regeln der eigenen Welt in Frage. 7 Dieses Verlassen des Werkes stellt auf der Oberfläche einen Regelbruch dar. Jedoch verlässt die Spielfigur oder der Protagonist nie wirklich das Werk. Die Metalepse ist schließlich ein vom Autor implementiertes Stilmittel. Und frei ist die Figur auch nicht: Sie bewegt sich weiterhin im Rahmen der Geschichte, in der ihr die Möglichkeit zur Metalepse eingeräumt wurde. Für die Metalepse im Videospiel würde das bedeuten, dass die eingeschriebene Möglichkeit zum Bruch mit zuvor gesetzten Regeln nur eine weitere Regel über den kontrollierten Bruch mit besagten Regeln ist. Das bedeutet: dem Spieler wird das Gefühl der Wirkmacht gegeben, wo er keine hat. Ein Beispiel dafür ist das Spiel Deadpool (High Moon Studios 2013). Der Videospielheld aus der gleichnamigen Comicreihe macht sich seine Superkraft - mit der vierten Wand zu brechen - zum Vorteil und umgeht gefährliche Hindernisse, indem er auf eigens gesprochene Sprechblasen klettert. Deadpool manipuliert so seine Umwelt, indem er die vermeintliche Autorenposition einnimmt und sich selbst aus gefährlichen Situation herausschreibt. Wirkmacht wird dabei jedoch zu keinem Zeitpunkt auf den Spieler übertragen: die Geschichte sieht vor, dass Deadpool derart schummelt. Die Metalepse ist Teil des Regelwerks. Der Bruch mit der vierten Wand ist ein Bruch mit den Konventionen, aber kein tatsächliches Heraustreten aus dem Werk. Damit impliziert die Metalepse, dass das zuvor ausgemachte Regelwerk nicht vertrauenswürdig ist. Die vollständige Willkür einer Autoreninstanz erfährt der Spieler von The Stanley Parable (Galactic Cafe 2013). Hier wird der Protagonist Stanley zum Sklaven des Erzählers, der die Geschichte in scheinbar beliebiger Art und Weise umschreibt. Das Spiel fängt damit an, dass der Büroangestellte Stanley - seine Aufgabe besteht darin, nur Knöpfe zu drücken, die ihm das Programm seines Rechners abverlangt - vom Arbeitsplatz aufsteht und seinen Büroraum verlässt. Eine Stimme aus dem Off begleitet Stanleys Vorhaben und kommentiert den Weg, den er einschlägt. Weicht Stanley von seinem vorgegebenen Pfad ab, so empört sich der Erzähler und zwingt Stanley zurück, spielt ihm Streiche oder startet das Spiel einfach von vorne (Es hätte ja keinen Sinn, wenn Stanley nicht gehorche.). The Stanley Parable hat auch kein eigentliches Ende. Achtzehn verschiedene Pfade führen zwar zum Beenden einer Spielsession, aber dem Spieler erschließt sich schnell das eigentliche Ziel des Spiels: Die Erkenntnis, dass es kein Ziel gibt. Und schließlich muss der Spieler auch noch feststellen, dass er wie Stanley im Büro nur ein Sklave des Spiels ist, das von ihm die Eingaben verlangt, die über den Bildschirm angefordert werden. 7 Erving Goffman bezeichnet wie Kendall das ‘ make-believe ’ als Annahme spielerischer Fiktion (cf. Goffman 1976: 43): “‘ Make-believe ’ : By this term I mean to refer to activity that participants treat as an avowed, ostensible imitation or running through of less transformed activity, this being done with the knowledge that nothing practical will come of the doing. The ‘ reason ’ for engaging in such fantasies is said to come from the immediate satisfaction that the doing offers. A ‘ pastime ’ or ‘ entertainment ’ is provided. ” In der Fiktion ist bei Goffman die Rede vom “ keying ” - der Modulation des primären Rahmens. Das bedeutet, dass sich der angenommene Bezugspunkt für die Interpretation, wandelt (cf. Goffman 1976: 44): “ I refer here to the set of conventions by which a given activity, one already meaningful in terms of some primary framework, is transformed into something patterned on this activity but seen by the participants to be something quite else. ” Der Bruch mit der vierten Wand stellt dann ein “ downkeying ” dar, da die Figur den Rahmen der eigenen Diegese aufzeigt und damit alles zuvor Gezeigte in einen fiktiven Kontext stellt, während das Publikum zuvor von seiner Unwissenheit über die Fiktion ausging. 162 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [162] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Abb. 3: The Stanley Parable (Galactic Cafe 2013, eigener Screenshot) „ Alright, I have got a solution. This time, to make sure we don ’ t get lost, I have employed the help of the Stanley Parable Adventure Line. Just follow the line. How simple is that? ” - folgt der Spieler gehorsam der Linie, so endet er dennoch in einer Sackgasse. Der Erzähler stellt empört fest, dass auch er von der Adventure Line betrogen wurde. In The Stanley Parable verliert auch der Erzähler, vermeintlicher Autor von Stanleys Geschichte, die Kontrolle über die Geschichte. Ähnliches erfährt der Spieler vom Western-Shooter Call of Juarez: Gunslinger (Techland 2013). Der Plot erzählt die Geschichte des gealterten Kopfgeldjägers Silas Greaves, der gespannten Zuhörern in einem Saloon von den eigenen Heldentaten berichtet. Das Element der Rahmen- und Binnenerzählung wird im Spiel zum gestaltenden Merkmal und zum Dreh- und Angelpunkt der spielerischen Darstellung. Stilistische Brüche, Ereignisse und Perspektivwechsel werden durch Metalepsen herbeigeführt, die so das spielerische Erlebnis prägen. Wenn sich Greaves plötzlich erinnert, dass es nicht Banditen, sondern Indianer waren, die ihn in der Postkutsche überfielen, dann folgt auf die erzählende Stimme aus dem Off, dass die Figuren vor der Flinte des Spielers kurzerhand ausgetauscht werden. Die Zuhörer von Greaves werfen im Saloon ein, haken nach und erzählen zum Teil, was sie in Romanen über Greaves gelesen haben wollen. All diese Einwände beeinflussen die Binnenerzählung die als ludischer, also spielerischer, Raum Beeinflussung durch diese erzählerischen Wechsel findet. Für den Spieler, der in den Binnenerzählungen den jungen Greaves verkörpert, wird der erzählende alte Greaves im Saloon zum Schöpfer des eigenen Abenteuers. Da sich dieser vor den Zuhörern im Saloon profilieren möchte, prahlt er mit den tausenden von Widersachern die ihn angegriffen haben und der Spieler muss dann seine Lügengeschichten ausbaden. Durch die Binnenerzählung verschiebt sich dabei der Rahmen Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 163 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [163] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL um eine Ebene: In der Spielhandlung ist nicht der Programmierer der Autor, sondern eine Figur der Rahmenhandlung wird zum Autor der Binnenhandlung - dort findet auch das eigentliche Spiel statt. Abb. 4: Call of Juarez: Gunslinger (Techland 2013, eigener Screenshot) Silas Greaves rechtfertigt sich vor den lauschenden Saloonbesuchern für die historiographischen Ungenauigkeiten in seinen Erinnerungen. 4 Von Immersion und ‘ immediacy ’ Als Unterhaltungsmedium knüpft das Videospiel an eine mediengeschichtliche Entwicklung zur immer umfassenderen Immersion an. Damit ist das Gefühl der Unmittelbarkeit des Weltentwurfes gemeint, in den der Nutzer eintaucht. Jay David Bolter prägte dafür den Begriff ‘ immediacy ’ . Damit ist gemeint, dass die medial simulierte Realität möglichst unmittelbar erscheint, dass das Medium hinter seiner Botschaft verschwindet und über die eigene Gemachtheit hinwegtäuscht. 8 Ein Schritt zur ‘ immediacy ’ ist dieVereinnahmung der Sinnesebenen, die sich vom Buch über das Radio und die Kinoleinwand bis hin zum Computer vertieft hat. Informationen werden gleich mehrfach aufgearbeitet und zum Hören, Fühlen und Sehen präsentiert. Das Erlebte solle sich wie ‘ echt ’ anfühlen. Jean-Louis Baudry (cf. Baudry 1978) vergleicht den Kinozuschauer mit den Figuren aus dem Höhlengleichnis Platons: Bei Platon sind die Menschen in einer Höhle gefesselt und können nur auf ein projiziertes Schattenspiel blicken. Da die technische Apparatur unsichtbar bleibt, wird das Gesehene immediat und daher als Realität angenommen. In 8 Cf. Bolter & Grusin (2002: 21 - 22): “ Virtual reality is immersive, which means that it is a medium whose purpose is to disappear. This disappearing act, however, is made difficult by the apparatus that virtual reality requires ” und cf. Bolter & Grusin (2002: 24): “ To understand immediacy in computer graphics, it is important to keep in mind the ways in which painting, photography, film, and television have sought to satisfy this same desire. These earlier media sought immediacy through the interplay of the aesthetic value of transparency with techniques of linear perspective, erasure, and automaticity, all of which are strategies also at work in digital technology. “ 164 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [164] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL vergleichbarem Maße werde der Kinobesucher zum total vereinnahmten Rezipienten. 9 Der Hinweis auf den Projektor am Ende des Saales müsste doch aus der Illusion herausreißen. Aber will der Kinozuschauer davon wissen? In Platons Höhlengleichnis werden jene, die den Gefesselten von der Welt jenseits des Schattenspiels berichten, verjagt oder für verrückt erklärt. Das gleiche Motiv zieht sich durch die Filme The Matrix (Wachowski 1999) (Immersion in einer computergenerierten Realität) oder Inception (Nolan 2010) (Immersion in Traumwelten) und behandelt dort jeweils das Thema, dass die Fiktionalität des Weltentwurfes zur angenommenen Realität gemacht wird. Die Filme deuten an, was die Medientechnik zu erreichen scheint: Mit besserer ‘ immediacy ’ eine höhere Immersion zu erreichen. Das Eintauchen in die virtuelle Welt wird immerzu als Ideal virtueller Realität bezeichnet. 10 Die aktuelle Entwicklung von VR-Brillen, also Brillen, die den gesamten Sichthorizont des Nutzers besetzen und durch Sensoren die Kopfbewegung im virtuellen Raum graphisch umsetzen, bringt die Erfahrung virtueller Räume auf ein bisher unbekanntes Niveau. Wie im Traum befindet sich beim Aufsetzen der VR-Brille der Kopf des Subjekts in der virtuellen Welt. Jedoch steckt in der angenommenen Bemühung, die Realität abzubilden, nicht die Hoffnung, sie zu ersetzen. Denn ein Spiel, ein Film, ein Roman ist nur solange ein Kunstwerk, wie die Sphäre des Andersseins bestehen, also das Spiel als solches von dem ‘ Ernst des Lebens ’ unterscheidbar bleibt. Die Katharsis auf der Dramenbühne erfolgt nur, wenn der Zuschauer um die Mimesis - die Gemachtheit - weiß. Ein Beispiel: Der Tod ist in vielen Videospielen ein symbolischer Indikator für das spielerische Scheitern. Als solches beendet er zwar eine Session, nicht aber das Spiel per se. Die Überlistung des Todes ist so notwendiger Bestandteil für die Wiederholbarkeit des Spiels. Das mag nicht ‘ realistisch ’ sein, aber wer würde schon ein Spiel spielen, das nach einmaligem Scheitern für immer beendet wäre? Videospiele semantisieren den Tod der Spielfigur häufig und unterschiedlich. Ein tatsächliches Sterben findet selbstverständlich nicht statt. Unrealistisch ist die virtuelle Reinkarnation dann nur, wenn das Spiel außerhalb seines eigenen Regelwerks bemessen wird. Für das jeweilige Videospiel ist der Tod ein umkehrbarer Status und innerhalb der eigenen Logik nicht widersprüchlich. Spielwelten sind semantisch geschlossen, deshalb führt ein von außen an ein Spiel herangetragener Realismus zu Missverständnissen: Wer viele Videospiele spielt, geht prinzipiell davon aus, dass der Tod der Spielfigur nichts Dramatisches ist. 11 Was im Spiel passiert, bleibt dort, und jeder Ernst verliert sich, wenn das Spiel beendet ist. Wie bei einem verfliegenden Traum hat alles zuvor Gesehene keine Bedeutung mehr. Dies ist ein normativer Grundgedanke, der in allen Kulturkreisen das Spiel in der Praxis begleitet: 9 Cf. Baudry (1978: 27): “ Il s ’ agit toujours de la scène de la caverne: effet de réel ou impression de réalité Copie, simulacre, et même simulacre de simulacre. Impression de réalité ou réel, plus-que-réel? ” Bei Baudry steht dann im Weiteren der ideologische Effekt des Mediums im Vordergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Kino. 10 Cf. Bolter & Grusin (2002: 22) : “ In order to create a sense of presence, virtual reality should come as close as possible to our daily visual experience. Its graphic space should be continuous and full of objects and should fill the viewer ’ s field of vision without rupture. But today ’ s technology still contains many ruptures: slow frame rates, jagged graphics, bright colors, bland lightning, and system crashes. ” 11 Man könnte von einem gruppenspezifischen, kulturellen Wissen sprechen. Die Umkehrbarkeit des Todes in Videospielen ist eine allgemein “ für wahr gehaltene Proposition ” (cf. Zum Begriff Titzmann 2013: 94 f.). Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 165 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [165] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Alles sich im Spiel Ereignende soll auch im Spiel verbleiben. Wenn es heißt “ Mensch ärgere dich nicht! ” , dann ist damit gemeint, dass ein spielerischer Akt keinen Schatten auf die Welt jenseits des Spiels werfen soll. Der verweigerte Handschlag nach einer Partie gilt nicht zuletzt als Bruch des Fairplay-Gedankens und stellt ein gesellschaftlich inakzeptables Verhalten dar. In Einzelfällen werden deshalb auch körperliche Verletzungen als strafrechtliche Tatsachenbestände - etwa im Profisport - betrachtet, wenn dem Verursacher Vorsatz unterstellt werden kann. Das Spiel ist eine Sphäre, die gewisse gesellschaftliche Peinlichkeits- und Schamgrenzen überschreitet. So ist in vielen Sportarten Körperkontakt erlaubt, der außerhalb des Spiels verboten wäre und dieser Umstand darf nicht das Spiel überdauern. 12 Dahingehend lässt sich auch das italienische Sprichwort “ Alla fine della partita il re e il pedone vanno nella stessa scatola ” ( ‘ Am Ende des Spiels gehen der König und der Bauer in dieselbe Kiste ’ ). zweifach deuten: Zum einen sind die während eines Spiels eingenommenen sozialen Rollen ohne Bezug zu den sozialen Rollen außerhalb des Spiels, und zum anderen wird jedes neue Spiel ohne Rücksicht auf die vorherigen Ereignisse von vorne gestartet. Damit wird die Isoliertheit der Spielsession betont. Zur Vermittlung von spielerischer Fiktion gehört also auch immer die Kenntnis über ihre Gemachtheit. Man könnte auch sagen: Fiktion ist nur, wenn sie als solche erkannt wird. Und Fiktion muss sich als solche erkenntlich zeigen. Die Fiktion wird schließlich auf zwei Ebenen identifiziert: 1. Fiktion ergibt sich aus der Analyse der intradiegetischen impliziten Ordnungssätze und ihrem Abgleich zum eigenen Entwurf von Realität. 2. Aus der Analyse der extradiegetischen Eigen- und Fremdzuschreibungen durch Paratexte, die Kenntnis über den Rahmen des Werkes und den Umstand der Wahrnehmung lässt sich Fiktionalität erkennen. Im Zusammenspiel aus 1. Und 2. wird etwa Star Wars (USA 1977, George Lucas) als Fiktion entlarvt, weil (1) die Vorstellung über technische/ physikalische Entwicklungen in der Diegese (Lichtschwerter oder die Macht) als nicht existent oder nicht realisierbar angenommen werden und der Text somit in sich selbst seine Fiktionalität markiert. Und (2) weil sich der Kinogänger seiner Rolle als Zuschauer bewusst ist und einen Spielfilm besucht, der als fiktionales Werk beworben wird und für den die Gesellschaft eine entsprechende Lesart implizit vorschlägt. Beim Bruch mit der vierten Wand verbinden sich diese beiden Ebenen. Der Text verweist explizit auf die eigene Rahmung, indem Figuren oder Elemente der virtuellen Welt aus ihr heraustreten, um den Gegenstand von außen zu betrachten und ihn dadurch als Fiktion entlarven. Für die oben genannten Videospiele ist der Bruch mit der vierten Wand programmatisch. Es ist Teil der Diegese, dass diese erschüttert und in Frage gestellt wird. Die Metalepse ist in diesen Beispielen Element für die Immersion, obwohl damit explizit auf die Fiktionalität hingewiesen wird. 12 Cf. Elias & Dunning (1986: 115): “ [S]ince the lessening of controls in human societies of all kinds, but particularly in societies so well ordered and complex as ours, always entails risks, the de-controlling function of leisure activities which opens up the way for the refreshment of emotions is on its part too surrounded with precautionary rules so that it can be socially tolerable. ” 166 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [166] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 5 Und das Spiel bleibt Spiel In einem drogeninduzierten Alptraum heckt Max Payne (Remedy Entertainment 2001) im gleichnamigen Videospiel die Horrorvision aus, er könne sich in einem Videospiel befinden. Ironischerweise bezeichnet der Protagonist, der Frau und Kind verloren hat und wegen Mordes an einem Polizisten gesucht wird, dies als “ most horrible thing I could think of ” . Nachdem er aus dem Alptraum erwacht, ist der Gedanke auch wieder verloren. Abb. 5: Max Payne (Remedy Entertainment 2001, eigener Screenshot) Das im mittleren Bild des dreiteiligen Panels von Max Payne gesprochene “ [t]he paranoid feel of someone controlling my every step ” ist an den Spieler adressiert, der für dieses Gefühl verantwortlich sein muss. Max Payne ist die Spielfigur des Werkes und hält sich an die Befehle des ihn steuernden Spielers. Hingegen befolgt dieser wiederum die Regeln der Welt, in der Max Payne die Fäden zieht. Der Spieler ist Objekt des Spiels. Wer spielt dann eigentlich mit wem? Freiheit in Videospielen wurde bereits als Illusion bezeichnet. Videospiele befreien den Spieler durch Hypertextstrukturen nicht etwa, sondern sie gaukeln ihm die Freiheit vor in einem Weltentwurf, der genauso restriktiv ist wie die Histoire eines Romans. Der Spieler kann von den Regeln der dargestellten Welt nicht abweichen und findet sich in den Momenten, in denen er an sein Spielen erinnert wird, gefesselt an den Gegenstand. Baudrys Sorge um die ideologische Funktion des kinematographischen Apparats gewinnt bei der Betrachtung der auf sich selbst aufmerksam machenden Apparate in Videospielen eine perfide Note: 13 The Stanley Parable erklärt den Spieler zur Maus im Labyrinth und lässt ihn 13 Cf. Baudry (1978: 26): “ Le cinéma peut donc apparaître comme une sorte d ’ appareil psychique substituif répondant au modèle défini par l ’ ideologie dominante. ” Immersion und Metalepse - von Sprüngen aus der virtuellen Welt 167 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [167] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL protestlos gehorchen. Ein Protest ist beim Spiel nicht möglich: Denn jedes Spielen bedeutet auch das Respektieren des Rahmens. Der Spieler schafft sich seine Immersion, wenn er eine Kommunikation aufnimmt und vertieft, wenn er die Regeln der Welt annimmt - ganz gleich, ob diese ihre Fiktionalität durch zu verstecken oder zu demonstrieren versucht. In vielen Videospielen kommen gleichzeitig Darstellungstechniken zum Ausblenden wie auch zum Einblenden des Apparats zum Einsatz. Die Graphik mit Fluchtpunktperspektive ist dann sicherlich ein Element, das Videospiele von anderen Spielen unterscheidet - so kann die Darstellung abstrakte Ortszuschreibungen aufheben. Die Spielfigur befindet sich nicht etwa wie bei Monopoly auf einem Feld, das durch das Regelwerk in einer abstrakten Zuschreibung als Schloßallee markiert wird, sondern in einem Raum, der ohne Allegorese für sich selbst steht. Max Payne stellt hingegen in seinem Alptraum die Statusanzeigen fest, “ [w]eapon statistics hanging in the air, glimpsed out of the corner of my eye ” und schließt daraus, dass er sich in einem Videospiel befindet. Statusanzeigen über Leben, Ausdauer, Fähigkeiten oder Inventar einer Spielfigur werden in Videospielen üblicherweise als paratextuelle Anzeigen oder Statistiken dargestellt. Während Informationen wie die topographische Verortung in der Spielwelt meist durch die immediate, realistische Darstellung erfolgt “ die Figur befindet sich in einem Wald ” , geben Datenblätter Auskunft über die räumliche Verortung hinaus. Die Ästhetik in Videospielen ist also geprägt von zwei Idealen: ‘ immediacy ’ und ‘ hypermediacy ’ . 14 Die raumzeitliche Verortung der Spielfigur wird immediat, spielerische Information hypermediat vermittelt. Und obwohl es Trends dazu gibt, die Spielanzeigen zu reduzieren oder zu intradiegetischen Elementen zu erklären, müssen Spiele nie verbergen, dass sie Spiele sind. 15 Denn der Spieler ist sich immer bewusst, dass er spielt. Daher reißt auch das intradiegetische Stilmittel der Metalepse den Spieler nie wirklich aus der Immersion des Spiels. 16 Die Metalepse hat dennoch den Effekt, die aus der Narration deduzierten impliziten Ordnungssätze der dargestellten Welt in Frage zu stellen. 17 Und so finden sich Metalepsen auch nur in Videospielen, die eine Narration beinhalten. Im Bereich 14 Cf. Bolter & Grusin (2002: 41 f.): “ In the logic of hypermediacy, the artist (or multimedia programmer or web designer) strives to make the viewer acknowledge the medium as a medium and to delight in that acknowledgment. She does so by multiplying spaces and media and by repeatedly redefining the visual and conceptual relationships among mediated spaces — relationships that may range from simple juxtaposition to complete absorption. ” 15 Bei Half-Life (Valve Corporation 1998) oder bei Halo (Bungie Studios 2001) werden sämtliche HUD(Head-up- Display)-Anzeigen vermeintlich dem Protagonisten in seinem Schutzanzug dargestellt und sind damit keine extradiegetischen Informationsanzeigen. 16 Cf. So auch Nohr (2008: 32): “ Im Spiel greifen [ … ] nicht nur dialektisch aufeinander bezogene Formen der ‘ immediacy ’ und ‘ hypermediacy ’ (Bolter & Grusin) aufeinander und sorgen durch die parallele Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Gemachtheit des Spiels für die Konstitution einer Umittelbarkeitserfahrung eines (ominösen) Realen. Die Naturalisierungstendenz des Spiels im Medium ist eine, die zunächst und vor allem darin begründet liegt, dass parallel zur Technizität und zur Apparathaftigkeit des Spiels auch die anhängige Ideologie verunsichtbart wird. ” 17 Ordnungssätze versteh ich hier im Sinne von cf. Renner (2004: 364): “ [Ordnungssätze], das sind die Allsätze, die als Korrelat der Grenze die Struktur der dargestellten Welt festlegen. [ … ] Ordnungssätze halten Sachverhalte fest, die [ … ] als wahr gelten sollen. ” Ein Ordnungssatz in der dargestellten Welt von Max Payne ist etwa, dass er ein New Yorker Polizist ist. Die Metalepse stellt genau das in Frage, wenn er den Gedanken fasst, er könne eine Videospielfigur sein. 168 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [168] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL des ‘ competitive ’ Gaming, wo Narrationen untergeordnete bis keine Rolle spielen, laufen erzähltheoretische Ansätze ins Leere. Bibliographie Aarseth, Espen 1997: Cybertext. Perspectives on ergodic literature, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press Aarseth, Espen 2013: Ludo-Narratives vs. the Meta-Chronotope, auf der DiGRA Conference, USA: Atlanta, 27. 08. 2013 Bachtin, Michail 2008: Chronotopos, Frankfurt am Main: Suhrkamp Bateman, Chris 2011: Imaginary Games, Lanham: O-Books Baudry, Jean Louis 1978: L ’ effet cinema, Paris: Ed. Albatros Bolter, Jay David & Richard Grusin 2002: Remediation. Understanding new media, Cambridge, Mass.: MIT Press Caillois, Roger 1967: Les Jeux et les Hommes. Le masque et le vertige, Paris: Éditions Gallimard Campbell, Joseph 1968: The Hero with a Thousand Faces, Princeton: Princeton University Press Eco, Umberto 1979: Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrative, Mailand: Bompiani Elias, Norbert & Eric Dunning 1986 b: „ Leisure in the Spare-time Spectrum ” , in: Elias & Dunning (ed.) 1986: 91 − 125 Elias Norbert & Eric Dunning (eds.) 1986 a: Quest for excitement. Sport and leisure in the civilizing process, Oxford: Blackwell Frank, Gustav et. al. (eds.) 2004: Norm - Grenze - Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft, Passau: Stutz Goffman, Erving 1976: Frame analysis. An essay on the organization of experience, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press Huizinga, Johan 1991: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Krah, Hans & Michael Titzmann (eds.) 2013: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, Passau: Stutz Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink Nohr, Rolf F. 2008: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel, Münster: LIT Verlag Renner, Karl Nikolaus 2004: “ Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von Jurij M. Lotman ” , In: Frank et al. (eds.) 2004: 357 − 381 Scheuerl, Hans (ed.) 1975 a: Theorien des Spiels, Weinheim und Basel: Beltz Scheuerl, Hans 1975 b: “ Einführung ” , in: Scheuerl (ed.) 2004: 9 − 12 Titzmann, Michael 2013: “ Propositionale Analyse − kulturelles Wissen − Interpretation ” , in: Krah & Tizmann (eds.) 2013: 87 − 112 Walton, Kendall L. 1993: Mimesis as make-believe. On the foundations of the representational arts, Cambridge, Mass.: Harvard University Press Internetquellen Frasca, Gonzalo 1999: „ Ludology Meets Narratology. 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Combat Evolved, USA: Microsoft Game Studios Galactic Cafe 2013: The Stanley Parable, USA: Valve High Moon Studios 2013: Deadpool, USA: Activision LucasArts 1991: Monkey Island 2: LeChuck ’ s Revenge, USA: LucasArts Lucasfilm Games 1990: The Secret of Monkey Island, USA: Lucasfilm Games Remedy Entertainment 2001: Max Payne, USA: Rockstar Games Origin Systems 1981: Ultima, USA: California Pacific Computer Company Techland 2013: Call of Juarez: Gunslinger, Frankreich: Ubisoft Valve Corporation 1998: Half-Life, USA: Sierra Entertainment Filmographie Star Wars (USA 1977, George Lucas) Inception (USA 2010, Christopher Nolan) The Matrix (USA 1999, Andy Wachowski & Lana Wachowski) 170 Matteo Riatti (Stuttgart) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [170] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen “ Please, stop trying to make every decision by yourself! ” Selbstreflexive Erzählstrategien im Independent-Videospiel 1 Martin Hennig (Passau) The changed conditions of distribution in the video game industry (download distribution, project financing with crowdfunding etc.) have led to a strengthening of the socalled ‘ indie market ’ . The frequently self-theming of the video game there can be read as an expression of a medial identity search, demonstrated against the background of mass market mechanisms, which are made visible here. Remarkable examples in this context are especially those, in which an uncertainty in the binding between the player and the avatar is provoked, by negotiating supposedly basic game principles like immediate embodiment and freedom of choice. The Stanley Parable (Galactic Cafe, 2013), for example, models the video game as a control authority whose disciplining effect is only concealed in the interactivity paradigm, and which shows itself in the fractured relation of narration and interactivity or from role and person during gameplay. This article describes such self-reflexive phenomena in the video game with semiotic terms to outline the structural conflicts negotiated in the example. However, The Stanley Parable is also read as an expression of these conflicts, since it adapts a literary model to describe the paradigms of play, due to the fact that no comparable possibilities of self-description have been found in the medium itself yet. 1 Selbst- und Systemkritik im Videospiel und Medienwandel In Bezug auf ihre erzählerische und dramaturgische Geradlinigkeit sowie die Überbetonung auditiver und visueller Reize ähneln viele hoch budgetierte Computer- und Videospielproduktionen dem Typus des Hollywood-Blockbusters. Entsprechend kann Videospielen in Bezug auf die in ihnen aufgerufenen ideologischen Effekte auf erzählerischer Ebene in der Regel eine Tendenz zur Produktion eines staatsbürgerlichen Bewusstseins nach Umberto Eco attestiert werden, das auf die Erhaltung des gesellschaftlichen Status Quo ausgerichtet ist (cf. Eco 1984). 2 Auf spielerischer Ebene stellen Ansätze der Normalismusforschung nach 1 Dieser Artikel bündelt einige Überlegungen zur Selbstreflexion, die ich im Rahmen der Entwicklung einer Videospielsemiotik an unterschiedlichen Stellen ausgeführt habe, cf. Hennig 2017. 2 Cf. zu den überwiegend konservativen Rückbindungen spielerischer Weltentwürfe an traditionelle Wertemodelle (etwa zur Familie oder in Bezug auf Geschlechterrollen) Hennig (2017: 139 - 266). Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [171] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Jürgen Link heraus, dass im Videospiel Tendenzen der Ankopplung von Spieler-Subjekten an ein datenbasiertes Leistungsdispositiv auszumachen sind; denn im Rahmen der Möglichkeit der Wiederholung kritischer Spielsituationen und der Effektivierung des eigenen Verhaltens, bilden Videospiele “ einen Modellraum zur Einübung und Adaption von Subjektpraktiken, die auf die Herausbildung von Effektivität und normalistischer Selbstwirksamkeit abzielen ” (cf. Nohr 2015: 384). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das Videospiel auf der Grundlage seiner interaktiven Basisstruktur überhaupt selbst- und systemkritisches Potenzial beinhalten kann. In diesem Zusammenhang ist verstärkt die Achse des Medienwandels zu berücksichtigen. Die technisch-apparative Dimension der Videospielnutzung befindet sich seit ihren historischen Ursprüngen in einem kontinuierlichen Wandlungsprozess. Mit den Neuerungen in diesem Bereich transformieren sich regelmäßig auch Spielästhetiken. 3 Aktuell hat die im Zuge der Digitalisierung ermöglichte Annäherung unterschiedlicher Medien das Videospiel unter zusätzlichen Innovationsdruck versetzt: Seine mittlerweile fotorealistischen Darstellungspraktiken evozieren verstärkt Vergleiche mit dem Medium Film, gleichzeitig stellt das Internet erweitere Distributionsmöglichkeiten bereit. Beide Entwicklungen korrelieren damit, dass im Videospielsektor neue Spiel- und Erzählformate expandieren. Zum einen betrifft dies Beispiele wie Beyond: Two Souls (Quantic Dream/ Sony Computer Entertainment, 2013) oder episodisch erscheinende Spieleserien wie The Walking Dead (Telltale, seit 2012), die sich - nach einer kurzen Hochphase und dem schnellen Niedergang des interaktiven Films (siehe etwa The Daedalus Encounter, Mechadeus/ Virgin Interactive, 1995) in den 1990er Jahren - wieder verstärkt filmischer (und serieller) Erzählstrategien bedienen, vor dieser Folie jedoch ihre mediale Eigenständigkeit in den Vordergrund rücken. 4 Zum anderen wächst die Zahl der Videospiele, die weniger Veränderungen auf der Discours-Ebene herausstellen, sondern vielmehr die Nicht-Konventionalität ihrer interaktiven und narrativen Inhalte als Alleinstellungsmerkmale betonen. Diese Entwicklung wurde durch eine Phase der De-Institutionalisierung im Videospielsektor angetrieben: Durch die Möglichkeit des kostensparenden Direktvertriebs von Spieleentwicklungen über nicht-exklusive (das heißt nicht auf bestimmte Anbieter begrenzte) Softwareplattformen im Internet wie Steam, haben kleinere Entwickler Unabhängigkeit gegenüber den marktdominierenden Verlegern (den so genannten Majors) der Branche gewonnen. Auch 3 Tatsächlich verläuft diese Entwicklung so rasant, dass Beispiele aus den 1980er Jahren heute bereits als ‘ retro ’ gelten. Einen Überblick zur historischen Entwicklung des digitalen Spiels gibt zusammenfassend cf. Freyermuth 2015. 4 So startet jede Episode von The Walking Dead mit der Textnachricht: “ This game series adapts to the choices you make. The story is tailored by how you play. ” Damit wird direkt zu Beginn die Rezeption in die Richtung gelenkt, die Hypertextstruktur der Videospielserie als narrative Innovation wahrzunehmen. TheWalking Dead inszeniert sich dabei aber an keiner Stelle als bloße Adaption der vorgängigen Comics oder der TV-Serie. Vielmehr werden deren Erzähl- und Inszenierungsstrategien im Spiel innovativ neu kombiniert. Dagegen bilden die Full-Motion-(Trick- oder Realfilm-)Videosequenzen des interaktiven Films der 1990er Jahre intermediale Simulationen von Elementen des Ursprungsmediums Film im Zielmedium Videospiel, wobei sie in ihren Produktionsstandards jedoch maximal B-Movie-Niveau erreichten und damit zwangsläufig als defizitär erscheinen müssen. 172 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [172] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL neuartige Finanzierungsmodelle wie Crowdfunding 5 ermöglichen kleinen, sich teils aus nur wenigen Personen zusammensetzenden Entwickler- und Autorenkollektiven die Veröffentlichung eigenständiger Titel. Insofern auf Darstellungsebene im niedrig budgetierten Rahmen per se ein strukturelles Defizit gegenüber den Entwicklungen etablierter Entwicklungsstudios besteht, ist im Independent-Bereich ( “ Indie ” genannt) eine Tendenz zu kreativen Experimenten aufgetreten, die wiederum vereinzelt zu beachtlichen finanziellen Erfolgen geführt hat, sodass die marktbeherrschenden Download-Plattformen spezieller Hardwareanbieter (u. a. Microsoft: Xbox Live; Sony: PlayStation Network; Apple: App Store) mittlerweile ironischerweise um exklusive “ Indie ” -Entwicklungen konkurrieren. Der Begriff “ Indie ” lässt sich dabei weniger als analytische Kategorie, sondern vielmehr als Selbst- und Fremdbeschreibungsstrategie der Akteure im Feld deuten. Diesbezüglich stellen Martin Stobbe und Tristan Weigang bei einer Analyse von Forenbeiträgen, Interviews und Artikeln auf Gaming-Websites heraus, dass mit dem Label in der Regel die “ (1) Unterstellung weniger oder geringer finanzieller Mittel, (2) Subjektivierung und Individualisierung von EntwicklerInnen, (3) Zuschreibung von Innovation und Experimentalität unter programmatischer Abgrenzung vom ‘ Mainstream ’” (cf. Stobbe & Weigang 2016: 98) einhergehe. Dementsprechend lassen sich auf Nutzerseite entsprechende Rezeptionserwartungen diagnostizieren. So ist auf Wikipedia unter dem Stichwort “ Independent- Computerspiel ” vermerkt, dass dieses häufig auf innovative aber vermarktungstechnisch riskante Spielkonzepte setze (cf. Wikipedia o. J.). Entsprechend betitelt eine Videospielzeitschrift Independent-Games in einem Sonderbericht als “ Jäger der verlorenen Kreativität ” (cf. O.V. 2014: 34). Insbesondere Magazine, die dem populärkulturellen Massenmarkt kritisch gegenüber stehen, wie die linksalternative Zeitschrift konkret, widmen dem Independent-Markt wohlwollende Artikel (cf. Kusenberg 2014: 44 - 46). Freilich sind die Produktionen des Independent-Marktes dabei kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, das Feld ist extrem divers. Grenzziehungsstrategien und Grenzüberschreitungen gegenüber dem Massenmarkt dürften dennoch in fast allen unterschiedlichen Ausprägungen des “ Indie ” -Bereichs vorzufinden sein, da sich dessen ökonomisches wie symbolisches Kapitel über diesbezügliche Abweichungen herleitet (cf. Stobbe & Weigang 2016: 95 - 97). Im Folgenden werden nun selbstreferenzielle und selbstreflexive Erzählstrategien 6 als eine Möglichkeit zur Selbstsemantisierung von Videospielen als ‘ abweichend ’ näher untersucht. 2 Der Massenmarkt als Kontrastfolie: Gone Home Häufig treten in “ Indie ” -Produktionen private oder nicht zur öffentlichen Heldenrolle typischer Videospielprotagonisten kongruente Topoi und Figurenmotivationen in den Vordergrund: So schlüpfen Nutzer in Papers, Please (Lucas Pope, 2013) in die Rolle eines 5 Auf Deutsch auch Schwarmfinanzierung, bei der Endkunden als Kapitalgeber der Spieleentwicklung fungieren können. 6 Mit Gräf et al. kann unter Selbstreferenzialität ein Fall verstanden werden, bei dem die Medialität des Dargestellten expliziert wird, unter Selbstreflexivität dann eine darüber hinaus gehende Bestimmung und Reflexion der Leistungen des eigenen Mediums (cf. Gräf et al. 2011: 238 - 239). “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 173 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [173] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Grenzbeamten in einem autoritären Regime, der mit seinen schwerwiegenden Entscheidungen in erster Linie für den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen sucht: “ Schicke ich eine verzweifelte Person mit einem offensichtlich gefälschten Asylantrag in den Knast, nur um mit etwas mehr Geld nach Hause zu gehen? ” (cf. 4Players 2013). Auch die Wirtschaftssimulation Cart Life (Richard Hofmeier, 2011) gewinnt ihre spielerische Einzigartigkeit durch die Nachbildung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Insbesondere das erzähllastige Adventure-Genre, das nicht auf zeit- oder konfigurations-, sondern entscheidungskritischen Herausforderungen 7 - also konventionell dem Lösen von Rätseln - basiert, hat sich dabei als prädestiniert erwiesen, komplexe Thematiken abseits genretypischer Abenteuer- oder Kriminalgeschichten zu inszenieren: So handelt The Cat Lady von einem Leben mit einer schweren Depressionserkrankung, in That Dragon, Cancer (Numinous Games, 2016) verkörpern Spieler die Eltern eines krebskranken Kindes und durchleben Höhen und Tiefen seines kurzen Lebensweges, während etwa Downfall (Harvester Games, 2015) oder Gone Home (The Fullbright Company, 2013) dysfunktionale Brüche innerhalb bürgerlicher Familienmodelle adressieren. In derlei Beispielen sind nun auch vermehrt selbstreferenzielle und selbstreflexive Erzählakte anzutreffen, denn regelmäßig fungieren die Konventionen des Massenmarktes als Kontrastfolie, vor der sich die Innovativität des jeweiligen Titels abzeichnen soll. Damit werden die grundlegenden strukturbildenden Prinzipien des Videospiels im Independent- Bereich thematisch. Im Spiel Gone Home kehrt die Protagonistin Katie zu Beginn nach längerer Abwesenheit zurück in ihr Elternhaus, das sie jedoch verlassen vorfindet. In diesem einleitenden Rahmen werden die Motivstrukturen einer Geisterhausgeschichte zitiert: Auf der auditiven Ebene herrscht permanentes Unwetter; in einer an die Eingangstür gepinnten Nachricht bittet Kathies Schwester Samantha, es solle nicht nach ihrem Aufenthaltsort gefahndet werden; im Haus finden sich Zeitungsartikel, die das mysteriöse Ableben des vorherigen Hausbesitzers dokumentieren. Doch statt im Spielverlauf der damit angedeuteten Kriminal- oder Horrorgeschichte auf den Grund zu gehen, muss hier stattdessen Stück für Stück das homosexuelle Begehren zwischen Samantha und ihrer Schulfreundin Lonnie rekonstruiert werden. Zu Spielbeginn werden also über die Verknüpfung von spielstrukturellen Vorgaben (auf der Darstellungsebene betrifft dies zum Beispiel die Ego-Perspektive, weiterhin entspricht das Handlungsinterface einem Point-and-Click-Adventure) mit audiovisuellen Zeichen (die gotische Architektur des Handlungsortes, Nacht, Unwetter usf.) gezielt (Falsch-)Hinweise gegeben, die den Schluss nahe legen, bei der Produktion handele es sich um ein konventionelles Geisterhaus-Adventure, das regelmäßig jene Merkmale aufweist (siehe etwa die Dark Fall-Reihe, XXv Productions/ Darkling Room, seit 2002). Dabei werden gleichsam die hinter solchen Fehlschlüssen stehenden strukturellen Muster vorgeführt: Das Spielinterface und die Levelarchitektur fungieren als Signifikanten zur Kanalisierung von Rezeptionserwartungen. Derlei kommunikative Funktionen kann das nur im Ausnahmefall auf inhaltliche Merkmale abzielende Genresystem des Videospiels nicht allein wahrnehmen, die lediglich auf Spielmechaniken verweisende Klassifikation “ Adventure ” verrät 7 Diese Unterscheidung folgt Claus Pias (cf. Pias 2002: 4). 174 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [174] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL dies nicht. Auch die spezifischen narrativen Muster des Videospiels tragen zu den hier aufgerufenen Rezeptionseffekten bei. Ein Spieletester umschreibt dies folgendermaßen: “ Bei Gone Home erwarte ich [ … ] instinktiv eine Katastrophe, einfach deshalb, weil es ein Spiel ist ” (cf. Gamestar 2013). Hier wird darauf verwiesen, dass Alltag im Videospiel normalerweise nur unter bestimmten, ihn als ereignishaft markierenden und damit letztendlich doch wieder als nicht alltäglich kennzeichnenden Voraussetzungen spielbar wird. 8 Gone Home konstituiert sich demgegenüber durch die vollständige Absenz einer im Lotmanschen Sinne sujethaften Textschicht. Damit inszeniert sich das Spiel gezielt als abweichend. Im Spielverlauf von Gone Home dringt man nun immer tiefer in das Innere des Familienanwesens vor, wobei der Spielfortschritt mit einer Steigerung von konnotierbarer Intimität der dort auffindbaren Gegenstände und Schriftstücke korreliert. Dabei treten Schattenseiten der übrigen Familienmitglieder zu Tage: Katies Mutter ist unzufrieden mit ihrem neuen Job in der Chefetage und hat eine Affäre; die dem Vater zugeordneten Artefakte zeichnen das Bild eines gescheiterten Schriftstellers. Vor allem aber durchzieht Samanthas homosexuelles Begehren das Haus wie ein roter Faden. Man liest darüber in ihren Tagebucheinträgen; gleichzeitig finden sich auch Reflexionen der Eltern bezüglich des abweichenden Verhaltens ihrer Tochter. Im Spiel wird damit insgesamt ein Riss in einem bürgerlichen Familienmodell interaktiv erfahrbar gemacht. Diese narrative Ebene von Gone Home korreliert mit spielerischen Elementen 9 und wird auch auf topografischer Ebene in Form einer Verdopplung der Raumstrukturen repräsentiert: Samantha und Lonnie haben sich beim Ausleben ihrer Beziehung eine auf die Vergangenheit des Hauses zurückgehende, geheime architektonische Ordnung in Form von Geheimgängen zu Nutze gemacht. Ihre Liebe konstituiert sich folglich auf einer räumlichen und ideologischen Ebene hinter dem im Haus manifesten bürgerlichen Ideal der Mittelschicht eines amerikanischen Vorortes. Auch das positiv konnotierte Ende der Geschichte spielt mit stereotypen Raumsemantiken. Eine Zeit lang suggerieren Texthinweise, die Auflösung des Rätsels um Samanthas Verschwinden würde sich im Keller abspielen, doch von dort aus geht es weiter auf den Dachboden, wo Spieler den - gemessen an gängigen Videospieltopoi - völlig unspektakulären bisherigen Ereignisverlauf aufdecken: Samantha ist gemeinsam mit Lonnie geflohen. Gone Home scheint folglich genau deshalb so großen Anklang bei Kritik und Publikum erfahren zu haben, weil sich hier tatsächlich ein gesamtes Spiel im Kontext privater und intimer Figurenmotivationen vollzieht. Gleichzeitig fungiert es als Zeit- und Sittengemälde 8 So fungiert die Depressionskrankheit der Hauptfigur Susan in The Cat Lady als Paradigma des im Alltag angesiedelten Außergewöhnlichen, das diesen gleichfalls spielbar macht: Die in Susans Privatwohnung zu erfüllenden Aufgaben und dort angesiedelten Gegenstände bekommen eine spielerische Bedeutung in Bezug auf Susans Gesundheitszustand zugeschrieben. Denn das Interface wird teilweise durch eine Skala ergänzt, welche die Aufregung oder Entspannung Susans in Abhängigkeit von den durchgeführten Handlungen anzeigt. Nach und nach lernen Spieler hier, wie sich bestimmte Aktionen auf die Psyche der Protagonistin auswirken. Auf diese Weise wird Susans Wahrnehmung in einen spielerischen Rahmen überführt und die dargestellte Welt erhält eine Rätselstruktur. 9 So gilt es in Samanthas Zimmer die Kombination eines Spinds zu entdecken, in dem sämtliche Rollenabweichungen der Figur zeichenhaft repräsentiert sind: eine Zigarettenschachtel, ein Männermagazin mit erotischen Bildern von Frauen, eine Fotografie von Lonnie. “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 175 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [175] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL der 1990er Jahre in einem konservativen Vorort im Nordwesten der USA. 10 Dabei wird eine Diskrepanz zwischen Oberflächenebene und Tiefenstruktur inszeniert. Die Figurenmerkmale von Lonnie und Sam verweisen auf - in Anbetracht von Zeitpunkt und Ort der Handlung - stigmatisierte Personenanteile. In diesem Rahmen ist eine homosexuelle Neigung eine Grenzüberschreitung und damit potenziell narrativ. Die Bewertung des Spiels selbst ist jedoch genau gegenteilig. Die Semantisierung von Homosexualität als nichtbedeutungstragend wird durch die Nicht-Ereignishaftigkeit des Spielgeschehens (es finden sich unabhängig von der Erkundung des Hauses keine spielerischen Herausforderungen oder Rätsel), die Abwesenheit erwartbarer narrativer Topoi und damit die Dekonstruktion von Videospielstereotypen transportiert. Insgesamt wird in Gone Home eine Opposition zwischen dem historisch-kulturellen Kontext (Sujethaftigkeit von Homosexualität) und ludisch-narrativem Kontext (sujetlos) in der Spielhandlung inszeniert, wobei mit der gezielten Suspendierung konventioneller Erzähl- und Interaktionsschemata nutzungsseitige Reflexionsprozesse angeregt werden: Spielerisch und erzählerisch wird das Paradigma ‘ Alltag ’ akzentuiert und Homosexualität prinzipiell als Teil davon und damit als nicht-abweichend ausgewiesen. Der spezifische, interaktive Dispositivcharakter des Videospiels versieht diese eigentlich eindeutige Selbstpositionierung jedoch unweigerlich mit Ambivalenz: Die Homosexualität Samanthas wird im Spielverlauf zum sie als Person maßgeblich auszeichnenden Merkmal. Im Rahmen der Einbindung der lesbischen Paarbeziehung in eine Spielstruktur gewinnt die Homosexualität der Hauptfiguren (auch) wieder Ereignischarakter, denn letztlich bildet deren Enthüllung die entscheidende Pointe, auf die das gesamte Geschehen und die interaktive Beteiligung der Spieler zuläuft. Weiterhin projiziert das Spiel aus dem Jahr 2013 fragwürdige ideologische Positionen auf die dargestellte Welt, die immer auch anders denkbar gewesen wären: Die Flucht aus dem Zuhause als einzige Lösung zu propagieren, wie mit der Abweichung umgegangen werden kann, zementiert Vorstellungen von Familie, nämlich was dazu- und was nicht dazugehört. Die freiwillige Ausgrenzung bleibt Ausgrenzung, wobei diese Lösung auch für die dargestellten 1990er Jahre antiquiert erscheint. Gleichsam bildet diese Ausgangssituation die unmittelbare Voraussetzung für das zentrale Spielziel der Suche nach Samantha. Gerade aufgrund derartigerAmbivalenzen lassen sich solche Beispiele auch als Ausdruck einer medialen Identitätssuche im Videospiel lesen, denn die inszenierten Abweichungen im Independent-Bereich und das auch in diesem Rahmen diagnostizierbare Nicht-Gelingen einer vollständigen Loslösung von Spielparadigmen verweisen auf eine zentrale, jeden Weltentwurf des Videospiels prägende Hybridität: Spiel und Narration sowie Simulation und Repräsentation gehen im Medium eine komplexe Mischform ein, die von einer wechselseitigen Abhängigkeit geprägt ist. 11 Im Vergleich mit nicht-interaktiven Formaten unterliegen die Erzählungen im Videospiel deshalb allerdings zwangsläufig auch zahl- 10 Wenn man die schriftliche Schilderung eines sexuellen Erlebnisses zwischen Sam und Lonnie im Haus einsammelt und betrachtet, weigert sich selbst die Protagonistin Katie nach kurzer Zeit weiterzulesen, ein zweiter Versuch wird den Spielern durch ihre Spielfigur von vornherein verweigert. 11 Cf. Pacher (2007: 131): “ Im Metamedium Computer können sich die [ … ] Paradigmen von Repräsentation und Simulation vereinen. Beide Formen schließen sich nicht aus, sondern können Synergien bilden. In diesem Rahmen wird - wie Computerspiele beweisen - Repräsentation in die Simulation eingearbeitet. ” 176 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [176] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL reichen Einschränkungen, wollen sie das Geschehen spielbar halten. Dies schließt strukturelle Innovationen zwar nicht aus, nur sind diese dann regelmäßig verbunden mit einer Re-Definition davon, was noch als Spiel verstanden werden kann. 3 Verhandlung des Videospieldispositivs: The Stanley Parable Das zweite Beispiel, in dem das spezifisch Eigene des Videospieldispositivs verhandelt wird, verdeutlicht diese Auflösung herkömmlicher Definitionen des Spiels durch strukturelle Innovation. In der filmischen Einführungssequenz von The Stanley Parable (Galactic Cafe, 2013) umreißt der Off-Monolog eines Erzählers die eintönige Arbeitssituation des Protagonisten Stanley (siehe Abbildung 1): “ Orders came to him through a monitor on his desk, telling him what buttons to push, how long to push them and in what order. ” Doch eines Tages findet sich Stanley plötzlich allein in seinem Abteil des Großraumbüros wieder und macht sich auf, dem Verbleib seiner Kollegen nachzuspüren. Dabei wird er vor verschiedene Entscheidungssituationen gestellt, wobei die Erzählerstimme einleitend stets einen bestimmten Ereignisverlauf vorzeichnet: “ When Stanley came to a set of two open doors, he entered the door on his left. ” Den Spielern steht es im Folgenden allerdings frei, sich auch gegenteilig zur Erzählersuggestion zu entscheiden, was in der Regel jedoch durch Gefühlsausbrüche des Erzählers sanktioniert wird: “ Stanley was so bad at following directions; it ’ s incredible he wasn ’ t fired years ago ” . Unter Umständen kann die Widersetzung Stanleys gar die Inszenierung eines durch den Erzähler initiierten Spielneustarts zur Folge haben. In jedem Fall ergeben sich durch die Entscheidungen der Spieler, den Erzählerkommentaren Folge zu leisten oder eben nicht, unterschiedliche Spielverläufe: Aufbauend auf den Entscheidungsmöglichkeiten in exponierten Spielsituationen beinhaltet The Stanley Parable ganze 19 unterschiedliche Endsequenzen. Werden dabei konstant die Anweisungen des Erzählers befolgt, sieht der Spielverlauf bei der Durchquerung des menschenleeren Arbeitsplatzes die Entdeckung einer gigantischen panoptischen Überwachungseinrichtung in einem geheimen Gebäudeteil vor (siehe Abbildung 2). Ein Blick auf hunderte Bildschirme beweist, dass jeder Mitarbeiter der Firma heimlich kontrolliert wurde. Dies kann Stanley natürlich nicht hinnehmen und wird nach Abschaltung derAnlage mit der Öffnung des Gebäudeausgangs und dem frei werdenden Weg in die dahinter liegende, sonnendurchflutete Frühlingslandschaft belohnt. Dieses ‘ richtige ’ Ende ist nun einerseits als ironische Verdichtung der emphatischen Plotstrukturen des Mediums zu verstehen, in dem der Topos der Überwachung regel- Abb. 1: Selbstreferenzielle Ausgangssituation von The Stanley Parable (Quelle: eigener Screenshot) “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 177 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [177] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL mäßig dazu dient, Spielszenarien narrativ zu kontextualisieren, in denen es für die Spieler innerhalb der gesamten Diegese gilt, Fremdkontrolle in Eigenkontrolle zu überführen, indem Überwachung getilgt wird (siehe prominent etwa Watch Dogs: Ubisoft, 2014). Andererseits ist dieses Ende gleichsam dasjenige, welches keinerlei dramaturgische Höhepunkte beinhaltet, denn die Lösung der Überwachungssituation gerät überraschend simpel: Ein Knopfdruck auf einen zentral platzierten Schalter mit einem Überwachungskamerapiktogramm deaktiviert die lagerhallengroße Apparatur. Erst wenn Spieler sich gegen die Anweisungen des Erzählers sträuben, entfalten die einzelnen Spielsituationen folglich ein Konfliktpotenzial: Der Reiz des Spiels entspringt der Rebellion. 3.1 Kontrollkonflikt: Erzähler vs. Figur Die übrigen Spielverläufe, die auf der Widerständigkeit der Spieler gegenüber den Erzählerkommentaren basieren, verhandeln nun ebenfalls mehr oder weniger explizit ein Kontrollparadigma, nur wird dieses hier jeweils gegen das Dispositiv des Spiels selbst gewendet. The Stanley Parable modelliert das Medium Videospiel durch den Plot und den Erzähler als Einübungs- und Kontrollinstanz. Der Überwachungstopos im vom Erzähler vorgezeichneten Spielverlauf bildet eine selbstreflexive Systemreferenz, insofern damit jene Kontrollcharakteristik des Mediums zeichenhaft repräsentiert wird, die auch die übrigen Spielabläufe verdichtet zum Ausdruck bringen. Im Folgenden werden nun besonders markante Ereignisverläufe und Endsequenzen nachgezeichnet, die diese selbstreflexive Ebene etablieren. Bei dem so genannten “ Appartement Ending ” leitet der Erzähler Stanley nach einem anfänglichen Ignorieren seiner Anweisungen in ein schlichtes Appartement, wo er damit beginnt, die nach eigener Aussage “ wahre ” Geschichte Stanleys zu erzählen: “ This is a very sad story about the death of a man named Stanley ” . Dem folgt die alternativlose Abb. 2: Selbstreflexive Systemreferenz (Quelle: eigener Screenshot) 178 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [178] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Aufforderung, einen bestimmten Knopf auf der Computertastatur zum Weiterkommen zu betätigen, woraufhin der Erzähler fortfährt: “ Look at him, there, pushing buttons, doing exactly what he ’ s told to do. Now, he ’ s pushing a button. Now, he ’ s eating lunch. Now, he ’ s going home. Now, he ’ s coming back to work. ” Hier findet sich folglich eine dreifache Homologie: Die technisch-apparative Grundlage des Spielvorgangs auf Ebene der Mensch- Maschine-Interaktion verhält sich homolog zur computerbasierten Arbeitssituation Stanleys, 12 beide werden zusätzlich mit einem denkbar monoton gehaltenen Alltagsmodell parallelisiert. 13 Diese Homologie basiert auf dem Umstand, dass auch die erzählten Geschichten von The Stanley Parable trotz ihrer multiplen Verlaufsmuster und Endsequenzen auf Iterationen der paradigmatischen Ebene basieren, denn sämtliche Spielverläufe unterscheiden sich nur auf einer Oberflächenebene voneinander. So ist es auf dem Weg zum “ Games Ending ” möglich, sich trotz mehrfachem Zurücksetzen der Szene durch den Erzähler wiederholt für das Durchschreiten einer blauen Tür zu entscheiden, obwohl im Off-Monolog der Weg durch eine ebenfalls im Raum befindliche rote Tür vorgezeichnet wird. Die Belohnung der Spieler für ihre Opposition besteht nun darin, dass sie in ein anderes Spiel versetzt werden: Die auf einer Schiene angebrachte Zeichnung eines Babys bewegt sich kontinuierlich auf ein Feuer zu und ist durch permanente Betätigung eines wiederum roten Schalters vor dem Verbrennen zu bewahren. Während das narrative Setting hier also variiert (und im grafisch reduzierten Babyspiel als artifizielle, lediglich oberflächliche Rahmung einer eindimensionalen Spielstruktur vorgeführt wird), sind die Knöpfe betätigenden Handlungspositionen der Spieler und ihrer Spielfigur letztlich dieselben wie in den beiden übrigen beschriebenen Handlungsverläufen (siehe auch die Iteration der Farbe Rot: roter Schalter vs. rote Tür). Im Anschluss wird diese massive Einschränkung interaktiver Freiheitsgrade als strukturell notwendig herausgestellt, wenn Stanley nach dem Baby-Spiel vom Erzähler in eine Kopie der kommerziell erfolgreichen Independent-Produktion Minecraft (Mojang, 2011) versetzt wird, die über kein festes Spielziel verfügt und in der die Freiheit zur Erkundung und zum Bau von fantasievollen Objekten im Vordergrund steht. Dies sei nun ein Spiel, merkt der Erzähler an, mit dem er rein gar nichts zu tun habe, denn Minecraft zeichnet sich durch eine fast vollständige Abwesenheit von narrativen Elementen aus und wird vom Erzähler deshalb als ungenügende Spielvariante bewertet: “ He [Stanley, MH] needs me, someone who will wrap everything up at the end - to make sense out of the chaos and the fear and the confusion ” . Im Rahmen von The Stanley Parable kann dies auch als allgemeingültige Aussage verstanden werden, denn die grundlegende Frage, die das Spiel implizit stellt - warum Spieler in ihrer Freizeit einer Arbeitssimulationen nachgehen - betrifft insbesondere Produktionen wie Minecraft, deren letztlich eindimensionale dispositive Struktur nicht durch eine narrative Ebene mit ‘ Sinn ’ versehen wird. 12 Augenscheinlich ist dies einer der Gründe dafür, warum The Stanley Parable trotz Kritikerlob und ökonomischem Erfolg bislang ausschließlich auf dem PC erschienen ist - bei der Übertragung auf andere Spielplattformen ginge diese Bedeutungsebene verloren, da sich Spielekonsolen durch eine weit größere Nähe zum Paradigma Freizeit auszeichnen, wohingegen der PC traditionell als Arbeitsgerät wahrgenommen wird, cf. zu diesem Punkt Liebe (2008: 73 - 94). 13 Im “ Museum ending ” heißt es analog: “ When every path you can walk has been created for you long in advance, death becomes meaningless, making life the same. ” “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 179 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [179] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Auch innerhalb der sonstigen Ereignisabfolgen von The Stanley Parable bleibt die hinter dem Geschehen stehende Aussage prinzipiell dieselbe. Indem ein Großteil der Spielsituationen in unterschiedlicher Art und Weise auf das hinter dem Spielvorgang stehende Kontrolldispositiv verweist, stellt The Stanley Parable dessen disziplinierenden Effekt heraus, der sich im interaktiven Spielablauf letztlich nur kaschiert und auf der Spieloberfläche im Wechselspiel zwischen Narrativität und Interaktivität manifestiert. 14 The Stanley Parable inszeniert den tiefenstrukturellen Konflikt zwischen Spielregeln und Interaktionsfreiheit folgerichtig pars pro toto als Kontrollkonflikt zwischen Erzähler und Figur. 3.2 Selbstreflexive Erzählstrategien Diese mediale Selbstthematisierung kann in einem zweiten Schritt in Beziehung gesetzt werden zu dem von The Stanley Parable verhandelten Verhältnis von Avatar und Spieler oder Rolle und Person. Nähere Erkenntnisse dazu ergeben sich bei der Analyse der im Beispiel eingesetzten selbstreferenziellen und selbstreflexiven Erzählstrategien. In der bisherigen Forschung zu Selbstthematisierungen im Videospiel lassen sich auf einer übergeordneten Ebene zwei Varianten diagnostizieren, diese beiden Formen sind jedoch nicht vollständig deckungsgleich mit der konventionellen Unterscheidung zwischen Selbstreferenzialität und Selbstreflexivität und müssen deshalb genauer betrachtet werden. Nach Stefan Gorsolke ist erstens das Untersuchungsmedium Videospiel vornehmlich von selbstreferenziellen Strukturen auf einer systemischen Ebene geprägt (cf. Gorsolke 2009: 265 ff.). Aus dieser Perspektive ist das Videospiel bezüglich seiner referenziellen Struktur weitaus schematischer strukturiert, als nicht-interaktive Medien. Selbstbezügliche Inhalte gehören hier konventionell zur Spielstruktur, könnten aber nicht primär als Teil der Diegese gedacht werden. 15 Die Metaebene des Videospiels zeige sich viel grundsätzlicher: Laut Gorsolke (2009) beinhalten alle Spiele eine meta-narrative Struktur, da den Rezipienten fortlaufend Entscheidungssituationen vermittelt werden. Das hieße, Spieler realisieren auf Basis der gegebenen Möglichkeitsmengen (Paradigmen) ihren individuellen Spieldurchlauf, bleiben sich aber der nicht-realisierten Möglichkeiten bewusst. Insofern unterscheiden sich interaktive von nicht-interaktiven Texten nach Gorsolke (2009) dadurch, dass Spiele ihre Meta-Ebene real und extradiegetisch ausbilden, sie folglich die Nutzer als Autorität zur Paradigmenbildung zulassen und dies nicht intradiegetisch durch die Einführung einer weiteren Erzählebene bewerkstelligen. Zunehmend geraten neben dieser systemischen Form von Selbstreferenzialität jedoch auch explizite Selbstthematisierungen in den Fokus der Forschung. Bernhard Rapp hat 14 Einige Endsequenzen machen aus einer entgegengesetzten Perspektive deutlich, dass sich der Spielablauf umgekehrt auch erst durch die situative Zuweisung von Autonomie an die Spieler entwickelt, cf. mit einem Beispiel hierzu Froschauer (2016: 130). 15 Demnach unterminieren die Spielregeln fremdreferenzielle Bezüge, also Bezüge auf etwas außerhalb des Spiels. Als Beispiel nennt Gorsolke (2009) Fälle, in denen die Funktion einer speziellen Umgebungsarchitektur (bspw. einer Insel) primär darin liegt, spielstrukturelle Grenzen, welche die Bewegungsfreiheit der Nutzer einschränken sollen, semantisch zu kaschieren. Das Umgebungsdesign ist in diesem Fall komplett funktional gehalten, beinhaltet keinen semantischen Mehrwert und verweist ausschließlich auf das Spiel als solches. Gorsolke (2009) geht davon aus, dass sich derartige Selbstreferenzen in den meisten Elementen von Videospielen zeigen, etwa wenn bestimmte narrative Topoi lediglich der Motivation zur Ausführung interaktiver Handlungen dienen. 180 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [180] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL diesbezüglich ein Klassifikationsschema entworfen, das drei Kategorien kennt (cf. Rapp 2008): (i) punktueller Selbstbezug (zum Beispiel in Form von versteckten Easter Eggs), (ii) permanenter Selbstbezug (siehe etwa die kontinuierlichen Selbstthematisierungsakte der Adventures aus dem Hause LucasArts in den 1980er und 1990er-Jahren) und (iii) struktureller Selbstbezug (ein Spiel im Spiel). In den von Rapp gewählten Beispielen bleibt der Selbstbezug jedoch stets situativer Natur und eine von derartigen selbsttreferenziellen Phänomenen vollständig ablösbare Histoire bildet nach wie vor den zentralen Teil des Spielablaufs. Dementsprechend sei Selbstreflexivität im Videospiel - anders als in nichtinteraktiven Medien - weniger als Störung oder Irritation im Spielverlauf zu begreifen, sondern trage vielmehr kohäsionsstiftende und integrierende Funktionen (cf. Rapp 2008: 75) und beinhalte immersionsstiftende Wirkungen (cf. Rapp 2008: 169 - 174). Dass Selbstthematisierungen im Videospiel tatsächlich als Involvierungsstrategien begriffen werden können, lässt sich anhand eines Beispiels aus dem Adventure-Klassiker Day Of the Tentacle (LucasArts, 1993) nachvollziehen. Wenn hier am Ende des Vorspanns eine scheinbar versehentlich ins Bild geratene Kuh die 4. Wand durchbricht, indem sie den Rezipienten zuwinkt (siehe Abbildung 3), wird gezielt die interaktive Spielebene akzentuiert - der Einbezug der Nutzer bewirkt zwar eine Inkohärenz der Narration, macht die Spieler jedoch auf ihre nun folgende aktive Rolle aufmerksam und dient dazu, sie nach einer mehrminütigen, nicht-interaktiven Sequenz für das folgende Spielgeschehen zu aktivieren. Abb. 3: Durchbruch der vierten Wand als Aktivierung der Nutzer in Day Of the Tentacle (Quelle: eigener Screenshot) Eine ideologisch-kritische Ebene findet bei derlei medialen Selbstthematisierungen in der Regel nicht statt. Auch wenn zum Beispiel in der Blockbuster-Produktion Metal Gear Solid 4 (Kojima Productions/ Konami, 2008) eine zeitweilige Adaption des Spielinterfaces an “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 181 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [181] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL vorherige Teile der Reihe vollzogen wird, zielt dies lediglich auf einen nostalgischen Effekt ab (cf. Beil 2012: 95 - 105). Auch hier geht es zu keinem Zeitpunkt um eine Reflexion spieleigener Prozesse. Die Selbstreferenz wirkt in dem Sinne ebenfalls involvierend, als sie das Medienwissen der Spieler bezüglich der bisherigen Serienteile adressiert. Auch Rapp zieht hinsichtlich seiner Beispiele das Fazit: “ Selbstreflexivität [ … ] ist hier selbst zum Spielobjekt geworden, wodurch sie Strategeme offeriert, Sinngehalte zu potenzieren ohne zugleich eine normative Ebene einzuziehen. ” (Rapp 2008: 232) Hinweise auf die “ Grenzen der Interaktions- und Immersionsfähigkeit ” (Rapp 2008: 232) blieben dabei zwangsläufig außen vor. Um diesen Unterschied gegenüber selbstreflexiven Erzählstrategien in nicht-interaktiven Medien deutlich zu machen, sollte in derartigen Fällen allerdings anders als bei Rapp nicht schon von Selbstreflexivität, sondern lediglich von ‘ systematischer Selbstreferenzialität ’ , oder - will man Verwechslungen mit der Ebene der ‘ systemischen Selbstreferenzialität ’ (im Sinne von Gorsolke 2009) vermeiden - von Selbstreflexivität erster Ordnung gesprochen werden, denn diese bildet eine im Untersuchungsmedium normalisierte, nicht systemkritische Variante der intendierten Selbstthematisierung. Demgegenüber konstituiert sich der Spielinhalt von The Stanley Parable fast vollständig auf der Grundlage der oben herausgearbeiteten selbstreflexiven Ebene. Das Spiel führt genau den von Gorsolke (2009) beschriebenen Vorgang der nutzungsseitigen Paradigmenbildung vor, um diesen in der Folge jedoch als vollständig kontingent zu bewerten. Der vermeintliche Autorenstatus der Spieler wird hier mittels eines Rückgriffs auf literarische Erzählverfahren negiert, da kein vollständiger Ausbruch aus dem vom Erzähler gesetzten Rahmen möglich ist. Damit liegt im Fall von The Stanley Parable ein permanentstruktureller selbstreflexiver Akt vor, bei dem systemische Selbstreferenzen des Videospiels auch auf die narrative Ebene überführt und dort thematisch werden. Diese Systemkritik korreliert mit dem Umstand, dass sich die Adressierung durch den Erzähler nicht explizit an die Spieler, sondern zunächst an ihre Spielfigur Stanley richtet. Auf dieser Basis bietet sich eine Möglichkeit zur genaueren Differenzierung der Beispiele: (i) Die winkende Kuh aus Day Of the Tentacle überschreitet im Rahmen eines narrativen Kurzschlusses die Grenze zwischen intradiegetischer Figurenposition und extradiegetischer Spielerposition in der Art einer Selbstreflexivität erster Ordnung. (ii) Die Rahmenüberschreitung in The Stanley Parable dagegen vollzieht sich in erster Linie zwischen extradiegetischer Erzählerposition und intradiegetischer Figurenposition. Da die vom Erzähler kommentierten Aktionen Stanleys jedoch aus den Entscheidungen der Spieler resultieren, funktioniert diese Strategie ebenfalls als indirekte Spieleransprache, die das Verhältnis zwischen Figurenposition und Spielerposition als spiegelbildlich-zeichenhaft konstruiert. 16 An dieser Stelle zeigt sich ex negativo, dass selbstreflexive Strategien im 16 Diese Erzählstrategie wirkt oberflächlich betrachtet wie eine Störung des Spielablaufs, ist jedoch gleichzeitig als funktional für selbigen zu verstehen, insofern damit eine systemkritische Ebene integriert wird, ohne die Interaktion vollständig zum Erliegen zu bringen. Einerseits akzentuiert die Adressierung Stanleys lediglich die intradiegetische Widerständigkeit der Figur, gegenüber der die Spieler auf technisch-apparativer Ebene zwangsläufig in der Ausgangssituation des Protagonisten verbleiben ( “ Orders came to him through a monitor on his desk, telling him what buttons to push, how long to push them and in what order. ” ). Andererseits ist diese Konstellation dafür verantwortlich, dass man als Spieler die eigentlich unerträglichen Maßregelungen 182 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [182] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Videospiel im Normallfall genau deswegen involvierend wirken, da mit der Adressierung der Rezipienten ihre Subjektposition als extradiegetisch-autonom modelliert wird: Die winkende Kuh im Beispiel Day Of the Tentacle verweist auf ein dem Videospielbild nicht inhärentes Außen, als dessen reale Referenten die Spieler fungieren und denen damit eine Position als handlungsmächtiges, den intradiegetischen Zeichenprozessen enthobenes Autor-Subjekt zugewiesen wird (siehe Abbildung 4). Abb. 4: Subjektmodellierung im Videospiel (Quelle: eigene Darstellung) Nicht so jedoch bei den sich in The Stanley Parable vollziehenden selbstreflexiven Strategien zweiter Ordnung. Hier entspricht die Relation von Spielern und Spielfigur einem Signifikat-/ Signifikanten-Verhältnis: Die Spielfigur Stanley fungiert als Signifikant eines Vorstellungsbildes der Spieler, nach dem diese als obligatorische Teile und Objekte des Dispositivs Videospiel gedacht werden, wodurch die Grenze zwischen den Rezipienten und ihrer Spielfigur partiell dissoziiert (siehe Abbildung 5). Abb. 5: Subjektmodellierung in The Stanley Parable (Quelle: eigene Darstellung) durch den Erzähler überhaupt goutieren kann, da sie an die Ebene des Avatars gebunden bleiben. Da dieser nicht frei gewählt oder selbst zusammengestellt ist, gibt es eine genuine Differenz zu den Spielern. Was Stanley betrifft, muss damit nicht immer in gleicher Weise die Nutzer tangieren, auch wenn das Verhältnis als spiegelbildlich inszeniert wird. “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 183 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [183] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 4 Fazit Insgesamt kann der Independent-Bereich als komplementäres Korrektiv des Massenmarktes interpretiert werden. Das Beispiel The Stanley Parable beinhaltet eine an avantgardistische Strategien anschließende Re-Semantisierung des Mediums unter Einbezug seiner grundlegenden strukturellen Konflikte: Das Spiel führt vor, dass die Ermächtigungsszenarien des Videospiels die systemische Kontrolle der Spieler bedingen. The Stanley Parable lässt sich dabei auch als Ausrufung einer medialen Systemkrise lesen, denn das Spiel akzentuiert die selbstreferenziellen Bezüge des Videospiels und fragt dabei unter anderem nach der kulturellen Ausdrucksfähigkeit des Mediums. Allerdings ist das Spiel auch ein Symptom der entsprechenden Krise, da es in Form des Erzählers auf eine literarische Konstellation referiert. Zwar wird diese hier als Extremform narrativ erzeugter Nutzungsheteronomie in Szene gesetzt, gleichzeitig scheinen sich medienimmanent allerdings auch noch keine vergleichbaren Ausdrucksmöglichkeiten der Selbstbezüglichkeit und daraus resultierender Krisenartikulation gefunden zu haben. Die von Gorsolke (2009) herausgestellten Einschränkungen von selbstreflexiven Akten zweiter Ordnung im Videospiel werden hier umgangen, indem sich The Stanley Parable die systemkritische Selbstreflexivität über eine intermediale Bezugnahme selbst einschreibt und dabei konventionelle Spielmechanismen suspendiert (und sich damit gewissermaßen auch als Nicht- Spiel positioniert). Dies kann einerseits zwar als Nobilitierungsstrategie des Independent- Marktes verstanden werden, die andererseits allerdings deutlich macht, dass die dispositive Struktur des Videospiels kaum eine unabhängige Außenposition anbietet, denn die Kritik entfaltet sich in Form einer Überakzentuierung medialer Bedingtheiten, und nicht im Rahmen ihrer Überwindung. Selbst diese Überakzentuierung hat jedoch bereits zur Folge, dass es nur begrenzt möglich ist, The Stanley Parable im herkömmlichen Sinn zu spielen, nicht umsonst dauert ein Durchgang in der Regel lediglich 20 Minuten und endet, bevor die Erfahrung von Heteronomie in tatsächliche Frustration umschlagen kann. Dies unterstreicht die notwendige Singularität derartiger Inszenierungsstrategien im Spielemarkt. Bibliographie Beil, Benjamin 2012: Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels, Bielefeld: transcript Benjamin Beil et al. (eds.) 2015: New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres - Künste - Diskurse, Bielefeld: transcript Distelmeyer, Jan et al. (eds.) 2008: Game over? ! Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript Eco, Umberto 1984: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt: Fischer Verlag Freyermuth, Gundolf S. 2015: “ Der Weg in die Alterität. Skizze einer historischen Theorie digitaler Spiele ” , in: Benjamin Beil et al. (eds.) 2015: 303 - 355 Froschauer, Adrian 2016: “ Der Kampf um die Erzählhoheit. Voice-over-Narration im Computerspiel ” , in: Hennig & Krah (eds.) 2016: 117 - 136. Gorsolke, Stefan 2009: Interaktivität in narrativen Medien. Das Spiel von Selbst- und Fremdreferenz, Marburg: Tectum 184 Martin Hennig (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [184] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Gräf, Dennis et al. 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Hennig, Martin & Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen: Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Hennig, Martin 2017: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels, Marburg: Schüren Kusenberg, Peter 2014: “ Ernsthafte Spielerei ” , in: konkret 08 (2014): 44 - 46 Liebe, Michael 2008: “ Die Dispositive des Computerspiels ” , in: Distelmeyer, Jan et al. (eds.) 2008: 73 - 94 Nohr, Rolf F. 2015: “ Game Studies und Kritische Diskursanalyse ” , in: Sachs-Hombach & Thon (eds.) 2015: 373 - 397 O.V. 2014: “ Indie Games. Jäger der verlorenen Kreativität ” , in: M! Games 251 (2014): 34 - 39 Pacher, Jörg 2007: Game. Play. Story? Computerspiele zwischen Simulationsraum und Transmedialität, Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch Rapp, Bernhard 2008: Selbstreflexivität im Computerspiel. Theoretische, analytische und funktionale Zugänge zum Phänomen autothematischer Strategien in Games, Boizenburg: Verlag Werner Hülsbusch Sachs-Hombach, Klaus & Jan-Noël Thon (eds.) 2015: Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, Köln: Herbert von Halem Stobbe, Martin & Tristan Weigang 2016: “ Relativ ‘ Indie ’ . Skizzen zu einer Kultursoziologie des Computerspiels ” , in: Hennig & Krah (eds.) 2016: 94 - 116 Internetquellen 4Players (ed.) 2013: Test: Papers, Please, im Internet unter http: / / www.4players.de/ 4players.php/ dispbericht/ Allgemein/ Test/ 34692/ 79883/ 1/ Papers_Please.html [11. 03. 2016] GameStar (ed.) 2013: Test: Gone Home, im Internet unter http: / / www.gamestar.de/ spiele/ gone-home/ test/ gone_home,48244,3027548,2.html [11. 03. 2016] Pias, Claus 2002: Computer. Spiel. Welten, Weimar: Univ. Diss, im Internet unter http: / / e-pub.uniweimar.de/ opus4/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 35 [11. 03. 2016] Wikipedia (ed.) o. J.: Independent, im Internet unter http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Independent [11. 03. 2016] “ Please, stop trying to make every decision by yourself ! ” 185 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [185] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Strategische Selbstreferenz ‘ Deutschland ’ in deutscher Werbekommunikation Hans Krah (Passau) The contribution deals with German commercials. All of them refer explicitly to Germany using the term “ Deutschland ” . Such a self-reference is unusual and striking. The production of those commercials signifies a change not only in forms of how to promote goods and services but also in the way of thinking. Such new cultural attitudes can be seen in commercials which were produced in 2012/ 13 - the first focus of the following analysis is on them. Its second focus is on a campaign from 2005/ 06, titled “ Du bist Deutschland ” , which was financed by leading enterprises of German media industries. 1 Deutschland im Werbekontext Mit Deutschland in deutscher Fernsehwerbung zu werben oder gar dieses als diese Größe selbst zu installieren ist keine Werbestrategie, die als gängig oder konventionalisiert gelten kann. Zumindest bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt ihr der Status des Verpönten zu. Nur unter spezifischen Vorgaben oder zeitlich-situativ begrenzten Ausnahmen (etwa einer Fußballweltmeisterschaft) ist sie realisiert: Als überzeichnetes Stereotyp oder prominent überlagert (wie insbesondere durch die Männerfußballnationalmannschaft) und insbesondere innerhalb einer Strategie des Humors verortet, konnte ein Bezug zu Deutschland und Nationalem ( ‘ augenzwinkernd ’ ) etabliert sein. So bedarf es auch bei dem als Ausnahmebeispiel gelten könnenden (und deshalb in seinem Sonderstatus so auffälligen) Trigema- Spot, der das deutsche Fernsehen Jahrzehnte lang begleitet (hat), 1 der Zusatzstrategie der Humorisierung auf der Rahmenebene - ein sprechender Affe mit Sonnenbrille fungiert als Presenter - , um spezifische, ungewünschte Implikationen durch die Binnenebene (der Firmenchef gibt explizit und persönlich die Garantie, dass Trigema nur in Deutschland produziert) zu kaschieren oder hoffähig zu machen. Dieser Sachverhalt bedingt sich dadurch, dass Werbung, wie jede andere Kommunikation auch, nicht im luftleeren Raum von statten geht und nicht ohne kulturellen Hintergrund funktioniert. Fasst man Werbung als begrenzten Diskurs auf, 2 der, kurz resümiert, 1 Trigema wirbt mit diesem Spot seit Anfang der 1990er Jahre; er wird bis zu viermal im Monat vor der Tagesschau geschaltet (cf. Homepage von www.wir-familienunternehmer.eu, Archiv 13. 4. 2011). 2 Cf. hierzu Gräf & Krah 2013. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [186] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL strategisch nur diejenigen Zeichen wählt und kombiniert, die seiner appellativen Ausrichtung, etwas verkaufen zu wollen, nützen (und andere eben ausblendet), und sich dazu desjenigen Zeichenarsenals bedient, von dem ausgegangen werden kann, dass es diesem Zweck zumindest nicht hinderlich ist, dann ist Werbung immer auch Indikator für Gegebenheiten und Selbstverständlichkeiten einer Kultur. In diesem Zusammenhang ist “ Deutschland ” als dieses Wort bereits mehr als nur ein Wort, und zwar nicht nur und nicht erst innerhalb der Textualität des Werbespots, sondern bereits aufgrund seiner Konnotationen und damit seiner spezifischen Kulturalität. 3 Sein Gebrauch ist nicht unabhängig von seiner Situierung im kulturellen Diskurs. Dieser ist semantisch besetzt und historisch bedingt tabuisiert. Das Argumentieren mit Deutschland ist aus dem öffentlichen Mainstream ausgegrenzt oder nur in spezifischen Nischen zu finden. Werbung mit einer Größe Deutschland, als Gegenstand wie Argumentation, war Terrain rechtsradikaler Parteien, 4 wodurch der Begriff nicht nur mit einer spezifischen Semantik aufgeladen wurde, sondern auch konnotativ mit ‘ rechts ’ besetzt ist. Innerhalb dieses Spezialdiskurses war er prominent zu finden, wenn er aus einem solchen heraus in das mediale Allgemeinwissen übergreifen sollte, wurde dies als Skandalon gewertet. 5 Im Folgenden sollen Beispiele aus deutscher Werbekommunikation aus zwei zeitlichen Schnitten, 2005/ 06 und 2012/ 13, die also selbst bereits in gewisser Weise historisch sind, vorgestellt werden, für die sich hinsichtlich dieser skizzierten Ausgangslage eine veränderte Mentalität aufzeigen lässt. Es geht dabei weniger um einen Verweis auf Deutschland, wie er über konventionelle Zeichen, etwa die Nationalfarben, installiert wird, sondern um den sich um das Sprachzeichen “ Deutschland ” erst sekundär textuell organisierenden Redegegenstand Deutschland und dessen kommunikativ-argumentative Zeichenhaftigkeit. Die beiden Schnitte sind dabei nicht nur zeitliche, sie weisen zudem einen Unterschied in der Art der Werbeform auf: Zum einen handelt es sich um (die klassische) kommerzielle Werbung, zum anderen und bereits zuvor findet sich Werbung für Deutschland selbst, wobei diese allerdings ebenfalls privatwirtschaftlich finanziert wurde. Zunächst sei der spätere Schnitt (als von der Werbeform her die Normalform repräsentierend und weniger spezifisch) ausgeführt. 2 Mit Deutschland werben 2012/ 2013 Ende 2012, Anfang 2013 finden sich Werbespots, die relativ zeitgleich geschaltet werden und eine gewisse Veränderung der Werbelandschaft indizieren. Die vorgeführten Spots, so die These, lassen sich in ihren ihnen zugrundeliegenden Paradigmen seismografisch lesen und stehen für einen veränderten Umgang mit einer Denkeinheit Deutschland, der hier um 3 Cf. zu diesen Begrifflichkeiten und Konzepten Krah (2017 a: 35 - 38). 4 Siehe zu einem DVU-Wahlwerbespot für die Landtagswahlen 1992 in Schleswig-Holstein Krah 2013; Deutschland erscheint dort im Übrigen eher als passive Größe, die es zu schützen gilt, als als aktiv handelnde, wie in den hier skizzierten Semantisierungen. Wahlwerbung von Parteien aus dem demokratischen Spektrum inszeniert eine solche Bezugnahme (bisher) deutlich dezenter; Deutschland erscheint hier als gesellschaftspolitischer Raum, innerhalb dessen man sich verortet ohne diesen mit zusätzlichem textuellen Mehrwert aufzuladen. 5 Cf. etwa Thilo Sarrazin und die Diskussion um sein Buch Deutschland schafft sich ab von 2010. Strategische Selbstreferenz 187 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [187] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL 2012 fassbar wird. Dass diese Spots symptomatisch sind und ihnen eine Art Vorreiterfunktion zukommt, liegt insbesondere auch daran, dass es sich bei den Werbetreibenden um prominente und seriöse Akteure handelt, die selbst mit der deutschen Wirtschaft assoziiert werden und als deren Repräsentanten gelten können: Siemens, Commerzbank und Audi. 2.1 Selbstreferenz Deutschland In dem 18-sekündigen Siemens-Werbespot Deutschland geht neue Wege (2012) ist die Anwendung moderner Technologien in technisierten Innenräumen zu sehen. 6 Gerahmt werden diese Bilder von einem Natureinstieg - visualisiert ist eine grüne, baumbestandene, hügelige Landschaft, durch Kamerafahrt wird der Blick freigegeben auf eine im Grünen liegende Gebäudeanlage - und einer Einstellung, die eine Brücke mit modern anmutender Konstruktion frontal von vorne über eine nicht näher identifizierbare Weite zeigt. Diese Bilder sind auditiv mit folgendem Text unterlegt, der von einer sonoren Männerstimme gesprochen wird und den Spot von Anfang bis Ende durchzieht, wobei die in Großbuchstaben wiedergegebenen Teile zugleich als Schrift visualisiert sind: Die deutsche Industrie stärkt ihre globale Wettbewerbsfähigkeit und schafft mit intelligenten Produktionsprozessen und IT-gestütztem Service mehr Nähe zum Kunden. DEUTSCHLAND GEHT NEUE WEGE, denn die Welt von morgen braucht unsere Antworten schon heute. SIEMENS Im einminütigen Audi-Spot Deutschland. Land des quattro (2013) werden winterliche Impressionen in Szene gesetzt. 7 Gezeigt werden in ständiger Alternation unterschiedliche Landschaftsaufnahmen - vom Hochgebirge bis zum Meer ist ein breites Spektrum an Landschaftsformationen vertreten - , wobei der Fokus auf Aufnahmen von Wildtieren gelegt ist, auf deutsche Großstädte, die durch ihre Sehenswürdigkeiten repräsentiert werden und dadurch identifizierbar sind, und auf einen fahrenden Audi quattro, wobei das konkrete Modell wechselt, aber immer nur ein einzigerAudi unterwegs ist und kein anderes Fahrzeug zu sehen ist. Zudem ist kein Fahrer zu erkennen; auch ansonsten sind im Spot nur sehr wenige Menschen visualisiert. Durch die städtischen Wahrzeichen und durch zwei Kennzeichen von Regionen lassen sich die Bilder dem geografischen Raum Deutschland zuordnen. Zu erkennen sind der Leuchtturm von Westerhever, der Berliner Fernsehturm, der Reichstag, die Landungsbrücken in Hamburg, das Brandenburger Tor, die Siegessäule, der Hammering Man am Messeturm in Frankfurt/ Main, die Münchner Bavaria, der Friedensengel, das Olympiagelände, die Basteibrücke im Elbsandsteingebirge. Dabei suggerieren diese Deutschland- 6 Der hier zugrundeliegende Spot wurde ab 15. 10. 2012 gemeinsam mit zwei weiteren Spots als Teil einer Kampagne geschaltet; die beiden anderen Spots konzentrieren sich unter dem gleichen Slogan auf Berlin und München, die als identifizierbare Städte funktionalisiert sind. Drehort des vorliegenden Spots soll zwar München und Umgebung sein, dies spielt aber für die Semantik des Spots keine Rolle. 7 Zuerst geschaltet am 14. 1. 2013. Der Spot kann im Rahmen der internationalen Kampagne “ Land of quattro ” gesehen werden, bei der neben Deutschland bereits auch Russland und Kanada diese Zuschreibung erhalten haben. Da diese Zuschreibungen aber deutlich national funktionieren, vergleiche die folgende Spotbeschreibung, kann dieser Kontext für die hier relevante Argumentation außer Acht gelassen werden. 188 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [188] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL bilder einen quasi dokumentarischen Blick auf eine wilde, unberührte, ursprüngliche - schutz- und bewahrenswürdige - Natur statt eines modernen, großstädtischen, kulturell geprägten Raums. Auch die Stadtbilder integrieren sich in ihrer Spezifik in dieses Paradigma und ordnen sich ihm unter, wie auch der Audi, der durch seine Singularität auf den verschneiten Landstraßen den Status der Wildtiere erhält und mit diesen analogisiert wird. Obwohl der Spot in 72 Einstellungen mit jeweils wechselnden Motiven viele und unterschiedliche visuelle Informationen liefert und eine Vielzahl von Schauplätzen anzitiert, 8 wirkt er nicht hektisch oder kaleidoskopisch-heterogen. Diese Semantik einer vermittelten Ruhe und Einheit liegt neben der Musik, die einen gleichmäßigen Rhythmus vorgibt und genau an der Stelle etwas bewegter wird, sozusagen einen Gang hochschaltet, an der das erste Mal ein Audi visualisiert ist, und dem inhaltlichen Rahmen, der durch die winterlich verschneite Optik gegeben ist, insbesondere daran, dass die Einstellungen durch Überblendungen verbunden werden. Dadurch erscheint der jeweilige Wechsel nicht als abrupt; impliziert ist stattdessen ein Ineinander-Übergehen: Unterschiede sind nivelliert, dargestellt ist eine gemeinsame und einzige, einheitliche Welt. Deutlich wird diese Äquivalentsetzung bei der Darstellung der Städte, wenn etwa die Hamburger Landungsbrücken zwischen dem Reichstag und dem Brandenburger Tor montiert sind oder wenn der Friedensengel wenig unterscheidbar die zuvor gezeigte Siegessäule kopiert (und dazwischen das einzige Bild von Frankfurt am Main liegt). Diese Bilder sind mit einem männlichen Voice-Over-Sprecher kombiniert, der von Beginn des Spots bis zum Ende ein Du adressiert, wobei dieses adressierte Du erst am Ende des Spots identifiziert wird: Du bist wild, stürmisch, sanft, voller Kraft. Du weckst meine Leidenschaft. Dein Erfindergeist steht niemals still. Du forderst mich heraus. Bei Dir bin ich zuhaus ’ . Deine Legenden; Deine Schönheit, sie berührt, verzaubert mich. Ich entdecke Dich Immer wieder neu DEUTSCHLAND. LAND DES QUATTRO (Deutschland. Land des quattro, D 2013) Der 1: 05 Minuten lange Commerzbank-Spot von 2012, Erster Schritt, zeigt eine junge Frau, die bei Morgengrauen durch Frankfurt/ Main joggt. 9 Durch die Kameraperspektiven und die 8 Bis Sekunde 53, dann folgen vier Einstellungen zu Produktinformationen mit den üblichen, Spotunabhängigen Slogans von Audi. 9 Seit 2013 werden Varianten des Spots geschaltet; bei den kürzeren Fassungen mit geändertem Text und leicht anderen Szenarien bleibt der Satz “ Braucht Deutschland [ … ] ” jeweils prominent enthalten. Strategische Selbstreferenz 189 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [189] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Einstellungsgrößen, die einerseits immer wieder durch Totalen einen Überblick vermitteln und andererseits Details auswählen, die nicht unmittelbar etwas mit der Joggerin zu tun haben, und durch den Sachverhalt, dass das gesamte Stadtgebiet durchlaufen zu werden scheint, wird die Stadt als solche, als Stadtraum, 10 fokussiert; die Stadt erwacht. Zudem indizieren Geschwindigkeit, (Aus-)Dauer und auch die konkreten Örtlichkeiten der Laufaktion (sie findet auf den Straßen, nicht in Parks oder Grünanlagen statt), dass es sich weniger um ein normales Fitnessprogramm handelt, sondern vielmehr um ein professionelles Training. Dieses findet seinen Abschluss dann zielgerichtet am Arbeitsplatz der Frau. Die vorberufliche, private Tätigkeit geht nahtlos in die berufliche über, insofern das Ziel der morgendliche Arbeitsbeginn in der Commerzbank ist, als deren Mitarbeiterin und gleichzeitig Leistungssportlerin die Protagonistin schlussendlich durch Inserts identifiziert wird. “ Lena Kruske ” , “ Filialdirektorin ” , “ Langstreckenläuferin ” blickt am Ende, den Jogginganzug durch entsprechende Berufskleidung getauscht habend, von ihrem Büro in den oberen Etagen eines der Hochhäuser über die Stadt. Auditiv wird dieses Geschehen von Beginn bis zum Ende durchgängig von einer Frauenstimme begleitet, die als diejenige der visualisierten Person und damit die sprachliche Ebene als deren Gedanken zu verstehen ist: Woran liegt es, dass man den Banken nicht mehr vertraut? Manche Banken sagen, das liegt an den Krisen; andere, an den Börsen. Wir haben etwas getan, was für uns bisher vielleicht nicht typisch war; wir haben die Gründe bei uns gesucht und uns gefragt: Braucht Deutschland noch eine Bank, die einfach so weitermacht? Oder brauchen wir eine Bank, die endlich Schluss macht mit neuen Spekulationen auf Grundnahrungsmittel; eine Bank, die erneuerbare Energien für die Zukunft finanziert; eine Bank, die auch kleinen und mittleren Unternehmen Kredite gibt; eine Bank, die ihre Berater nicht belohnt, wenn sie möglichst viele Verträge verkaufen, sondern erst dann, wenn ihre Kunden zufrieden sind. Vor uns liegt ein langer Weg; aber auch der beginnt mit dem ersten Schritt. Commerzbank, die Bank an Ihrer Seite. (Erster Schritt , D 2012) Die drei Spots weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Gemeinsam ist ihnen nicht nur, dass alle, relativ prominent, das Wort “ Deutschland ” verwenden, auch Humor ist in allen drei Spots dezidiert nicht gegeben. Deutschland fungiert zudem als Paradigma und wirkt integrativ, was gerade im Vergleich mit anderen Werbungen eine durchaus auffällige Werbestrategie ist. Die sich daraus ergebende Homogenisierung ist für Werbung untypisch, da es hier üblicherweise um Distinktion geht. 11 Im Siemens-Spot ist diese Ausnahme deutlich zu erkennen. 12 Hier wird auf die “ deutsche Industrie ” als positiv bewertetes Agens 10 Auffällig ist dabei, dass hierbei keine Bilder der Börse oder der EZB gewählt sind, aber auch keine der Paulskirche. 11 Zur Einführung in Werbeanalyse aus semiotischer Sicht siehe generell Gräf & Krah 2013 und Krah (2017 b: 322 - 324), zur Analyse audiovisueller Formate im Allgemeinen Gräf et al. 2017. Paradigmenbildung ist zwar an sich ein Verfahren, das in Werbespots zu finden ist, zumeist aber nur, um eine gegnerische Position zu konturieren, von der sich das Produkt dann singulär abgrenzen kann. Auch im Kontext des Aufbaus von harmonischen Wertewelten, denen dann das Produkt singulär zugeordnet wird, ist sie zu finden. Das Aufgehen in einem Paradigma ist dagegen selten zu verzeichnen, während sich die gegenläufige Strategie, sich aus einem Paradigma, dem man eigentlich angehört, auszugrenzen, häufiger zu finden ist. 12 Auch im Commerzbank-Spot wird die verhandelte Problematik um das Image der Banken in diesen deutschen Kontext integriert. Im Audi-Spot wird auf der Oberflächenebene sogar vorrangig für Deutschland selbst geworben. 190 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [190] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL rekurriert, Siemens integriert sich in dieses Paradigma und baut gerade keine Differenz dazu auf. Auch wenn keine unmittelbare Konkurrenz davon profitiert, so ist dies bemerkenswert, denn die Schaltung einer privatwirtschaftlichen Imagekampagne hat selten den Zweck, ganz allgemein auch anderen (Konkurrenz-)Unternehmen zu dienen. Welche Semantisierungen werden in den Spots durch den Rekurs auf Deutschland installiert? Unterschieden sind die drei Spots zunächst in ihrem Umgang mit dieser Größe durch die jeweils inszenierte Kommunikationsform ihr gegenüber: (i) Im Audi-Spot wird mit Deutschland gesprochen, (ii) im Commerzbank-Spot für Deutschland, (iii) im Siemens- Spot als Deutschland. Bereits anhand dieses Unterschieds ist aber auch zu sehen, dass die Größe Deutschland in den Spots immer mehr als nur eine geographische oder politische Größe ist, die rein referenziell auf die Realität außerhalb des Spots verweist; sie ist imagologisch semantisiert und wird spezifisch rhetorisch-argumentativ eingesetzt. 13 Ist im Audi-Spot zwar explizit von Deutschland als einem Land die Rede, so gehen bereits die dem Land zugesprochenen Merkmale über eine reine Semantisierung eines Raumes hinaus. Durch die direkte Adressierung und Ansprache als Du werden dem Land Merkmale zugesprochen, die ein topografischer Raum nicht haben kann: Kommunikationspartner zu sein, mit Deutschland zu sprechen, impliziert zum einen eine Personalisierung, zum anderen eine Autonomie gegenüber dem Ich. Das Land wird als eine selbstständige, vom Ich unabhängige Größe gesetzt, die aber für das Ich durch dessen Betrachtung von außen einen für das Ich und seine Personkonzeption fast essenziellen Status erhält. Lassen sich dabei “ wild ” , “ stürmisch ” und “ Schönheit ” noch als Beschreibungskategorien eines Landes begreifen, so sind “ sanft ” und “ voller Kraft ” rein metaphorische Qualitäten, die das Land einem Lebewesen annähern; “ Erfindergeist ” und “ Legenden ” verweisen dann auf dezidiert menschliche, und zwar kulturelle, Aktivitäten und eine historische Dimension. An der Stelle des Spots, an der diese Begriffe zu hören sind, ist Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer einmontiert, ein Bild, das einerseits als Abbildung von erhabener Natur und Naturbetrachtung das spiegelt, was der Spot im Ganzen etabliert, dies andererseits aber auch an ein Beispiel deutscher (romantischer) Kunst bindet. Dies ist nicht als Bruch des ansonsten inszenierten Naturbildes zu verstehen, sondern geht, wie die Städte auch, in dem auf, was als Vorstellung insgesamt vermittelt werden soll, nämlich das alles unter ‘ deutsche Natur ’ subsumiert werden kann. Oder anders ausgedrückt: Alles Deutsche ist Natur. Neben der Zuweisung von Merkmalen bzw. durch diese wird diesem Du die Fähigkeit zur emotionalen Affizierung des Ich zugesprochen; das Du fungiert als Katalysator und Ansporn für intensive Gefühle und neue Beanspruchungen des Ich, die positiv konnotiert sind, da das Ich damit seine Individualität unter Beweis stellen kann. Das Du ist der richtige Nährboden hierzu, da es den Tatendrang des Ich genau dadurch forciert, dass es dem Ich nicht vollständig bekannt und eingeschrieben ist. Das Verhältnis zwischen Du und Ich, und damit zwischen dem Land und demjenigen, der dieses Statement über das Land, das er als zuhause klassifiziert, äußert, wird als Oszillation zwischen vertraut und fremd gesetzt bzw. über diese Kategorien beschrieben, wobei die Formulierung “ Bei Dir bin ich zuhaus ’” (und nicht etwa: Hier bin ich zuhause) diese Dissoziierung verstärkt und gleichzeitig den Aspekt 13 Siehe zu Imagologie einführend Nies 2017 und allgemein im Kontext Krah 2017 c. Strategische Selbstreferenz 191 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [191] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL eines Selbstgewählten, einer bewussten und freiwilligen Wahl der Heimat implementiert. Der eigene Blick wird als fremder gesetzt. Dadurch wird zum einen das Vertraute interessant gemacht. Dies dient zum anderen der Inszenierung eines Darüberstehens, einer Metaebene der Reflexion, zu der das Ich trotz Involvierung immer noch als Kommunikationsform fähig ist, und die zum Dritten zugleich auch die Inhalte des Statements und damit die evozierte Affizierung als ‘ rational begründete ’ und sprachlich kommunizierbare objektiviert und nobilitiert. Auch für die beiden anderen Spots gilt, dass Deutschland als evaluative, affektive und emotionale Größe, und damit als ideologische, gesetzt wird. Im Commerzbank-Spot insofern, als hier für Deutschland gesprochen wird, sich eine Instanz also als dafür verantwortlich fühlt und sich Gedanken um das Wohl Deutschlands macht ( “ Braucht Deutschland [ … ] ” ). Dies ist nur dann notwendig, so ist impliziert, wenn diese Größe eine ist, der eine prinzipielle Werthaftigkeit zugesprochen wird. Der Aspekt der aktiven, personalisierten Größe ist im Siemens-Spot noch deutlicher: “ Deutschland geht neue Wege ” - die daraus ableitbaren Merkmale wie ‘ innovativ ’ , ‘ kreativ ’ , ‘ tatkräftig ’ und ‘ vorausschauend ’ zu sein entsprechen einer Paradigmenvermittlung, präsupponieren eine Vorbildrolle, mit der sich die Sprechinstanz dann selbst (als Deutschland) identifiziert, und gehen zudem mit einer ‘ altruistischen ’ Verantwortung für nicht weniger als die gesamte Welt einher. Auch wenn es nicht genuin um den Raum geht, so ist zu konstatieren, dass der Raumaspekt dennoch fokussiert und forciert wird und als Träger der vermittelten Ideologie dient. 14 Der Audi-Spot macht dies explizit, wenn erst über die Ideologisierung des Raumes die Produktanbindung ( “ Land des quattro ” ) installiert wird und wenn dieses Produkt sich diese Ideologie eben nur über die Befahrung des Raumes aneignen kann. Diese Raumaneignung wird analog im Commerzbank-Spot mit dem Durchlaufen des Raumes Frankfurt in Szene gesetzt. Auch wenn es hier räumlich konkret nur um Frankfurt/ Main geht, wird dieser Raum über die textuelle Dimension mit Deutschland verbunden und vermag als Bankenzentrum und deutsche Finanzmetropole Deutschland mise-en-abyme zu repräsentieren. Zusätzlich verbildlicht am Ende des Spots die visuelle Raumaneignung mit dem Blick von oben über den Gesamtraum das Ergebnis nochmals: In der Betrachtung von oben dokumentieren sich die Sorge und Sorgfaltspflicht und der Überblick über das (scheinbar) Anvertraute wie sie auch den Machtanspruch über das ihr zu Füßen liegende demonstriert. 15 Auch im Siemens-Spot wird eine solche dynamische Komponente durch die Brücke als Topos symbolisiert und zudem die Produktionsstätte in den (Natur-)Raum als das bindende und klammernde Element integriert. 14 Zur Relevanz von Räumen generell als Raumzeichen cf. Kanzog (2007: 153 - 173). 15 Zitiert wird hier der Topos des Auge Gottes, siehe hierzu Hennig & Krah 2019 b. Wenn es hier eine Frau ist, der dieser Blick zugesprochen wird, und der ja auch auditiv der Text zugeordnet ist, dann stellt dies durchaus auf der Genderebene eine Ausnahme dar, da ansonsten solche Statements und (Macht-)Symboliken in Werbung eher mit Männern korreliert sind, wie die anderen Beispiele illustrieren. Plausibilisieren lässt sich diese Ausnahme mit dem Kontext Bankenkrise: Für die Vermittlung von Problemen bezüglich des eigenen Selbstverständnisses sind dann Frauen zuständig. Generell ist dieses zeichenhafte Raum-in-Besitznehmen eine gängige und nicht unbedingt neue (und genuin deutsche) ideologische Strategie, wie exzessiv in Rocky IV (USA 1985, Sylvester Stallone) zu sehen ist. Zu sehen auch in dem argentinischen Spot zur WM in London 2012, bei dem auf diese Weise (dann doch noch) die Falklandinseln ‘ okkupiert ’ werden. 192 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [192] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Die Textanteile zeigen in ihrer konkreten grammatikalischen Ausprägung nun zudem, dass für Deutschland zu sprechen und als Deutschland zu sprechen ineinander überzugehen vermag. Dies geschieht durch einen Wechsel der Sprechperspektive und des semantischen Bezugs der jeweiligen Deixis, so dass diese weniger der Orientierung dient als als subtiles Mittel einer persuasiven Lenkung fungiert. So ist im Commerzbank-Spot zunächst distanziert von den Banken im Allgemeinen die Rede, von einem unbestimmten “ man ” und damit dem unspezifizierten Normalfall. Von den zitierten Äußerungen der Banken grenzt sich dann ein “ wir ” ab, das als Commerzbank zu identifizieren ist. Auf den referierten Gedanken “ Braucht Deutschland ” folgt dann aber nicht als Anapher ‘ es ’ (für Deutschland), sondern “ wir ” . Innerhalb des Satzes impliziert dies einen Wechsel der Perspektive, insofern vom eigentlich Eigenen (Deutschland) zunächst distanziert als etwas anderen gesprochen wird und diese Sicht dann zugunsten der Integration der Sprechinstanz aufgegeben wird; das Wir ist kohärent als ‘ wir Deutsche ’ zu verstehen. Das Wir ist damit aber nicht das Wir, das zuvor als Pronomen eingeführt wurde, da es dort auf einen anderen Personenkreis referierte. Durch diese Oberflächentextstruktur wird also eine Identifizierung der Commerzbank mit allen Deutschen ermöglicht und die Commerzbank kann, ohne dass dies explizit proklamiert wäre, als Sprachrohr ‘ von uns allen ’ verstanden werden und dieses ‘ Selbst Deutschland sein ’ für sich in Anspruch nehmen. Im weiteren Verlauf des Statements wird wieder von “ uns ” gesprochen, wobei sich dieses Uns dann auf beide Referentialisierungen gleichermaßen beziehen kann: Vor uns Deutschen liegt ein langer Weg (bis alle Banken das machen, was die Commerzbank als erster Schritt bereits vorgemacht hat), oder: Vor uns, der Commerzbank, liegt ein langer Weg (den wir mit einem ersten Schritt begonnen haben). “ Die Bank an Ihrer Seite ” löst diese Kumpanei dann wieder, zumindest das Sich gemein machen mit allen - schließlich geht es um die Exzeptionalität der Commerzbank gegenüber anderen Banken wie die Inszenierung einer Exzeptionalität des potentiellen Kunden, der nun explizit adressiert wird. 2.2 Strategische Referenz und implizierte Ideologie Wie zu konstatieren war, wird Deutschland kommunikativ als eigenständige, von dem die Kommunikation initiierenden Subjekt dissoziierte und unabhängige Größe gesetzt. Wenn im Siemens-Spot Deutschland eigene Wege gehen kann, dann wird dies in dieser Personifizierung nur umso deutlicher. Im Audi-Spot ergibt sich dieses Konstrukt durch die Parameter der Kommunikationssituation. Im Commerzbank-Spot lässt sich die Formulierung “ Braucht Deutschland ” zwar als metonymisch für ‘ brauchen wir Deutsche ’ auflösen, in der gewählten Formulierung wird aber gerade die Eigenständigkeit, das eigene Wesen, des Raumes betont. Dieses unterstellte ‘ Wesen ’ äußert sich auch in der inszenierten Außerzeitlichkeit: Die Deutschland zugesprochenen Merkmale werden als absolut, und damit unveränderlich gesetzt, wie insbesondere im Audi-Spot deutlich wird: Deutschland ist schön - unabhängig von einem konkreten, historisch fassbaren Zustand (und damit auch unabhängig von historischen Geschehnissen). Deutschland ist unveränderlich, da es sich zwar verändert, aber sich selbst dabei, im Kern, gleich bleibt (worauf dann wiederum tautologisch auf die Existenz eines solchen Kerns geschlossen werden kann). Deshalb kann es auch “ immer wieder ” neu entdeckt werden. Vor der Folie einer veränderbaren Oberfläche bleibt in der Tiefenstruktur die Substanz dieses abstrakten Gebildes erhalten. Als eher Strategische Selbstreferenz 193 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [193] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL abstrakte Größe ist sie damit auch unangreifbar, da Argumente dagegen immer nur auf der konkreten ‘ tagespolitischen ’ Ebene zu finden sind. Deutschland wird von Faktoren unabhängig gedacht, die eine solche Größe, ist sie mehr als nur ein topografischer Raum, eigentlich mit konstituieren. Der Raum Deutschland wird damit quasi als ontologische Wesenheit und organische Einheit behandelt. Wird ein Raum aber als eine solche Einheit gedacht, dann legitimieren sich durch eine solche Konzeption auch die Grenzen nach außen, die ebenso unhinterfragbar sind wie die interne Struktur, die so ist, wie sie ist, und ebenso der Umgang mit dem Anderen, das nicht dazu gehört, da ein solches vor dieser Folie automatisch eine Störung dieser Gegebenheit impliziert. Unabhängig davon, was nun konkret dieses Andere ist, ist dies eine Denkkonzeption, die durchaus in Richtung NS- Ideologie geht und dort ihre historische Kondensation erfahren hat: Sie blendet soziale, kulturelle und gesellschaftliche (Handlungs- und Entscheidungs-)Möglichkeiten zugunsten einer Naturalisierung und Mythisierung aus. Zudem wird diese dissoziierte und damit abstrakte Größe Deutschland an Materielles rückgebunden und geerdet. Dies ist zunächst der Raum, durch den sich diese Größe grundlegend konstituiert. Dies ist dann auch die jeweilige Sprechinstanz, die sich im Akt des Redens über Deutschland mit dieser Größe gleichsetzt. Insbesondere bei Siemens, aber in unterschiedlichem Maße auch bei den anderen, wird eine solche Gleichsetzung etabliert: Die von außen betrachtete abstrakte Größe Deutschland findet sich in ‘ uns ’ . Die Etablierung der Denkeinheit Deutschland und damit die Voraussetzung für die Identifizierung als Deutschland gehen zumeist mit den Strategien von Homogenisierung und Harmonisierung einher, also der Irrelevantsetzung von Grenzen im Inneren und der Betonung des Aspekts der Integration aller. Diese Inszenierung der Nivellierung von Unterschieden funktioniert zunächst im Sinne einer rhetorischen Akkumulation. Statt den Oberbegriff explizit und direkt zu setzen, werden die unterschiedlichen Elemente aufgeführt, die in ihrer spezifischen Zusammensetzung dann insgesamt genau auf den Oberbegriff verweisen. Dies tun sie insofern, und dies unterscheidet diese Strategie von einer klassischen Akkumulation, als sie nicht nur in einer paradigmatisch-semantischen Beziehung zu diesem Oberbegriff stehen, sondern zudem in einer konkret-strukturellen: Mit ihnen lassen sich Eckdaten des Oberbegriffs abstecken und diesem damit Kontur geben. Zentral ist zudem die explizite, performative Hervorbringung im kommunikativen Akt, sei es durch sprachlichen Text oder durch entsprechende, evidente Visualisierung, wobei als Elemente von Deutschland Personen und/ oder Teilräume fungieren. Die Relevantsetzung des Oberbegriffs erscheint damit nicht als willkürlich gesetzt, sondern ergibt sich nachvollziehbar von selbst. Inszeniert ist ein ‘ Überall in Deutschland ’ , niemand ist ausgeschlossen, jeder kann sich darin finden. 16 Die Bewusstmachung dieser Größe ‘ Überall in Deutschland ’ als zentraler Denkeinheit und damit die Irrelevantsetzung von Binnendifferenzen innerhalb dieser Einheit ist eine Strategie, die nicht an sich neu ist, wenngleich sie in bestimmten Kontexten nicht verwendet wurde. Dass sie historisch gesehen eine ganz zentrale Strategie der NS-Ideologie 16 In Werbespots ist dieserAspekt der Homogenisierung und Harmonisierung aufgrund des Formats eher gering ausgeprägt und zumeist in eine Kompromissstrategie der Synthese von Individuum und Kollektivierung integriert. Paradigmatisch in all ihren Facetten lässt er sich im Werbespot für die Bonuskarte Deutschlandcard rekonstruieren, die anlässlich der Weltmeisterschaft 2012 auf den Markt kam. 194 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [194] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL ist, sei hier nur am Rande erwähnt. 17 Sie findet sich auch in den volkstümlichen Musiksendungen (insbesondere in den frühen 1990er Jahren) als zentrale Diskurskonstituente. 18 2.3 Deutschland als Mehrwert Wie lassen sich die Befunde deuten? Zunächst ist zu konstatieren, dass es sich um Werbespots für konkrete Produkte bzw. Firmen handelt und dementsprechend aufgrund dieses Formats letztlich die Größe Deutschland oder gar das Bekenntnis zu dieser Größe eigentlich kein Selbstzweck sein kann, sondern jeweils spezifisch im Sinne der Textsorte instrumentalisiert ist. So operiert der Commerzbank-Spot vor der Folie des gemeinsamen Denkrahmens Deutschland dann gerade explizit mit der Distinktion zu anderen Banken und grenzt sich über die Bindung zu Deutschland von anderen Banken ab, denen diese Bindung und die damit präsupponierte Wertorientierung implizit abgesprochen werden. Der Audi-Spot inszeniert nicht nur den Quattro als witterungsunabhängiges Auto, sondern reserviert dabei den gemeinsamen Raum Deutschland als diesen attraktiven Raum exklusiv für sein Produkt, das als Schlüsselprodukt fungiert und den Zugang zu diesem Raum gestattet. 19 Und auch dem Siemens-Spot, der Siemens zunächst als Teil der deutschen Industrie verortet, ist deutlich ein Führungsanspruch inhärent. Denn die Formulierung “ Deutschland geht neue Wege ” hat in ihrer Metaphorik im gegebenen Werbekontext (insbesondere durch die Text-Bild-Beziehung) nur dann Sinn, wenn damit der beworbene Konzern Siemens selbst gemeint ist. Siemens identifiziert sich also mit dieser Größe, setzt sich selber als deren emphatischer und genuiner Repräsentant, der dementsprechend das Wort für diese Größe erhebt ( “ unsere Antworten ” ) und damit für sich in Anspruch nimmt, als Deutschland sprechen zu können. Die jeweiligen Strategien und Verfahren gehen letztlich wieder durchaus in werbetypische und textsortenspezifische auf. Dennoch funktionieren sie nur, wenn Deutschland selbst zukommt, Mehrwert zu sein, 20 eben ein (auch ideologisch) attraktiver Raum. Deutsches Denken ist nicht nur erlaubt, sondern die Selbstreferenz selbst ist Kapital, 17 Etwa in Triumph des Willens (D 1935, Leni Riefenstahl) bei der Inszenierung des Arbeitsdienstes, siehe Krah & Wiesel (1999: 123 - 127), oder in E. G. Kolbenheyers Deutsches Bekenntnis (1933). Dass damit indirekt immer eine Abgrenzung nach außen impliziert ist und eine solche Grenze damit erst konturiert wird, versteht sich von selbst. So sehr auf altbekannte Verfahren ideologischer Inszenierung zurückgegriffen wird, so scheint der deutliche Fokus auf Berlin und damit die Herauskristallisierung eines Zentrums innerhalb des Paradigmas neu zu sein. Wie sich im Audi-Spot artikuliert, ist Berlin in diesem Paradigma Deutschland überproportional vertreten und damit mehr als nur Element der Paradigmenbildung. Die fast paradoxe Präsenz von und Fixierung auf Berlin zeugt stattdessen von einer Ausrichtung, die die nationale Identität selbst wieder semiotisch kondensiert und auf ein Raumzeichen reduziert. 18 Dort als Basispostulat der Entdifferenzierung benannt. Die oberflächliche Heterogenität ist funktional für Harmonisierung und Homogenisierung, sie ist selbst also systembedingt und systemorganisierend; als dieses muss sie explizit konstruiert und vermittelt werden. So betont die Moderatorin Carolin Reiber 1993 bei der Sendung zur Vorauswahl zum Grand Prix der Volksmusik genau diesen Sachverhalt und hält als Conclusio fest: “ Und, liebe Zuschauer, eigentlich sind alle Himmelsrichtungen vertreten bei unserem Grand Prix, der Osten, der Westen, der Süden, und der Norden. ” Auch beim Grand Prix selbst ist die zentrale Äußerung Carolin Reibers: “ Ja, aus allen Himmelsrichtungen kommen heut ’ unsere Interpreten ” . Siehe Krah &Wiesel (2000: 127 - 121). 19 Zu Produkt-Raum-Relationen und der Konzeption des Schlüsselproduktes siehe Pabst 1999. 20 Zur Relevanz von Mehrwert und Mehrwertstrategien vgl. Karmasin 2007 und Gräf & Krah 2013. Strategische Selbstreferenz 195 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [195] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL zumal im Modus des Ernsten (der dann selbst wieder als ‘ deutsche Tiefe ’ national fundiert werden kann). Den Spots ist auch gemeinsam, dass sie extrem textlastig sind, also (nur) über die Relevantsetzung gesprochener Sprache funktionieren. 21 Dabei ist es gerade dieser Text, über den die Semantik von Deutschland in Szene gesetzt wird. Die rhetorisch-ideologischen Implikationen werden gerade über den auditiven Kanal argumentativ und kommunikativ ausgeführt, während die Bilder als narrative oder momenthafte Indikatoren diese evidenterweise beglaubigen sollen. Die Spots etablieren die jeweilige vermittelte Relation zu Deutschland also erst explizit und direkt, gleichzeitig können sie auch diese explizite Vermittlungsleistung positiv für sich funktionalisieren: als diejenigen, die es aussprechen. Da kommerzielle Werbung jedenfalls eher abstinent gegenüber kontrovers diskutierten und vorbelasteten Themen ist, 22 kann durch diese Referenz auf Deutschland auf eine sich verändernde Mentalität rückgeschlossen werden. 3 Du bist Deutschland 2005/ 2006 - zur Historizität kollektiver Identitäten Vor der Folie der skizzierten Befunde sei ein Text vorgestellt und analysiert, der bereits einige Jahre vor den untersuchten kommerziellen Werbespots publiziert wurde. Es geht um die Kampagne Du bist Deutschland, die am 26. 9. 2005 in ARD und ZDF gestartet und bis Januar 2006 massiv in den Medien geschaltet wurde, wobei Medien als Fernsehen und Print zu konkretisieren ist. Im Zentrum stand ein 2-minütiger TV-Spot. Die Kampagne wurde von 25 führenden Unternehmen der deutschen Medienwirtschaft initiiert, die dafür Sendeplätze für 30 Millionen Euro zur Verfügung stellten. Kritik an der Kampagne (die sich zumeist in Spott für den Spot äußerte) wurde insbesondere im Internet laut; hier wurden einzelne Elemente des Spots herausgegriffen, in Ansätzen diskutiert und Bezüge öffentlich gemacht. 23 Wie der Titel der Kampagne verdeutlicht, geht es um die Strategie Personifizierung des Raumes bei gleichzeitiger Person-Raum-Bindung. In der Aufforderung etwa, das Land wie einen Freund zu behandeln, wie es im Spot formuliert wird, und damit als jemanden, zu dem man ein vertrautes Verhältnis hat, der aber jemand anderes als das eigene Ich ist, artikuliert sich die Dissoziierung und Aufwertung des Landes zu etwas Eigenem. Im Slogan selbst artikuliert sich die gleichzeitige mystisch (und nazistisch) verbrämte Hochstilisierung des 21 Dies korreliert bei Audi und Commerzbank damit, dass diese Spots mit einer Minute Länge das übliche Format überschreiten. Auch bei Siemens dominiert der Redeanteil, da der Text zwar nicht gehetzt, aber doch relativ schnell und einprägsam gesprochen wird. 22 Es sei denn, Werbung versucht gerade daraus auf einer Metaebene ihren Mehrwert zu konstruieren, wie dies exemplarisch an der Benetton-Kampagne aus den 1990er Jahren zu sehen ist. Dies ist im gegebenen Kontext sicher nicht der Fall. 23 Etwa, dass der Slogan aus der NS-Zeit stammt. Beschreibungen wie “ neoliberales Ideologieprojekt ” , das Optimismus und gute Laune verbreiten soll, waren nicht die schwerwiegendsten Zuschreibungen. Cf. als ein Beispiel dieser Diskussion www.trend.infopartisan.net (Du bist Deutschland. Anmerkungen zu einer dummen, nationalistischen und zynischen Werbekampagne, Archiv11/ 05). Die Kampagne verfügte zwar auch über eine Homepage, Wertigkeit und mediale Dominanz lagen aber eindeutig auf dem hier analysierten Fernsehspot und der (hier nicht berücksichtigten) Anzeigen- und Plakatwerbung, so dass m. E. die Homepage kampagnenstrategisch zu vernachlässigen ist. Cf. aber Ruchatz 2007, der die Gesamtkampagne mit einem systemtheoretischen Ansatz insbesondere hinsichtlich des Einsatzes von Prominenten in Kommunikationsformen des Populären untersucht. 196 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [196] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Verzichts auf Subjektidentität zugunsten des Aufgehens als wesensmäßige Raum-(Boden) einheit. Im Folgenden sollen die ideologischen Implikationen des Spots nachgezeichnet werden. 3.1 Sprachrealität und Rhetorik der Bilder - dieWelt des Spots, wie sie wirklich ist Der Spot lässt sich in 40 Sequenzen gliedern, von denen 23 aus jeweils nur einer Einstellung bestehen, zehn aus zwei, sechs aus drei, eine besteht aus vier. Diese 65 Einstellungen werden durch eine Schlusseinstellung mit dem Logo der Kampagne komplettiert. Die vierte und siebte Sequenz sind diegetisch identisch, bei beiden ist derselbe Clown im Zirkus zu sehen. Insofern könnten diese beiden Sequenzen auch zu einer zusammengefasst werden. Sie stellen zudem Ausnahmen dar, da sie die einzigen sind, denen kein Text zugeordnet ist. Der Clown ist der einzige im Spot, der als Protagonist visualisiert ist und dennoch nichts spricht. Ton, der während dieser Einstellungen zu hören ist, gehört, wie an den Stimmen zu erkennen ist, entweder noch zur vorherigen oder schon zur nächsten Sequenz. Die Funktion des Clowns ließe sich als Element eines Ästhetisch-Bewundernswerten beschreiben, mit dem der Spot die ideologische Schwere, die ansonsten inszeniert ist, auszutarieren versucht: Der Clown, der nicht dummer August und Humorträger ist, sondern in Weißclownkostüm in einer Akrobatiknummer zu sehen ist, ist einer, der Erstaunen macht. Die Sequenzen sind in sich durch raumzeitliche Kontinuität gekennzeichnet, zumeist entspricht dies auch der Fokussierung genau einer Person. Ausnahmen, bei denen mehrere Personen gleichermaßen als Protagonisten erscheinen, bilden neben den Kinder-Sequenzen und der Sequenz, die eine Demonstration zeigt, die Sequenz im Holocaust-Mahnmal, die in ihren vier Einstellungen auch vier Prominente an diesem Ort vorführt, die Sequenz mit den Werftarbeitern und die Sequenz in der Strenesse Boutique mit Gabriele und Gerd Strehle. Die Personen sind zumeist in Nahaufnahmen zu sehen, wobei der Raum im Hintergrund einer weiteren Charakterisierung der Person dienen kann. Mit wenigen Ausnahmen spricht die jeweilige Person direkt in die Kamera; abgebildet ist also eine typische Presenter- Situation: Die Personen fungieren als Sender einer Kommunikation, bei der ein extradiegetischer Empfänger adressiert wird. Werden die Personen über mehrere Einstellungen gezeigt und dabei auch in Großaufnahmen, korreliert dies mit einer (im Spot zugewiesenen) zusätzlichen Seriosität des jeweiligen Sprechenden. Dem syntagmatischen Nacheinander der Sequenzen entspricht auf visueller Ebene keine Chronologie oder gar narrative Anordnung der Sequenzen untereinander, sie könnten prinzipiell vertauscht werden (auch wenn es eine gewisse Dramaturgie des Aufbaus gibt). Sie sind paradigmatisch strukturiert und lassen sich als deskriptives Syntagma beschreiben, wobei die Kopräsenz (als konstitutives Merkmal eines solchen Syntagmas) durch die Dimension ‘ Menschen in Deutschland ’ gebildet wird. Durch den auditiven Kanal installiert sich über der Bilderfolge dann sekundär eine narrative Abfolge insofern, als den Einstellungen ein kontinuierlicher sprachlicher Text unterlegt ist und dieser Text mit den Bildern koinzidiert. 24 Dieser Text, als “ Manifest ” der 24 Vgl. zu theoretischen Grundlagen wie Ausprägungen von Text-Bild-Beziehungen Titzmann 2017. Als musikalische Untermalung des Spots dient im Übrigen die Filmmusik aus Forrest Gump (USA 1994, Robert Zemeckis). Strategische Selbstreferenz 197 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [197] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Kampagne bezeichnet und auch als schriftlicher Einzeltext publiziert, verteilt sich im Spot auf verschiedene, stimmlich unterschiedene Sprechinstanzen (siehe Anhang); zumeist wird er von den visuell gezeigten Personen gesprochen, die als diese Instanzen identifiziert werden können. Zentrales Montageprinzip der Sequenzen ist nicht ihr deskriptives Merkmal, sondern darauf aufbauend das der Entdifferenzierung: Gerade durch die Unterschiede etabliert sich eine Homogenisierung und damit das Paradigma ‘ alle in Deutschland ’ . Dies wird durch die räumliche Situierung - Berliner Fernsehturm, Lichthof der LMU München, Berliner Holocaust-Mahnmal, Werftanlage, Allianzarena, Silhouette Dresdens mit Frauenkirche, Auf Schalke, Silhouette des Hamburger Hafens - als auch durch die porträtierten Personen zu erreichen versucht. Zu verzeichnen ist, dass Berlin und insgesamt eine Semantik, die auf den Osten verweist, etwa Plattenbausiedlungen, etwas häufiger vertreten sind. Diese Homogenisierung wird durch den sprachlichen Text forciert, der ein solches Gemeinsames und das durch das Gemeinsame Mögliche emphatisch konstatiert und durch den Redeakt performativ zu deklarieren versucht. Auffällig an dem Text ist seine rhetorische Überformung, die ihn zu mehr als normaler Alltagskommunikation macht - der Begriff Manifest ist durchaus zutreffend gewählt. Die rhetorische Dimension des Textes lässt sich anhand seines Aufbaus ebenso nachzeichnen wie an seinen sprachlichen Formulierungen. Für den Text zentral ist zudem seine kommunikative Ebene: Die Sprechsituation, insbesondere die Adressierung, ist wesentlicher Bestandteil der durch ihn transportierten Semantik (siehe 3.2). Der Aufbau wird vor allem durch ein Wiederholungsprinzip evoziert, das in dem fünfmaligen “ Du bist Deutschland ” seinen Höhepunkt hat und den Eindruck des enervierend Eindringlichen erweckt, und durch eine Rahmung durch Wiederaufnahme von Themen des Beginns strukturiert, wobei die Wiederaufnahmen, trotz der Wiederholungen, den Eindruck eines Abschließenden und Abzuschließenden erzeugen (alles Wesentliche ist gesagt). Auf semantischer Ebene ist die Verwendung von Metaphern, Vergleichen und Metaphoriken rekurrent. So wird mit dem Bildbereich Autofahren argumentiert (Gas geben, Bremsen, Autobahn) und insbesondere der Bildbereich der Natur bemüht (Schmetterling, Baum, Sturm). Die verwendeten Bilder sind insgesamt nicht besonders originell und speisen sich aus Topoi und Allgemeinalltäglichem. Wird Wissen aufgerufen, dann solches, das (zur Produktionszeit) als bekannt gelten kann, zumindest dem Namen nach, wie der Schmetterlingseffekt, der dann zusätzlich noch explizit textgerecht erläutert wird. 25 Die Funktion dieser rhetorisch-tropischen Ausdrucksweise ist (i), eigentliche Sachverhalte auf einfache, verständliche, also komplexitätsreduzierte Weise darzustellen, wobei zugleich Implikationen einer solchen eigentlichen Ebene kaschiert werden. Gerade die vielen Vergleiche erfüllen diese Funktion. Darüber hinaus dient die rhetorische Sprache (ii) dazu, etwas zu 25 Wie bereits in Internetblogs erkannt wurde, wird nicht tatsächlich auf den Effekt als wissenschaftlichen mit den entsprechenden Merkmalen verwiesen und ist er in dieser Hinsicht falsch verwendet. Es handelt sich aber natürlich auch nicht um einen solchen Spezialdiskurs, sondern um seine Verwendung als populäres Zeichen, das aus populären Medienzusammenhängen (etwa dem Film Butterfly Effect, USA 2004, Eric Bress & J. Mackye Gruber) bekannt ist. 198 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [198] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL sagen, was eigentlich gar nicht gesagt werden kann. Durch sie wird davon abgelenkt, dass es diese eigentliche Ebene gar nicht gibt - sondern sich nur einer sprachlich-semiotisch konstruierten ‘ Realität ’ (und damit Ideologie) verdankt: “ Schlage mit deinen Flügeln ” etwa ist eine Aufforderung, bei der schwerlich aus dem Bild des Schmetterlings rückzuübersetzen ist, zu welcher Handlung, Aktion, zu welchem Verhalten ganz konkret aufgefordert wird oder werden soll. Zudem ist hier zu sehen, dass diese Bilder nicht wirklich kohärent aufgelöst werden sollen: Dass ein einziger Schmetterling einen Taifun auslösen kann, müsste im übertragenen Sinn entsprechen, dass ein einziger Mensch etwas Großes bewegen kann; fortgeführt wird das Bild aber auf die Weise, dass dieser Einzige es kann, da er einer von vielen ist, sich andere also anschließen und gleichzeitig das machen, was der eine auch macht; hier geht es also um Kollektivierung (ob das dann wirklich Auswirkungen hat, bleibt zudem Leerstelle). Präsupponiert ist, wenn die jeweils verglichenen Bereiche in Bezug zueinander gebracht werden, dass sie analog funktionieren und strukturiert sind. Damit wird schließlich (iii) durch die zentralen Analogisierungen mit Naturphänomenen und -gesetzlichkeiten eine Naturalisierung des Besprochenen vorgenommen. Dass es eigentlich um etwas Gesellschaftspolitisches geht, wird so ausgeblendet. Nicht um soziale Probleme oder Phänomene geht es, sondern um anthropologische. Spezifisches menschliches, soziales Verhalten wird natürlich und lässt sich damit letztlich auch als richtig bestimmen und als alternativlos setzen. ‘ Deutschland zu sein ’ , also in irgendeinem Sinne Nationales, ist Natur des Deutschen (und mehr braucht es nicht). 3.2 Wer spricht was für wen: Ideologie der Pragmatik Neben seiner Semantik im engeren ist im sprachlichen Text vor allem seine Sprechsituation relevant. Diese wird im Vergleich zum Manifest als Teil des Spots zusätzlich bedeutsam, da es sich um mündlichen Text handelt, der aufgeteilt ist, also nicht von einer Sprechinstanz allein vorgetragen wird. Damit stellt sich nicht nur die Frage nach dem/ den Adressaten, sondern zunächst auch die Frage nach der jeweiligen Realisierung der Sprecherposition. Der Text des Manifests verteilt sich auf 44 Sprecher und Sprecherinnen (siehe Anhang). Inklusive der männlichen Off-Stimme in der 66ten Einstellung, während visuell das Logo der Kampagne zu sehen ist, sind davon 29 männlich, 13 weiblich, zwei sind Kinder. Der Slogan “ Du bist Deutschland ” wird von einer Kindergruppe, von Walter Kempowski, von Gerald Asamoah, von Maria Furtwängler und abschließend von der männlichen Off- Stimme gesprochen. Dies ist deutlich nach dem Prinzip der Entdifferenzierung organisiert: Frauen wie Kinder wie Männer, ein Intellektueller aus dem Osten und ein Farbiger aus dem Westen, alle Facetten sind dabei (gebündelt und gerahmt dann aber doch in der männlichen Stimme pur). Der Frauenanteil an sich liegt insgesamt nur bei etwa 30 %, auch der absolute Redeanteil ist nicht höher. Von den 309 Wörtern des Manifests werden nur 84 von Frauen gesprochen. Auch bezüglich der Berufstätigkeit lassen sich geschlechtsspezifische Auffälligkeiten bei der Auswahl feststellen. Bei den acht nicht prominenten männlichen Sprechern sind an Berufen Bademeister, zweimal Werftarbeiter, Kfz-Mechaniker und Chirurg vertreten, bei den sieben nicht prominenten Frauen eine (thailändische) Kellnerin, eine Klofrau und eine Fahrradkurierin. Die vier prominenten Musiker sind alle männlich. Strategische Selbstreferenz 199 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [199] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Auffällig ist, dass der Einstieg durch drei Frauen geschieht und auch am Ende etwas häufiger wieder Frauen sprechen, so dass durch diesen Rahmen das Ungleichgewicht bei einem ersten Betrachten nicht so deutlich auffällt. Auffällig an der Verteilung der Rede ist bezüglich der Geschlechteranteile auch, dass für die dominant metaphorisch-rhetorischen Teile, und damit für diejenigen, die eine ideologische Unterfütterung liefern, doch eher Frauen als Sprecherinnen gewählt sind ( “ Du bist der Laden ” , “ Du bist die Flügel ” , “ Du bist der Baum ” ), während die Aufrufe zu konkreten Handlungsaktionen im Hier und Jetzt, Inkorporierungen des adressierten Du durch Fragen und damit direkte Ansprache und Einbeziehung, ein Miteinanderkommunizieren also (und implizit ein Sich problemlos Verstehen), überwiegend Männern vorbehalten bleiben. Frauen dagegen sind für die Konstatierung allgemeiner Zustände zuständig ( “ Unsere Zeit schmeckt nicht nach Zuckerwatte ” , “ Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Deutschlandbahn. ” ). Die Frau firmiert damit als Mittlerin von ‘ Wahrheiten ’ - bemüht wird eine Geschlechterrollenvorstellung (und -verteilung), die um 1800 kulturell gefestigt wurde und deren sich nicht nur die Volksmusiksendungen der 1990er Jahre, sondern bereits exzessiv die NS-Filme bedienten, wenn es um die Propagierung und Transportierung der eigenen ideologischen Wahrheiten ging. 26 Deutlich ist, dass die Redeanteile hinsichtlich ihrer semantischen Qualität nicht beliebig an die Sprecher und Sprecherinnen verteilt sind. Rede über kulturell Hochbewertetes ist Hochbewährten vorbehalten. So ist es Reich-Ranicki quasi als ‘ Ältester ’ , der den Mauerfall (als Leistung von uns allen) als Thema hat, während die Klofrau für den Witz mit dem Pinkeln sorgen darf: Auf Ulrich Wickert, der in Großaufnahme vor einer Mauer zu sehen ist und den Satz spricht: “ Mag sein, du stehst mit dem Rücken zur Wand ” , folgt in der nächsten Sequenz eine Klofrau an ihrem Arbeitsplatz, die “ oder mit dem Gesicht vor einer Mauer ” von sich geben darf. Ähnlich verhält es sich mit den Auto fahrenden, türkischstämmigen Jungmännern, die die 2005 aktuelle ‘ Misere ’ von Ralf Schumacher augenzwinkernd thematisieren dürfen. Reinhold Beckmann ’ s “ Er [Dein Wille] lässt deinen Lieblingsstürmer schneller laufen ” wird von einem aus dem Auto aufgegriffen und mit “ und Schumi schneller fahren ” fortgeführt, was durch Mimik und Gestik im Auto als gewisses Ironiesignal zu verstehen ist. Wie an den Beispielen deutlich wird, wird teilweise durch die Sprache eine Abfolge über die Sequenzen hinweg etabliert, so dass über die Sprache Verbindungen geschaffen werden - die dann die fehlenden eigentlichen Verbindungen symbolisch substituieren. So, wenn der BISS-Verkäufer (und Obdachlose) ansetzt mit “ Deutschland hat genug Hände ” und im Anschluss Gabriele Strehle vom Modelabel Strenesse in ihrer Nobelboutique die Rede des Straßenverkäufers mit “ um sie einander zu reichen und anzupacken ” fortführt. Generell, wie an den Fortführungen von Sätzen zu sehen ist, ist impliziert, dass alle den Text kennen und er allen gemeinsames Credo ist. Indem Textanteile auf verschiedene Sprecher verteilt werden, hat diese Verteilung auch die Funktion, offensichtliche Tautologien, Widersprüche und Sinnfreiheiten der Rede zu kaschieren. 27 26 Vgl. Krah & Wiesel (2000: 149 - 155). 27 So wird etwa der Aussage “ Du bist von allem ein Teil und alles ist ein Teil von Dir ” durch die Aufteilung der Halbsätze auf zwei Sprecher zumindest oberflächlich etwas von ihrer semantischen Leere genommen. Auf solche offensichtlichen Unstimmigkeiten haben bereits die verschiedenen kritischen (und süffisanten) 200 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [200] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Die Text-Bild-Beziehung dient neben der Referenzialisierung der jeweiligen Sprechinstanz häufig der Visualisierung und Konkretisierung des im Text Ausgesagten. So wird “ Machen wir uns die Hände schmutzig ” von einem Kfz-Mechaniker gesprochen, der in seiner Werkstatt zu sehen ist, so dass die sprachlich metaphorische Rede visuell quasi geerdet und wörtlich evident wird. Der Baum, der im Text zunächst nur funktional im Bild des Schmetterlingseffekts erscheint und als Exempel dessen fungiert, was erreichbar ist, nämlich Bäume ausreißen, wird durch die visuelle Ebene zu einem eigenständigen und dominierenden ‘ Symbol ’ aufgewertet, insofern die Exposition ein Naturbild installiert, das sich um einen Baum, visuell konkretisiert als eine deutsche Eiche, zentriert. 28 Von den 44 Sprechern und Sprecherinnen sind 26 Prominente (20 männliche stehen dabei sechs weiblichen gegenüber). Zu spezifizieren ist, dass einige dieser Prominenten wohl nur im Kontext des Jahrs 2005 als prominent gelten können. Gerade für diese aus heutiger/ späterer Sicht weniger Prominenten lässt sich für 2005 aber ein medialer Aktualitätsstatus bestimmen, durch den sie damals im öffentlichen Bewusstsein als durchaus bekannt gelten können. Einige Beispiele: Bobby Brederlow erhielt 2004 das Bundesverdienstkreuz; Bernd Siggelkow, Gründer der Arche, eines christlichen Kinder- und Jugendwerks, 2005 die Carlvon-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte; Minh-Khai Phan-Thi war VIVA-Moderatorin, Oliver Korittke hatte 2005 auf MTV die Sendung Pimp my Fahrrad, Justus Frantz im ZDF Klassik für alle, Oliver Pocher Rent a Pocher; Strenesse-Strehle waren als Ausstatter der Fußballnationalmannschaft im Gespräch. 29 Die Prominenten sind zudem deutlich einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich zugehörig und repräsentieren nicht wirklich Deutschland. Prominente aus Staat, Wirtschaft und Politik fehlen. Die Prominenten, die im Spot auftreten, sind solche, die über einen großen (medialen) Bekanntheitsgrad verfügen, aus dem Bereich Medien und Kultur stammen (Fernsehen, Musik, Sport und Literatur) und dezidiert keine konfliktträchtigen, spaltenden Personen oder extrovertierte sind. So fungiert eben auch Marcel Reich-Ranicki 2005 nicht mehr als der besserwisserische Literaturpapst aus dem Literarischen Quartett (bis 2001), sondern eher in der Rolle eines Grand-Seigneurs. Die Prominenten repräsentieren eher das Image des Unauffälligen, Konsensualen, Unantastbaren, wie gerade an den überproportional vertretenen Fernsehmoderatoren als typisches Beispiel zu erkennen ist. Zudem werden sie im Spot zusätzlich in Richtung auf ein solches Image des Sympathieträgers inszeniert. So dient das räumliche Ambiente neben seiner Funktion einer Lokalisierung in Deutschland generell der Semantisierung und Identifizierung der Personen: Die Klofrau ist nur durch ihren Arbeitsplatz als solche zu erkennen ebenso die Kellnerin oder der Bademeister; der soziale Status der Großfamilie wird mit dem Plattenbau indiziert (und natürlich ihrer Kleidung); beim Kfz-Mechaniker, dem Chirurg oder den Internetkommentare hingewiesen. Auch der Baum, der zunächst ausgerissen wird, der dann schlussendlich aber das Du selbst sein soll, gehört in diese Rubrik. 28 Dies korreliert mit der Bedeutung, die er am Ende des Manifests erhält, und die mit der zu Beginn eingeführten augenscheinlich kollidiert. 29 Auch insgesamt lässt sich dieser spezifische Zeit- und Aktualitätsbezug konstatieren: Katarina Witt gründete 2005 die Katarina-Witt-Stiftung gemeinsam mehr bewegen und wurde in die Hall of Fame der International Sports Foundation aufgenommen; Günther Jauch erhielt 2004 den Bambi-Publikumspreis und wurde im Januar 2005 zum beliebtesten Deutschen gewählt. Das Holocaust-Mahnmal wurde am 10. 5. 2005, die Allianz- Arena am 19. 5. 2005, die Dresdner Frauenkirche am 30. 10. 2005 (wieder) eingeweiht. Strategische Selbstreferenz 201 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [201] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Werftarbeitern dient die Darstellung von Werkstatt, OP und Werft zusätzlich dazu, das ‘ Volk bei der Arbeit ’ zu zeigen. Bezüglich der Prominenten ist der räumliche Kontext, in den sie gestellt werden, zumeist dazu da, sie ‘ menschlich ’ im Sinne von nahbar und privat, alltäglich zu machen. 30 So, wenn Oliver Pocher im ‘ eigenen ’ Garten mit Nachbarn grillt (und dann auch seinen Redeanteil als diegetischen ‘ Disput ’ unter Freunden an diese Klientel adressiert); so, wenn Reinhold Beckmann in einer überfüllten U-Bahn steckt; so, wenn Oliver Korittke vor seiner Kuckucksuhrensammlung gezeigt wird. 31 Auch die Versammlung von Patrick Lindner, Xavier Naidoo, Bobby Brederlow und Dominic Raacke im Holocaustmahnmal dürfte neben einer Homogenisierung en miniature diesem Zweck dienen. Letztlich sind es Prominente, die selbst vermitteln (und moderieren) oder die zu solchen Medien aufgrund ihrer Prominenz geworden sind, denen selbst also bereits Zeichenstatus zukommt. Als solche Zeichen lassen sie sich zur Kommunikation benützen und funktionalisieren. Ihr Nimbus bleibt dabei gewahrt. Auch wenn die wirklich Prominenten neben weniger Prominenten und Nicht-Prominenten im Spot gleichermaßen auftreten, machen sie sich doch nicht gemein mit den anderen, selbst nicht mit den anderen Prominenten. Jeder hat für sich eine Sequenz (Ausnahme siehe oben), jeder darf individuell seinen Beitrag leisten. 32 Wer ist nun aber das adressierte “ Du ” (und damit Deutschland)? Auch hier, wie bei den Sprechern, lässt sich konstatieren, dass es eher um Männer geht - der Klo-Witz indiziert dies ja bereits. Sprachlich bleibt das “ Du ” zwar unbestimmt und damit kann es zunächst allgemein für jedes ‘ Du ’ stehen, dennoch lässt es sich aufgrund der in der Anrede attribuierten Merkmale und der gewählten Redeweise im Sinne eines Profilings durchaus spezifizieren. Letztlich, so ist zu resümieren, ist nicht wirklich jeder angesprochen (oder müsste sich angesprochen fühlen). Auffällig ist nämlich bereits, dass die Sprechinstanz selten ein “ Wir ” ist. Ein integrierendes “ Wir ” kommt im Text nur zwischen dem 20ten bis 27ten Redeanteil vor und verweist dabei insbesondere auf die kollektive historische Leistung einerseits (als die der Mauerfall gesetzt ist), auf die Quantität andererseits, wobei diese Quantität von 82 Millionen (Deutschen) einen geradezu qualitativen Mehrwert erhält. Insgesamt dient das “ Wir ” der Erinnerung an die kollektive Verortung des “ Du ” neben anderen, weniger einer Gemeinmachung der Sprechinstanz mit dem “ Du ” . Stattdessen ist die Sprechinstanz dem “ Du ” übergeordnet. Sie kann Forderungen stellen und findet es angemessen, den Adressaten zu duzen. Sie verfügt über Wissen über das “ Du ” , und zwar über dessen innerpersonale, psychische Strukturen; die Sprechinstanz weiß mehr, weiß etwas bewusster über das “ Du ” als das “ Du ” selbst (insbesondere Männer wissen über das “ Du ” Bescheid, kumpelhaft, nicht nur bezüglich Merkmalszuschreibungen, sondern auch bezüglich Handlungsunterstellungen). Das “ Du ” ist also durchschaubar, ist quasi determiniert in dem, was es denkt und welche Einstellungen es hat. 30 Bei Marcel Reich-Ranicki und Walter Kempowski muss zudem der Topos der Bücherwand dazu herhalten, diese als Intellektuelle zu markieren. 31 Die Ausnahme bildet Harald Schmidt, der in seiner Fernsehrolle in den Kulissen der Harald Schmidt Show (diverse Sender bis 2014) gezeigt wird. Diese Situierung dürfte aber eine analoge Funktion haben. 32 Dass es genau Bobby Brederlow ist, der als Person mit Downsyndrom in diese behütende Gruppe um Lindner, Naidoo und Raacke gesetzt ist, soll hier nicht weiter interpretiert werden. 202 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [202] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Das “ Du ” , so wird unterstellt, ist Sportfan, seine Interessen gelten Fußball und Formel-1, wobei es nicht um Formal-1 um der Formal-1 willen geht, sondern darum, ein Schumifan zu sein. Das heißt also, es wird von einer Mentalität ausgegangen, bei der sich Interesse an einem Gegenstand daran ausrichtet, den zu unterstützen, der wohl auch gewinnen wird, da er die letzten Jahre gewonnen hat (und der nebenbei Deutscher ist). 33 Außer Sportbegeisterung hat das “ Du ” keine Interessen, zumindest werden solche als irrelevant gesetzt, bleiben Leerstellen. Politisch interessiert zu sein, ganz allgemein auf Information und Bildung zu reagieren, braucht es nicht. Nationales Interesse ist an sportlichem Erfolg gebunden, das scheint zu reichen. Das präsupponierte “ Du ” , so darf aus dieser Datenlage geschlossen werden, ist männlich, kein ‘ Sitzpisser ’ , einfach gestrickt und leicht zu durchschauen, und damit einer bestimmten Schicht und einem bestimmten Konzept von Normalität zuzuordnen. Es liebt Sieger, die deshalb, weil sie Sieger sind, verehrt werden, und darüber lebt es seinen Gemeinschaftssinn aus; und es liebt Autos und Raserei. Das versteht es, wie aus der Redeweise ersichtlich wird. Was es nicht versteht, wird ihm von Frauen erklärt. Wenn er es immer noch nicht versteht, muss er nur seinen Kumpels folgen. Denn wohl fühlen tut es sich, wenn es genau das macht, was alle machen. Einschwören einer Gemeinschaft ohne Risiko. Das ist das personifizierte Deutschland 2005. 3.3 Personifiziertes Deutschland 2005 - Selbst- oder Fremdreferenz? Welche Kommunikation wird installiert? Der Spot ist von der (Medien-)Wirtschaft finanziert, diese tritt selbst im Spot aber nicht auf. Alle anderen realisieren das Bild der Identifizierung von Raum und Person. Im Vergleich mit den Werbespots 2012 sind also Unterschiede zu konstatieren. Während dort diese Relation quasi internalisiert ist und von der Wirtschaft für sich funktionalisiert wird, muss sie hier explizit und programmatisch gefordert werden, allerdings nicht für die Sprechinstanz selbst. Diese exkludiert sich. Zunächst ist festzuhalten, dass mit dem im Spot konstruierten “ Alle ” weniger ein tatsächliches ‘ Alle ’ gemeint ist, sondern dieses auf eine bestimmte Klientel abzielt. Die Stoßrichtung lässt sich deutlich als an den Osten adressiert bestimmen (dies korreliert mit den konstatierten räumlichen Präferenzen) und ist gegen so etwas wie eine (von männlichen Prolls getragene) ‘ Ossi-Mentalität ’ gerichtet. Auf Jugendliche, aber auch auf Senioren oder allgemein auf eine bürgerliche Mittelschicht, geschweige denn auf eine intellektuelle oder gar künstlerische Elite ist der Spot nicht ausgerichtet. Die inszenierte Natürlichkeit der Nation konterkariert sich dabei gerade aus der Distanz, da aus einer solchen heraus zu erkennen ist, dass das skizzierte Bild von Deutschland keinen universell gültigen Anspruch hat, sondern sich maximal einer Momentaufnahme von 2005 verdankt. 34 33 Ralf Schumacher war von 2000 bis 2004 durchgängig Weltmeister in der Formel-1. 34 Der Spot zeigt, was konkret zu dieser Zeit als relevant und als weniger relevant erachtet wird. Der Islam etwa und die Integration von muslimischen Mitbürgern ist 2005 kein Thema, ist also nicht ‘ Deutschland ’ , ebenso wenig wie die Migrationsthematik. Deutschland imaginiert sich stattdessen als (kaukasisch) männlich dominiert und das Denken ist auf eine solche Männerwelt ausgerichtet. Dies ist pragmatisch gestützt, denn die Auftrag gebenden Medienkonzerne dürften in ihren Entscheidungsträgern wohl zu 100 % aus Männern bestehen oder damals bestanden haben. Mit Kindern, Minderheiten und Frauen wird zwar exzessiv Strategische Selbstreferenz 203 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [203] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Ein Dokument der Zeit ist der Spot auch auf einer medienpragmatischen Ebene, da die Kampagne im Fernsehen und in Printanzeigen geschaltet wurde, nicht im Internet. 35 Das Internet gilt also 2005 (noch) nicht als ‘ staatstragendes ’ Medium, mit dem das avisierte Publikum zu erreichen wäre. Das ist interessant auch deshalb, als es dann gerade Internetkommunikation ist, die für die eingangs skizzierte Kritik verantwortlich ist und damit als Faktor öffentlicher Meinungsbildung fungiert. Die Auftraggeber aus den ‘ alten ’ Medien sind ihren eigenen Vorstellungen einer Medienlandschaft verhaftet und registrieren bereits vorhandene Änderungen nicht und sehen sich auch nicht genötigt, darauf zu reagieren und diese einzubeziehen. Das “ Alle ” ist im Spot auch insofern kein alle, als es eben gerade diese Auftragsdimension gibt, die sich in der Semantik des Spots spiegelt: So, wie im Spot die Sprecher den Adressaten zu einer Verhaltensänderung auffordern, so homolog auch die Auftraggeber das ‘ deutsche Volk ’ . Die implizierte Semantik des “ Du bist Deutschland ” ist weniger die eines integrativen ‘ Auch Du gehörst dazu ’ , sondern vielmehr die eines direktiven ‘ Wenn Du schon dazugehörst/ Da Du nun mal Deutscher bist, benimm dich entsprechend und leiste etwas ’ . Jeder ist und bleibt dabei auf seinem Platz, wie es sich für einen Volksorganismus gehört, und auf dem soll er seinen Teil beitragen. Damit werden dem adressierten “ Du ” wenig Individualität und Kreativität zugesprochen. Seine Legitimität erhält es nur in einem ganz spezifischen Verhältnis von Teil-Ganzem, wobei Konturen aufgelöst werden, wie die Formulierung “ Du bist von allem ein Teil und alles ist ein Teil von dir ” verdeutlicht. Das “ Du ” wird zwar als unverzichtbarer Teil einer Gemeinschaft gesetzt, wobei das “ Du ” allerdings nur dann integriert ist, wenn es genau das macht, was alle machen; einen personellen Mehrwert hat es nicht. Intelligenz, Flexibilität, und was es sonst für Schlüsselqualifikationen gibt, ein solches “ Du ” wird nicht gefordert, ist nicht gewünscht. Deutschland zu werden, und damit Individualität zu verlieren, wird allerdings ja auch nur für diejenigen propagiert, die sowieso keine Individualität und (Diskurs-)Macht haben. Das ‘ Volk ’ bildet den Volkskörper und damit gibt es implizit immer auch jemanden, der sagt, wo es lang geht. In diesem Fall die Wirtschaft. 36 Dass also auf dieses “ Du ” fokussiert wird, statt auf ein “ Wir ” , konterkariert das gleichzeitig inszenierte und zelebrierte ‘ Alle ’ . Damit wird umso augenfälliger, dass dieses von jemandem zu bestimmten Zwecken konstruiert ist. Der Spot diskreditiert sich also letztlich in seinen Strukturen selbst. Obwohl einerseits versucht wird, einen Effekt des Unmittelbaren, Spontanen, Verinnerlichten zu erzeugen, wird andererseits immer wieder argumentiert, dabei ist aber deutlich zu erkennen, dass diese Gruppen eben auch nur als ‘ Argumente ’ funktionalisiert sind. Es handelt sich um das übliche rhetorische Potpourri, wenn es darum geht, eine affektivemotionale Aura für das eigene ideologische Substrat zu etablieren. 35 Cf Anm. 23. Zu präzisieren wäre, dass eben nicht die analogen Medien auf die Homepage ausgerichtet waren, um auf diese hinzuweisen, sondern als qualitativer ‘ Selbstzweck ’ den eigentlichen medialen Fokus bildeten; die Homepage war marginalisiert vorhanden, diente aber nur als Zusatz, ohne Vernetzung und ohne das Potential einer digitalen Kampagne auszuschöpfen. 36 Die Frage, ob Deutschland wirklich ein solches “ Du ” braucht, stellt sich nicht nur aus analytischer Sicht, sondern hätte sich auch für die Auftraggeber der Kampagne stellen müssen. Auch aus ökonomischer Sicht müssten für einen modernen Wirtschaftsstandort wohl andere Qualitäten und Qualifikationen seiner Arbeitnehmer zählen als die hier implizierten - aber auch das könnte unter die skizzierte Momentaufnahme 2005 fallen. 204 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [204] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL mit Konstruiertheiten und Künstlichkeiten operiert, die diesen Effekt beeinträchtigen und dafür sorgen, dass der Spot von sich aus an Glaubwürdigkeit einbüßt. Dies zeigt sich bereits daran, dass alle den Text zu kennen scheinen. Zwar impliziert dies ein gemeinsames Credo, aber auch, dass diese Aktion nicht wirklich spontan sein kann; sie entlarvt sich als eingeübte, angelernte, wenig authentische Artikulation. Durch die Bilder wird dies verstärkt, wenn teilweise Wert auf eine extreme ästhetisch stilisierte Bildkomposition gelegt wird. Dass es um Raumzeichen und weniger um eine tatsächliche Referenz geht, die durch die Bilder vermittelt werden soll, wird in der Sequenz mit der Demo gegen Rechtsradikale schließlich augenfällig. Statt Bilder einer tatsächlichen Demonstration zu verwenden und damit auf tatsächliche soziale Gegebenheiten (und Konfrontationen) zu referieren, fungiert die ganze Sequenz als reines Zitat: Diese Demo findet nicht irgendwo auf der Straße statt, sondern im Lichthof der Münchner Universität (und erweist sich damit von vornherein als inszenierte und nicht eigentliche). Der Topos des positiven Aktionismus wird aufgerufen, dieser wird zusätzlich populärkollektiv verankert, denn die Bilder mit dem Blätterregen referieren als Allgemeinwissen auf Sophie Scholl und die Weiße Rose. 4 Selbstreferenz Deutschland: Deutsches Denken Wie sich in den Beispielen zeigt, artikuliert sich bezüglich einer Selbstreferenz auf Deutschland eine Diskursformation, die in ihren Ausprägungen wohl nicht als neuer Nationalismus zu bewerten ist, aber doch als Element eines sich verändernden Bewusstseins, insbesondere bezüglich der Historizität kollektiver Identitäten. Wie die Beispiele unter Punkt 2 gerade durch ihre Kopräsenz zeigen, scheinen sich Bindungen um 2012/ 2013 zu verlieren oder so schwach ausgeprägt zu sein, dass sie problemlos überschrieben werden können. Nationale Konnotationen sind konsens- und werbefähig. Dieser Prozess, für den die Du bist Deutschland-Kampagne von 2005/ 06 einen zentralen medialen Baustein darstellen dürfte, dürfte mit der “ Stolz ” -Debatte Anfang der 2000er Jahre beginnen und hier medial (und damit semiotisch) erstmals sichtbar werden. 37 Diese fungiert dann selbst als Katalysator und evoziert die Hervorbringung weiterer Texte, die sich dem darin implizit Vermittelten verdanken, dieses aufnehmen und zu synthetisieren versuchen. Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv etwa, auf welche Leistungen man also stolz sein darf, ist hier Thema, ebenso die konnotativen Semantiken von (deutschem) Patriotismus und die damit verbundenen Implikationen einer Selbstzuschreibung. Versteht man Texte als kulturelle Speicher, dann finden sich Anzeichen einer veränderten und sich ändernden Mentalität diesbezüglich etwa in Edgar Reitz ’ Heimat 3 von 2004, um ein prominentes Beispiel zu geben. Hier werden diese Konstellationen in dem Sinne reflektiert, als sie selbst zunächst historisiert sind, mit dem als Zeitenwende verstandenen Mauerfall von 1989 korrelieren und gleichzeitig dann aber naturalisiert und als selbstverständlich gesetzt werden. 38 37 Einen Einblick in diese als Patriotismusstreit deklarierte Debatte bieten die Dokumente im Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (www.faz.net, “ Ich bin gerne Deutscher, weil …” , Archiv Politik/ Patriotismusstreit 20. 3. 2001). 38 Siehe hierzu ausführlich Krah (2012: 215 - 223). Strategische Selbstreferenz 205 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [205] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Beschreiben lassen sich diese Änderungen (und ihr Vollzug) am Besten mit Lotmans Konzept der Semiosphäre, als die er Kultur modelliert. Die zentralen Kategorien, die Lotman dabei als die relevanten prozessualen Mechanismen von Wandel setzt, zum einen Getrenntheit, und damit Austauschprozesse zwischen eigen und fremd, und zum anderen die innere Strukturierung in Kern und Peripherie, sind geeignet, dieses Phänomen in seinen Strukturen wie seiner Diskursentwicklung zu modellieren. Lotman geht es vor allem um den Aspekt der Herausbildung neuer Information: “ Die strukturelle Ungleichartigkeit der Bestandteile des semiotischen Raums bietet Reserven für dynamische Prozesse und ist einer der Mechanismen für die Schaffung neuer Information innerhalb der Sphäre ” (cf. Lotman 1990: 294 f.). Gerade solche neuen Informationen sind es, die durch die aufgezeigte Selbstreferenz für das Zeichen Deutschland initiiert werden. Dazu dienen Verschiebungen und Zirkulationen von Peripherie und Zentrum, von rechts-konnotiertem Diskurs zu Werbe-Alltag, ebenso wie in der Inszenierung einer Beobachterposition von außen als getarnter Selbstbeschreibung eine zentrale Funktion der Grenze von innen und außen abgebildet wird. Anhang Du bist Deutschland, Text des Manifests mit Sprecherzuordnung [1] Du bist das Wunder von Deutschland. [ältere Frau] [2] Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen. [Sandra Maischberger] [3] Der Windstoß, der durch seinen Flügelschlag verdrängt wird, entwurzelt vielleicht ein paar Kilometer weiter Bäume. [Minh-Khai Phan-Thi] [4] Genauso, wie sich ein Lufthauch zu einen Sturm entwickelt, [männliche Stimme, Off] [5] kann Deine Tat wirken. [Bert Siggelkow] [6] Unrealistisch sagst Du? Und warum feuerst Du dann deine Mannschaft im Stadion an? Wenn Deine Stimme so unwichtig ist? [Oliver Pocher, diegetischer Adressat] [7] Wieso schwenkst Du Fahnen, während Schumacher seine Runden dreht? [Bademeister] [8] Du kennst die Antwort. [Patrick Lindner] [9] Weil aus Deiner Flagge viele werden und aus Deiner Stimme ein ganzer Chor. [Xavier Naidoo] [10] Du bist von allem ein Teil [Bobby Brederlow] [11] und alles ist ein Teil von Dir. [Dominic Raacke] [12] DU BIST DEUTSCHLAND! [Kinder] [13] Dein Wille ist wie Feuer unterm Hintern. [Oliver Korittke] [14] Er lässt Deinen Lieblingsstürmer schneller laufen [Reinhold Beckmann] [15] und Schumi schneller fahren. [einer im Auto] [16] Egal, wo Du arbeitest, [erster Werftarbeiter] [17] egal, welche Position Du hast, Du hältst den Laden zusammen. [zweiter Werftarbeiter] [18] Du bist der Laden. [thailändische Kellnerin] [19] DU BIST DEUTSCHLAND! [Walter Kempowski] [20] Unsere Zeit schmeckt nicht nach Zuckerwatte. [weiblich, nicht genau zuordenbar] 206 Hans Krah (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [206] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL [21] Das will auch niemand behaupten; mag sein, Du stehst mit dem Rücken zur Wand, [Ulrich Wickert] [22] oder mit dem Gesicht vor einer Mauer. [Klofrau] [23] Aber einmal haben wir schon gemeinsam eine Mauer niedergerissen. [Marcel Reich- Ranicki] [24] Deutschland hat genug Hände, [Straßenverkäufer] [25] um sie einander zu reichen und anzupacken. [Gabriele Strehle] [26] Wir sind 82 Millionen. [Gerd Strehle] [27] Machen wir uns die Hände schmutzig. [Kfz-Mechaniker im Dialekt] [28] Du bist die Hand, Du bist 82 Millionen. [Oliver Kahn] [29] DU BIST DEUTSCHLAND! [Maria Furtwängler] [30] Also wie wäre es, wenn Du Dich mal wieder selbst anfeuerst. [Katarina Witt] [31] Gib nicht nur auf der Autobahn Gas. [Florian Langenscheidt] [32] Geh runter von der Bremse. [Mädchen] [33] Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Deutschlandbahn. [Fahrradkurierin] [34] Frage Dich nicht, was die anderen für Dich tun, [Chirurg] [35] Du bist die anderen. DU BIST DEUTSCHLAND! [Gerald Asamoah] [36] Behandle Dein Land doch einfach wie einen guten Freund. [Günther Jauch] [37] Mecker ’ nicht über ihn, sondern biete ihm Deine Hilfe an. [Kool Savas] [38] Bring die beste Leistung, zu der Du fähig bist. [ Justus Frantz] [39] Und wenn Du damit fertig bist, übertriff Dich selbst. [Wojtek Czyz] [40] Schlage mit Deinen Flügeln [Frau im Café] [41] und reiß Bäume aus. [Harald Schmidt] [42] Du bist die Flügel, [blonde Frau] [43] Du bist der Baum. [Anne Will] [44] DU BIST DEUTSCHLAND! (männliche Stimme, Off ) Bibliographie Gräf, Dennis et al. 2 2017: Filmsemiotik. 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Seit 2005 ist er Beirat in der Sektion Literatur der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V., von 2011 − 2017 war er im Vorstand und von 2014 − 2017 Präsident der DGS e.V. Seine Forschungsschwerpunkte sind Semiotik, transmediale Narratologie, Literatur vom 18. − 21. Jahrhundert, Film, Fernsehen und neue Medien in kultur- und mediensemiotischer und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive. Dr. Stephanie Großmann ist seit 2015 Akademische Rätin a. Z. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Nach einem Diplomstudium der “ Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien ” an den Universitäten Passau und Verona wurde sie 2012 mit einer medienwissenschaftlichen Arbeit zum Thema “ Inszenierungsanalyse von Opern. Eine interdisziplinäre Methodik ” promoviert, für die sie 2013 mit dem Karl-Heinz- Pollok-Gedächtnispreis ausgezeichnet wurde. Neben dem Musiktheater liegen ihre Forschungsschwerpunkte in Literatur und audiovisuellen Medien im Bereich medialer Wirklichkeitskonstruktionen, der Intermedialität und Selbstreflexivität, der Filmmusik und der Narratologie. Dr. Stefan Halft ist seit 2015 Projektmanager des BMBF-geförderten Projekts “ SKILL ” (Qualitätsoffensive Lehrerbildung) an der Universität Passau. Nach einem Diplomstudium der “ Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien ” an den Universitäten Passau, Cardiff (Wales) und Paris wurde er mit einerArbeit im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft zur Funktionalisierung von Wissen zur Konstruktion von ‘ Leben ’ in der deutschsprachigen Literatur 2014 an der Universität Passau promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. Literatur/ Film und Wissen, Prozesse der Wissensgestaltung, Lebensdiskurs in der zeitgenössischen Literatur, Klondiskurs in Literatur, Film und Presse sowie Migrationsdiskurs im Film. Dr. Martin Hennig ist seit 2016 Postdoktorand am DFG-Graduiertenkolleg 1681/ 2 “ Privatheit und Digitalisierung ” der Universität Passau. Nach einem Magister-Studium der Neueren Deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, Psychologie und Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wurde er 2016 zu den Subjekt- und Weltentwürfen des Videospiels aus kultursemiotischer Perspektive an der Universität Passau promoviert; seine Arbeitsschwerpunkte sind Medien- und Kultursemiotik, Genderforschung und Subjekttheorie, kulturelle Verhandlungen von Digitalität, Überwachung und Kontrolle. Zusammen mit Hans Krah gibt er die Reihe “ Spielzeichen ” im Verlag Werner Hülsbusch heraus. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [209] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Prof. Dr. Hans Krah ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Derzeit ist er Sprecher des DFG- Graduiertenkollegs 1681/ 2 “ Privatheit und Digitalisierung ” an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte sind Semiotik, Narratologie, Kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung, Privatheit, Populärkultur. Steffi Krause, B. A., arbeitet seit 2015 am Goethe-Institut New York. Sie hat nach einem Studium der Sprach- und Textwissenschaften an der Universität Passau von 2012 − 2015 an der Universität Passau als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik gearbeitet und war assoziiertes Mitglied im DFG-Graduiertenkolleg Privatheit 1681/ 1 “ Privatheit ” . Sie promoviert seit 2012 im Fach Medienwissenschaften zu Liebes- und Familienkonzepten im deutschen Film nach 2000. Sie forscht zur Soziologie der Liebe, zum gegenwärtigen deutschen Film und im Bereich der Gender Studies mit einem Fokus auf medial vermittelte Geschlechterbilder. Dr. Matteo Riatti ist seit 2016 als Projektmanager an der Hochschule der Medien (Stuttgart) tätig, koordiniert das BMBF-geförderte Projekt “ PräDiSiKo ” (Präventive digitale Sicherheitskommunikation) und arbeitet am Institut für Digitale Ethik. Er hat an der Universität Passau European Studies (B. A. und M. A.) studiert und parallel den Studiengang der Sprach- und Textwissenschaften (B. A.) abgeschlossen. Im Jahr 2018 wurde er mit einer medienwissenschaftlichen Arbeit zur Remediation von Genres in Videospielen an der Universität Passau promoviert. Er forscht vorwiegend zu Themenbereichen der Game Studies, der Spiel- und Sportsoziologie und der digitalen Ethik. Dr. Marietheres Wagner ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Nach einem Masterstudium Text- und Kultursemiotik an der Universität Passau wurde sie ebendort 2013 mit der Arbeit Dramaturgie im Raum. Analyse, Tempo und Wege. Ein Analysemodell zur Filmdramaturgie promoviert. Marietheres Wagner ist zudem Filmregisseurin und Drehbuchautorin und war nach einem Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München dort von 2001 bis 2006 auch als Dozentin für Regie und Szenenbild tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt ist seit 2016 die Didaktik kreativer Prozesse. Benjamin Weiß, M. A., ist Referent bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Bonn. Dort ist er im Fachbereich Print in der Redaktion der Buchformate “ Schriftenreihe ” und “ Zeitbilder ” tätig, wo er 2014/ 2015 auch ein Verlagsvolontariat absolviert hat. Er hat in Passau Medien- und Kommunikation studiert und sein Masterstudium im Jahr 2013 mit einer Arbeit über Geld und Kapitalismus im US-amerikanischen Spielfilm abgeschlossen, zudem hat er u. a. als Journalist und freier Lektor gearbeitet. Amelie Zimmermann, B. A./ M. A., ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik der Universität Passau im Lehrprojekt “ Information and Media Literacy ” (Gesamtprojekt SKILL - Strategien zur Kompetenzentwicklung: Innovative Lehr- und Beratungskonzepte in der Lehrerbildung). Nach ihrer Mitarbeit von 2014 - 2016 am Projekt “ Digitale Narrationen als innovativer didaktischer Ansatz für eine ökonomische Bildung im Handel ” an der Hoch- 210 Autorinnen und Autoren / Authors Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [210] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL schule der Medien (HdM) Stuttgart und am Institut für Angewandte Narrationsforschung untersucht sie jetzt in ihrem Promotionsprojekt transmediale Bedeutungskonstruktionen im medienübergreifenden Textverbund. Autorinnen und Autoren / Authors 211 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [211] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of Authors Prof. Dr. Jan-Oliver Decker Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik Universität Passau Leopoldstraße 4 94032 Passau Dr. Stephanie Großmann c/ o Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstraße 25 94032 Passau Dr. Stefan Halft SKILL/ Projektmanager Universität Passau Gottfried-Schäffer-Straße 20 94032 Passau Dr. Martin Hennig DFG-Graduiertenkolleg 1681/ 2: “ Privatheit und Digitalisierung ” Universität Passau Nikolastraße 12 94032 Passau Prof. Dr. Hans Krah Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstraße 25 94032 Passau Steffi Krause, B. A. 149 Barbey Street, Brooklyn, New York 11207 United States Dr. Matteo Riatti Projektkoordinator Hochschule der Medien Stuttgart Fakultät Electronic Media Nobelstraße 10 70569 Stuttgart Dr. Marietheres Wagner c/ o Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstraße 25 94032 Passau Benjamin Weiß, M. A. Dorotheenstr. 91 53111 Bonn Amelie Zimmermann, M. A. SKILL/ Information and Media Literacy Universität Passau Gottfried-Schäffer-Str. 20 94032 Passau Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [212] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift KODIKAS/ CODE (ca. 10 - 30 S. à 2.500 Zeichen [25.000 - 75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2 - 3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarzweiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3 - 5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für KODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht ( “…” ). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im SPIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “ normalen ” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “ [ … ] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen ” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “ f. ” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [ … ], Hinzufügungen durch Initialen des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “ (Hervorh. im Original) ” oder “ (Hervorh. nicht im Original) ” bzw. “ (Hervorh. v. mir, Initial) ” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “ [sic] ” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt ( “… ‘…’ …” ). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [213] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “ Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet. ” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “ Fähe bedeutet ‘ Füchsin ’ . ” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “ *Rettet dem Dativ! ” oder “ *der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. ” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [ … ] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “ Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben ” , in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1 - 2 (1999): 27 - 41 Duck, Donald 2000: “ Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag ” , in: Duck (ed.) 4 2000: 251 - 265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “ und ” oder “ & ” (bei mehr als drei Namen genügt ein “ et al. ” [für et alii ] oder “ u. a. ” nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “ etc. ” ): 214 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [214] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘ graue ’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck ( “ Zürich: Diss. phil. ” ), vervielfältigte Handreichungen ( “ London: Mimeo ” ), Manuskripte ( “ Radevormwald: unveröff. Ms. ” ), Briefe ( “ pers. Mitteilung ” ) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “ Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis ” , in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47 - 67 Duck, Daisy 2001 b: “ Zum Rollenverständnis des modernen Erpels ” , in: Ente und Gesellschaft 19.1 - 2 (2001): 27 - 43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “ Schon wieder keinen Bock ” , in: Franz Gans ’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15. 01. 2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15. 01. 2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15. 01. 2009] Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 215 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [215] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Instructions to Authors Articles (approx. 10 - 30 pp. à 2'500 signs [25.000 - 75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3 - 5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotation marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn ’ t make sense; one is taken out of context; one isn ’ t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘ normal ’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [ … ], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “… ‘…’ …” . Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘ Enlightenment ’ ); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [216] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘ I learn English since ten years ’ : The Global English Debate and the German University Classroom ” , in: English Today 18.2 (2002): 9 - 13 Modiano, Marko 1998: “ The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union ” , in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241 - 248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “ Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe ” , Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5 - 7 October 2001, http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15. 01. 09]. Instructions to Authors 217 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [217] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL
