Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2018
411-2
KODIKAS/ CODE An International Journal of Semiotics Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Themenheft / Special Issue Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten Beiträge der Sektion ‘ Literatur ’ des 15. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. in Passau, 12. - 15. September 2017 Herausgegeben von / edited by Jan-Oliver Decker und Amelie Zimmermann Articles Jan-Oliver Decker und Amelie Zimmermann Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten - eine Einführung in den Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sebastian Feil Der Begriff der/ als Schnittstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Vera Bachmann “ Das Internet sprach immer mit vollem Munde ” — Schnittstellen zwischen Digitalem und Analogem in Clemens Setz ’ Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre . . . . 20 Stephan Brössel Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Miriam Frank Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Martin Hennig Bild - Spiel - Literatur. Zur Interaktion audiovisueller, ludischer und literarischer Erzählstrategien in der Visual Novel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stephanie Großmann Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? Schnittstellen zwischen Libretto, Musik und Konkretisierung im Musiktheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Dennis Gräf “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” - Schnittstellen von Film, Literatur und bildender Kunst in Edgar Reitz ’ Cardillac (1969) im Kontext des Autorenfilms der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Hans Krah Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas . . . . . . . . . . . . 125 Autorinnen und Autoren / Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . . 158 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 134, - (special price for private persons € 104, - ) plus postage. Single copy (double issue) € 84, - plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. The articles of this issue are available separately on www.narr.de © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P. O. Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 0171-0834 K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten - eine Einführung in den Band Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) This issue brings together a selection of the contributions at the section “ Literatur 2.0 - Literatur und (alte/ neue) Medien ” of the 15th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Grenzen. Kontakt - Kommunikation - Kontrast ” (Universität Passau, 12. - 15. 09. 2017). The section ’ s central question was how literature in multimodal, trans-, interand multimedia and intertextual contexts has developed in the 20th and 21th century as a separate, independent art form or as an art form that has always been crossmedia. The contributions compiled here thus aim to provide elements for a semiotic appropriate description of literary texts in trans-, multiand intermedia contexts and their methodological and theoretical reflection. All contributions focus on the semantics and function of the interface(s) ( “ Schnittstelle/ n ” ) as a way to systematically describe and explain the interaction of literature and other media in multimodal correlations. - This essay introduces the volume and the contributions and outlines the basic questions of the essays collected here. 1 Zur Genese und Konzeption des Bandes Im Zuge der digitalen Revolution stellt sich verstärkt die Frage nach der Rolle und Funktion der Künste Literatur, Film, Graphic Novel, Videospiel, Oper usw. und nach ihrer Konkurrenz und Kooperation mit den jeweils anderen Künsten. Aus dieser Perspektive versammelt der vorliegende Band erstens eine Auswahl von Beiträgen, die in der Sektion “ Literatur 2.0 - Literatur und (alte/ neue) Medien ” auf dem 15. internationalen Kongress “ Grenzen. Kontakt - Kommunikation - Kontrast ” der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. vom 12. - 15. September 2017 vorgestellt wurden. Über vier Tage hinweg stand hier die Grenze konkret und im übertragenen Sinne als Thema des Kongresses im Zentrum der Sektion, die nicht nur Forschende aus Literatur-, sondern auch aus Kultur- und Medienwissenschaft zusammenbrachte und so ein breiteres Spektrum semiotischer Forschung mit textwissenschaftlicher Methodik abzubilden suchte. Es kristallisierte sich dabei in der Diskussion dann schnell heraus, dass der Begriff der Grenze mit seinen Merkmalen ‘ trennend ’ und ‘ dichotom ’ zwar für die Analyse vieler textueller Phänomene fruchtbar ist, dass es aber in den hier versammelten Beitragsthemen im Besonderen um Anschlüsse, Transformation und Austausch geht. Diesem Diskussionsergebnis trägt der vorliegende Band Rechnung, indem er statt des Begriffs der Grenze den neutraleren (und moderneren) Begriff der Schnittstelle prominent macht, der insbesondere den Austausch zwischen verschiedenen Zeichensystemen, Informationskanälen und medialen Systemen fokussiert. Deshalb haben wir zweitens zusätzlich Beiträge in diesen Band integriert, die Aspekte des Austausches zwischen Zeichensystemen, Medien und Informationskanälen auch im Autorenfilm oder aber in Graphic Novels fokussieren und so den semiotischen Blick über die Literatur hinaus erweitern. 2 Konstellationen von Themen/ Fragen/ Zugängen - die Beiträge Das Konzept der Schnittstelle vereint in unserem Verständnis die Konzepte der Grenze und der Zone, vollzieht also gleichzeitig eine Trennung und bringt das Getrennte zugleich auch in einem systemischen, spatialen und/ oder temporalen Raum des Übergangs zusammen. Das englische “ interface ” , das häufiger im Deutschen genutzt wird als der Begriff der Schnittstelle, wenn es um technische oder informatische Fragestellungen geht, ist allerdings spätestens seit Steven Johnsons Interface Culture 1997 nicht auf diesen Bereich beschränkt. Johnson löst die starre Verbindung zur Technik, indem er die semiotische Funktion des interfaces betont: The interface serves as a kind of translator, mediating between the two parties, making one sensible to the other. In other words, the relationship governed by the interface is a semantic one, characterized by meaning and expression rather than physical force. (cf. Johnson 1997: 14) Grundlegend erschien es uns deshalb zunächst einmal wichtig zu sein, sich (i) mit der Semantik des Konzepts der Schnittstelle auseinanderzusetzen: Sebastian Feils Beitrag untersucht sowohl den Begriff der “ Schnittstelle ” als Signifikat als auch umgekehrt den Begriff “ Begriff ” als semiotische Schnittstelle. Dabei beleuchtet er die historische, aber auch die systemische und kontextuelle Verwendung und auch die Häufigkeit der Nutzung der beiden Konzepte in einem systematischen Zusammenhang. Damit eröffnet Sebastian Feil diesen Band und eröffnet zugleich den Begriff der Schnittstelle als einen semantischen Raum, der die diskursive Auseinandersetzung um die Semantik und Funktion der Schnittstelle als Konzept und als Metapher in den folgenden Beiträgen ermöglicht. Die Grundfrage der Sektion war ursprünglich, (ii) wie sich die Literatur in multimodalen, trans-, sowie inter- und plurimedialen und intertextuellen Zusammenhängen als abgegrenzte eigenständige oder aber als immer schon medienübergreifende Kunstform im 20. Jh. entwickelt hat und wie sie sich im 21. Jh. weiterentwickeln wird. Dabei wurde gefragt, welche Funktionen Literatur in Kombination mit anderen medialen Formaten und Künsten in einem übergeordneten Zusammenhang übernimmt, welche Synergieeffekte also durch die Schnittstellen der Literatur mit anderen medialen Formaten entstehen. Hier schließen sich Fragen an, ob und wie sich neue digitale Formen ihrerseits zurück auf die scheinbar traditionelle, gedruckte Literatur auswirken. Aus genau dieser Perspektive fragt Vera Bachmann in ihrem Beitrag, inwiefern Literatur als Ort der Aushandlung zwischen Analogem und Digitalem sowohl innerhalb des Romans Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz als auch in der vom Verlagsmarketing bewusst gestalteten 4 Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) Online-Kommunikation Positionen und Konzepte des Analogen und Digitalen einander gegenübergestellt, übersetzt und reflektiert werden. Hier fungiert Literatur als Schnittstelle, die verschiedene Systemgrenzen aufzeigt und als Kommunikationsort und Zeichensystem eine Verhandlung der Positionen möglich macht. Die wechselseitige Öffnung der Literatur und der digitalen Medien zeigt sich (iii) nirgends so deutlich wie an den Stellen, an denen Literatur durch andere Medien paratextuell gerahmt und erweitert wird, wo also Schnittstellen durch wechselseitige Referenzbeziehungen, auch im Rahmen von Medienwechsel, Intermedialität und Intertextualität von Literatur und anderen medialen Formen ausgebildet werden. Hieran anknüpfend erschließt die Mehrheit der hier vorgelegten Beiträge aus narratologischer Perspektive den Fragenkomplex, wie medienübergreifende Narrative in einer unterschiedlichen medialen Umsetzung Bedeutungen transferieren, umkodieren, de-semantisieren und zu Wissensordnungen in Beziehung setzen. Beispielsweise untersucht Stephan Brössel das relativ junge Genre des Buchtrailers, i. s. kurze audiovisuelle Filme, die mehrheitlich über das Internet rezipiert werden, und fragt wie Literatur in den (neuen) Medien inszeniert und vermarktet wird. Stephan Brössel identifiziert deskriptiv, welche medialen und narrativen Strukturen Buchtrailer aufweisen, und grenzt sie theoretisch und typologisch von Filmtrailern und Werbespots ab. Dabei erklärt der Beitrag die intermediale Konstellation, die Buchtrailer mit ihrem literarischen Bezugstext eingehen, als wichtigstes, genrekonstituierendes Merkmal. Der Beitrag von Miriam Frank widmet sich audiovisuellen Adaptionen von Literatur auf YouTube, die besonders bei Schülerinnen und Schülern beliebt sind. Die Weltliteratur-to-go- Videos von Michael Sommer sind kurze Clips mit Playmobil-Spielfiguren und konzentrieren sich auf eine kompakte Übermittlung und Bewertung der Handlungsstruktur. Dabei werden die literarischen Spezifika getilgt und die literarischen Werke einem als Marke etablierten Format untergeordnet. Hier kann also weniger von einer Adaption, als vielmehr von einer Neuschöpfung gesprochen werden, welche literarische Wissensmengen in digitale Wissensformationen umkodiert. Wo in den Weltliteratur-to-go-Videos die Literatur dem digitalen Format angepasst wird, da zeigt umgekehrt der Beitrag von Martin Hennig, wie sich neue digitale Formate an literarische Strukturen anpassen. Martin Hennig identifiziert in seinem Beitrag die verschiedenen Erzählstrategien der Visual Novel, die sich durch die Kombination der Zeichensysteme Bild, Spiel und Literatur ergeben. Obwohl Visual Novels als mediale Hybride aus Comic, Computerspiel und Literatur angesehen werden können, stehen sie aufgrund ihrer reduzierten Interaktionsschemata und visuellen Details vor allem der Literatur nahe. Hier werden also (iv) Fragen diskutiert, wie sich beispielsweise narrative Strukturen der Literatur im Rahmen eines Videospiels/ Text-Adventures ludologisch oder aber im Rahmen eines YouTube-Videos didaktisch ausprägen und welche Erzählstrategien sowie Werte und Normen neue literarischen Formen im Netz wie Handyromane, Fanfictions, aber auch neue audiovisuelle Formen wie Buchtrailer und Videos zu Klassikern der Weltliteratur im Rahmen neuer mediendispositiver Strukturen realisieren. Fast alle Beiträge beschäftigen sich dabei dann mehr oder weniger intensiv (v) auch mit Fragen der Selbstreflexion und der Selbstreferenz, die in Beziehung zu fremdreferenziellen Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten 5 Wissensordnungen gesetzt werden. Es zeigt sich, dass einerseits durch die Thematisierung von Medien in Medien und andererseits durch die die trans-, inter- und plurimediale Verfasstheit von Texten im digitalen Zeitalter Wissensordnungen hergestellt werden, die essenziell für die kulturelle Orientierung, die Verhandlung kultureller Werte und Normen in der Gegenwart sind. 1 Solche Fragen sind beispielsweise auch aus der Perspektive der Forschung zur Rolle der Performativität in Präsenzmedien von Bedeutung. So untersucht Stephanie Großmann in ihrem Beitrag das Musiktheater als Schnittstelle zwischen Libretto, Musik und Konkretisierung. Anhand der meist gespielten Opern Die Zauberflöte und La Traviata zeigt sie auf, wie die Bedeutungsebene der konkreten Operninszenierung überholte kulturelle Werte, Normen und Konzeptionen von Gender, die über die Ebene des vor Jahrhunderten verfassten Librettos kommuniziert werden, aufbrechen und selbstreflexiv thematisieren und damit für die Kultur der Gegenwart akzeptabel machen kann. Aus der Perspektive der künstlerischen Selbstreflexion beschäftigt sich der Beitrag von Dennis Gräf mit Schnittstellen verschiedener Zeichensysteme im Autorenfilm der 1960er Jahre. Anhand von Edgar Reitz ’ Film Cardillac (1969) arbeitet er dabei das darin etablierte Konzept von Kunst heraus, welches im Besonderen anhand des Protagonisten filmisch konstruiert wird. Mit Hilfe dieser Künstlerkonzeption semantisiert sich der Film auf einer selbstreflexiven Ebene selbst als Kunst, indem er seine mediale Konstruiertheit herausstellt. Dies inszeniert der Film durch Schnittstellen zwischen Selbst- und Fremdreferenz, die der Film durch seine intertextuellen Bezüge installiert. Am Beispiel medialer Bearbeitung des Leonidas-Stoffes untersucht schließlich Hans Krah Schnittstellen zwischen Texten, Medien und Wissen, insbesondere unter dem Fokus von Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung. Zum einen zeigt er das Verhältnis von Text und Wissen und führt die Unterscheidung zwischen einer epistemischen und einer konfigurativen Bezugnahme ein. Zum anderen zeigt der Beitrag, wie der in ein anderes Medium (Film) transformierte Text (Graphic Novel) auch Wissenskonfigurationen transformiert und damit, welchen Status solche Adaptionen haben. Der Beitrag beschreibt damit den Umgang mit dem in Medien fassbaren Wissen und erklärt dessen ideologische Relevanz zwischen Bedeutung, Deutung und Zuschreibung. Im Ergebnis ist damit auf einer Metaebene auch eine Intention der hier vorgelegten Beiträge, Bausteine für eine semiotisch angemessene Beschreibung von literarischen Texten in trans-, multi-, pluri, und intermedialen Zusammenhängen und für ihre methodische und theoretische Reflexion zu liefern. Damit geht es in den Beiträgen dieses Bandes insgesamt um die Aushandlungsprozesse in und zwischen unterschiedlichen medialen Systemen, sei es innerhalb der Literatur oder des Films oder sei es zwischen einem literarischen und anderen audiovisuellen Texten oder in Bezug auf andere Zeichensysteme und ihre Funktionen für Wissensordnungen und Kulturen. Von hier aus müssten die Forschungen nun in zwei Richtigen weitergehen: 1 Cf. zum ganzen Komplex der Selbstreflexion durch das Wechselspiel von Selbst- und Fremdreferenz die Bände Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 39. 3 - 4 (2016) zur Literatur und Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 40. 1 - 2 (2017) zu anderen audiovisuellen Medien und Künsten. 6 Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) Erstens sollten die Beschreibungsinventare weiter semiotisch fundiert, auf andere Theorien der Inter-, Trans-, Pluri sowie Multimedialität und Multimodalität bezogen und von diesen bestehenden Theorien auch abgrenzt werden, um sowohl die semiotische Theoriebildung als auch andere Theorien weiterzuentwickeln. Auf diese Weise sollte weiter zur Vertiefung und Entwicklung semiotischer Literaturtheorie im Besonderen und semiotischer Medientheorien im Allgemeinen beigetragen werden. Zweitens bleibt in größeren Korpusanalysen zu fragen, wie sich Klassifikationssysteme wie beispielsweise Hoch- und Populärkultur oder der Kunstbegriff und die Schemaliteratur im Zuge transmedialer Re-Funktionalisierungen, Umkodierungen, De-Semantisierungen und Erweiterungen klassischer Literatur weiterentwickeln. Die Beiträge dieses Bandes möchten damit also auch zu weiteren Analysen konkreter Beispiele anregen, damit synchron und diachron kulturspezifische Wissensordnungen durch das System sie repräsentierender medialer Ordnungen rekonstruiert werden. 3 Grenze(n) - Schnittstelle(n): Lotmans Konzept der Semiosphäre Eine Möglichkeit, systematisch die medialen Beziehungen zwischen Literatur und Medien zu beschreiben, sei mit Lotmans Konzept der Semiosphäre abschließend noch angefügt (cf. Lotman 1990). Viele der hier vorgelegten Beiträge berufen sich mehr oder weniger explizit auf dieses Konzept, wie es ähnlich schon mehrfach dargelegt wurde (cf. Decker 2016, Decker 2017 und Decker 2018). Dabei sei zunächst kurz auf das Verhältnis der Begriffe ‘ Grenze ’ und ‘ Schnittstelle ’ eingegangen, um ihren in der Regel metaphorischen Gebrauch besser reflektieren zu können. Grenzen bestimmen unser Handeln als Menschen, indem sie uns Orientierung verleihen: Sei es, dass architektonische und topographische Grenzen Lebensräume, Arbeits- und Freizeitwelten voneinander scheiden; sei es, dass soziale, kulturelle und historische Grenzziehungen Ideologien, Religionen und Mentalitäten in Opposition und oder in eine Beziehung zueinander bringen und unser Denken und unsere Tradition prägen. Grenzen strukturieren beispielsweise als visuell inszenierte Grenzen zwischen außen und innen, fremd und eigen, bekannt und neu unseren Alltag ebenso wie als abstrakte Grenzen unser Denken in Kategorien, Begriffen und Denkmustern. Indem Menschen Grenzen ziehen und Wahrnehmungen, Sachverhalte und Begriffe voneinander trennen, schaffen Grenzen durch ihre Unterscheidung in das Eine und das Andere Strukturen, die es überhaupt erst ermöglichen in dieser Unterscheidung Bedeutung und Sinn zu konstituieren und sich über sich selbst zu verständigen. Schon wenn sich ein Ich als ein Subjekt im Gegensatz zu einem Objekt setzt, über das es nachdenkt, manifestiert sich im menschlichen Denken eine Grenze, der eine Kommunikation darüber vorausgegangen sein muss, was das Ich eigentlich im Gegensatz zu einem Anderen in seiner Umwelt auszeichnet (cf. Eco 1972: 28 - 44). 2 Grenzziehungen sind also immer Ergebnis eines menschlichen Erkenntnis-, Interaktions- und Kommunikationsprozesses, die durch die Kraft der Unterscheidung Kontakt 2 In eine ähnliche Richtung weist Wittgenstein auch mit dem Satz 5.632 im Tractatus Logico-Philosphicus: “ Das Subjekt gehört nicht zur Welt, es ist eine Grenze der Welt. ” (Cf. Wittgenstein 1922: Satz 5.632) Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten 7 zwischen unterschiedlichen Seins- und Objektbereichen herstellen können und menschliches Denken, Handeln und Kultur generell strukturieren: Grenzen in diesem Sinne fungieren als Schnittstellen zwischen Systemen, die sie zueinander in Beziehung setzen. Insofern das menschliche Denken dabei immer an einen zeichenbasierten, vor allem imaginär-sprachlichen Kommunikationsprozess gebunden ist, bedeuten nach Wittgenstein für das Subjekt “ die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt ” (Wittgenstein 1922: Satz 5.6). Hier fundiert Wittgenstein das Grundverständnis der Semiose - also der menschlichen Kommunikation als Zeichenproduktion, Zeichenwahrnehmung und Zeichendeutung - einerseits als eine anthropologische Konstante. Andererseits sind die Zeichen und Zeichensysteme, mit denen sich der Mensch die Welt in einem Deutungsakt innerhalb eines Kommunikationsprozesses erschließt, kulturelle Konstruktionen und Prozesse. Dabei setzt sich das Subjekt mittels der kulturell vorgefundenen Zeichensysteme in Bezug zu einem Weltentwurf und dem propositionalen und prozessualen Wissen seiner ihn umgebenden (Teil-)Kulturen. Angesichts des gegenwärtigen Medienwandels durch die neuen Medien und die allgegenwärtigen multimodalen Kommunikationsformen ließe sich in dieser Perspektive Wittgensteins logozentrische Auffassung zeitgemäß formulieren: ‘ Die Grenzen der mir verfügbaren Zeichensysteme und Kommunikationsmittel sind die Grenzen meines Weltentwurfes und meiner Verarbeitung kulturellen Wissens. ’ Der Entwicklung semiotischer Prozesse und damit medialem Wandel kommt damit auch eine Rolle in der Modernisierung der Gesellschaft und im kulturellen Wandel zu, da neue Wahrnehmung, neues Denken und neue kulturelle Praxen nur durch neue Zeichen, Zeichenkombinationen oder Zeichensysteme möglich werden. Auf genau diesem Verständnis von Semiose baut der estnische Literatur- und Kultursemiotiker Jurij Lotman mit seinem Konzept von der Semiosphäre auf (Cf. Lotman 1990), das die menschliche Kultur als Menge in sich strukturierter Zeichenräume erfasst und beschreibt, an deren unterschiedlichen Grenzen Sinn produktiv neu entstehen und von einem Zeichenraum in einen anderen Zeichenraum übersetzt werden kann. Lotman bildet den Begriff der Semiosphäre in Anlehnung an die Begriffe Biosphäre und Zoosphäre als vom Menschen erzeugter, abgrenzbarer Zeichenraum, der einerseits die kommunikativ in Semiosen hervorgebrachte menschliche Kultur in Gänze umfasst und andererseits auf alle möglichen National-, Teil-, Subkulturen synchron und diachron übertragen werden kann. Semiosphären strukturieren sich dabei durch fortlaufende Prozesse der Integration von Texten, Kodes und Zeichen, die ein Zentrum in Form von Haltungen, Einstellungen, Leitdifferenzen, Werten und Normen, Problemlösungsstrategien, verfestigten Kodes und Zeichen der Zeichenbenutzer ausbilden. Gleichzeitig laufen permanent Prozesse der Desintegration und Entsemiotisierung ab, so dass die Zeichenbenutzenden nicht mehr alle und nicht mehr vollständig kohärent und konsistent die Bedeutung und Verknüpfung von Zeichen, Bedeutungen, Kodes und Texten leisten. An dieser Peripherie der Semiosphären kommt es nach Lotman nun zu Kontaktphänomenen, bei denen an Schnittstellen Übersetzungen über die Grenzen einer Semiosphäre in eine andere vorgenommen werden und so neue Zeichen, neue Kodes und neuer Sinn entstehen können. Durch diese Kontaktphänomene an den Schnittstellen von Semiosphären lassen sich also sowohl medienübergreifende also auch kulturspezifische Prozesse der Vernetzung von Zeichen, Kodes und medialen Formaten in den neuen Medien ebenso wie in 8 Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) traditionellen kulturellen Bereichen systemisch beschreiben, wie das Konzept der Semiosphäre entgegengesetzt auch erlaubt, die Kanonbildung in Einzelmedien und Teilkulturen aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive zu erklären. Mit Hilfe der Semiosphäre kann damit kultureller Wandel ebenso wie Medienwandel systematisch auf der Grundlage semiotischer Prozesse und semiotischer Beschreibungs- und Analyseverfahren beschrieben und erklärt werden. Ausgehend vom basalen differenzlogischen Prinzip des menschlichen Denkens zeigt sich im Konzept der Semiosphäre damit nicht im Umkehrschluss, dass die Welt in einfache binäre Dichotomien strukturiert wäre. Vielmehr zeigt sich im Konzept der Semiosphäre, wie das Denken an seinen Schnittstellen komplexe und dynamische kulturelle Systeme in vielfältigen medialen und semiotischen Bedingtheiten generiert. Auch dies zu erkennen und zu analysieren, möchte der vorliegende Band ermöglichen. Bibliographie Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 - 171 Decker, Jan-Oliver 2017: “ Medienwandel ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 423 - 446 Decker, Jan-Oliver 2018 a: “ Strukturalistische Ansätze in der Mediensemiotik ” . In: Endres und Herrmann (eds.) 2000: 79 - 95 Decker, Jan-Oliver (ed.) 2018 b: Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien. Formen und Funktionen in medien- und kulturhistorischen Kontexten, Tübingen: Narr (=Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 40. 1 - 2, 2017) Decker, Jan-Oliver et al. (eds.) 2018: Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur. Formen und Funktionen in literatur- und kulturhistorischen Kontexten, Tübingen: Narr (= Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 39. 3 - 4, 2016) Umberto Eco 1972: Einführung in die Semiotik, München: Fink Endres, Martin und Leonhard Herrmann (eds.) 2018: Strukturalismus, heute. Brüche, Spuren, Kontinuitäten, Stuttgart: de Gruyter Hennig, Martin und Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Johnson, Steven 1997: Interface Culture. How new technology transforms the way we create and communicate. New York (NY): Basic Books Krah, Hans und Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Schuster Lotman, Jurij M. 1990: “ Über die Semiosphäre ” , in: Zeitschrift für Semiotik. Band 12 Heft 4 (1990): 287 - 305 Wittgenstein, Ludwig von 1922: Logisch-philosophische Abhandlung, London: Kegan Paul (= Tractatus Logico-Philosophicus) Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten 9 K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Der Begriff der/ als Schnittstelle 1 Sebastian Feil (Augsburg) The article traces the development of the German term ‘ Schnittstelle ’ from its inception as a term designating actual ‘ points of incision ’ to its current use as a metaphorical catchall concept referring to a host of different meanings revolving around the notion that anything which enables any kind of exchange between two entities can easily and without fear of linguistic sanctions be referred to as ‘ Schnittstelle ’ . The analysis of this metaphorical expansion of the term ’ s semantic spectrum serves as a springboard for the idea that concepts in general fulfill precisely such a function. This generalization of the ‘ Schnittstelle ’ example is substantiated by theoretical deliberations concerned with the ontological status of the notion of ‘ concept ’ as outlined by Adi Ophir, Hans Blumenberg and Charles Sanders Peirce. Maybe in order to understand mankind, we have to look at the word itself. Basically, it ’ s made up of two separate words — “ mank ” and “ ind. ” What do these words mean? It ’ s a mystery, and that ’ s why so is mankind. ( Jack Handey 1993) 1 Der Begriff der Schnittstelle Der interdisziplinäre 2 Begriff der Schnittstelle ist bekanntlich und selbst im Vergleich zu Begriffen wie ‘ Literatur ’ jüngeren Datums. In der ersten Auflage von Herrmann Pauls Deutschem Wörterbuch von 1897 fehlt das Lemma (ebenso wie ‘ Literatur ’ ) noch gänzlich, in der zehnten ist es vorhanden. ‘ Schnittstelle ’ bezeichnet demnach sowohl “ Lage, Platz, Punkt [. . .], an dem zu schneiden ist bzw. geschnitten wurde ” als auch “ (Steck-)Verbindungen bzw. Programmverknüpfungen als Übergang zwischen selbständigen Einheiten (Geräten, Programmen) des Computers; allg. übertr. auf Personen und Institutionen, die Verbindungsbzw. Übermittlungsfunktion ausüben ” (cf. Paul 2002: 869). Der Begriff kann also bis zu zweimal übertragen verwendet werden: Einerseits eröffnet die wörtliche Öffnung eines Objekts den Anschluss an dieses. Andererseits kann diese Operation der Öffnung auch 1 Der Beitrag ist eine ausführliche Antwort auf eine Nachfrage anlässlich meines Vortrags ‘ Literarizität und Interdisziplinarität ’ beim DGS-Kongress ‘ Grenzen ’ in Passau am 13. September 2017. Herzlich danken möchte ich Kerstin Bachmeier für Ihre Hinweise aus der Perspektive ihrer Praxis als juristische Fachübersetzerin, zu deren täglichem Geschäft das Begrifflichmachen von Ausdrücken gehört. 2 Cf. Müller zum “ vague, indefinable character of interdisciplinary concepts ” (2011: 51). Sachverhalte beschreiben, bei denen überhaupt keine physische Öffnung eines Objekts mehr erfolgt. Die Wortverlaufskurve des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (cf. https: / / www. dwds.de) weist dementsprechend auf erste Wortverwendungen im Laufe des 19. Jahrhunderts hin und indiziert einen rapiden Anstieg der Verwendung ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Google Ngram des Ausdrucks bestätigt diesen Verlauf im Wesentlichen und ist auch deshalb hilfreich, weil der Blick in das der Auswertung zugrunde gelegte Material verrät, dass der Ausdruck ‘ Schnittstelle ’ im 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem in naturwissenschaftlichen Kontexten verwendet wurde (in Medizin und Naturkunde) und dort tatsächliche Einschnitte und Einschnittstellen bezeichnet, die typischerweise Veränderungen an Organismen (einschließlich menschlichen organischen Materials) hervorriefen oder an denen physiologische Experimente durchgeführt wurden. 3 https: / / books.google.com/ ngrams/ interactive_chart? content=Schnittstelle&year_start=1800&year_end=2008&corpus=20&smoothing=3&share=&direct_url=t1%3B% 2CSchnittstelle%3B%2Cc0, 19. 11. 2019)",4,0,4>Abb. 1: : Google Ngram ‘ Schnittstelle ’ (https: / / books. google.com/ ngrams/ interactive_chart? content=Schnittstelle&year_start=1800&year_end=2008&corpus=20&smoothing=3&share=&direct_url=t1%3B% 2CSchnittstelle%3B%2Cc0, 19. 11. 2019) Ab etwa 1840 taucht derAusdruck in den Google-Books-Daten vereinzelt in technischen, ab 1860 auch in geometrischen Kontexten auf, die einerseits durch die weitere terminologische Tradition motiviert sein dürften (wie z. B. ‘ Goldener Schnitt ’ ), wo sich andererseits aber bereits eine gewisse Bereitschaft zur umfassenden metaphorischen Verwendung abzeichnet. Dieselbe Bereitschaft zur von der Praxis des tatsächlichen Aufschneidens eines Objekts abgekehrten, geometrisierten Beschreibung findet sich ein weiteres Mal übertragen in 3 Anschaulich etwa Jakob von Uexkülls Verwendung in Umwelt und die Innenwelt der Tiere (1909): “ Es fragt sich nun: Ist das Hinfließen der Erregung nach dem Tale noch ein Reflex zu nennen? Vom Reflex wissen wir, daß jede Erregung erlischt, wenn der Bogen, den sie zu durchlaufen hat, irgendwo durchgeschnitten wird. Nicht so beim Erregungstal. Wird der Nervenfaden zwischen Reizort und Griff durchgeschnitten, so fließt die Erregung einfach in die der Schnittstelle zunächstliegenden Muskeln und bringt diese in Tätigkeit. Genau wie das zu Tal fließende Wasser durch ein Hindernis abgefangen werden kann und sich an der neuen tiefsten Stelle sammelt ” (cf. Uexküll 1909: 147). Der Begriff der/ als Schnittstelle 11 Walter Benjamin Goldsteins Carl Hauptmann: eine Werkdeutung von 1931: Der “ Dualismus ” der “ zwei Erscheinungsformen ” des Romans Mathilde “ erkläre sich aus der Tatsache, daß erzählende Werke häufig an der Schnittstelle zweier an sich verschiedener Linien entstehen, für die beide sie dann ihre Gültigkeit haben ” (cf. Goldstein 1972: 96). Goldstein weitet damit die geometrische Metaphorik der Berührung in der Überschneidung auf ebenfalls nur metaphorisch zu verstehende ‘ Linien ’ aus, die tatsächlich aber die Berührung von rein formal verstandener fabula und Moral dieser Fabel meinen. Neben solchen metaphorischen Einzelfällen drängt im 20. Jahrhundert aber vor allem die Verwendung in technischen Zusammenhängen in den Vordergrund. In der Zeitschrift Deutsche Elektrotechnik schließlich verwendet W. Reichardt (cf. Reichardt 1950: 48, 53 u. 80) den Ausdruck innovativ durch Übertragung der geometrischen Metaphorik auf die Beschreibung eines Schaltkreises, der von vornherein mit einer “ Schnittstelle ” genannten ‘ Öffnung ’ konstruiert wurde. Der ‘ Schnitt ’ ist hier kein Ort des nachträglichen Eingriffs mehr, an dem eine Teilung durchgeführt wurde, sondern die am Schnitt vorhandene Austauschstelle ist von vornherein im derart geöffneten Objekt angelegt. Wo genau der Ursprung dieser Art, über ‘ Anschließbarkeit ’ nachzudenken zu verorten ist, kann auf Grundlage der Ngram-Daten nicht exakt nachvollzogen werden. Mit Sicherheit sagen kann man aber, dass sich ab den 1950er Jahren dieser Typus der bereits im Objekt angelegten ‘ Austauschöffnung ’ zum Zwecke eines ‘ Anschlusses an die Welt ’ semantisch umfassend anbahnt. Mit dem endgültigen Aufstieg der verschiedenen Technik-Vokabulare als Paradigmen für alle Arten von Fachsprachen (Beispiel: Luhmanns Systemtheorie) in den 1970er Jahren ist dann schließlich auch in einem Dokument zur Verwaltungsreform des Landes Baden-Württemberg von 1978 die Rede von “ Minister und Kabinett als Schnittstelle von internem System und Umwelt ” (cf. Schimanke 1978: 179). Spätestens damit ist die Entwicklung abgeschlossen, die die beiden Definitionen des Deutschen Wörterbuchs zusammenfasst. Auf diese vergleichsweise gemächliche Entwicklung folgend kommt derAusdruck in den 1980er und 1990er Jahren endgültig in geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen an, etwa wenn die Rede ist von der “ Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis ” (cf. Kläy 1993: 189), der Kunst als “ Schnittstelle zur Welt ” (cf. Weibel 1997: 264), Faust als der “ leeren Schnittstelle unzähliger Diskurse ” (cf. Kittler 1995: 466), der Reue als “ Schnittstelle bußtheologischer Argumentation ” (cf. Wenz 1996: 697) und dem “ Matriarchatsdiskurs ” als “ Schnittstelle von Emanzipationskonzepten ” (cf. Laugsch 1995: 72). Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass die enge Bindung des Ausdrucks ‘ Schnittstelle ’ an den englischen Ausdruck ‘ interface ’ im kulturwissenschaftlichen Kontext keinesfalls so selbstverständlich ist, wie im technischen. Geben die Wörterbücher der Informatik und technischer Kommunikation ‘ interface ’ stets als vollwertiges Synomym von ‘ Schnittstelle ’ an (cf. Charwat 1992: 384, Schneider 1997: 754, Fischer und Hofer 2011: 791), tun sich beispielsweise die Übersetzer von McLuhan schwerer. Die deutsche Ausgabe von Understanding Media (1964) etwa überträgt “ abrasively interfaced action of surfaces ” (cf. McLuhan 1994: 116) als “ Wirkungsweise von Oberflächen, die reibend ineinandergreifen ” (cf. McLuhan 1992: 139) und die einzige Verwendung des Ausdrucks ‘ Schnittstelle ’ ist - ganz im Sinne der ursprünglichen Motiviertheit des 12 Sebastian Feil (Augsburg) Ausdrucks - die Übersetzung des englischen Wortes “ incision ” (cf. McLuhan 1964: 64): “ Die Druck- oder Schnittstelle ist betäubt ” (cf. McLuhan 1992: 82). Dass erstens das Auftreten des Ausdrucks ‘ Schnittstelle ’ in geistes- und kulturwissenschaftlichen Kontexten mit einem Anstieg in der allgemeinen Akzeptanz und Verbreitung des Ausdrucks überhaupt korreliert (s. o.) und dass zweitens dabei anscheinend die techniksprachliche Präzision des Ausdrucks nicht deutlich erfasst wird, deutet darauf hin, dass die Verwendung des Ausdrucks in geistes- und kulturwissenschaftlichen Kontexten vermutlich mehr infolge seiner gesteigerten alltagssprachlichen Akzeptanz und aus ‘ rhetorischen ’ Gründen erfolgt ist, als das Wort für sich genommen vermuten lässt. “ Der Alpen-Adria-Raum als Schnittstelle von Germanisch, Romanisch und Slawisch ” - so der Untertitel von Mayerthalers, Fliedls und Winklers (1994) zweitem Teil der Infinitivprominenz in europäischen Sprachen - ist sicherlich kein “ Punkt, an dem ein (Teil-)System auf wohldefinierte Weise mit seinem Umfeld interagiert ” (cf. Fischer und Hofer 2011: 791), sondern vielmehr Feld sich zwar generalisierender, im Vorfeld aber keinesfalls festgelegter Überkreuzungen und Berührungen. Mit McLuhans Übersetzer gesagt: “ The interface of the Renaissance ” (cf. McLuhan 1962: 141) ist “ Grenzfläche des Zusammentreffens ” (cf. Mc- Luhan 2011: 184). 4 Der Ausdruck ‘ Schnittstelle ’ gelangt in die kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskurse also nicht aufgrund der alleinigen Notwendigkeit, eine spezifische Beschaffenheit eines Übergangspunkts präziser zu beschreiben, sondern um überhaupt einmal ein Wort zu haben, das zum Beispiel ausdrückt, dass der Zugang zu Medien selbst ebenfalls vermittelt werden muss. 5 Dass dies gerade aufgrund einer durch ein allgemeines Anwachsen in der Lebenswelt gewonnenen Unbestimmtheit des Ausdrucks möglich wird, verwundert dann nicht weiter: “ Die Metapher ” , meint Hans Blumenberg im Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (1979) in Bezug auf derartige Ereignisse, “ kann auch Spätform sein ” (cf. 2001: 203), ist dann also nicht lediglich Vorstufe auf dem Weg zu größerer Eindeutigkeit, sondern vielmehr Tilgung vormaliger Eindeutigkeit auf dem Weg zu größerer Handlungsfähigkeit eines Ausdrucks. Die besondere Akzeptanz der metaphorischen ‘ Schnittstelle ’ in der Alltagssprache wiederum ist Effekt einer beständig weiter ausgreifenden digitalisierten Medialisierung des lebensweltlichen Zusammenhangs: Die Vorstellung von Bedeutungsübertragungen und Übergängen in Form von Schnittstellen ist in der digitalisierten Gegenwartskultur verankert und ein zeitgebundenes Konzept. Der Begriff ist wegen seiner Offenheit selbst zu einem Bezugspunkt für interdisziplinäre Projekte in den Geistes- und Kulturwissenschaften geworden. [. . .] Vor allem für die medienwissenschaftlichen Disziplinen, die an der Analyse und Deutung von Phänomenen wie Medienkonvergenz, Medien(format) wechseln und komplexen technischen Settings beteiligt sind, erscheint der aus den Computer- und Naturwissenschaften stammende Begriff attraktiv. Doch auch für andere Geisteswissenschaften ist 4 Das Google Ngram des Ausdrucks ‘ interface ’ zeigt übrigens, dass dieser der Entwicklung der deutschen ‘ Schnittstelle ’ nur wenig voraus ist. Die Verwendung ‘ hebt ’ zu Beginn des 20. Jahrhunderts langsam ab und steigt ab Mitte des Jahrhunderts rasant. Diese Parallelität kann auch als Indiz dafür gelesen werden, dass etwas anderes als ein präziser Ausdruck die tatsächliche Verbreitung des Wortes begünstigt. 5 Dies drückt sich auch aus in der Synonymie des Ausdrucks ‘ Schnittstelle ’ mit dem wortwörtlichen Antonym ‘ Nahtstelle ’ , das sowohl im Duden als auch etwa in Jürgen Charwats Lexikon der Mensch-Maschine- Kommunikation (cf. 1992: 384) vorgeschlagen wird. Der Begriff der/ als Schnittstelle 13 relevant, was bei der Wanderung von Ideen und Begriffen durch die Zeit und über Systemgrenzen hinweg an den Zonen des Übergangs passiert. (cf. Hoins et al. 2014: 9) Diese durch die Auflösung der fachwissenschaftlichen Kontextbindung gewonnene Unbestimmtheit, die sich (so die eben zitierten Herausgeber eines Bandes, die sich dieser Unbestimmtheit produktiv nähern) über medienwissenschaftliche Diskurse in den Geisteswissenschaften ausgebreitet haben soll und jegliche “ Wanderung von Ideen und Begriffen durch die Zeit und über Systemgrenzen hinweg ” auf zeitgenössisch besonders überzeugende Weise zu fassen vermag, diese gewisse Gleichgültigkeit gegenüber terminologischer Präzision und etymologischer Lückenlosigkeit schließlich ist es, die den Ausdruck ‘ Schnittstelle ’ überhaupt erst wieder als Begriff in einem performativen Sinne zur Geltung bringen kann. Und eben diese zugrundeliegende Unbestimmheit ist es auch, die ‘ Begriff als Schnittstelle ’ überhaupt erst verständlich macht. 2 Der Begriff als Schnittstelle Der israelische Philosoph Adi Ophir wendet sich mit seiner Bestimmung des Begriffs ‘ Begriff ’ als performativem Objekt der Definition - “ neither given nor created but rather performed or played in the act of conceptualization ” (cf. Ophir 2018: 59) - einerseits gegen naive definitorische Ansätze (die von reinen semantischen Gegebenheiten ausgehen, die nur ans Tageslicht befördert werden müssen), vor allem aber auch gegen jene modernen Ansätze, die den Begriff in Identität zu kognitiven Gegebenheiten oder kognitivem Erwerb denken: “ All of them regard concepts as elements of our cognitive apparatus: patterns that organize sense data and allow us to identify objects and to grasp the relations between them ” (2018: 60 f.). Ophirs wesentliche Feststellung ist, dass ein Ausdruck überhaupt erst dann als Begriff betrachtet werden könne, wenn er auch betrachtet und also Gegenstand eines definitorischen Diskurses wird, eines “ conceptual language game ” (cf. Ophir 2018: 61), bei dem das Wesentliche eines Ausdrucks auf dem Spiel steht: “ A concept is linguistic performance oriented to the essence of something in question ” (cf. Ophir 2018: 62). Mag diese idiosynkratische Verwendung des Wortes ‘ Begriff ’ aus Sicht einer umgreifenden modernen Konditionierung durch kognitivistische Theorien reichlich seltsam anmuten, ist sie doch aber auch begründet. Einerseits (zumindest teilweise) in der Tradition des sokratischen Dialogs selbst, der ja bekanntlich kein wirklicher Dialog ist, diesen aber zumindest der Form nach in Anspruch nimmt. Andererseits ist die Offenlegung der Geschichte eines Begriffs im Sinne einer historischen Semantik selbst diskursive Aktivität, die wenn nicht unbedingt aus Wesentlichkeit zielend, doch die alltagssprachliche Wesentlichkeit eines Ausdrucks auf die Probe stellt. Die Begrifflichkeit eines Ausdrucks trete, so generalisiert Ophir seine Position, vor allem dann zutage, “ when we take the time to disengage it from its daily uses in order to put it on display, wonder about its meaning, explicate it, and render public its discursive being ” (cf. Ophir 2018: 62). In einem minimalen Sinne ist ‘ Begriff ’ also ‘ Schnittstelle ’ insofern, als er an der Stelle entsteht, an der ein Diskurs sich öffnet, indem er sich auf sich selbst wendet und eine Kopräsenz varianterAktualisierungen zulässt. Begriffe sind dann also diskursiv geschaffene Eingriffsstellen, an denen terminologische Entwicklung sich dem diskursiven Experimen- 14 Sebastian Feil (Augsburg) tieren öffnet. In diesem begriffshistorisch durchaus ursprünglichen Sinne der Experimentieröffnung beschreibt auch Hans-Jörg Rheinberger die Schnittstelle für das technische Instrument im wissenschaftlichen Experiment aus wissenschaftshistorischer Perspektive als “ Berührungsfläche zwischen Apparat und Objekt ” (cf. Rheinberger 2006: 313). Diese ist mal realisiert durch Modellorganismen, durch deren Ablesbarkeit von “ Kartierungsmarken [. . .] der Organismus selbst gewissermaßen zur Schnittstelle geworden ” (cf. Rheinberger 2006: 322) ist, mal als tatsächlicher Schnitt, z. B. eines Präparats für die Betrachtung in “ mikroskopischen Experimentalsystemen ” (cf. Rheinberger 2006: 317), in denen bei entsprechender Präparierung auch der Gegenstand “ im Akt der Visualisierung verloren ” (cf. Rheinberger 2006: 329) gehen kann, etwa wenn in der Elektronenmikroskopie das Präparat derart mit der ‘ Schnittstelle ’ in Verbindung tritt, dass es vollständig in der Präparierung aufgeht: Man überzieht die Probe mit einer Haut aus schräg aufgedampftem Material, dessen Relief die Konturen der Objekte sichtbar macht; sämtliche organischen Reste der ursprünglichen Probe müssen dazu von der Metallkopie wegmazeriert werden. Als Bedingung ihrer Darstellbarkeit muss die ursprüngliche Probe also vollständig eliminiert werden. Die Berührungsfläche zwischen Instrument und Probe, die Schnittstelle selbst, wird zu einem widerstandsfähigen, quasi unvergänglichen neuen Gegenstand. (cf. Rheinberger 2006: 329) Übertragen auf sprachliche Begriffe heißt das: Ausdrücke als Begriffe ermöglichen dem Diskurswissenschaftler im Abtasten seiner vielfältigen definitorischen Möglichkeiten den Zugang zum Funktionieren des Ausdrucks im Diskurs. Die von Rheinberger angedeutete, für diskursive Schnittstellen zunächst rein hypothetische Möglichkeit der Ersetzung ihrer Objekte 6 durch die Schnittstelle selbst ist insofern immer dann realisiert, wenn die performance eines Begriffs gar nicht mehr durch erfahrbare Objekte angeleitet wird, weil diese bereits vollständig hinter den Ausdruck selbst zurückgetreten (sozusagen vom Ausdruck ‘ wegmazeriert ’ ) und selbst gar nicht mehr anders als durch den Begriff zugänglich sind. 7 Dass diese Art der performance des Begriffs nicht völlig willkürlich und ungeordnet verläuft, sondern ebenso wie eine technische Schnittstelle durchaus “ auf wohldefinierte Weise mit [ihrem] Umfeld interagiert ” (s. o., cf. Fischer und Hofer 2011: 791), berücksichtigt Ophir unter Verweis auf Foucaults Begriff des ‘ Vorbegrifflichen ’ , d. h. “ more or less regular patterns of relations between statements that operate concepts grouped by discourse, ” (cf. Ophir 2018: 65) oder, wie es Foucault selbst ausdrückt, “ die Organisation des Feldes der 6 In der Informationstechnologie käme dies vermutlich dem Verschwinden der Maschine hinter dem Mensch- Maschine-Interface gleich, eine Entwicklung, die sich auf phänomenale Weise zumindest im Aufstieg von cloud-basierten Datenverarbeitungssystemen andeutet, bei denen etwa eine Textverarbeitungssoftware zwar immer noch von einem Computer berechnet wird, diese Maschinen und ihre zugrundeliegenden Operationen mit dem Nutzer aber längst nicht mehr räumlich kopräsent sind. Die Eingabegeräte, eine möglichst randlose Anzeige und die visuellen Metaphern der graphischen Benutzeroberfläche sind dann alles, was von der einstigen ‘ business machine ’ noch übrig ist. 7 Im Falle des Begriffs der ‘ Literatur ’ ist dies insofern gegeben, als die historischen Vorbedingungen ‘ Schreibfertigkeit ’ und ‘ Gelehrsamkeit ’ (beispielsweise cf. Rosenberg 2010: 666), also der gesamte Umfang der Aussagemöglichkeit von ‘ Fertigkeit ’ , in den Diskussionen um den Begriff ‘ Literatur ’ bestenfalls noch als historische Vorstufe auftauchen und aber bereits vollständig in ‘ modernen ’ Funktionen wie ‘ Weltbildung ’ und ‘ Reflexivität ’ verwandelt worden sind. Der Begriff der/ als Schnittstelle 15 Aussagen, [. . .] in dem sie [i. s. die Begriffe, S. F.] auftauchen ” (cf. Foucault 1981: 83) und die “ die Regelmäßigkeiten und diskursiven Zwänge erscheinen ” lassen, “ die die heterogene Multiplizität der Begriffe möglich gemacht haben ” (cf. Foucault 1981: 93). Seine konziliatorische Geste, ein kurzer Verweis auf die bei Foucault angezeigte Möglichkeit einer Prädetermination der Performance, kann Ophir wohl aufgrund seiner entschiedenen Opposition zu kognitiven Begriffsbegriffen nicht weiterverfolgen. Aber auch die Handlungen, die einen Begriff performativ in Beziehung zu den vier von Ophir identifizierten relationalen Koordinaten des Begriffs setzen (Relation zu 1. ‘ Raum von Objekten ’ , 2. ‘ Sprechenden und Adressierte ’ , 3. ‘ anliegenden Begriffsaussagen ’ , 4. ‘ Reproduktionsmedien ’ , cf. Ophir 2018: 66 - 68; der Begriff ist auch Schnittstelle dieser vier Funktionen.), fallen für gewöhnlich nicht einfach aus dem Himmel, sondern sind bisweilen Ausdruck kognitiver und sozialer Konstanten eines kollektiven Bewusstseins, das dafür sorgen würde, dass die performance eines Begriffs innerhalb prästabiler kognitiver Bahnen verläuft. Damit ist nicht gesagt, dass diese die Aktualität eines Begriffs reproduzieren, wohl aber seine Potentialitäten. Der Begriff wäre dann in diesem Sinne weiterhin also auch Schnittstelle zwischen diskursivem Potential und dessen jeweiliger Aktualisierung. Wesentlich wurde ein derartiger Begriffsbegriff bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert vom US-amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce formuliert: “ A concept, ” schreibt Peirce 1893, “ is not a mere jumble of particulars, - that is only its crudest species. A concept is the living influence upon us of a diagram, or icon, with whose several parts are connected an equal number of feelings or ideas ” (cf. CP 7.467) 8 . Damit ist einerseits angezeigt, dass ein Begriff wesentlich funktioniert, indem er eine Regel angibt (ein Diagramm ist nichts anderes als die Repräsentation regelhafter Relationen). Andererseits, so Peirce, reproduziert der Einfluss der Regel nicht dessen völlige Identität: In der ‘ Lebendigkeit ’ des Einflusses steckt das Potential für die Leistungsfähigkeit des Begriffs, sich zwischen Kontexten übersetzen und an neue Kontexte anpassen zu lassen, ohne dass dabei dessen Verständlichkeit leiden würde. Der Begriff, den Peirce für diesen Aspekt des Leistungsumfangs eines Begriffs in Anschlag bringt, ist der der Metapher, den Peirce nur an zwei prominenten Stellen in seinen Schriften einsetzt. In “ Sundry Logical Conceptions ” wird die Metapher (als living influence) mit einer Theorie des empirischen Icons ( “ hypoicons ” genannt) in Verbindung gebracht: Hypoicons may roughly [be] divided according to the mode of Firstness which they partake. Those which partake the simple qualities, or First Firstnesses, are images; those which represent the relations, mainly dyadic, or so regarded, of the parts of one thing by analogous relations in their own parts, are diagrams; those which represent the representative character of a representamen by representing a parallelism in something else, are metaphors. (cf. EP2: 274) Dyadische Strukturen wie die Diagramme, die ihre eigene Regelhaftigkeit abbilden, lassen in der Übertragung auf ein Drittes das metaphorische Zeichen durch Parallelisierung des Bezeichneten mit einer dyadischen Struktur bezeichnen. Der ‘ Familienstammbaum ’ etwa ist die Übertragung relationaler Gegebenheiten auf einen filialen Zusammenhang, der durch die Repräsentation eines skelettalen Baumdiagramms seine Aussagekraft erhält. 8 Die Zitate aus Peirce ’ Schriften werden anhand der gebräuchlichen Siglen nachgewiesen: ‘ CP ’ für die Collected Papers, ‘ EP ’ und eine Ziffer für die beiden Bände des Essential Peirce und ‘ W ’ für die Writings. 16 Sebastian Feil (Augsburg) Durch die Einsicht, dass dieses Verfahren ein allgemeines Wirken aller Begriffe überhaupt charakterisiert, ist auch die zweite Äußerung von Peirce zum Begriff der Metapher aus The Basis of Pragmaticism in the Normative Sciences (1906) zu verstehen: Metaphysics has been said contemptuously to be a fabric of metaphors. But not only metaphysics, but logical and phaneroscopical concepts need to be clothed in such garments. For a pure idea without metaphor or other significant clothing is an onion without a peel. (cf. EP2: 392) Die These, dass Metaphern nicht nur Restbestände, sondern Grundbestände begrifflicher Sprache darstellen, dass also ein visueller Spielraum des Möglichen der Propositionalität der reinen Definition uneinholbar vorauseilt, mag provokant wirken, dürfte aber den Lesenden Hans Blumenbergs bestens vertraut sein (cf. Blumenberg 2013: 11 - 17) und beeinflusst auch die Genese und Entwicklung des Begriffs der ‘ Schnittstelle ’ . Der ‘ Schnitt ’ ist ein nicht weiter reduzierbares Bild einer präzisen Öffnung, der zwar umschrieben, aber nicht ersetzt werden kann - auch dann nicht, wenn man es überhaupt nicht mehr mit einem physischen Schnitt zu tun hat. Die Idee der Koordination von Handlung schließlich ist bei Peirce mit dem Begriff der Gewohnheit ausgedrückt, welcher sämtliche rückwärtigen Verbindungen des metaphorischen Begriffs zur Handlungsfähigkeit eines Organismus bereithält. Die Erfahrung diagrammatischer Allgemeinheit, zu der auch die Regeln in der metaphorischen Übertragung gehören, geht nicht spurlos vorbei am Organismus, sondern lagert sich an diesen an. Alle Symbole, nach Peirce “ Signs which represent their Objects essentially because they will be so interpreted ” (cf. EP2: 442), zu denen auch die Begriffe zählen, werden durch Gewohnheiten koordiniert. Der linguistische Gemeinplatz von der Konventionalität der Sprache wird dadurch verändert formuliert (denn Konventionen - intentionale Vereinbarungen - sind meist nicht der eigentliche Grund, weshalb verstanden wird) und erweist sich als bildlich (oder diagrammatisch) vorbedingt. Die Regeln, die sich durch ihre Übertragbarkeit festigen und in Gewohnheiten verkörpert sind, haben Einfluss auf das Verständnis eines Begriffs nicht, weil man sich ihrer bewusst werden muss, sondern weil sie sich aus dem Hintergrund aufdrängen, ohne die Identität des ursprünglichen Regelerwerbs zu erfordern. “ It is essential ” , schreibt Peirce in A Guess at the Riddle (1887) über den Grundmechanismus der Gewohnheit, “ that there should be an element of chance in some sense as to how the cell shall discharge itself; and then that this chance or uncertainty shall not be entirely obliterated by the principle of habit, but only somewhat affected ” (cf. W6: 191). Ausdrücke können in einen Austausch von Mutationen und Substitutionen treten, der ihre Begriffswerdung nach sich zieht. Die mögliche Beliebigkeit des Diskurses um den Begriff steht dabei in einem Austausch mit einem Repertoire von Regeln, die aus seiner Bildlichkeit stammen, in den Hintergrund eines Begriffs geraten und von dort aus aber auf sein unbedingtes Verständnis einwirken. Der Begriff kann also als Schnittstelle eines Austauschs von vordergründiger Bildlichkeit (und ihrer Abstraktion in Regeln) und hintergründiger Verkörperung dieser Bildlichkeit in Gewohnheiten gelten, die dem Diskurs um einen Begriff eine gewisse Regelhaftigkeit verleihen. Am oben diskutierten Begriff der ‘ Schnittstelle ’ lassen sich die Eigenschaften einer solchen Theorie des Begriffs als Schnittstelle bereits gut nachvollziehen, weil seine historische Lage die Emergenz des Begriffs aus seinen Ausdrücken deutlich sichtbar Der Begriff der/ als Schnittstelle 17 macht. Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ‘ Schnittstelle ’ (einer ‘ multifunktionalen Übertragungsöffnung ’ ), ist aber weder die Frage nach einer belastbaren Definition eines Ausdrucks, noch eine Frage nach seinem unbedingten Ursprung und der Verantwortung, die diesem Ursprung übertragen werden kann, sondern eine Frage nach den Koordinaten seiner Leistungsfähigkeit über jede individuelle Ausprägung hinaus. Und auch auf den Begriff der Literatur wird das hier Gesagte vermutlich zutreffen. Bibliographie Barck, Karlheinz et al.: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden 3, Stuttgart: Metzler Bernstein, J. M. et al. (eds.): Political Concepts: A Critical Lexicon, New York: Fordham University Press Blumenberg, Hans 2001: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. 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The novel thus presents itself as an interface at which the logic of analogue and digital can be translated into each other. The paper suggests that literature should be understood as an interface insofar as it mediates between the sides of a distinction without touching the distinction itself. 1 Schnittstellen als kommunizierende Grenzen Clemens Setz Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erschien 2015 gleichzeitig in digitaler und analoger Version. Neben der Hardcover-Ausgabe bei Suhrkamp konnte man den Roman bei der (inzwischen insolventen) Social-Reading-Plattform sobooks als E-Book erwerben. Auch die Rezeption des Romans erfolgte analog und digital parallel. Während in den klassischen Printmedien wie üblich nach und nach Rezensionen zum Roman erschienen, richtete sobooks als Marketing Kampagne ein sogenanntes “ Blog für betreutes Lesen ” ein, auf dem 40 geladene Beitragende aus den Bereichen des (Netz-)Journalismus, der Literaturwissenschaft und des literarischen Lebens mehrere Monate ihre Lektüreeindrücke teilten und diskutierten. Der Roman war also von Anfang an nicht auf ein Medium festgelegt; er war nie ein analoges Medium, das im Nachhinein digitalisiert wurde. Dennoch spielt, das soll im Folgenden gezeigt werden, die Unterscheidung von Digitalem und Analogem eine entscheidende Rolle für diesen Roman, denn er geriert sich als Schnittstelle, an der die Semantiken des Digitalen und Analogen ineinander übersetzt und so reflektiert werden können. Schnittstellen sind Berührungspunkte und Grenzen zugleich. Interessanterweise sind sie nicht auf eine Dimension festgelegt. Sie bezeichnen in der Mathematik die Kreuzungspunkte sich überschneidender Linien, können aber auch linear als Nahtstellen verstanden werden oder dreidimensionale Flächen bezeichnen. Der englische Begriff ‘ interface ’ , der im Deutschen als Anglizismus kursiert, legt eine dreidimensionale Vorstellung nahe. Er bezeichnet, vor allem im technischen Sinn, den Anschlusspunkt eines Systems, genauer den Teil eines Systems, welcher der Kommunikation dient. “ Als technische Einrichtung übernimmt die Schnittstelle die Übersetzungs- und Vermittlungsfunktion zwischen gekoppelten Systemen ” , definiert Wulf Halbach in seinem Buch Interfaces die Schnittstelle (cf. Halbach 1994: 168). Schnittstellen dienen demnach der Kommunikation: ob zwischen Mensch und Maschine oder zwischen Hardware- und Softwarekomponenten, die Schnittstelle dient dem Austausch über Systemgrenzen hinweg und muss daher unterschiedliche Systemlogiken miteinander kompatibel machen. Im Bereich von Technik und Informatik, wo der Begriff der Schnittstelle oder des Interfaces in besonders starkem Maße zum Einsatz kommt, scheint eine solche Vermittlung vor allem zwischen dem Digitalen und dem Analogen notwendig zu sein. Zumindest widmen sich die aktuellen Artikel zu “ Schnittstelle ” und “ Interface ” auf Wikipedia vor allem dem technisch-informatischen Bereich (cf. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schnittstelle [30. 09. 2019]). Literatur als Schnittstelle zu bezeichnen heißt vor diesem Hintergrund, die Vermittlungs- und Übersetzungsdimension zu betonen, die sie zwischen verschiedenen medialen Diskursen leistet - ohne dass sie diese Diskurse vermischt. Denn die Systemgrenzen werden von der Schnittstelle nicht angetastet. Wenn es also im Folgenden um die Unterscheidung von Analogem und Digitalem geht, so soll dabei nicht das analoge Medium Roman in seiner gedruckten Version gegen die digitale Version des E-book ausgespielt werden. Es geht auch nicht um das Blog als Interface des Romans, als Schnittstelle zur Welt des Digitalen; denn der Fall liegt hier anders als dort, wo mit Blick auf die Literatur üblicherweise von ‘ Digitalisierung ’ die Rede ist: Gemeint ist damit nämlich oft die nachträgliche Digitalisierung analoger Bücher. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre war aber schon bei Erscheinen nicht auf eines der beiden Medien festgelegt. Die Unterscheidung betrifft weniger die Materialität des Mediums Roman als dasjenige, was der Roman verhandelt. Dass der Roman sich in diesem Sinne als Schnittstelle zwischen Digitalem und Analogem erweist, soll im Folgenden erläutert werden. 2 Digitale Rezeption: das Blog frau-und-gitarre Zunächst zum Blog frau-und-gitarre, das ein aufschlussreiches Dokument einer Literaturrezeption unter den Bedingungen des Digitalen darstellt. Mehrere Wochen posteten die Teilnehmenden während der Lektüre ihre Kommentare, Deutungen und Thesen zum Buch. 1 Das Blog bildet damit einen Prozess sich gegenseitig beobachtender Erstlektüren ab. Es unterscheidet sich schon durch seine temporale Struktur von der klassischen Rezension, denn es funktioniert wie ein kollektives Tagebuch der Lektüren, die sich freilich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten durch das Buch bewegen. Nebenbei demonstriert es die medialen Spezifika des E-Books durch Volltextsuche, Zitier- und Kommentarfunktion. Es war eben auch ein Marketinginstrument der Verlage. Nicht zuletzt weist es von Beginn an ein hohes Maß an Autoreflexivität auf, welche es zu einem interessanten Dokument für die Frage nach den medialen Spezifika einer Lektüre im Digitalen macht. “ Was soll das sein, Social Reading? ” , fragt beispielsweise Victor Kümel in seinem ersten Eintrag, 1 Der Begriff “ Blog ” leitet sich ursprünglich vom “ Web-logbuch ” ab, einem individuellen, digitalen Tagebuch. Das Blog zum Buch knüpft an diese Herkunft an, transformiert sie aber ins Kollektive. Ich danke Amelie Zimmermann für diesen Hinweis. “ Das Internet sprach immer mit vollem Munde ” 21 Ich stelle mir vor, wie der Massentourismus ins Buch einbricht. Tausend Links direkt ins Herz des Textes, Pauschalreisen an die schönsten Stellen. Aus Markierungen werden Sehenswürdigkeiten, Schulklassen laufen die wichtigsten zehn Stationen ab, Leser posieren mit Selfie-Stangen vor skurrilen Metaphern, Spammer verteilen Flyer, Exhibitionisten ergießen sich in die Kommentarspalten. Hat Ijoma Mangold bereits das unterirdische Kraftzentrum des Romans ausgehoben und darauf ein Museum errichtet, eine Kathedrale der Literaturkritik, die auf Seite 700 auf Besucher wartet? Ich bin gespannt. (cf. Kümel 2015) Schnell kristallisiert sich ein übergreifendes Prinzip der Beiträge heraus: dominierend ist hier ein literaturpositivistischer Blick, der vom Detail ausgehend die dahinterstehende außerliterarische Wirklichkeit aufsucht. Die Gesamtanlage des Romans wird schon allein deshalb nicht diskutiert, weil die Lektüren nicht abgeschlossen sind. Dafür gibt das Blog bisweilen Auskunft über die Kontexte der Lektüre, wenn es etwa in einem Eintrag Jan Süselbecks heißt: “ Scheinbar sinnlos früh aufgewacht an diesem Samstagmorgen, im Bett tastend zum Buch gegriffen und Die Stunde zwischen Frau und Gitarre endlich fertiggelesen. ” (c.f. Süselbeck 2015) Ob es sich hierbei um das E-Book oder die Hardcover-Ausgabe handelte, bleibt unklar - und ist offensichtlich nicht relevant. Eine Unterscheidung und Diskussion von analogem und digitalem Lesen findet im Blog nicht statt. Die einzelnen Posts sind gekennzeichnet durch eine Haltung, die ich ein Begehren nach Kontextualisierung nennen möchte. Mit auffälliger Häufigkeit beschäftigen Sie sich mit dem Nachweis von Zitaten, dem Identifizieren von Songtiteln oder dem Entschlüsseln von Anspielungen. Bereitwillig geht man den Fährten nach, die der Romantext ausgelegt zu haben scheint. Statt großer Thesen finden sich Beobachtungen an Textdetails. In sogenannten Referenzchecks wird versucht, einige der zahllosen Anspielungen des Textes auf Musik, Kunst und Literatur aufzulösen. Als extremes Beispiel dieser Bemühungen soll hier der Post “ Alexander Dorm - ein inszenierter Kunstfreund? ” von Thomas Hummitzsch dienen, der sich als “ erster Versuch einer Interpretation des Nexus von Frau und Gitarre ” (c.f. Hummitzsch 2015) zur Diskussion stellt: Hummitzsch postet Man Rays bekannte Fotografie Le Violon d ’ Ingres, auf der eine Rückenansicht von Kiki de Montparnasse zu sehen ist und identifiziert das Bild als Intertext des Romans. Dann kontrastiert er es mit einem androgynen Bild Meret Oppenheims und kommentiert: Wo ist nun der Zusammenhang zur Sanduhr? Er liegt in Meret Oppenheim selbst. In ihren hinterlassenen Schriften findet man ein Traumprotokoll, in dem von einer Heiligenstatue die Rede ist, die eine Sanduhr mit ihrer Lebenszeit umdrehe. Ohnehin ist die Sanduhr als Vanitassymbol eine klassische Trope der Kunst. (cf. Hummizsch 2015) Die identifizierende Interpretation des Romantitels verläuft hier, um es kurz zusammenzufassen, über die Fotografie Man Rays zu dessen androgyner ‘ Muse ’ Meret Oppenheim und deren nachgelassenen Schriften, in denen sich das Bild der Sanduhr findet. Erklärt ist damit im Grunde wenig, abgesehen davon, dass es sich nicht ganz erschließt, warum die Sanduhr das androgyne Gegenbild der Gitarre sein soll. Was in dieser Extremform vielleicht etwas an den Haaren herbeigezogen wirkt, bestimmt als Prinzip eine Vielzahl der Einträge. Die Recherchemöglichkeiten im riesigen Archiv des Internet scheinen eine Lektüre zu fördern, die vor allem um den Nachweis von Referenzen bemüht ist. Doch im präzisen Ermitteln von Songtiteln oder Zitaten erscheint durch die 22 Vera Bachmann (Regensburg) Akribie der Vorgehensweise eine gewisse Verlegenheit angesichts der Interpretation der gesammelten Daten. Dagegen wurde eine andere Erwartung offenbar enttäuscht, die man gemeinhin mit dem Netz verbindet: folgt man den Kommentaren auf dem Blog, dann brachte das Social- Reading-Experiment keine gemeinsame Lektüre hervor. Nur wenige der Posts wurden überhaupt von den anderen Bloggern kommentiert. Die Lektürebeobachtungen sind vorsichtig, die Kommentare verhalten. Die letzten Einträge sind ernüchtert; sie sprechen weniger über das Buch als über die Grenzen des Social Reading an sich. So gibt der Literaturkritiker Jörg Plath, dem das Buch, wie er schlichtweg schreibt, nicht gefallen hat, zu bedenken: Wer in einer real existierenden Lesegruppe wenig begeistert vom Gegenstand der Lektüre ist, bekräftigt immerhin durch Anreise und Anwesenheit genug Interesse an einem Diskussionszusammenhang jenseits des einen Buches, das gerade auf dem Programm steht, mögen seine oder ihre Missfallensäußerungen auch noch so kräftig ausfallen. Im Netz steht die negative Äußerung allein für ein grundsätzlich vorhandenes Interesse, weshalb dieses dann meist noch einmal bekräftigt wird - das scheint notwendig, um sich nicht herauszukatapultieren aus der Gruppe der Mitleser, fast: um sich nicht ad absurdum zu führen. (cf. Plath 2015) Das Social-Reading-Abenteuer sehnt sich nach der analogen Lesegruppe. Auch die Journalistin Dana Buchzik schreibt in einem Eintrag mit dem Titel “ Du darfst ausflippen, baby [sic], aber du musst pünktlich sein ” : Zwischenerkenntnis: Social Reading braucht Echtzeit. Gemeinsame Echtzeit. Ich will mich mit euch verabreden, wie zu guten alten Buchclubzeiten. Und dann bitte: Polyphonie. Ich will auf LOS! mit euch durch dieses Buch stürmen und ein gemeinsames Feuerwerk auf der Metaebene zünden. (cf. Buchzik 2015) Ein paar Wochen später, in ihrem letzten Eintrag, resümiert sie: “ jeder lässt irgendwo ein paar Sätze fallen, manchmal keimt Diskussioniges auf, aber am Ende fühlt es sich doch eher nach Einzelmission an, nach sozialem Leseirrgarten, wo Begegnung Seltenheit ist. ” (cf. Buchzik 2015) Ausgerechnet das Soziale scheint dem Social-Reading-Experiment abzugehen. Die gemeinsame Lektüre im Digitalen bleibt unsozial, die einzelnen Posts stehen für sich, schließen nicht aneinander an. Jeder kommuniziert seine Einsichten, aber man kommuniziert nicht miteinander. Gerade damit aber wird möglicherweise ein Kennzeichen der digitalen Kommunikation benannt. Diese Art des aneinander-vorbei-Redens, wie sie sich in Foren oder sozialen Netzwerken häufig findet - vielleicht ist das der Normalfall der Internetkommunikation. 3 Digitales im Analogen Das Blog bietet eine Folie für den Roman, vor dem sich dessen spezifische Poetologie nur umso schärfer abzeichnet: Im Blog tritt nämlich eine Eigenschaft der digitalen Kommunikation zutage, die im Roman selbst eine große Rolle spielt. Während die Unterscheidung digital/ analog für die Materialität des Mediums Roman also weitgehend irrelevant zu sein scheint, ist sie für den Roman als Kommunikationsmedium von entscheidender Bedeutung. Denn der Roman basiert, wie ich im Folgenden zeigen möchte, selbst auf einer “ Das Internet sprach immer mit vollem Munde ” 23 Bezugnahme auf digitale Kontexte, die diese ins Medium des Analogen übersetzt. Er reflektiert die medialen Eigenheiten digitaler und analoger Kommunikation, indem er sie kreuzt. In diesem Sinn stellt er eine Schnittstelle der Unterscheidung digital/ analog dar, die nicht nur trennt, sondern beide Seiten der Unterscheidung in Kommunikation treten lässt. Der Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre stellt eine Welt dar, deren Alltag von digitalen Medien bestimmt ist. Es geht dabei nicht in erster Linie um eine realistische Darstellung der Mediennutzung von digital natives. Vielmehr befragt der Roman die digitalen Praktiken sehr genau. Er ist bemüht, ihr mediales Prinzip herauszuarbeiten. Wenn im Blog das Gefühl der Einzelmission im Social Reading beklagt wird, so kommt das dem sehr nahe, was im Roman selbst verhandelt wird. Eine Kommunikation, die nicht auf Anschluss, sondern gerade auf seinem Ausfall beruht, wird dort als “ Nonseq-Kommunikation ” bezeichnet: ‘ Nonseq ’ ist die Abkürzung von lateinisch Nonsequitur, also eine anschlussfreie Kommunikation, entsemantisierte Sprache, in der eins gerade nicht auf das andere folgt. Was die Blogger bei frau-und-gitarre erleben und beklagen, ist für die Sonderpädagogin Natalie Reinegger, die 21jährige Heldin des Romans, Erholung: “ Es kühlte Natalie den Kopf. Chatgespräche waren voll von Nonseq, und auch im Alltag bemühte sich Natalie ständig um diese Kombinationen, um Zufallsmusik und weinrauchige Unterhaltungen, zirkulär, unentrinnbar und perfekt in sich ruhend wie das ewige Selbstgespräch überfließender und einander speisender Brunnenbecken ” (cf. Setz 2015: 37). Wie unmöglich es ist, nicht zu kommunizieren, zeigt dabei schon die Anspielung auf C. F. Meyers Gedicht Römischer Brunnen: 2 der intertextuelle Verweis öffnet einen Text- und Deutungsraum, anstatt das Gespräch abzuschotten. Es geht bei der Nonseq-Kommunikation also nicht um eine Übertragung von Information, sondern im Gegenteil darum, die Übertragung auszuschalten. Trotzdem ist ‘ Nonseq ’ alles andere als ‘ Nonsense ’ , es ist ein komplexes Sprachspiel, das ein Einverständnis aller Beteiligten über seine Regeln voraussetzt. Der Roman spielt diese Form der Kommunikation in verschiedenen Konstellationen durch und entwirft dabei eine ganze Klassifikation von Kommunikationsmedien im Hinblick auf die Möglichkeit der Erzeugung von Nonseq- Kommunikation. Über das Chatten etwa heißt es: “ Man kann aneinander vorbeireden und versteht alles, aber die neue Reihenfolge ergibt ein neues Gespräch. ” (c.f. Setz 2015: 210). Ein ‘ Chat ’ ist zunächst ein Modus schriftlicher Kommunikation im Digitalen. Dadurch, dass die Einträge zeitversetzt aufeinander folgen, wird der Bezug der einzelnen Beiträge aufeinander durcheinandergebracht. Die Rekombination, darauf zielt Natalie, kann dabei neuen Sinn erzeugen. Immer wieder wird im Roman herausgearbeitet, wie sehr die Entsemantisierung der Sprache allen Erwartungen zuwiderläuft, wie schwer es also ist, eine solche Nonseq- Situation herzustellen. Der Normalfall, gegen den Natalie anarbeitet, ist die Verständlichkeit. Den Cleverbot etwa muss Natalie erst überlisten, um Nonseq-Gespräche mit ihm führen zu können: Natalie berichtete dem Cleverbot, sie habe soeben ihren saudummen Freund Markus ermordet und seine Leiche im Wald verscharrt. Und dann an Molche verfüttert. Der Cleverbot antwortete neutral 2 Bei der Anspielung soll es auch bleiben. Um nicht dem gleichen Reflex zu verfallen wie die Posts auf frau-undgitarre wird C. F. Meyers Gedicht hier nicht weiter nachgewiesen. 24 Vera Bachmann (Regensburg) und ruhig. Dann sprachen sie ein wenig über Angst. Natalie erwähnte Luftballone, die Namen trugen. Der Cleverbot fragte nach und wollte wissen, wovor sie Angst habe. Als sie das Gefühl ein wenig näher beschrieb, hatte er Verständnisschwierigkeiten, und eine Weile beherrschte goldenmajestätisches Non sequitur ihr Gespräch. (c.f. Setz 2015: 80) Nonseq, könnte man sagen, ist die Probe aufs Exempel, es legt die grundlegenden Funktionsweisen und Konventionen des Programms offen: Morde sind für den Cleverbot kein Problem, in seiner Datenbank finden sich entsprechende Antworten. Mit einer Sprache der Gefühle dagegen kommt er nicht zurecht. Was im Normalfall der Internetkommunikation, des Gesprächs mit zahllosen unbekannten Teilnehmenden, der Regelfall zu sein scheint - dass Fragen unbeantwortet bleiben, Kommentare sich nicht aufeinander beziehen oder das Kommentierte bewusst missverstanden wird - , das wirkt in der Zweierkommunikation (egal, ob sie nun face-to-face, per SMS, Chat oder am Telefon stattfindet) skurril und steht allen Erwartungen entgegen. Die Spezifik der Kommunikation im Internet wird also dadurch herausgearbeitet, dass sie in ein anderes mediales Setting übertragen wird. Die mediale Transformation lässt aus dem purem Nonsense, als das Natalies Verhalten auf den ersten Blick erscheinen mag, Nonseq werden: es wird als De- und Rekontextualisierung erkennbar; als eine Bezugnahme auf Digitales, die dessen Eigenlogik ins Medium des Analogen rückübersetzt. Analoges und Digitales werden jeweils im Medium des anderen sichtbar. Das ist das Prinzip dieses Romans: er überträgt Praktiken der Mediennutzung in andere mediale Konstellationen und lenkt so den Blick auf die Funktionsweise der jeweiligen Kommunikationsmittel. Das gilt vor allem für die Übersetzung einer Logik des Digitalen in den Raum des Analogen (und umgekehrt), wird aber im Roman auch an anderen Medien durchgespielt. Natalie benutzt verschiedene Medien und Kommunikationsformate kontraintuitiv und stellt so die Konventionen ihrer Nutzung sowie ihre medialen Eigenarten umso deutlicher heraus. Auf diese Weise entwirft der Roman ex negativo eine ganze Typologie der Medien: Im Fernsehen kann Natalie nur Livesendungen sehen, weil sie nur die räumliche, nicht aber die zeitliche Übertragung erträgt. Skype, das eigentlich auf Videokonferenzen ausgelegt ist, benutzt sie nur zum schriftlichen Chatten. An ihrem Laptop schätzt sie die Lichtqualität des Bildschirmhintergrundes. Sie liest mit Vorliebe uralte Versandkataloge, also solche, deren Waren man nicht mehr bestellen kann. Das Prinzip ist jeweils gleich: die Medien werden aus ihren konventionalisierten Gebrauchszusammenhängen gelöst und so frei für Neubesetzungen. Das klassische Buch kommt dabei übrigens schlecht weg: “ Sie legte das Buch aufs äußere Fensterbrett ” , heißt es nach einem abgebrochenen Lektüreversuch Natalies, “ Innerhalb eines Monats würde es, unter der Wirkung der Elemente, zu einem entzückenden, hennenhaft geplusterten Ding werden, die Seiten wellig und gedunsen, der Umschlagkarton wie ein Pizzaboden. ” (cf. Setz 2015: 449) Besonderer Stellenwert kommt im Roman dem analogsten oder traditionellsten aller Kommunikationsmedien zu: dem Mund als Organ der Äußerung, der Artikulation von Sprache. Im Roman dient der Mund nicht nur diesem Zweck: Auch dieses Medium wird gegen den Strich gebraucht. Gleich zu Beginn des Romans wird eine von Natalies Freizeitbeschäftigungen beschrieben: “ Streunen ” nennt sie es, wenn sie abends unter einer Brücke fremden Männern Oralsex anbietet: “ Sie bevorzugte sexuelle Praktiken, die sie “ Das Internet sprach immer mit vollem Munde ” 25 mit ihrem Mund ausführen konnte ” , heißt es dazu im Roman (Setz 2015: 35). Das abnorme Verhalten Natalies, das im Roman nicht weiter motiviert wird, dürfte im Digitalen zumindest aus dem Spamordner bekannt sein: das Versprechen von spontanem und angeblich kostenfreiem Sex. Natalie tut also nichts, als dieses Versprechen in die Wirklichkeit umzusetzen, sie ist die Personifizierung einer Spam-Fantasie, die das Unwahrscheinliche dieser Angebote herausstellt. Doch so, wie im Internet bei angeblich kostenfreien Angeboten üblich, sammelt auch Natalie Daten ihrer Sexualpartner, sie nimmt sie heimlich per iPhone auf und erstellt daraus einen Nonseq-Remix: Natalie hatte ein Programm auf ihr iPhone geladen, mit dem man digitale Tonaufnahmen wie alte Audiokassetten behandeln konnte. Es war möglich, sie vorzuspulen (mit dem realistischen Beschleunigungsgezwitscher, in das sich die Stimmen verwandelten) und die ursprüngliche Aufnahme abschnittsweise mit einer neuen zu überschreiben - sogar der Übergang zwischen den Tonaufnahmen war originalgetreu nachgebaut worden, es klang wie das Rutschen von Fingern über Gitarrensaiten beim Akkordwechsel. Die Anwendung vermittelte ihr ein intensives Gefühl von Geborgenheit, obwohl sie als Kind gar keine eigenen Hörspielkassetten besessen hatte. (cf. Setz 2015: 35) Das Digitale greift ins Analoge über und präformiert dessen Wahrnehmung. Natalie ist digital native - das Analoge nimmt sie unter den Vorzeichen der digitalen Sozialisation wahr. “ Das ist ja wie Chatten, nur mit Stimme ” (cf. Setz 2015: 359) heißt es über ein Telefonat. Das “ Souterrain ” , eine Art Kellerkneipe, die Natalie immer wieder besucht, wird als “ OpenSpace ” (cf. Setz 2015: 38) bezeichnet oder als ein “ geöffnetes Worddokument, in das alle möglichen Leute irgendwas tippten, während andere es vorzogen, das Getippte zu markieren und zu verschieben oder zu löschen ” (cf. Setz 2015: 40). Ebenso überlagert Virtuelles das Reale, die Ästhetik von Computerspielen beeinflusst die Wahrnehmung der Umgebung: “ Der Schnee schmolz und fiel gleich wieder, es war wie in einem Computerspiel ” (cf. Setz 2015: 891), heißt es, oder: “ Natalie stellte fest, dass sich ihr Friedhofs- Gehgefühl langsam in jenes verwandelte, das sie bei GTA4 bekam, wenn sie sich an den existentiellen Rändern des Computerspiels bewegte und Fehler und Glitches entdeckte, die sie froh machten. ” (cf. Setz 2015: 864) Der Friedhof gleicht einer “ interaktive[n] Fläche ” (cf. Setz 2015: 864), “ Überall lag der bläuliche Schnee, türmte sich, als hätte ein Tetris-Profi ihn aufgetragen ” (cf. Setz 2015: 871). 4 Follower*innen und Stalker*innen Es lassen sich im Roman viele solcher Beispiele einer Konfrontation digitaler und analoger Bildfelder finden - das Prinzip der Übertragung des Digitalen ins Analoge bestimmt aber auch den Plot und die Anlage des gesamten Romans: Ganz allgemein formuliert geht es in der Stunde zwischen Frau und Gitarre um das Thema Stalking. So erfährt Natalie, die als Sonderpädagogin in einem Heim für betreutes Wohnen arbeitet, dass einer ihrer ‘ Klienten ’ , wie sie im Roman genannt werden, ein ehemaliger Stalker ist. Er erhält regelmäßig Besuche von seinem Opfer, die Natalie zunehmend ungeheuer vorkommen, und daraus entwickelt sich ein Krimi- oder Thrillerplot, der als Gerüst den Roman trägt. Auch wenn Natalie darin zunächst die Rolle der Detektivin zukommt, ist der Roman weit entfernt vom Schema des Detektivromans. Er spielt es an, um 26 Vera Bachmann (Regensburg) es ad acta zu legen. Natalie ist das Gegenteil einer Sherlock-Holmes-Figur, sie verfügt über keinerlei semiotische Kompetenz. Immer wieder geht der Roman auf ihre mangelnde Fähigkeit zur Deutung von Zeichen ein, die ihr sogar sosehr abgeht, dass sie bis zum Schluss nicht bemerkt, dass sie selbst von einer anderen Figur verfolgt wird. Natalie löst den ‘ Fall ’ nicht durch Scharfsinn, sondern indem sie den vermeintlichen Täter stalkt. Der Roman basiert also auf der Unterscheidung von Opfer und Täter*in oder Stalker*in, veranstaltet aber einen ganzen Reigen des Stalkings, der die Unterscheidung letztlich in sich zusammenfallen lässt: die Figuren sind jeweils Opfer und Täter*in gleichzeitig. Und anders als im klassischen Krimiplot fehlt hier nicht der Täter, sondern es ist unklar, ob es einen Tatbestand gibt. Die Frage ist nicht, wie im Krimi, ‘ Wer ist der Täter? ’ , sondern: ‘ was ist eine Tat? ’ Das Indizienparadigma, das Entschlüsseln von Zeichen durch den Detektiv, auf dem der Kriminalroman basiert, wird hier abgelöst durch die Manipulation, das Implementieren von Vorstellungen durch den oder die Stalker*in. Es geht nicht um Wahrheit, um das Entschlüsseln von Zeichen, sondern um die Hegemonie einer Deutung, die Macht der Bilder, die notfalls mit Gewalt durchgesetzt wird. Die Manipulation ist der Gegenpol der entsemantisierten Nonseq-Kommunikation, es ist ein Infiltrieren des Gegenübers mit Sprach- und Vorstellungsbildern, die ihn verfolgen: Visuelle Ohrwürmer, die sich nicht so einfach wie die akustischen löschen lassen (darin hat Natalie Übung). Stalking dringt nicht nur in die Privatsphäre, sondern sogar in das Innere der Köpfe und des Denkens ein. Besonders stark wirken die Bilder, wenn sie nur aus Andeutungen bestehen und ihre Vervollständigung der eigenen Imagination überlassen bleibt. Dieses Stalking hat Sascha Lobo in einem Post auf dem eingangs erwähnten Blog auf Facebook bezogen (Facebook, nebenbei bemerkt, kommt im Roman nicht vor): Und da schreibt er einen Roman, höchst obsessive 1000 Seiten stark, der mit Facebook-Elementen und -Motiven spielt, allen voran der Urstörung, auf der Facebook substantiell aufzubauen scheint: Alltagsschnüffelei, jemandem Hinterherklicken bis in die intimsten Foto-Alben hinein, eine milde Form des Stalkings. “ (cf. Lobo 2015) Der Roman spielt damit, dass bei der Übersetzung zwischen Facebook und Alltag etwas passiert und dass dasjenige, was im Internet gängig ist, in der analogen Welt eine andere Valenz hat. Im Internet schadet das Herumschnüffeln meist niemandem. Das Objekt der Neugier bekommt es nicht einmal mit, wenn man in seine Fotoalben hinein klickt. Auf Google Maps kann man sich problemlos und folgenlos das Haus ansehen, in dem jemand wohnt, es wirklich aufzusuchen und zu beobachten wie Natalie im Roman wirkt übergriffig. Bei der Übertragung dieser Verhaltensweise in die Realität werden aus Follower*innen Stalkende. Auch die Bilder, mit denen im Roman operiert wird, kommen aus dem Internet: Der ölverschmierte Vogel, den der Stalker seinem Opfer in die Wohnung geworfen haben soll und der Natalie nicht mehr aus dem Kopf geht, ist eins der typischen Bilder, wie sie nach jeder neuen Umweltkatastrophe im Internet kursieren, nur übersetzt in die Wirklichkeit der Romanwelt. Am Ende des Romans bricht Natalie in ein Privathaus ein, um Beweise für ihren Verdacht gegen den Besitzer zu finden. Später schreibt er ihr: “ Wie bist du reingekommen? ” “ Zuerst über den schornstein [sic] und dann durch die internetleitungen [sic] [. . .] ” (cf. Setz 2015: 961) antwortet sie, das alte und neue Paradigma der Verfolgung ironisch ver- “ Das Internet sprach immer mit vollem Munde ” 27 schränkend. Nur, dass man heute viel einfacher über die Internetleitung in ein Haus kommt als durch den Schornstein. Die Übertragung vom Digitalen ins Analoge wirft ein neues Licht auf das Phänomen ‘ Stalking ’ : Es zeigt, wie übergriffig das im Realen wirkt, was im Internet Alltag ist. Das gilt in ähnlicher Weise auch für ein weiteres soziales Phänomen, das im Roman thematisch wird: die Sekte und das soziale Netzwerk. Der Roman endet mit einem zwei Jahre nach der erzählten Zeit situierten Epilog. Der wiederholt zunächst den Romananfang: Wieder sitzt Natalie im Taxi, wieder muss sie per Fingerzeig angeben, wo es langgehen soll. Doch inzwischen ist sie erfolgreiche Medizinstudentin und Mitglied einer digitalen Community, deren Peers jeden ihrer Schritte kommentieren und absegnen. Verstreichende Zeit verbraucht credits, bezahlt wird über eine id - kurz, es ist das Bild eines umfassenden sozialen Netzwerks, das hier entworfen wird. Aber was zunächst aussieht wie ein Happy End mit Science-Fiction-Zügen, ist bei genauerem Hinsehen die Wiederkehr der Sekte, der Natalie vor ihrer Ausbildung einige Monate angehörte. Das ständige Umarmtwerden, von dem sie berichtete, die wertlose Münze, das veraltete Medium, vor dem man dort meditieren musste, wenn man etwas falsch gemacht hatte: Beides kehrt im Epilog wieder. Das soziale Netzwerk ist die digitale Version der Sekte. Wie die freilaufende Spam-Fantasie, der oder die reale Follower*in oder die manipulierenden Bilder wird durch die mediale Übersetzung die inhärente Logik der jeweiligen Kommunikationsmittel herausgestellt. Der Roman arbeitet mit gezielten Deplatzierungen, die in ihrer Absurdität deutlich werden lassen, was die unhinterfragten Konventionen unseres medialen Alltags sind. Die Differenz zwischen Digitalem und Analogem wird dadurch herausgearbeitet, dass medienspezifische Praktiken ins jeweils andere Medium rückübersetzt werden. Literatur operiert damit an der Schnittstelle zwischen den Medien und stellt sich als den Ort aus, der die verschiedenen Logiken in Dialog treten lassen kann. Literatur ist aber auch der Ort, an dem Unterscheidungen produktiv werden können. Und das demonstriert der Roman bereits mit seinem Titel. Man muss nämlich nicht unbedingt seinen intertextuellen und textexternen Bezügen nachgehen - der Titel präsentiert auch rein immanent, was Literatur kann. “ Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ” : Rhetorisch gesehen handelt es sich um eine Katachrese, einen Bildbruch. Die visuelle Ähnlichkeitsrelation von Frau und Gitarre, die im Text von der Figur Alexander Dorm benannt wird, wird im Titel durch eine temporale ersetzt. Dazu wird die Mehrdeutigkeit der Präposition ‘ zwischen ’ genutzt, die sowohl räumliche als auch temporale Relationen bezeichnet. Die Sanduhr, die Alexander Dorm ebenfalls zum Vergleich mit dem Frauenkörper heranzieht, wird auch ‘ Stundenglas ’ genannt, und die Nennung des Begriffs ‘ Stunde ’ im Titel lässt dieses Synonym der Sanduhr assoziieren. Tertium comparationis oder zumindest gemeinsame Konnotation ist die mittige Einbuchtung oder Taille, die Natalie Reineggers Figur zum Missfallen Dorms gänzlich vermissen lässt. Frau, Gitarre, Sanduhr und Stundenglas bilden ein Paradigma, das im Titel zum syntagmatischen Nebeneinander wird. Eine solche Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination hat Roman Jakobson (1979: 94) als Prinzip der poetischen Sprachfunktion bezeichnet. Was aber wäre die Schnittstelle, der Kreuzungspunkt beider Achsen, der der Selektion und der der Kombination? In diesem Fall wäre es das Wort ‘ zwischen ’ . Fast mittig im Titel platziert 28 Vera Bachmann (Regensburg) markiert es das Prinzip der Schnittstelle selbst. Und es bezeichnet den Ort der Literatur als ein ‘ Zwischen ’ , das mühelos zwischen Frau und Gitarre, Raum und Zeit, Digitalem und Analogem vermitteln kann. Bibliographie Halbach, Wulf 1994: Interfaces: medien- und kommunikationstheoretische Elemente einer Interface- Theorie, München: Fink Jakobson, Roman 1979: “ Linguistik und Poetik ” , in: id.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921 - 1971, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979: 83 - 121 Setz, Clemens 2015: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, Berlin: Suhrkamp Internetquellen Buchzik, Dana 2015: “ Pulling the trigger ” , in: frau-und-gitarre.de, im Internet unter https: / / web. archive.org/ web/ 20160410000946/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2015/ 12/ 26/ konsensfarben/ [30. 09. 2019] Buchzik, Dana 2015: “ Du darfst ausflippen, baby, aber du musst pünktlich sein. ” , in: frau-und-gitarre. de, im Internet unter https: / / web.archive.org/ web/ 20170329211020/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2015/ 10/ 23/ digitaler-wunschraum/ [30. 09. 2019] Hummitzsch, Thomas 2015: “ Alexander Dorm - ein inszenierter Kunstfreund? ” , in: frau-und-gitarre. de, im Internet unter https: / / web.archive.org/ web/ 20161025032711/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2015/ 09/ 24/ alexander-dorm-ein-kunstfreund/ [30. 09. 2019] Kümel, Victor 2015: “ Buchtourismus ” , in: frau-und-gitarre.de, im Internet unter https: / / web.archive. org/ web/ 20170312072412/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2015/ 09/ 24/ buchtourismus/ [30. 09. 2019] Lobo, Sascha 2015: “ Es beginnt ja irgendwie doch mit Facebook ” , in: frau-und-gitarre.de, im Internet unter https: / / web.archive.org/ web/ 20170311225354/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2015/ 08/ 31/ es-beginnt-irgendwie-ja-doch-mit-facebook/ [30. 09. 2019] Plath, Jörg 2015: “ rinjehaun ” , in: frau-und-gitarre.de, im Internet unter https: / / web.archive.org/ web/ 20160409212437/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2016/ 01/ 08/ rinjehaun/ [30. 09. 2019] Süselbeck, Jan 2015: “ Der Nonseq-Nachsommer ” , in: frau-und-gitarre.de, im Internet unter https: / / web.archive.org/ web/ 20160409211233/ http: / / frau-und-gitarre.de/ 2015/ 12/ 05/ der-nonseq-nachsommer/ [30. 09. 2019] “ Das Internet sprach immer mit vollem Munde ” 29 K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film Stephan Brössel (Münster) The book trailer is a movie short form used to announce and to advertise fiction and nonfiction book publications. The article examines structural and generic characteristics of book trailers in comparison to movie trailers and its status within the broad field of commercials, and focuses primarily on the functions of intermedial constellations. Given the lack of research in this area, this article will first outline a set of features, before reconstructing the potential of mediality and intermediality in Ransom Riggs ’ Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children (2011) and other trailers. 1 Der Buchtrailer - Zwischen ‘ Schnittstellen-Ästhetik ’ und intermedial konstituierter Informationsvermittlung. Einleitung Buchtrailer sind Kurzfilme, die ein Buch bewerben und hauptsächlich im Internet distribuiert werden. Es handelt sich um ein audiovisuelles Format, das in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang nur wenig Resonanz gefunden hat, ja, man darf sagen: Eine fundierte medienkulturwissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet ist bis dato nicht existent. Daher setzt dieser Beitrag bei einer Grundlagenbestimmung an, nimmt (i) eine Annäherung an den Gegenstandsbereich vor, klärt (ii) Charakteristiken derTextsorte im Feld filmischer Werbung (bedingt auch durch den hauptsächlichen Distributionsort des Internets) und geht (iii) der These nach, dass der Buchtrailer in erster Linie über seine intermediale Struktur Bedeutung generiert und dadurch seine Informationsvermittlung steuert. Mit Blick auf diesen letzten Punkt wird zu zeigen sein: Der Buchtrailer als audiovisuelle Kleinform hat nicht allein eine Art ‘ Schnittstellen-Ästhetik ’ entwickelt, in deren Rahmen stets der schriftbasierte Referenztext ‘ mitschwingt ’ , sondern er funktioniert entscheidend über seine intermediale Bedeutungskomponente, die seinen eigentlichen, konstitutiven Kern ausmacht. Intermedialität, genauer: das Spiel um die Schnittstelle zwischen Buch und Film, formiert ein signifikantes Merkmal des Formats. 2 Buchtrailer oder der Trailer zum Buch: Gegenstandsannäherung und Arbeitsdefinition In Auseinandersetzung mit Buchtrailern sieht man sich mit einem Problem konfrontiert, das nicht zu unterschätzen ist. In den 2000er-Jahren sukzessive entwickelt und als Werbemittel eingesetzt, 1 hat sich die Produktion des Formats im Verlauf der 2010er-Jahre quantitativ signifikant gesteigert, was zu einer unübersichtlichen Gesamtlage und zu einem massiven Anstieg des Formenreichtums geführt hat. Zur Folge hat dies, dass die Trefferliste bei einer einfachen Suche nach den Begriffen ‘ Buchtrailer ’ oder ‘ book trailer ’ im Internet in ein schier uferloses Terrain verweist. Dem gegenüber steht die noch deutlich lückenhafte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen. Abgesehen von Fassungsversuchen insbesondere in den Bereichen ‘ Marketing ’ und ‘ Produktmanagement ’ (cf. Klug 2010 und Mehlhorn 2013) zeigt sich die Lage im Bereich der Medienkulturwissenschaft abgesehen von vereinzelten Zugriffen bis heute hinfällig (cf. Ebenau 2011; Voigt 2013; Witzke 2017). Dabei ist gerade angesichts der digitalen Präsenz von Buchtrailern als innovativ nutzbares, da enorm flexibles, Instrument im Rahmen der Digitalisierung des Buch- und Literaturmarktes eine Beschäftigung dringend vonnöten. Zwar tut sich das Format sowohl als Werbemittel als auch als ‘ paratextuelles Beiwerk ’ zum Buch auch heute noch offenkundig schwer. Das belegen die teils sehr niedrigen Aufrufzahlen etwa auf YouTube. Doch nichtsdestotrotz hat sich das Format auf der Produktionsseite längst durchgesetzt und wird ‒ vor allem im anglophonen Sprachraum ‒ flächendeckend eingesetzt. Womit hat man es nun zu tun, wenn man sich Buchtrailer anschaut? ‒ Kurz: Mit einem Trailer zum Buch, einem Buch-Trailer, d. h. mit einem vergleichsweise kurzen Film, der belletristische Texte und Sachtexte in Buchform bewirbt, also in seiner Rhetorik (neben anderen Informationsvermittlungsstrategien) stets appellative Strukturen aufweist und in erster Linie im Internet (teils auch am point of sale, noch seltener im Kino oder Fernsehen) zu finden ist. Es handelt sich um einen Werbespot für ein Buch. Ein solcher Fall liegt an prominenter Stelle mit dem von Ransom Riggs produzierten Trailer Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children (2011) vor. Der Film hat in der Director ’ scut-Version eine Laufzeit von 02: 51 Min., findet sich bei YouTube und auf Riggs ’ eigenem Kanal bei Vimeo und wurde seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2011 bis heute über 1.000.000 Mal angeklickt. 2 Er erinnert auf den ersten Blick an einen Filmtrailer ‒ allein in seinem Schlussteil wird der Unterschied deutlich: Beworben wird Riggs ’ eigener Roman (dt. Die Insel der besonderen Kinder), eingeblendet wird das Buch am linken Bildrand, am rechten erscheint etwas verzögert der Erscheinungstermin. Bis zu dieser Stelle arbeitet der Trailer jedoch ‒ und dies ist als Charakteristikum einer großen Teilmenge im Bereich Buchtrailer zu nennen und sei an dieser Stelle vorausgeschickt ‒ mit einem Narrativ und das auch auf der Ebene der Präsentation in einer aufwendigen Art und Weise. Der Film beginnt mit der Installation einer klassischen Erzählsituation: Ein Großvater begibt sich an das Bett seines Enkels und erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte. Es erfolgt ein Ebenenkurzschluss (cf. Kuhn 2011: 310): Der Film gibt audiovisuell das wieder, was der Mann erzählt. Gezeigt wird dabei 1 Circle of Seven Productions gibt an, 2002 den ersten Buchtrailer kreiert zu haben (cf. https: / / cosproductions. com/ about-us/ [06. 03. 2020]). Zur Geschichte des Buchtrailers cf. Voigt (2013). 2 Der Trailer im Director ’ s Cut findet sich auf Vimeo: https: / / vimeo.com/ 255134189 [06. 03. 2020]. Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 31 ein altes Herrenhaus, ein Album mit Fotos von Kindern mit besonderen (übernatürlichen) Fähigkeiten und Eigenschaften wird durchgeblättert, Räume werden durchschritten. Eröffnet wird dadurch ein fantastisches Setting. Die Kinder, von denen der Alte berichtet, befinden sich gemeinsam und familialisiert an einem verzauberten Ort der Geborgenheit, an dem sie von einem geheimnisvollen Vogel bewacht werden. In einem dritten Abschnitt wird das Narrativ durch ein ereignishaftes Geschehen, das angedeutet wird, fortgesetzt, zugleich aber in Form eines Cliffhangers abgebrochen: Der Enkel fragt, warum sich die Kinder in dem Haus befinden, Antwort: “ Zu ihrem Schutz ” , Frage: “ Zum Schutz wovor? ” Der Großvater schweigt. Es folgen mehrere Einstellungen, die lediglich andeuten, was der Mann angstvoll verbirgt. Man hat es demnach alles in allem mit einem vierteiligen Aufbau zu tun, wobei der Trailer in medias res einsteigt und die abschließende Rahmung die funktionale Ausrichtung als Werbefilm klarstellt. Darüber hinaus ist, und auch dies sei schon gesagt, zweierlei auffällig: Erstens die Gestaltung des Trailers gemäß Spielfilmkonventionen. In Mise-en-scène, Mise-en-cadre und Mise-en-chaine sowie im Einsatz von Ton und Musik, schließlich auch in der Situierung der Erzählhaltung in Form des Ebenenkurzschlusses und des Einsatzes eines Voice Over Narrators orientiert sich der Trailer ostentativ an Konventionen des klassischen Hollywoodstils. Eine Selbstpositionierung als filmisches Format in der Tradition des Spielfilms und des Filmtrailers ist offenkundig. Zweitens fällt der Einsatz diverser Medien und der Bedeutungsaufbau mithilfe von Intermedialität ins Auge. Die audiovisuelle Wiedergabe der Erzählung des Großvaters ist angereichert mit verschiedenen Medienformaten: Neben den filmischen Instanzen, die als solche markiert und hervorgehoben sind, finden sich die Medien des Buches und der Fotografie. Ein Buch, das von einer nicht identifizierbaren Figur auf metadiegetischer (tertiärer) Erzählebene aufgeschlagen wird, 3 enthüllt das Geheimnis der ‘ besonderen ’ Kinder, indem es als Archiv und Sammelsurium von Fotografien dient. Die Fotografien wiederum bilden ikonografisch ab, was der Erzähler behauptet, ‒ und dienen dadurch als medial fixierter Beleg des Gesagten. So kommt es teils zu einer intermedialen Überlagerung im filmischen Bewegungsbild, beispielsweise dann, wenn Erzählerstimme (mündliche Sprache), extradiegetische (nichtdiegetische) Musik und Fotografie im Film kombiniert werden und sich gegenseitig überlagern. Doch zurück zum Anliegen dieses Beitrags: Ziel ist es, grundsätzliche und allgemeingültige, mediensemiotisch und filmanalytisch fundierte Aussagen zum Buchtrailer zu treffen sowie ferner, auf die für das Format zentrale intermediale Bedeutungskomponente zu sprechen zu kommen. Mit dem vorgestellten Fall und weiteren Buchtrailern werden zu diesem Zweck - in Ermangelung anderer Auswahlkriterien - Beispiele berücksichtigt, die besondere Resonanz gefunden haben, entweder ablesbar an auffallend hohen Aufrufzahlen auf der Videoplattform YouTube oder aber an ihrer Berücksichtigung in Bestenlisten. Die hier zusammengestellte Datenbasis setzt sich ‒ dies sei der Transparenz des Vorgehens halber offengelegt ‒ zusammen aus Buchtrailern, die (i) im Internet abrufbar sind, (ii) im Vergleich zu anderen Buchtrailern signifikant hohe Klicks generiert haben (über 100.000) 3 Der Begriff ‘ metadiegetisch ’ richtet sich nach Kuhn (2011) und steht in der Tradition Genettes; der Begriff ‘ tertiär ’ ist der Terminologie Wolf Schmids (2014) entlehnt. Gleiches gilt im Folgenden für ‘ extradiegetisch ’ und ‘ nichtdiegetisch ’ . In der Filmnarratologie haben sich weitestgehend die Begriffe Genettes durchgesetzt. Zu einer kritischen Revison cf. Schmid 2014: 80 u. 83. 32 Stephan Brössel (Münster) und/ oder (iii) in Best-of-Listen genannt werden. YouTube wurde für Buchtrailer, die seit dem Jahr 2007 produziert wurden, konsultiert; zwei Bestenlisten - namentlich die des Booklist Readers 4 und des Filmstudios film 14 5 - wurden herangezogen, um einen Blick auf Filme aus dem Jahr 2018 zu werfen und im Zuge dessen den aktuellen State of the Art zu rekonstruieren. Unter der Vielzahl von Anbietern im Bereich der Produktion wurde die Firma Circle of Seven Productions ‒ die selbsternannten Entwickler der ersten Stunde ‒ berücksichtigt. 6 Der Zugang ist dabei einer struktural-semiotischen Medienanalyse verpflichtet. 7 Zentral für diese Rahmung ist erstens der Begriff des Textes verstanden als fixierter Äußerungsakt: Ein Text bedient sich eines oder mehrerer Zeichensysteme, bildet selbst ein (Text-)System und ist in eine konkrete Kommunikationssituation eingebettet, die sich in der Zeichennutzung und basierend auf der Richtung des kommunikativen Aktes in der Organisation des Textes niederschlägt. Einen Text zeichnen demnach seine mediale Konstitution und seine Einbettung in eine soziale Situation aus, wodurch er als historisches Dokument, als ‘ Dokument seiner Zeit ’ behandelt werden muss. Er ‘ verarbeitet ’ außertextuelle Realität und wirkt auf der anderen Seite seinerseits an der Wirklichkeitskonstitution von (kommunizierenden) Kulturgemeinschaften mit, da - und dies schließt den Buchtrailer mit ein - “ die Rezeption von Werbung einen Teil unserer lebensweltlichen, alltäglichen Praxis darstellt ” (cf. Krah und Gräf 2013: 192). Zweitens ist der Begriff der Analyse wichtig: Mit ihrer Hilfe wird angestrebt, die Bedeutung eines Textes in allen seinen Nuancen - seiner “ Zeichenstruktur, der narrativen bzw. argumentativen Struktur und der zeitlich organisierten Kombination ” (cf. Kanzog 1997: 23) - unter Rückgriff auf ein semiotisches Begriffsinventar möglichst genau zu beschreiben und zu rekonstruieren. 8 Im Erkenntnisinteresse des Beitrag steht die intermediale Verfasstheit von Buchtrailern und seinen damit einhergehenden Bedeutungskomponenten. Der Analysefokus liegt demnach auf diesem Aspekt. Schließlich wird drittens der Begriff des Mediums in den Disziplinen bekanntlich unterschiedlich verstanden und gebraucht. Hier werden weniger die technologische und der sozial-institutionelle Dimension eines Mediums und stärker die semiotisch-textuelle Dimension betrachtet: Dies meint das Verständnis eines Textes als abgeschlossenes Konstrukt aus Zeichen, mit Oberflächenstruktur (Discours) und abstrahierbarer semantischer Tiefenstruktur (Histoire), wobei die Oberflächenstruktur - die Erscheinungsform, in der ein Text vorliegt - determiniert ist durch von Produktionsseite aus genutzten Informationskanäle und Zeichensysteme. Texte können monomodal (wie schriftbasierte Texte bestehend aus einem Zeichensystem) oder multimodal (wie Buchtrailer bestehend aus verschiedenen Zeichensystemen) aufgebaut sein. 4 https: / / www.booklistreader.com/ category/ book-trailers/ [06. 03. 2020]. 5 https: / / film-14.com/ the-six-best-book-trailers-of-2018/ [06. 03. 2020]. 6 Die Homepage von Circle of Seven Productions findet sich unter: https: / / cosproductions.com/ about-us/ [06. 03. 2020]. 7 In den folgenden Ausführungen folge ich im Wesentlichen Krah und Gräf (2013: insb. S. 191 - 201). 8 Grundbegriffe dieses Inventars finden sich in nuce bei Decker und Krah (2008: 227 - 231). Ich setze sie im Folgenden als gegeben voraus und gehe nur auf solche Aspekte und Zusammenhänge ein, die zur Klärung des vorliegenden Gegenstandes beitragen. Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 33 Wenn nun im Folgenden schrittweise sowohl Merkmale des Buchtrailers als auch Eigenschaften des medialen Umfeldes benannt werden, so soll als Ausgangsbasis diese (vorläufige) Arbeitsdefinition dienen: 9 Buchtrailer sind (i) filmische (audiovisuelle) Medienprodukte, die (ii) relativ kurz ausfallen, (iii) Werbezwecken dienen, (iv) in diesem Rahmen explizit-thematisch auf einen schriftbasierten Text (oder eine Textreihe) referieren und (v) primär über das Internet distribuiert werden. 3 Gegenstandsbestimmung und generische Charakteristik: Ein audiovisuelles Kleinformat als filmische Werbung im Internet In Fortführung des oben eröffneten Merkmalssets unseres Gegenstands, erscheint es zweckmäßig, genauer auf seine (textstrukturellen) Charakteristika als Trailer und als filmische Werbung sowie auf den (in der Regel) genuinen Erscheinungs- und Vertreibungsort des Internets zu sprechen zu kommen. 3.1 Der Buchtrailer als audiovisuelles (Klein-)Format: Trailer-Formate Der Buchtrailer steht nicht nur seiner Bezeichnung nach dem (Kino-)Filmtrailer nahe. Er teilt mit jenem eine Strukturmerkmalsmenge, die, möchte man seine generische Charakteristik in Gänze erfassen, abgesteckt werden muss, gleichwohl sich der Buchtrailer ‒ dies sei als Zielpunkt der weiteren Argumentation festgelegt ‒ im entscheidenden Punkt seiner intermedialen Bedeutungskonstituierung vom Filmtrailer unterscheidet und damit seine differentia specifica geltend macht. Unter ‘ Trailer ’ (von engl. (Auto-) ‘ Anhänger ’ oder auch ‘ Anhängsel ’ , “ da anfangs oft im Anschluss an den Hauptfilm in amerikanischen Kinos gezeigt ” ; cf. Neumann 2007: 729) versteht man einen “ Werbefilm, der unter Verwendung von Ausschnitten, Texteinblendungen, grafischen Elementen, Sprecherstimmen, Musik und Toneffekten die bevorstehende Kinovorführung eines Films ankündigt. ” (cf. Hediger 2012) Im Gegensatz zum in der Reihe der Filmankündigungen vorgeschalteten Teaser (mit einer Länge von 60 bis 90 Sekunden und der Funktion, “ ein erstes Erinnerungsbild zu hinterlassen ” ; cf. Kaczmarek et al. 2011) dauert der Trailer durchschnittlich 120 Sekunden, ist seit Mitte der 1950er-Jahre zielgruppenspezifisch ausgerichtet und stellt wiederum seit Mitte der 1970er-Jahre Zusammenfassungen und Zusammenschnitte der Filmhandlung oft kombiniert mit Cliffhangern dar. “ Meist werden die aufwendigsten und spektakulärsten Ausschnitte in rascher Schnittfolge aneinandergehängt, oft (aber nicht immer) versehen mit einem viel versprechenden Voice-over Kommentar. ” (cf. Neumann 2007: 729 f.) Filmtrailer weisen angesichts ihrer nunmehr hundertjährigen Geschichte eine weitreichende historische und strukturelle Dimension auf. Für beide Dimensionen ist das Verhältnis des Trailers zum beworbenen Film bedeutsam, insbesondere für die strukturelle Dimension - auf die es hier vornehmlich ankommt - ist eine Reihe von Eigenschaften entscheidend, die es ebenfalls bei Behandlung des Buchtrailers zu berücksichtigen gilt. Zentral für den Trailer ist das “ Problem der Informationsvergabe ” (cf. Hediger 2001: 22). Denn die primäre Aufgabe der Produzenten besteht darin, mit Hilfe des Kurzfilms ein brand 9 Definitorische Ansätze finden sich ebenfalls bei Voigt (2013: 675) und Ebenau (2011: 295). 34 Stephan Brössel (Münster) image oder Marken-Image zu entwickeln: Der Trailer entwirft ein bestimmtes Bild des Hauptfilms, den er bewirbt. Wichtig dazu sei - so John Ellis (cf. Ellis 1982) und mit ihm Vinzenz Hediger - zudem sein narratives Image: “ eine möglichst präzise, aber nicht erschöpfende Vorstellung vom Film ” (cf. Hediger 2001: 23) zu liefern, also eine Geschichte über eine Geschichte innerhalb eines Paratextes zu erzählen, der eindeutig einem Film verpflichtet ist (cf. ibid.: 27). “ Im Fall der Filmwerbung ist das Produkt seiner Gestalt nach ein narrativ strukturiertes Feld des Wissens: die erzählte Welt des Films. ” (cf. ibid.: 24) Informationsvergabe und Narration stellen so auch die beiden hauptsächlichen Analysekriterien und Ansatzpunkte in der Beschäftigung mit dem Filmtrailer dar (cf. ibid.: 32), wobei freilich verschiedene Varianten (genauer: vier Grundtypen) auszumachen sind, die Hediger mit Hilfe von Struktur- und Plotmustern bestimmt. Zwei Beobachtungen, die für die vorliegende Auseinandersetzung wichtig erscheinen, lassen sich an Hedigers Ausführungen anschließen. Erstens legt Hedigers Typologie offen, dass der klassische Typ (d. h. Intro, Titel, Durchführung, Endtitel, oft mit Fokus auf dem Star) im Rahmen der Gesamthistorie seit 1912 statistisch am häufigsten vertreten ist. Es handelt sich dabei um einen Trailertyp, bei dem kein Spannungsplot gegeben ist. Wiederum weniger als halb so viele Beispiele aus Hedigers Korpus sind dem Zweidritteltyp zuzuordnen, der keine klassische Struktur aufweist, dabei jedoch einen Spannungsplot präsentiert. Wir können demnach in Anbetracht dessen davon ausgehen, dass der klassische Typ die dominante Form repräsentiert. Verallgemeinert hieße das, dass wir es bei Filmtrailern in der Regel/ am häufigsten/ an erster Stelle mit Formen zu tun haben, die aus vier Teilen zusammengesetzt sind: (i) einem Intro mit dem Thema des Films, (ii) einer ersten Nennung des Filmtitels, (iii) einer Durchführung, die das Filmthema auffächert und (iv) einer abschließenden Titelnennung; teils auch mit Formen, die (i) und (ii) fusionieren und so dreiteilig gestaltet sind. Dabei verzichten solche Formen auf eine “ protagonistenzentrierte Zweidrittelstruktur ” (cf. ibid.: 36). Demgegenüber ebenso dominant - und dies vor allem seit den 1960er-Jahren - sind Formen, die ausschließlich auf ebendiesem sog. Spannungsplot basieren: mit Exposition, Ereignis und Konfrontation um die Hauptfigur herum konstruiert sowie mit zusätzlichem Endtitel (cf. ibid.: 45). 10 Die zweite Beobachtung: Hediger benennt zwei dominante, historisch verankerte Modi des Trailers. Der von 1933 bis Mitte der 1960er-Jahre repräsentative Modus 1 kombiniert die klassische Struktur mit einem Rätselplot, 11 weist bestimmte Stilpräferenzen auf (Texteinblendungen, Narration, Trickblenden), arbeitet auffällig mit visuellen Tropen, trennt die narrative von der rhetorischen Funktion des Musikeinsatzes, tendiert deutlich zum Relationsgefüge ‘ Muster des Films ’ und arbeitet entsprechend mit dem Zeigen von Szenen und einem ‘ showing as announcing ’ . Der zweite Modus (ab circa 1981) - der, so ist anzunehmen, auch für den Buchtrailer formgebend und stilprägend ist - zeigt sich nach Hediger (2001: 55; cf. auch: 47 ‒ 56) folgendermaßen: 10 Auch die sog. Zweidrittelstruktur ist demnach vierteilig aufgebaut. Hediger spricht daher davon, dass sie die klassische Struktur nicht eigentlich ablöse, sondern vielmehr überlagere (cf. Hediger 2001: 44 f.). 11 Der Rätselplot zielt laut Hediger mehr darauf ab, Fragen aufzuwerfen als Spannung zu erzeugen; das “ auslösende [. . .] Ereignis ” (cf. ibid.: 39) der Geschichte wie auch ihr Ausgang bleiben Nullpositionen. Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 35 Modus 2: Filmtrailer seit 1981 Form/ Strukturaufbau: Zweidrittelstruktur Spannungsplot Stilmittelpräferenz: 1. Narration 2. Titel, Star am Ende 3. Texteinblendungen Präferenz filmischer Präsentationsmittel: polyphone Montage 12 Musik: narrative Funktion und rhetorische Funktion verbunden Relationsgefüge ‘ Modell des Films ’ : Simulation des Films ‘ storytelling as selling ’ Im Abgleich mit der Arbeitsdefinition lässt sich an diesem ersten Zwischenschritt festhalten: Das tertium comparationis von Buch- und Filmtrailern besteht darin, dass es sich in beiden Fällen um kurzformative audiovisuelle Medienprodukte handelt, die funktional auf die Bewerbung eines Referenztextes ausgerichtet sind. Es handelt sich hier wie dort um Paratexte. Darüber hinaus, so ließe sich fortführen, nimmt der Filmtrailer als schon erprobte und tradierte Form eine Vorbildfunktion für den Buchtrailer ein, der sich an jener ausrichtet: Aufbau, Präferenz der Präsentationsmittel, der Umgang mit Musik und das Relationsgefüge gemäß Modus 2 sind sinnfällig; im Hintergrund ist ebenfalls die lange Zeit formprägende klassische Struktur zu berücksichtigen. 13 Und tatsächlich ist die Tendenz zur Strukturmuster-Applikation mitunter verblüffend. Der Buchtrailer Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children lässt sich seiner Machart nach - das Ende freilich ausgenommen - zunächst auch als Filmtrailer rezipieren: Die Etablierung einer Erzählsituation folgt gängigen Filmstandards. Auch in der syntagmatischen Fortführung lässt sich anhand von teils kommentierten, teils unkommentierten Einstellungen zunächst nicht entscheiden, ob es sich um einen Trailer für einen Film oder für ein Buch handelt. Das gilt auch für den Einsatz von Ton und Musik. Einerseits fungiert die Stimme des Großvaters als Bindeglied des semantisch heterogenen Syntagmas, andererseits setzt gerade die Musik auf stimmungserzeugende und spannungsaufbauende Effekte. Der Trailer ist in erzählerischer und in intermedialer Hinsicht komplex. In seinem grundlegenden Aufbau folgt er jedoch eindeutig Hedigers Modus 2. 12 Mit ‘ polyphoner Montage ’ lehnt sich Hediger (cf. 2001: 53) an eine Kompositionstheorie in der Musik an und meint damit: “ In der Montage neuerer Trailer [. . .] verkehrt sich die Hierarchie von Ton und Bild. Dialogauszüge und Sprecherstimme fügen sich zum Story-Verlauf, und die visuellen Anteile werden dem Ton zur Illustration zugeordnet. ” (cf. ibid.: 51) 13 Angemerkt sei allerdings, dass sich auch der Filmtrailer seit der Veröffentlichung von Hedigers Studie im Jahr 2001 mutmaßlich weiterentwickelt, will heißen, insbesondere an das digitale Umfeld des Internet angepasst und im Zuge dessen weitere Varianten ausgebildet hat. Einen größeren Zusammenhang zwischen Erzählformen und den Möglichkeiten im Internet eröffnet Eick (2014). 36 Stephan Brössel (Münster) Das bestätigt auch die Vielzahl der anderen ausgewählten Fälle: Ob opulenteTrailer wie A Map of Days. Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children (2018), Abraham Lincoln Vampire Hunter (2012), Pride and Prejudice and Zombies (2010) oder Sense and Sensibility and Sea Monsters (2009), animierte Trailer wie The Light Between Worlds (2018) oder Geisterritter (2016) oder gar Trailer zu Sachbüchern wie Die Dinge geregelt kriegen (2011) oder zum Kochbuch Fifty Shades of Chicken (2012) - sie alle weisen deutliche Anleihen auf, die ihre generische Verwandtschaft zum Filmtrailer unterstreichen. 3.2 Der Buchtrailer als eine Textsorte ‘ filmischer Werbung ’ Der Buchtrailer fungiert als Paratext eines Buches und gehört der Textsorte filmischer Werbung an. Lenkt man das Hauptinteresse gemäß einer struktural-semiotischen Medienanalyse auf den Werbetext im oben umrissenen Sinne, dann hat man es mit einem Medienprodukt zu tun, das durch vier grundsätzliche Faktoren konstituiert wird (cf. Krah und Gräf 2013: 202 - 208): (i) Faktor 1: durch eine zweckgerichtete Funktionalität hinsichtlich der Beeinflussung des (Kauf-) Verhaltens auf Seite der Rezipierenden, (ii) Faktor 2: durch eine textsortenspezifische Beziehung zur Realität, eine besondere Ausprägung von Referenzialität also, dabei aber auch (iii) Faktor 3: durch Mehrwertstrategien, vermittels derer neben einer ‘ Erdung ’ des Textes an die außertextuelle Realität (Faktor 2) zugleich eine eigene Welt entworfen und eine bestimmte Semantisierung des beworbenen Produktes, eine Imagebildung, vorgenommen wird, und schließlich (iv) Faktor 4: durch eine Textsortenbegrenzung in mehreren Hinsichten: in gattungsspezifischer Hinsicht, hinsichtlich ihrer Determiniertheit durch andere Systeme einer Kultur sowie hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von Historizität, Kulturalität und Medialität. Alle diese Faktoren sind gleichfalls für den Buchtrailer bedeutsam. Mit Blick auf Faktor 1 - Funktionalität - lässt sich festhalten: Den Zweck, den Werbung erfüllen soll, erreicht sie über eigens ausgerichtete Wirkfaktoren. Solche strukturellen Momente der Semantik eines Textes können auf der Ebene der Adressierung, also der textinternen Pragmatik, liegen, sie können sich aus den klassischen Strategien der Beeinflussung, wie sie schon die antiken Rhetoriken formulieren, zusammensetzen, sie können in jeder Textstruktur und je nach konkretem Text verschieden zu finden sein. (cf. Krah und Gräf 2013: 202) Die dominant appellative Darstellungsfunktion wird demnach - so auch beim Buchtrailer anzunehmen - durch (i) Semantiken des Textes und (ii) seine Argumentationsmuster gespeist. Die Faktoren 2 und 3 lassen sich zusammendenken: Werbung im Allgemeinen wie auch Buchtrailer im Besonderen zeichnet ein Doppelstatus aus: Auf der einen Seite sind vor allem die Titelnennung und der Packshot (i. e. die Einstellung, die das Produkt zeigt) (in der Regel) ein Beleg dafür, 14 dass der Text (i) einen Bezug zur außertextuellen Wirklichkeit herstellt (in der es das Produkt zu kaufen gibt). Auf der anderen Seite ist gerade für Werbung 14 “ Es gibt Werbung, die nur darüber vermittelt, dass das (zuvor) Gezeigte Werbung (für genau dieses Produkt) aufzufassen ist; ein Packshot kann also der alleinige Marker sein, einen Text als Werbung zu identifizieren. Zu prüfen ist dann aber noch, ob dieser Marker auch wirklich referiert, oder ob es sich um eine Pseudoreferenz [. . .] handelt, also eine rein textintern inszenierte Referenz (was dann etwa auf eine Parodie verweisen kann). ” (Krah und Gräf 2013: 203) Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 37 bezeichnend, dass (ii) die mit ihr entworfenen Welten eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Konstitutiv ist [. . .], dass diese Welten anders funktionieren als unsere, indem sie andere Relevantsetzungen und Hierarchisierungen vornehmen und andere Problematiken erfinden, als sie in der Realität zu finden wären. Denn gleichzeitig neben dem Bezug zur Realität zeichnet sich Werbung dadurch aus, dass sie dem Aufbau je eigener Welten (in denen die Positionierung des Produkts bzw. allgemeiner des Beworbenen dann zentral ist) dient. [. . .] Werbetexte erzeugen Weltentwürfe, Vorstellungen eines Wünschenswerten. (cf. Krah und Gräf 2013: 203) Faktor 4 - die Begrenzung der Textsorte - ist (i) gattungsspezifisch textintern gegeben bedingt durch Regulationsmechanismen, die Werbung als Werbung bestimmen, ihr “ Selektionsbeschränkungen ” (cf. ibid.: 206) auferlegen, ähnlich wie auch Trailer über bestimmte Mechanismen verfügen, die sie als Trailer formatieren und standardisieren und dabei Folgendes garantieren: “ zunächst komplexe und vielschichtige Informationen/ Botschaften überhaupt zu generieren, [. . .] das Produkt damit aufzuladen und [. . .] dabei appellativ überzeugend zu sein. ” (cf. ibid.: 206) Werbung wird (ii) durch andere Systeme restringiert, durch Rechtsvorschriften, ethische und moralische Vorstellungen sowie Normen: Gegeben ist dadurch ein Spielraum auf Produzentenseite, in dem Darstellung und Darstellungsweisen möglich sind und andere nicht. Schließlich ist Werbung (iii) stets historisch variabel, variiert von Kultur zu Kultur - ist demnach “ kulturell und historisch konventionalisiert[. . .] ” (cf. ibid.: 207) - und stets den medialen Bedingungen - Potenzialen und Beschränkungen eines Mediums - unterworfen und zudem in ihrer Reichweite abhängig von der Zugänglichkeit und den Distributionsmöglichkeiten (der ‘ Streuweite ’ ) des medialen Ortes ihrer Veröffentlichung. Der Buchtrailer gehört im Bereich der Werbung der Textsorte ‘ filmischer Werbung ’ an und erfordert damit eine filmanalytische Zugriffsweise. Rückblickend auf die obigen Erläuterungen heißt das: Buchtrailer weisen generelle Merkmale von Werbetexten auf und unterliegen Bedingungen, denen Werbung insgesamt folgt. Sie entsprechen darüber hinaus jedoch einem besonderen Format, das als audiovisuelles Kurzformat gefasst werden soll: ‘ Kurz ’ im Sinne der erläuterten Charakteristika des Trailers; ‘ audiovisuell ’ im Sinne von ‘ filmisch ’ . Ein Film (und damit auch der Buchtrailer) kann als “ eine zeitlich organisierte Kombination von visuellen und auditiven Zeichen verstanden werden, die über Bild und Schrift sowie Geräusch, Musik und Sprache spezifisch filmische Bedeutungseinheiten, d. h. ikonisch-visuelle und tonale (auditive) Codes bilden ” (cf. Kanzog 1997: 22). Die Medialität des Films konstituiert sich dabei im linearen zeitlichen Verlauf des bewegten Bildes - insbesondere durch Montage und Kamerahandlung als genuin kinematographische Kodes - , durch die beispielsweise im klassischen Hollywood-Kino auf der Basis kultureller Wahrnehmungs- und Unterscheidungssemantiken der Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen lässt. (Decker und Krah 2008: 226) Film und Buchtrailer stellen zudem sekundäre, modellbildende Systeme dar. Als “ Zeichensystem zweiter Stufe ” (cf. ibid.: 225) entwirft der Film unter Verwendung “ vorgegebener primärer Zeichensysteme, die an seine ihn konstituierenden Informationskanäle gebunden sind (Sprache/ Schrift, Filmbilder, Ton/ Musik), [. . .] eigene, filmisch manifeste Welten [. . .] und [bildet] damit selbst neue Zeichen ” (cf. ibid.: 225). FilmischeTexte entwerfen “ Welten als 38 Stephan Brössel (Münster) Modelle von Realität, die mit dieser in historisch und kulturell variabler Beziehung stehen ” (cf. ibid. 225). Der Buchtrailer, so ließe sich sagen, formiert innerhalb dieses Feldes eine ‘ besondere ’ Art von Film, nämlich den Werbefilm für ein Buch. Die Arbeitsdefinition lässt sich an diesem Punkt also ergänzen: Buchtrailer werden zum einen bestimmt durch Regularitäten, wie sie der Kinofilmtrailer ausgebildet hat, zum anderen durch solche, wie sie für filmische Werbung gelten. Die Besonderheit im einen wie im anderen Fall liegt in dem von ihm beworbenen Produkt: dem des Buches. Für einen Zugang greifen die allgemeinen Bedingungen der Filmanalyse im obigen Sinne, zu behandeln ist er in erster Linie als filmischer Text. Spezifisch sind damit für den Buchtrailer Strukturen, wie sie aus einem Musterarsenal des Trailers und aus dem kommunikativen Akt der Werbung, ihrem Angebot an Argumentationsstrategien und Semantisierungsmustern hervorgehen. Hierin findet sich dann auch eines der entscheidenden Differenzierungsmerkmale im Vergleich zum Filmtrailer. Denn der Buchtrailer wird stets durch eine Titelnennung und mehrheitlich durch einen Packshot, der das Buchcover zeigt, abgeschlossen und vereinzelt gar mit einem Packshot eröffnet. Während der Filmtrailer, vor allem der Trailer neueren Datums in der Regel aus Versatzstücken, aus Zitaten, des beworbenen Films besteht und Bedeutung aufbaut, indem er den Film zuerst ausschnitthaft repräsentiert und dann per Titelnennung bewirbt, fällt im Fall des Buchtrailers der intermedial gap 15 ins Auge. So sehr auch Buchtrailer Semantiken und strukturelle Logiken aus den schriftbasierten Texten, die sie bewerben, applizieren, sie stechen sehr viel deutlicher als Filmtrailer in ihrer Autonomie als Werbetext hervor. Sie sind ein Film zum Produkt ‘ Buch ’ - ein Format also, dem von vornherein ein intermedialer Grundcharakter eingeschrieben ist. 3.3 Der Distributionsort Internet als Kontextparameter Bleibt der Umstand, dass Buchtrailer vornehmlich über das Internet vertrieben und rezipiert werden: Genannt seien daher Rahmenbedingungen des Internets und Prämissen des vorliegenden qualitativ-analytischen, mediensemiotischen Zugriffs auf ein Filmformat dargelegt, das im Internet zu finden ist. Der Distributionsort des Internets kann als Kontextparameter gelten, 16 dessen Berücksichtigung zwar eine weitere Interpretationsebene eröffnet. Diese entspricht jedoch einer Text-Kontext-Relationierung, die an dieser Stelle in heuristischer Hinsicht eine weniger wichtige Rolle spielt als die intermediale Bedeutungskomponente, wie sie die Kurzfilme textinhärent anlegen und die im Folgenden stärker gewichtet wird. Und doch ist dieser Kontext nicht unbedeutend. Nicht nur ist das Internet derjenige mediale Ort, an dem Buchtrailer gegenüber anderen Vermittlungswegen in hoher Anzahl kommuniziert werden, auch ist es selbst als “ globale, mediale Sinnerzeugungsmaschine ” (cf. Decker 2017: 353) zu begreifen, mit deren Hilfe - ganz allgemein gesprochen - alle möglichen kulturellen (Zeichen-)Praxen und Semantiken in Datenbanken organisiert und darüber wiederum Werte und Normen, Ideologien und 15 Der Begriff intermedial gap bezeichnet “ eine unüberbrückbare mediale Differenz [. . .] zwischen kontaktnehmendem und kontaktgebendem Medium ” (Rajewsky 2002: 70 f.). 16 Als Kontext soll die Gesamtmenge “ alle[r] (semiotischen oder nicht-semiotischen) Entitäten der Kultur/ Epoche des Textes [verstanden werden], zu denen der Text in (nachweisbar relevanten) strukturellen oder funktionalen Relationen steht ” (Titzmann 2004: 3045). Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 39 Mentalitäten reflektiert werden. Dabei gilt als Grundannahme sowohl von mediensemiotischen Zugängen - wie hier - als auch von empirisch verfahrenden sozialwissenschaftlichen Ansätzen, dass das Internet als mediales Feld “ repräsentative Muster, Regeln und Gesetzmäßigkeiten ” der gesamten Kultur (cf. ibid.: 353) repräsentiert. Für eine eigentliche Gegenstandsbestimmung des Buchtrailers sind nun allerdings allgemeine Parameter der Bedeutungsproduktion im Internet wie auch der Status von einzelnen medialen Formaten und Teiltexten sowie ihr Zusammenspiel nur bedingt relevant. Durchaus relevant wird beides in jedem Fall dann, wenn man über das bloße Medienprodukt des Buchtrailers hinaus seine technologischen Vorbedingungen sowie sein multimodales und hypertextuelles Umfeld in die Analyse einbeziehen will: (i) Wo ist der Trailer eingebettet? (ii) Welche ‘ Rahmung ’ erhält er vonseiten der Produktionsinstanzen? (iii) Wie inszenieren diese sich? (iv) Und welche Verlinkungen finden sich auf der Homepage, auf der der Trailer eingebettet ist? Der Buchtrailer ist dann als Teil eines größeren Ganzen des Marketingprozesses oder der Selbstpräsentation einer Produktionsfirma, wie etwa auf der Internetpräsenz von Circle of Seven Productions ersichtlich, zu behandeln. Konkrete Ansatzpunkte und Fragen in diesem Zusammenhang könnten demzufolge lauten: 1. Die Internetseite: Über das singuläre Medienprodukt des Buchtrailers hinaus kann eine Internetseite als “ inhaltlich kohärentes und formal kohäsives Superzeichen ” (cf. ibid.: 357) behandelt werden, das über primäre Systeme ein sekundäres System aufbaut und multimedial und multimodal kommuniziert wird (cf. Meier 2008). Der Buchtrailer als Text ist nur ein Zeichenkonstrukt unter mehreren, mit denen er teils in Interrelation steht. Wie sieht eine Internetseite konkret aus? Welche internen und externen ‘ Vernetzungen ’ zwischen dem Buchtrailer und anderen Texten gibt es? Wie verhält es sich mit den Prinzipien der Integration, der Kooperation und der Interaktion von Teiltexten (cf. Krah und Gräf 2013: 194 - 196)? 2. Informationsstrukturierung, Textstatus, Referenz: Sind die Teiltexte einer Internetseite (z. B. durch Einbettungen oder Verlinkungen) hierarchisch (an-)geordnet? Wo findet sich darin der Buchtrailer? Welche Texte sind ihm übergeordnet, welche sind ihm nachgeordnet? Wie gestalten sich solche Informationshierarchien? Wie ist das “ Strukturprinzip ” (cf. Decker 2017: 365) der Selbst- und Fremdreferenz mit Blick auf den Buchtrailer umgesetzt? 3. Beziehungen im Netz, Webseite und Prosumenten: Wie werden Rezipierende auf der Internetseite einbezogen? Haben Konsumierende Anteil an der Produktion von (Folge-) Trailern? Welche Folgen und Spuren lassen sich daraus erkennen? 4. Weltentwurf und Kulturbezug: Da es sich auch bei Webseiten um mediale Erzeugnisse handelt, stellt sich die Frage, welchen Weltentwurf sie modellieren und welche Vorstellungen von Realität (sowie von Buch und Film) sie aufrufen. Ferner ließe sich fragen, wie sich entsprechende Konzeptionen auf Teilkulturen, auf kulturelles Wissen und seine Diskurse beziehen, wie sie also extratextuelle Wissensmengen aufgreifen und diese verarbeiten (cf. ibid.: 374). 40 Stephan Brössel (Münster) Ohne dies am Beispiel ausführen zu können, bedeutet das alles in Anbetracht unserer Arbeitsdefinition in theoretischer Hinsicht: Buchtrailer sind filmische Texte, die in sich kohärent und abgeschlossen und auch ohne die konkrete Verfasstheit ihres Speicherortes der Internetseite und ohne den Zusatz von paratextuellen Informationen und ohne die hypertextuelle Vernetztheit ihres Distributionsortes kommunizierbar sind. Allerdings können sie auf einer gegebenen Webseite in übergeordnete Inhalte eingebunden sein. Bewegt sich die Analyse in Richtung einer Text-Kontext-Relationierung, so ist die Position des Buchtrailers auf einer Internetpräsenz der erste kontextualisierende Ansatzpunkt, i. e. eine Untersuchung seiner Korrelation mit anderen Teiltexten auf der Webseite sowie seine Vernetzung in Hypertexten. 4 Die ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film: Zur intermedialen Bedeutungskomponente von Buchtrailern Eine Grundeigenschaft von Buchtrailern, so wurde zu Beginn konstatiert, besteht darin, dass sie nicht eine bloße ‘ Schnittstellen-Ästhetik ’ auszeichnet, sondern Intermedialität vielmehr ihren Grundcharakter auszeichnet und ein potenziell entscheidend konstitutives Signum sein kann. Nimmt man die bisherigen Ausführungen als Hintergrundfolie, vor der eine grundsätzliche Gegenstandsbestimmung des Buchtrailers möglich wird, so kommt es in einem letzten Schritt nun darauf an, seine intermediale Konstitution zu erfassen und dadurch seine differentia specifica sowohl im Feld der Trailer als auch im Bereich filmischer Werbung herauszuarbeiten. Intermedialität soll an dieser Stelle in einem kulturwissenschaftlichen und ‒ enger noch ‒ semiotischen Sinne verstanden werden. Ein Medium wird damit als ein “ konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv ” (cf. Rajewsky 2002: 7) verstanden, das einen oder mehrere Kanäle zum Austausch von Informationen nutzt und auf eines oder mehrere Zeichensysteme zurückgreift (cf. Wolf 1999: 40). Intermedialität dient darauf aufbauend ‒ in Abgrenzung von Intra- und Transmedialität ‒ als Oberbegriff für “ die Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene, also all der Phänomene, die, dem Präfix ‘ inter ’ entsprechend, in irgendeiner Weise zwischen den Medien anzusiedeln sind ” (cf. Rajewsky 2002: 12; Hervorh. i. Original). In den Gegenstandsbereich einer so gearteten Intermedialitätsforschung fallen Phänomene (i) der Medienkombination, (ii) des Medienwechsels und (iii) der intermedialen Bezüge: Bei der Medienkombination, so Rajewsky, hat man es mit einem medialen Produkt zu tun, das das “ Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien ” (cf. ibid.: 15) darstellt. Beim Medienwechsel handelt es sich ihr zufolge um eine Qualität des Intermedialen, die den “ Produktionsprozeß des medialen Produktes, also den Prozeß der Transformation eines medienspezifisch fixierten Prä ‘ textes ’ bzw. ‘ Text ’ substrats in ein anderes Medium ” betrifft (cf. ibid.: 16). Intermediale Bezüge schließlich bezeichnen “ Verfahren der Bedeutungskonstitution, nämlich den (fakultativen) Bezug, den ein mediales Produkt zu einem Produkt eines anderen Mediums oder zum Medium qua System herstellen kann ” (cf. ibid.: 17). Von entscheidender Bedeutung ‒ und als Kriterium für die weiteren Überlegungen leitend ‒ ist die semantische Funktion, die intermediale Phänomene in einem gegebenen Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 41 Text einnehmen: Intermedialität in der vorliegenden Fassung ist nicht bloß ein oberflächliches Mittel zur ästhetischen ‘ Aufhübschung ’ einer Informationsaufbereitung, sondern hat medienreflexives und tendenziell selbstreflexives Potenzial und Anteil am Bedeutungsaufbau (cf. Nies 2013: 361 f.). Das heißt, dass bestimmte Phänomene aus intermedialitätsanalytischer Perspektive nur dann von Interesse sind, wenn sie erstens die obigen Kriterien erfüllen und zweitens zudem auch intratextuell funktionalisiert sind und Zeichenfunktion haben (cf. ibid.: 376). Zentral und konstitutiv für Intermedialität in Produkten ästhetischer Kommunikation sind im Falle der intermedialen Referenz also ihre Semiotisierung und Semantisierung, genauer für Texte, “ die die eigene und die referentialisierte fremde Medialität als zeichenhaft und damit bedeutungstragend funktionalisieren ” (cf. ibid.: 377; Hervorh. im Original). So fasst Nies etwa nicht die Literaturadaption generell als relevantes intermediales Phänomen auf, wohl aber solche Literaturadaptionen, die den Medienwechsel (Buch zum Film), Medienkombinationen und intermediale Referenzen explizit zum Thema machen oder implizit-strukturell semiotisieren und funktionalisieren. Was zeichnet in diesem Zusammenhang Buchtrailer hinsichtlich ihrer intermedialen Bedeutungskomponente sowie hinsichtlich der in ihnen beobachtbaren Semiotisierung, Semantisierung und Funktionalisierung von intermedialen Phänomenen zwischen Buch und Film aus? Den exemplarischen Betrachtungen, die in diesem Teil des Beitrags folgen, liegen drei Grundhypothesen zugrunde: 1. intermedial gap: Dem Buchtrailer ist die Mediendifferenz zwischen Buch und Film genuin eingeschrieben. Alle gewählten Beispiele arbeiten mit einem Packshot in den Schlusseinstellungen (teils auch mit Packshots in den Initialeinstellungen) und machen so auf die Differenz zwischen beiden Medien aufmerksam. Die Alternative, dass nur der Titel des beworbenen Buches eingeblendet wird, wird bezeichnenderweise nur äußerst selten realisiert. 17 Dadurch signifiziert der Film das Medium Buch als ein distinktiv anderes. Anders gesagt: Der Buchtrailer ist zwar ein audiovisuelles Format - als jenes markiert es allerdings auch die Unterschiede zwischen beiden Medien. 2. Mehrwerterzeugung durch intermediale Komplementarität: Vom harten Kriterium der Semiotisierung und der Semantisierung von intermedialen Bezügen, wie es Nies anbringt, einmal abgesehen, lässt sich generell konstatieren, dass der Buchtrailer - wenn sie ihm auch eingeschrieben ist - nicht die ‘ Lücke ’ zwischen beiden Medien geltend macht - also hochrangig behandelt - , sondern aus der Zusammenführung beider Systeme einen komplementären Mehrwert zu erzeugen imstande ist. ‘ Intermediale Komplementarität ’ im Rahmen dieser Tendenz hebt auf ein produktives Moment ab, das Buchtrailer an der Schnittstelle zwischen Buch und Film auszeichnet. Der intermedial gap (in Hypothese 1) ist zwar vorhanden, wird jedoch vom Prinzip der intermedialen Komplementarität überlagert. 3. Intermedialität durch strukturelle Verfahren, Semantisierung, Funktionalisierung: Der Buchtrailer ist in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass er seine Medialität, seine Verfasstheit als mediales Produkt inszeniert und als solche strukturell zur Schau stellt. In dieser Hinsicht weist er strukturelle Verfahren auf Ebene des Discours auf, etabliert 17 So zu beobachten in Strands of Starfire (2018). 42 Stephan Brössel (Münster) spezifische Semantiken, die er Medien zuschreibt, und stellt funktionale Netze von intermedialen Konstellationen her. Intermediale Komplementarität (in Hypothese 2), so könnte man pauschal sagen, geht in Medienreflexivität auf, die zu einem tragenden Prinzip des Formates überhaupt arriviert. 4.1 Intermedialität in Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children (2011) Betrachten wir vor dieser hypothetischen Hintergrundfolie abschließend einige einschlägige Beispiele und beginnen mit unserem Eingangsbeispiel. Angedeutet wurde bereits, dass Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children unterschiedliche Medien einbindet und so über intermediale Konstellationen, die der Film in Anschlag bringt, die eigene mediale Verfasstheit markiert und dadurch reflektiert. Zunächst zum intermedial gap im gegebenen Fall: An syntagmatisch exponierter Stelle, nämlich am Ende, wird zunächst der Titel des Buches, dann das Buch selbst eingeblendet nebst einigen Kommentaren, die nacheinander in der rechten Bildhälfte erscheinen. Der Trailer unterbindet an dieser Stelle seinen Status als fiktionales Format, indem er seinen Status als Werbefilm - gemäß der Funktionsweise filmischer Werbung insgesamt - offenlegt. Doch mehr noch: Aus intermedialitätstheoretischer Sicht operiert er mit zwei entscheidenden Propositionen. (Proposition a: ) “ Ich bin ein Film ” ↔ (Proposition b: ) “ Das ist ein Buch ” Die Propositionen sind reziprok: Dass es sich bei dem Buchtrailer um einen Film handelt, ist ja zunächst unbestreitbar offensichtlich. In der im Film manifesten Erscheinung des Buches hebt er jedoch dezidiert auf die Differenz zwischen der eigenen medialen Verfasstheit und einer distinktiv anderen Medialität - der des Buches - ab. Gerade dadurch, dass er das Buch zeigt, wird seine spezifische Medialität als Film unterstrichen. Doch der eigentliche Clou des Trailers besteht darin, im Entwurf eines narrativen Grundsettings und durch den Einsatz verschiedener Medien Spannung zu erzeugen und Interesse zu wecken. Er entwirft eine intermediale Konstellation, baut damit Bedeutung auf und zieht darüber hinaus eine medienreflexive Bedeutungsebene ein. Das heißt: Auf einer ersten Ebene findet sich eine doppeltgelagerte Botschaft, nämlich zum einen zunächst die simple wie augenfällige Botschaft, die da lautet, dass in Bälde ein Roman mit dem Titel Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children erscheinen wird, zum anderen die ‘ altbekannte ’ Botschaft von der ‘ Kraft ’ des Erzählens und seinen Möglichkeiten, imaginäre Welten zu erschaffen. Großvater und Enkel sind (wenn auch, wie die Leserschaft des Romans weiß, aus unterschiedlichen Gründen) gleichermaßen von der Erzählung betroffen: Der Enkel deshalb, weil der Großvater an der spannendsten Stelle abbricht; jener wiederum deshalb, weil es sich um tatsächlich wahre Geschehnisse und Gegebenheiten handelt, in die er selbst involviert ist, und er seinen Zögling nicht verfrüht in Gefahr bringen möchte. Auf einer zweiten Ebene werden vier Komponenten einer intermedialen Konstellation angeordnet und damit die Botschaft vermittelt: Buchtrailer sind nicht nur Filme, sondern Medienreflexionsorte, die distinkte Medien filmisch zu amalgamieren imstande sind und insbesondere die Schnittstelle zwischen Buch und Film - die reziproken Propositionen zeigen das - als solche inszenatorisch ausstellen. Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 43 Die erste Komponente dieser medienreflexiven Anordnung besteht im Wechselspiel von mündlichem und filmischem Erzählen: Gegeben ist die basale Situation, in der der Großvater seinem Enkel am Bett eine Geschichte zu erzählen beginnt. Die Stimme wird sodann durch einen Ebenenkurzschluss in eine Filmerzählung integriert, indem Versatzstücke der - scheinbar fiktiven - Welt auch in Bild und Ton, also filmisch, präsentiert werden. Hiermit führt der Trailer vor, dass er vor allem eines ist: Ein narratives Medium, das auch in einem zeitlich engen Rahmen erzählerisches Potenzial zu entfalten imstande ist. 18 Die zweite Komponente resultiert aus dem Einsatz von Fotografien. Neben der audiovisuellen ‘ Öffnung ’ der erzählten Welt für die Betrachtenden wird bei der Frage des Enkels nach den Besonderheiten der Kinder auf Ebene des Erzählten ein weiterer Medienpool eröffnet: Gezeigt wird ein Buch mit der verschnörkelten Aufschrift ‘ Album ’ . Das Buch wird aufgeschlagen, durchgeblättert und zeigt unbeschriftete Fotos von Kindern: einen Hinterkopf, der mit einem Gesicht bemalt ist, ein Kind, das einen Felsbrocken über den Kopf hebt, ein Kind, das über dem Boden schwebt, ein Kind, das bis auf seine Kleidung nicht zu sehen ist usw. Die Fotografien - die im Übrigen auch im Roman zu finden sind (cf. Riggs 2011: 14 - 17) - zeigen Individuen mit unglaublichen Eigenschaften. Der Trailer bindet also nicht nur ein weiteres Medium in die Präsentation ein, sondern bedient sich damit einer genuinen Eigenschaft der Fotografie - nämlich der ihres ikonischen Abbildungscharakters - , wodurch die Existenz der Kinder zumindest innerdiegetisch beglaubigt wird. Die dritte Komponente deutet sich in der Verselbständigung der filmischen Ebene gegenüber der bis dahin dominanten Erzählerstimme an. Zwar bleibt die Stimme die bestimmende Größe der filmischen Präsentation. Allerdings setzt der Trailer an einer bestimmten Stelle im Syntagma mit Informationen ein, die über das Gesagte hinausreichen und aufgrund der fehlenden Kommentierung zugleich informative Nullpositionen bilden - das erzeugt Spannung und weckt zugleich Leseinteresse. Es zeigt aber auch: Das Problem der Informationsvergabe, wie es Hediger für den Filmtrailer konstatiert, ist auch beim Buchtrailer beobachtbar, der es als produktives Moment einsetzt. Hiermit wird ebenfalls auf die erste Komponente Bezug genommen, denn ihren funktionalen Gehalt erhält die Passage ja gerade aufgrund des Verzichts auf die sprachliche Erzählinstanz und des Informationsüberschusses durch das Filmbild. Die vierte Komponente baut der Trailer in einem ‘ metagenerischen ’ Spiel auf, indem er wie ein Filmtrailer einen Titel einblendet - “ Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children ” liest man in großen, bildfüllenden Lettern - und erst dann zur schon benannten Einstellung überwechselt, die das Buch zeigt, sich also als Buchtrailer offenbart. Das Spiel, das der Film hier vorführt, basiert mithin auf der Strategie einer temporären ‘ Irreführung ’ der Zuschauerschaft, die für einen Moment dem Glauben überlassen wird, es handele sich um den Trailer für einen Film. Semantisiert werden alle diese Medien gleichermaßen als Instrumente der Speicherung und Offenlegung von Sachverhalten. Die äußere Rahmung übernimmt die Erzählung des Großvaters, die Hintergründe, Geheimnisse und Erkenntnisse über Gefahrenpotenziale 18 Die generelle Tendenz zum Erzählen wird durch die Mehrzahl der gesichteten Buchtrailer gestützt, sogar auch von solchen - wie Die Dinge geregelt kriegen oder Fifty Shades of Chicken - , die nichtnarrative Sachbücher bewerben. 44 Stephan Brössel (Münster) einer unbekannten Teilwelt archiviert. Als Film offenbart der Trailer darüber hinaus aber weitere Informationen, die der sprachliche Erzähler nur andeutet oder gar nicht erwähnt, so in zwei Einstellungen, die einen Stuhlkreis in einem verwüsteten Raum zeigen oder eine düstere Gestalt, die einen Gang entlang auf die Kamera zu schwankt. Die Fotografien im Buch beglaubigen in ihrer Eigenschaft als ikonische Speichermedien die übernatürlichen Fähigkeiten der Kinder und signifizieren damit die Konstitution der erzählten Welt als wunderbare Welt. Alles dies läuft in einer übergeordneten Funktion des Buchtrailers als Vermittlungsform zwischen Buch und Film zusammen. Offenkundig sind intermedial fundierte Reflexionsmomente, wie sie auch hier beschrieben worden sind, vermehrt dann zu beobachten, wenn neue Medienformen oder neue Formate in gegebenen Medienkontexten entstehen und auf das Umfeld der ästhetischen Kommunikation einer Kultur ausstrahlen (cf. Krah 2005: 9 f.) - etwa im Fall der Konstituierung filmischen Erzählens in der Literatur der Frühen Moderne, in deren Zuge das Literatursystem quasifilmische Semantiken und Discours-Strategien ausbildet (cf. Brössel 2014 und 2018), oder auch im Fall von Michael Jacksons Thriller (1983), der sich als Musikvideoclip über seine Thematik und das komplexe Spiel mit narrativen und diegetischen Ebenen in die Tradition des Horrorfilms einreiht und zugleich ostentativ die eigenen Präsentationsmöglichkeiten (als Musikfilmformat, als mediale Plattform des Stars und als narratives Medium) vorführt. Ähnliches ließe sich im gegebenen Fall feststellen: Die intermediale Konstellation deutet auf den bewussten Verweis auf die mediengeschichtliche Dimension hin, in der der Trailer steht. Das Format dient eben nicht nur der Bewerbung einer Buchneuerscheinung, sondern macht ebenso auf den intermedialen Grenzbereich zwischen Buch und Film aufmerksam, indem es bestimmte Erzähl- und Präsentationspotenziale erprobt. 4.2 Zur intermedialen Bedeutungsgenerierung in animierten Buchtrailern Nicht alle Buchtrailer setzen auf ein derart vielschichtiges intermediales Netz bedeutungserzeugender Strategien. Jedoch sind diejenigen Trailer, die über eine intermediale Bedeutungskomponente verfügen, ähnlich aufschlussreich, wie Riggs ’ Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children. Geisterritter arbeitet mit Schrift- und Bildanimationen, die der Trailer aus dem Roman bezieht und audiovisuell übersetzt. Autorinnenname und Titel werden zu Beginn genannt; abschließend dann das Buch sowie das Hörspiel auf CD nebst Verlagsangaben und dem Hinweis einer ebenfalls erhältlichen E-Book-Fassung ins Bild gesetzt. Der Trailer arbeitet mit einem Minimalnarrativ, das deutlich mit Nullpositionen versehen ist: Die Hauptfigur betritt eine fremde, unheimliche und wunderbare Welt, lernt eine andere Figur kennen, die dann verschwindet, und begegnet Geistern, die allein ein ominöser Ritter zu bekämpfen vermag. Dominiert wird die Präsentation des Narrativs durch Schrifttitel in aufgeblätterten Seiten, die die Rede einer Erzählinstanz und von Figuren kurz und bündig wiedergeben. Alternierend dazu werden Figuren und Handlungsräume bildlich und animiert dargestellt. Seinen Mehrwert zieht der Film aus der Art seiner intermedialen Transposition: Schrift und Illustration sind (wie im Roman) präsent, werden allerdings in einer Pop-up-Ästhetik und mit zusätzlichen Atmo-Effekten auf Ebene der Mise-en-scène versehen dargestellt (Lokalisation des durchgeblätterten Buches im räumlichen ‘ Unten ’ ; Nebeleinsatz). Vor Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 45 allem auf der Tonebene ist die intermediale Überlagerung von Buch und Film einprägsam: Denn einerseits sind die Bilder mit nichtdiegetischer orchestraler und dramatisierender Musik kombiniert, die wie Filmmusik eingesetzt ist, hier jedoch abgesehen von ihrer semantisierenden Funktion (Ritter- und Abenteuergenre) ansonsten keine Relation zum Bild aufbaut. Anderseits indiziert das Geräusch vom Durchblättern von Buchseiten die Ontologie der Erzählung als literarische, die gleichsam filmisch präsentiert wird. Folglich kann hier - wie schon im vorherigen Beispiel - eine doppelläufige Strategie beobachtet werden, die darin besteht, einerseits den Roman zu bewerben, und andererseits den Eigenwert als Film oder als Buchtrailer vorzuführen - denn auch hier wird zu Beginn noch offen gehalten, ob es sich nicht doch eher um einen Kurzfilm von Cornelia Funke handelt und nicht um die Werbung für einen neuen Roman. Einen anderen Schwerpunkt des filmischen Bedeutungsaufbaus über Intermedialität führt der Trailer zu Silber - Das erste Buch der Träume (2013) vor, indem er die Überlagerung der Medien Buch und Film vornehmlich auf der Bildebene vorführt: Der von einem animierten Vogel über einem Zweig angelegte und durch das Bild gezogene Schriftzug “ Dream a little dream ” , die mäandernden Zweige, die sich öffnende Tür - alles das entpuppt sich am Ende als Element und Teilelement des Buchdeckels, der auch in diesem Beispiel am Schluss eingeblendet wird und die Überlagerungsstrategie retrospektiv offenlegt. In Relation steht dies mit der Stimme einer nichtdiegetischen Erzählinstanz, die - auch das ist bereits aus Miss Peregrine ’ s Home for Peculiar Children bekannt - ein Grundsetting entwirft (mit dem Thema, Träume zu träumen) und eine Heldin benennt, die in ihren Träumen die Grenze in eine fremde Welt zu überschreiten vermag. Die Besonderheit besteht dabei darin, dass der Trailer diese Elemente nicht ‘ zitiert ’ , sondern sie in einem gesamtfilmischen Zusammenhang appliziert und übersetzt. Dazu zählt auch die Auffälligkeit, dass er an einer Stelle die Bezugsebene des Buchdeckels verlässt und - ebenfalls animiert - eine Art Beschwörungsszenerie auf einem Friedhof zeigt: Hier wechselt er temporär von einer intermedialen Überlagerung über zu einer ‘ rein ’ filmischen Informationswiedergabe, um diese Präsentationsform wieder aufzugeben und zur zuvor eingeführten Strategie zurückzukehren. Beide Beispiele veranschaulichen den Hang des Formats zurAnimation und liefern damit einen weiteren Aspekt, der für den Buchtrailer signifikant zu sein scheint. Ein letztes Beispiel in dieser Hinsicht aus dem Bereich ‘ Sachbuchtrailer ’ : Auch Die Dinge geregelt kriegen arbeitet sowohl mit einem Narrativ als auch mit Animationen und bindet beides in eine intermediale Gesamtkonstellation ein. Parodistisch umgesetzt findet sich hier die biblische Genesis, und zwar in einer Umdeutung der Schöpfungsgeschichte als Geschichte prokrastinierenden Handelns: Gott schiebt die selbst auferlegte Aufgabe der Erschaffung der Welt bis zum siebten Tag vor sich her und agiert ‘ auf den allerletzten Drücker ’ . Erstens auffällig ist die etablierte Erzählsituation. Eine Erzählerstimme (prominent besetzt mit Andreas Fröhlich) unternimmt den Einblick in die Gedankenwelt Gottes, ohne jedoch eine gänzlich nachvollziehbare Innensicht wiederzugeben. Der Erzähler ist bei der Figur, ohne ihr jedoch ‘ zu nahe ’ zu kommen. Der Effekt ist, dass die Figur Gottes seltsam entrückt bleibt. Zwar wird von seiner Seite aus auf klischeehaft eingesetzte Verdrängungsstrategien zurückgegriffen und wiederholt auf (teils scheinheilige) Beweggründe ver- 46 Stephan Brössel (Münster) wiesen. Ebenso im Dunkeln bleiben dagegen allerdings auch die tatsächlichen (und vielleicht gar nachvollziehbaren) Gründe, warum es Gott offensichtlich schwerfällt, in Aktion zu treten. Hervorgerufen wird damit ein ambivalentes Bild des Akteurs, dessen Vorwände zwar in ihrer humoristischen Wendung verständlich sind, der aber - das sollte nicht vergessen werden - vor einer nicht unerheblichen Aufgabe, eben der Erschaffung der Welt, steht. Zweitens bemerkenswert ist das Zusammenspiel der Relation von Erzählinstanz und Figur mit der audiovisuellen Gestaltung insgesamt. Das zeigt sich in erster Linie in der Kopplung von Sprache und Schrift, wobei letztere an die Erzählerrede gebunden und darüber hinaus das für den Film tragende Element erlebter Rede visuell zum Ausdruck bringt. Schrift wird also als mediales System in zwei Hinsichten eingesetzt: (i) als Medium von Sprache und (ii) als Ausdrucksmittel der Relation von Erzähler und Figur. Ganz abgesehen von weiteren Mitteln, die der Film zur Geltung bringt (Markierung der filmischen Animation von Schrift, Einsatz weiterer Medienprodukte, Wechsel des Schrifteinsatzes in geschriebener Sprache usw.), und der Tatsache, dass es sich um die Adaption des “ Auftaktes ” im Buch von Kathrin Passig und Sascha Lobo handelt (cf. Passig und Lobo 2016: 13), kann schon allein am genannten Aspekt auch hier das massive Potenzial des Buchtrailers zur Semiotisierung und Funktionalisierung der Schnittstelle zwischen Buch und Film nachvollzogen werden. 5. Fazit und Ansatzpunkte einer künftigen Forschung Aus alledem lassen sich für die aufgestellte These Schlüsse ziehen, wie auch Anschlussmöglichkeiten für die künftige Forschung aufzeigen. Deutlich geworden ist, dass die aufgestellte Arbeitsdefinition samt ihrer Ergänzungen in den behandelten Teilbereichen zwar generelle Gültigkeit beanspruchen darf, sie ein wesentliches Merkmal - das freilich nicht flächendeckend vorzufinden ist, über das der Buchtrailer aber sein formatspezifisches Potenzial als filmische Vermittlungsform aufbaut - allerdings unberücksichtigt lässt: die intermediale Bedeutungskomponente, die in mannigfaltigen Spielformen und unter Einbezug verschiedener Medien vorliegt, in ihrem Kern indessen in erster Linie auf die Relation von Buch und Film abhebt. Man könnte angesichts dessen auch behaupten: Einprägsam (und zugleich erfolgreich? ) sind Buchtrailer vor allem dann, wenn sie diese intermediale Bedeutungskomponente einziehen, damit medienreflexive Strukturen aufbauen und auf diese Weise bestimmte Mehrwertstrategien geltend machen, die sie einerseits im Feld filmischer Werbung verankern, andererseits - und dies ist entscheidend - ihre differentia specifica sowohl in diesem Feld als auch im Feld der Trailer prägen. Buchtrailer sind eben nicht nur als Werbung für Bücher zu begreifen, sondern auch als (relativ) neues Filmformat, das die eigene Stellung, den eigenen Status zu konturieren anstrebt. Ein Blick auf diese Teilmenge intermedial konstituierter Formen hat sich jedenfalls als besonders aufschlussreich erwiesen. Die Arbeitsdefinition, die in den einzelnen Teilabschnitten mitgelaufen ist, ließe sich demnach unter Rückgriff der Teilergebnisse abschließend folgendermaßen fassen: Buchtrailer. Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 47 1. Buchtrailer sind (i) filmische (audiovisuelle) Medienprodukte, die (ii) im Vergleich mit anderen filmischen Formen (wie z. B. dem Spielfilm) signifikant kurz ausfallen, (iii) Werbezwecken dienen, (iv) in diesem Rahmen explizit-thematisch auf einen schriftbasierten Text (oder eine Textreihe) referieren und (v) primär über das Internet (das gleichzeitig als naheliegendes kontextuelles Feld in die Analyse einbezogen werden kann) distribuiert werden. 2. In den Parametern ‘ Aufbau ’ , ‘ Präferenz der Präsentationsmittel ’ , ‘ Umgang mit Musik ’ und ‘ Relationsgefüge ’ (Werbetext/ beworbenes Objekt) (i) orientieren sich Buchtrailer an konventionalisierten Mustern des Filmtrailers und (ii) weisen zugleich Merkmale filmischer Werbung auf; Merkmale, die aus dem kommunikativen Akt, dem Angebot an Argumentationsstrategien und Semantisierungsmustern von Werbung rekonstruierbar sind. (iii) Seinen Status als Buchtrailer untermauert das Format insbesondere dann, wenn es intermediale Strukturen aufweist und dadurch das Relationsgefüge zum Buch reflexiv hervorkehrt. Die Anschlussmöglichkeiten für eine weitere Erforschung sind vielfältig, wie ihre Erarbeitung in Anbetracht der stark lückenhaften Forschungslage wünschenswert: Erstens ist der Positionierung des Formates in den einzelnen Teilfeldern weiter nachzugehen. Näher zu bestimmen wäre der Buchtrailer (i) als filmisches Kurzformat in Beziehung und Abgrenzung nicht nur vom Filmtrailer, sondern auch von einer Reihe weiterer Formate - wie Clips, Spots und Videos - , 19 die alle aufgrund ihrer relativ kurzen Dauer mit dem Problem der Informationsvergabe operieren, ob sie nun ein Produkt oder eine Marke bewerben, einen Star präsentieren oder ein Kurznarrativ darstellen. Stärker zu beleuchten wäre das Format insbesondere auch im Feld filmischer Werbung: Weist der Buchtrailer spezifische Muster in Rhetorik und Semantisierung auf, insbesondere unter Berücksichtigung seiner Tendenz zur intermedialen Gestaltung? Und auszuwerten wäre er schließlich (iii) im Kontext seines Distributionsortes im Internet, das ja massiv mit Texten und medienspezifischen Rahmungen angereichert ist und selbst als Sinnerzeugungsmaschine fungiert, den Buchtrailer (über die Bedeutungen, die er selbst vermittelt hinaus) mutmaßlich in einen Medienverbund einbindet und darüber weitere Bedeutung aufbaut. Zweitens müsste innerhalb des Feldes ‘ Buchtrailer ’ geprüft werden, inwieweit (i) die Vermutung zu belegen wäre, dass vornehmlich fiktionale Titel mit einem Trailer beworben werden, die den überwiegenden Anteil der diesem Beitrag zugrunde liegenden Datenbasis ausmachen, zudem (und darüber hinaus) aber auch, warum (ii) narrative Formen derart prominent sind. Zu prüfen wäre ferner (iii), ob es neben der narrativen und intermedialen Bedeutungskonstitution noch weitere strukturgebende Strategien ausmachen lassen. Schließlich stellt sich über solche medienkulturwissenschaftliche und filmanalytische Ansatzpunkte hinausgehend grundsätzlich die Frage, ob es in institutionell-sozialer und in ökonomischer Hinsicht eigentlich künftig einen ‘ Markt ’ für den Buchtrailer gibt: Warum ist die Differenz der Abnahmezahlen (ablesbar an den Klicks etwa auf YouTube) zwischen ‘ erfolgreichen ’ und ‘ weniger erfolgreichen ’ Trailern derart hoch? Wie schaffen es Produzierende, einen größeren Rezipierendenkreis anzusprechen, woran liegt es, dass 19 Für den Werbespot sei neben dem Ansatz von Krah und Gräf (2013) ebenfalls Grimm (1996) genannt; für den Musikvideoclip exemplarisch der Ansatz von Blödorn (2009); für Webvideos der Ansatz Kuhns (2012). 48 Stephan Brössel (Münster) manche Trailer - obwohl in ästhetischer Hinsicht durchaus interessant - kaum wahrgenommen werden? Diese und weitere Fragen ließen sich stellen und damit ein sehr viel breiterer Horizont als in diesem Beitrag abgesteckt eröffnen. In Anbetracht der nunmehr hohen Anzahl an Produktionen in diesem Bereich und vor allem auch hinsichtlich der sich zusehends ausdifferenzierenden Medienkulturlandschaft wäre eine weitere Beschäftigung sicher ein lohnenswertes wie spannendes Unterfangen. Bibliographie Walter Bernhart et al. (eds.) 1999: Word and Music Studies: Defining the Field, Amsterdam: Rodopi Baßler, Moritz und Martin Nies (eds.) 2018: Short Cuts. 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Ein audiovisuelles Kleinformat an der ‘ Schnittstelle ’ zwischen Buch und Film 51 K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube Miriam Frank (Passau) On the YouTube channel Sommers Weltliteratur to go by theatre dramaturge Michael Sommer, his videos depict literary works with the help of Playmobil characters. The article examines the genre of learning videos on YouTube in its dependencies on the digital dispositive as well as possibilities of participation and relationships to the school context and other educational institutions. In the second part, it focuses on the analysis of the videos in their particular characteristics with regard to visualization, playmobilisation and youth language as well as the peculiarities of the narrative act. 1 Einleitung/ Intro Das Angebot der medialen Wissensvermittlung auf der Videoplattform YouTube wächst stetig. Lern- und Wissensformate verzeichnen insbesondere bei Jugendlichen einen deutlichen Anstieg (cf. Körber-Stiftung 2019). YouTube ist bei vielen Jugendlichen das liebste Internetangebot (cf. JIM 2018, 34). Laut des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest schauen hierzulande 60 Prozent mindestens mehrmals pro Woche Videos auf YouTube, 22 Prozent der Jungen und 19 Prozent der Mädchen greifen mindestens einmal proWoche auf Erklärvideos für Themen aus der Schule zurück (cf. JIM 2018, 46 u. 50). Prof. Eckart Liebau, Vorsitzender des Rats für Kulturelle Bildung e.V., welcher ebenfalls eine Befragung zur Nutzung kultureller Bildungsangebote an digitalen Kulturorten unter Jugendlichen 2019 durchführte (cf. Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019), schlussfolgert aus der Studie, “ dass man dieses Medium nicht ignorieren darf. YouTube ist primär kein pädagogisches Medium, aber es ist tatsächlich inzwischen ein weiteres, wichtiges Lern- und Bildungsmedium, das die Bildungslandschaft im Ganzen berührt und verändert ” (cf. Wannenmacher 2019). Auf dem YouTube-Kanal Sommers Weltliteratur to go des Theaterdramaturgen Michael Sommer stellt dieser in seinen Videos literarische Werke mithilfe von Playmobil-Figuren dar. 1 Zunächst einmal findet hier also ein Medienwechsel (von Literatur zu Film) statt, eine Adaption von Geschichten. Über den Wechsel in ein audiovisuelles Medium haben wir es 1 Ein Kanal wird von Account-Inhaber*innen betrieben. Darin werden die eigenen Videos hochgeladen, gesammelt und individuell dargestellt. 2013 erfand Sommer das Format anlässlich einer Inszenierung von Dantons Tod am Theater Ulm. Die Performance wurde dokumentiert und auf YouTube gestellt. Aufgrund der also mit einem “ Phänomen der Intermedialität im weiteren Sinne ” (cf. Decker 2016: 146.) zu tun. 2 Der Aufsatz wird jedoch nicht die verschiedenen Informationskanäle und Referenzbeziehungen vergleichend untersuchen, sondern konzentriert sich auf die Analyse der Videos in ihren besonderen Charakteristika, i. e., es wird danach gefragt, (i) welche Mittel ausgewählt werden, (ii) wie sie kombiniert werden und (iii) in welcher Funktion sie stehen, um die Kohärenz und Wiedererkennbarkeit des Kanals als Marke aufzuzeigen. Ein Kommentar zum Video Uhrwerk Orange to go spricht den Filmen diese Spezifizität zu: Die Kubrick-Verfilmung ist ja schon ein paar Tage her. Daher möchte ich dein Werk jetzt mal nicht zu detailliert mit dem Vorgänger vergleichen. Nur eines: Genau wie Kubricks sind eben auch deine Filme unverkennbar. Und wer sie mag, wird sie nun mal von Film zu Film mehr lieben. (cf. Kommentar von CrYzZ Storys, Sommers Weltliteratur to go 2019 a) 2 Genre & Dispositiv Sommer ist durch seinen gewählten Publikationsort damit ein sogenannter EduTuber, ein “ YouTuber der Bildungsszene. Sie [. . .] bieten mit Lernvideos auf YouTube [. . .] Wissensvermittlung für SchülerInnen, StudentInnen, aber auch für die Allgemeinheit ” (cf. Körber- Stiftung 2019). 3 Und auch wenn Let ’ s-Play- oder Mode- und Beauty-Kanäle wie BibisBeautyPalace oft als Beispiele für erfolgreicheYouTube-Kanäle herangezogen werden, so ist doch das “ weltweit meistabonnierte YouTube-Angebot aus Deutschland [. . .] ein Lern- und Wissenskanal mit dem Titel: Kurzgesagt - In a Nutshell ” (cf. Körber-Stiftung 2019). Dieser “ Wissenschaftskanal ” (Selbstbeschreibung der deutschen Version Dinge Erklärt - Kurzgesagt) ist nicht monothematisch ausgerichtet, sondern beschäftigt sich mit Themen aus der Weltraumforschung, Physik, Biologie, Politik, Philosophie und Technik. 4 Seit September 2017 gehört der Kanal zum Angebot von funk, einem Gemeinschaftsangebot der ARD und des ZDF für die jugendliche Zielgruppe. Auch Mirko Drotschmann, der bereits seit 2012 auf seinem Kanal MrWissen2go aktuelle politische und gesellschaftliche oder historische Themen erklärt, gehört seit 2017 zu funk, stellt allerdings wohl aus juristischen Gründen in der Kanalinfo heraus, dass die in den Videos geäußerte Meinung privat sei und nichts mit seinen Arbeit- und Auftraggebern zu tun habe (cf. MrWissen2go). Mittlerweile arbeiten viele EduTuber mit funk zusammen. Zudem werden viele Wissenskanäle bereits von Beginn an von funk verantwortet, so dass sich vieles in dem Bereich der deutschsprachigen wachsenden Aufrufe wurde die Reihe entwickelt, in der seit Januar 2015 wöchentlich neue Videos produziert werden (cf. Sommer 2015 a). 2 Bei Beispielen, die bereits adaptiert wurden, sprechen die Paratexte häufig davon, dass Sommers Zusammenfassungen Originaltreue versprechen (so etwa bei Das Phantom der Oper to go in Bezug auf das Musical oder Verfilmungen von H. G. Wells Die Zeitmaschine). 3 YouTuber*innen sind die Produzent*innen eingestellter Videos. 4 Die hohen Nutzendenzahlen beziehen sich auf den englischsprachigen Kanal. Der deutschsprachige trägt den Titel Dinge erklärt - Kurzgesagt. Hier wird alle zwei Wochen ein neues animiertes Video auf Deutsch veröffentlicht. Dies kann eine Übersetzung aus dem englischsprachigen Kanal sein oder ein exklusiver Inhalt für den deutschen Markt (cf. Dinge Erklärt - Kurzgesagt). Der Kanal maiLab ist ein weiterer ebenso wie Sommer mit dem Grimme Online Award prämierter Kanal von der Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim. Der Kanal musstewissen versammelt bekannte YouTuber*innen aus dem Bereich ‘ Wissen ’ . Musstewissen Deutsch wurde allerdings am 31. 01. 2019 eingestellt. Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 53 Wissenskanäle unter dem Dach von funk versammelt und damit letztlich Teil des Webangebots des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bildet. Aufgrund des Einflusses “ auf die Art, wie audiovisuelle Informationen vermittelt, aufgenommen und verbreitet werden ” (cf. Geipel 2018: 141), dürfen die Plattformspezifika von YouTube nicht außerAcht gelassen werden. Der Begriff der ‘ Videoplattform ’ suggeriert topologisch zunächst einmal Egalität und Zugänglichkeit (cf. Gillespie 2010). Da die strategische Benennung solch eine Neutralität natürlich bloß vorgibt, gilt es die Software von Webportalen nicht nur als Dienstleistungsangebot, sondern auch als Ordnungsstruktur wahrzunehmen. Mithilfe des Konzepts des Dispositivs als semantischer Vernetzung von Medientechnologien und kulturellem Wissen lassen sich hier sowohl die Einflüsse technisch-apparativer Grundlagen als auch bestimmte Praktiken, mediale Merkmale und kulturelle Wahrnehmungssemantiken erforschen, i. e. die Frage danach, welches technologische, alltäglich kulturelle, soziale und institutionelle Wissen sowie spezifische Alltagswissen vorausgesetzt wird (cf. Decker und Krah 2011). Snickars und Pelle gehen bereits 2009 davon aus, dass YouTube “ as a technology of normalization, as a symptom for a wider social strategy ” (cf. Snickars und Pelle 2009: 16) zu begreifen ist. YouTube bietet aktiven Nutzenden zum einen die Möglichkeit, (i) selbst produzierte Videos hochzuladen, (ii) Videos über andere soziale Netzwerke zu teilen, (iii) zu liken oder disliken, (iv) im Kommentarbereich zu kommentieren und (v) Kanäle zu abonnieren. 5 Daneben geht der Videokonsum aber vor allem auch passiv vonstatten, i. e., dass die Videos ohne die Erstellung eines Accounts abgespielt werden können. Bereits über die Benutzungsoberfläche ist ersichtlich, dass trotz des partizipativen Charakters der Fokus auf der audiovisuellen Wissensvermittlung bleibt. Neben der Startseite eines Kanals öffnet sich beim Anklicken eines Videos in der Browseransicht eine neue Videoseite oder besser: YouTube- Wiedergabeseite. 6 Unterhalb des Videos, i. e. im direkten Umfeld des Texts, sind weitere Peritexte platziert, dem Video über die Stellung allerdings bereits untergeordnet. Neben einem Titel finden sich dort durch YouTube festgelegt (i) die Anzahl der Aufrufe, (ii) das Veröffentlichungsdatum, (iii) der Name des Kanals samt Abonnierendenanzahl und (iv) eine Art Klappentext zum Video, welcher von den Produzierenden selbst stammt, etwa eine kurze, werbende Zusammenfassung und eine sehr allgemeine Einordnung durch die Verfassenden in die von YouTube vorgegebenen Webvideokategorien (länderspezifisch zur Klassifizierung von Webvideoinhalten), in Sommers Fall die Kategorie der Unterhaltung. Auch Hinweise auf weitere Videos über Verlinkungen sind an dieser Stelle möglich. Auf seiner eigenen Webseite setzt sich Michael Sommer mit der Problematik der verunmöglichten Korrektur und Richtigstellung auf YouTube hinsichtlich der Abhängigkeit von Veröffentlichungsdaten und Klickzahlen auseinander (Views beziehen sich dabei nur auf die Abspielhäufigkeit, nicht auf die tatsächliche Wiedergabezeit.): “ Es blutet mir das Herz angesichts der Tatsache, dass ich die Videos nicht schnell korrigieren kann - YouTube verunmöglicht das, ich könnte höchstens das Video komplett neu hochladen, womit die 5 YouTube wurde 2005 gegründet und bereits 2006 von Google gekauft (cf. Marek 2013: 16). “ YouTube ist derzeit die am zweithäufigsten besuchte Webseite nach Google und Marktführer unter den Videoportalen ” (Geipel 2018: 137). 6 Dabei ist zu beachten, dass sich die Benutzungsoberfläche im Browser anders darstellt als in der mobilen Version oder über die YouTube App. 54 Miriam Frank (Passau) bisherigen Clickzahlen, ein wesentliches Kapital, verlorengingen ” (cf. Sommer 2017 a). 7 Es bliebe ihm, so Sommer, nur die Möglichkeit der Auseinandersetzung über die Kommentarfunktion (cf. ibid.). Diese Relevanzkriterien, i. e. Zahlenwerte wie Abonnentinnen und Abonnenten, Views, Likes und Kommentare, bestimmen den plattformeigenen Algorithmus: “ Damit beteiligen sich selbst Nutzer, die nie Videos editiert haben, am Prozess der Systementstehung ” (cf. Marek 2013: 46). Geipel weist darauf hin, dass YouTube seinen Nutzenden selbst Analysetools zur Auswertung zur Verfügung stelle, 8 wobei diese Strategien zur Professionalisierung wiederrum zur Beeinflussung von Werbeeinblendungen und damit auch Werbeeinnahmen genutzt werden können (cf. Geipel 2018: 141). Die “ algorithmisch bestimmte Infrastruktur der Videoplattform ” (cf. Geipel 2018: 139) unterwirft die Kommunikationsmuster den je eigenen plattformspezifischen Regeln von YouTube. Bedeutend für die mediale Konfiguration ist u. a. das Thumbnail, i. e. das Vorschaubild. Mit diesem wird in der Regel versucht, “ Aufmerksamkeit zu erzeugen und die NutzerInnen dazu zu animieren, es anzuklicken ” (cf. Geipel 2018: 156). Abb. 1: Auswahl an Vorschaubildern in der Sammlung aller hochgeladener Videos, bearbeiteter Screenshot, im Internet unter https: / / www.youtube.com/ user/ mwstubes/ videos [24. 03. 2020]. Bei den Vorschaubildern für Sommers Videos fällt auf, dass viele ein direkt in die Kamera blickendes Gesicht einer Playmobilfigur von vorne in Nah- oder Halbnahaufnahme zeigen (s. Abbildung 1). Das für YouTuber*innen konventionelle Mittel der Direktadressierung zur Herstellung u. a. von Komplizenschaft mit dem Publikum wird auf die Spielfiguren übertragen. Die vierte Wand wird durchbrochen und die Zuschauenden als adressiertes Publikum bereits visuell markiert. Meist werden dabei mehrere Figuren in einer Gruppierung dargestellt. Über die Positionierung der Figuren im Vorder- und Mittelgrund sowie ein Bühnenbild im Hintergrund entsteht ein Raumeindruck. Die Spielfläche weist sich durch wechselnde Bühnenbilder als Theaterraum aus, die Playmobilfiguren, so die Grimme-Jury, “ betreten [. . .] die Bühne ” (cf. Grimme Online Awards 2018). Die Normalsicht sowie das Bildfeld verändern sich im Laufe des Discours nicht, da die Kamera statisch bleibt. Der durchgängig fixierte Standpunkt imitiert damit die Rezeption im traditionellen Theater. Nur ist nun jeder/ r Zuschauende dem Geschehen gegenüber frontal positioniert. Sommer inszeniert allerdings, wie der Höhenwinkel bereits erkennen lässt und auch weitere Strategien andeuten, eine Wissensvermittlung auf Augenhöhe. 7 Sommers 334 Videos hatten bis zum 16. 09. 2019 12.660.335 Aufrufe und der Kanal 88.800 Abonnent*innen. 8 YouTube Analytics zeigt Performance- und Engagement-Metriken an (Watch time, Views, Average view duration, Likes, Dislikes, Comments, Shares, Videos in playlists, Subscribers, Estimated revenue). Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 55 Die meisten Videos haben zudem eine Länge von circa zehn Minuten. Der Faktor Zeit, sprich die Kürze, wird argumentativ genutzt, um die Medien Buch und Film kontrastiv gegenüberzustellen. Im Peritext zu dem Video Wilhelm Meisters Lehrjahre to go etwa schreibt Sommer, dass “ die wenigsten dieses nicht eben dünne Werk tatsächlich gelesen [haben]. Macht nix. Jetzt gibt es die Abenteuer des jungen Wilhelm als To-Go-Version ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2019 b). Literatur erhält hier per se das Merkmal der Zeitintensivität, Videos auf YouTube hingegen nicht. 9 Zudem wird eine kulturelle Aussage über ein generelles Gehetztsein getätigt, welches des Zeitmanagements bedarf und da die Welt der Literatur der To-Go-Kultur zuwiderlaufe (Sommer hält in seinem Begrüßungsvideo auf der Startseite des Kanals fest, dass viele literarische Werke viel zu lang für den Hausgebrauch seien), sei “ Zeit für Bücher [. . .] Luxus ” (cf. Sommer zit. nach Engel 2015), weswegen es einer “ [g]eschmeidig in den Alltag integrierbare[n] Literaturvermittlung ” (cf. Mühl 2015) bedarf. Sommers Argumentation ist dabei nicht ganz widerspruchsfrei, da er gleichzeitig jeden Peritext in der Infobox unterhalb des Videos mit dem Zusatz endet: “ WARNHINWEIS: DIESES TO-GO-VIDEO ERSETZT IN KEINER WEISE DIE LEKTÜRE DES ORIGINALS. Meine Empfehlung: Selber lesen! ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2019 b, Hervorhebung im Original) Zudem bedient er selbst das Paradigma der Schnelllebigkeit über die selbstgewählte Arbeitsverdichtung und den Zeitdruck “ mindestens ein Werk pro Woche zu verplaymobilisieren ” (cf. Sommer 2017 a). Deshalb sei es, so Sommer, “ völlig ausgeschlossen, dass ich irgendeinen Grad von Perfektion erreiche, weder inhaltlich, noch in der spielerischen oder technischen Umsetzung ” (ibid.). In den Kommentaren wird sich des Öfteren für ein Video bedankt, da es einem trotz nicht-Lesen des Buches zur Klausurvorbereitung gedient habe. Eine Rezension zu Sommers Kanal trägt den Titel “ Ohne Video wäre mein Abitur im Eimer ” (cf. Mühl 2015). Des Weiteren bietet Sommer keine zusätzlichen Materialien oder Skripte an, die Videos stehen also für sich und werden nicht von umfassenderen Lernangeboten gerahmt. In dieser Form bleibt die Reihe bislang äußerst konstant. Das Publikum kann also bereits mit der Gestaltung, der Technik, den Redeweisen etc. vertraut sein. Sommer selbst spricht von seiner “ YouTube-Literaturreihe ” (cf. Sommer o. J.). Eine Reihe weist im Gegensatz zu einer Serie nach Hans Krah weder ein gemeinsames Weltmodell noch eine Sukzession der Folgen auf (die austauschbare Reihenfolge wird bereits über die verschiedenen Playlisten [Videosammlungen] auf YouTube exemplifiziert), 10 sondern die Einzelfolgen sind narrativ abgeschlossen und voneinander unabhängig (cf. Krah 2010: 95 ff.). 9 Schaut man auf die Selbsteinschätzung hinsichtlich der Nutzungsdauer und Medienbeschäftigung von Buch und Internet, dann verbringen Jugendliche täglich 67 Minuten mit dem Lesen von Büchern und 214 Minuten mit Onlinetätigkeiten, dies meint natürlich nicht nur den Konsum von Onlinevideos, sondern insbesondere die Spielzeit (cf. JIM 2018, 21 u. 32). 10 Durch das Format der Zeitleiste (Meilensteine der Literaturgeschichte. Eine literarische Zeitreise mit Sommers Weltliteratur to go) wird nachträglich versucht, Linearität in die nicht-chronologische Videosammlung hineinzubringen (cf. Sommer o. J.). 56 Miriam Frank (Passau) 3 Schulischer Kontext & Bildungsinstitutionen Dass die Zielgruppe vornehmlich aus Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden besteht, wird durch mehrere Markierungen deutlich. Zum einen spezifiziert Sommer seine Kriterien zur Literaturauswahl selbst auf seiner Webseite wie folgt: “ Weiterhin habe ich natürlich die abirelevante Literatur der einzelnen deutschen Bundesländer gecheckt - ich will, dass meine Videos einen praktischen Nutzen haben ” (cf. Sommer 2017 b). Anfänglich verwies er in den Peritexten der Infoboxen unterhalb der Videos auch stets auf den Nutzen der Wiederholung vor einer nächsten Klausur oder vor einem Referat. Eine Playlist trägt zudem den Titel Abi 2018 - Pflichtlektüren - grob chronologisch. Auf die deutschen Lehrpläne ist zum anderen wohl auch die marginale Anzahl an antiker und mittelalterlicher Literatur zurückzuführen (in der Playlist HELLAS & SPQR - Antike Klassiker befinden sich fünf Videos, in LÎBE UNDE LEIT - Mittelalterliche Literatur sechs Videos). Das Fehlen von Lyrik hingegen führt Sommer selbst auf seine eigenen Formatvorgaben zurück: “ Lyrik kommt nicht vor, denn bei einem Gedicht die Handlung zusammenzufassen führt zu wenig ” (cf. Sommer o. J.). Das berufliche Profil der Person Michael Sommer als Theaterdramaturg ist meines Erachtens ebenfalls bedeutsam für die Rollenlogik innerhalb der Wissensvermittlung auf YouTube. Als Nicht-Lehrer ist er kein Teil der Institution Schule, sondern entstammt einer Kreativbranche. Zwar ist er demzufolge für ein jugendliches Publikum kein traditioneller Meinungsführer, wird aber durch seine Beschäftigung am Theater dennoch als Autorität und Experte auf dem Gebiet der Literatur wahrgenommen. Wenn er etwa in den Videos ohne Playmobilfiguren etwas ankündigt oder rezensiert, platziert er sich stets in einem Ohrensessel oder vor einem vollen Bücherregal in einer konventionalisiert hochkulturellen Pose. I. e., die Person Michael Sommer ist zumindest innerhalb des Kanals sichtbar, sein Erscheinungsbild bekannt. 11 Seine formulierten Handlungsabsichten und Interessen lesen sich als literaturdidaktischer Auftrag: “ Literatur ist lebendig, und zwar dann, wenn wir uns damit auseinandersetzen und etwas daraus machen ” (cf. Sommer o. J.). Diese Hingabe ist bereits durch die Produktion wöchentlich neuer Videos quantifizierbar. Denn ein “ korruptes kleines Filmchen ” sei “ besser [. . .] als dass dasselbe auf dem Billyregal oben links verschimmelt ” (cf. Sommer o. J.). Sommer versteht sich demzufolge auch als Mittlerfigur, welche über eine externe Wissensvermittlung auf populärer Ebene den Werken einen Zugewinn an Bekanntheit und Zustimmung bereitet, so “ dass auch schwer zugängliche Prosa oder Dramen ein wenig Popularisierung erfahren ” (cf. Sommer o. J.). Unterhaltung und Verständlichkeit sind in der Selbstzuschreibung die wichtigsten Komponenten: “ Ich versuche, die wesentlichen Punkte der Handlung zusammenzufassen, mit Hilfe von Plastik, klaren Bildern und billigen Witzchen ” (cf. Sommer o. J.). 12 Auftrag und Ansicht wurden bislang nicht reformuliert, sondern sind in Verbindung mit dem konsistenten Verhalten Signale für Glaubwürdigkeit. Auch die Institutionalisierung über den Reclam Verlag dient 11 Bereits beim Öffnen der Startseite spielt sich Sommers Begrüßungsvideo automatisch ab. Zudem bietet er Livestreaming-Events an, um in Echtzeit mit seinen Zuschauenden zu interagieren (SOMMERS WELTLI TERA- TUR ON AIR - die Live-Literatur-Sendung). 12 Für Schülerinnen und Schüler ist der Unterhaltungsfaktor auf YouTube wichtig, da hier “ lustiger [], mit mehr Spaß, locker, cool, unterhaltsamer, nicht so langweilig, nicht spießig ” (Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019, 29) erklärt werde. Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 57 der Etablierung von Vertrauenswürdigkeit. 13 Für das Kanalbild des Banners dienen Sommer die Rücken von Reclam-Heften, i. e. die bekannten, günstigen, meist für die schulische und universitäre Bildung verwendeten Bücher der Universal-Bibliothek, als flächiger Hintergrund (s. Abbildung 2). Innerhalb des Banners wird bereits auf die verlagseigene Seite verlinkt und über die Ankündigung Reclam präsentiert kommuniziert, dass Reclam die Inhalte verantwortet, obwohl die Gesamtverantwortung bei Michael Sommer liegt. 14 Die Auswahl Sommers orientiert sich jedoch auch an den Verkaufszahlen Reclams (cf. Sommer 2017 b) und zum 150jährigen Bestehen der Universal-Bibliothek wurden anlässlich des Verlagsfestes im Stuttgarter Literaturhaus Reclams Top Ten der meistverkauften UB-Hefte seit 1948 in 10 Minuten präsentiert. 15 Zudem verweist die Farbe Gelb hier kontextspezifisch auf den Verlag, welcher für die eigene Seite auch diesen Farbton als Grundlage wählte (s. Abbildung 3). Abb. 2: Banner des YouTube Kanals Sommers Weltliteratur to go, bearbeiteter Screenshot, im Internet unter https: / / www.youtube.com/ user/ mwstubes[24. 03. 2020]. Abb. 3: Banner auf der Webseite www.sommers-weltliteratur.de, bearbeiteter Screenshot, im Internet unter http: / / sommers-weltliteratur.de/ [24. 03. 2020]. Des Weiteren erhielt der Kanal 2018 den Grimme Online Award, eine vom Grimme-Institut vergebene Auszeichnung für publizistische Qualität im Internet. Die Bedeutsamkeit des Awards ist bereits an der Größe der grafischen Kennzeichnung im Verhältnis zu den anderen schriftlichen Elementen auf den jeweiligen Bannern sichtbar. Mit Ausnahme des 13 Sommer arbeitet bereits seit 2015 mit dem Verlag zusammen. Zudem werden die Videos und Informationen zum Projekt noch auf einer eigenen Webseite in Zusammenarbeit mit dem Reclam-Verlag präsentiert: http: / / sommers-weltliteratur.de/ [23. 03. 2020]. 14 Aufgrund einer vergangenen Startnext-Kampagne wird Reclam zudem als Förderer zur Finanzierung neuer Hardware gelistet (cf. Sommer o. J.) 15 Auch Gedenktage initiieren zeitweilig die Verplaymobilisierung eines Werkes, bspw. der 200. Geburtstag von Theodor Fontane (Mathilde Möhring to go), der 200. Geburtstag von Karl Marx (Manifest der kommunistischen Partei to go) oder die Feierlichkeiten zu 500 Jahre Reformation (Die Reformation to go - Sommers Weltliteratur Spezial). 58 Miriam Frank (Passau) Titels wird hier bloß noch der Verlag erwähnt. Dabei setzt sich das Siegel farblich ab und generiert damit Aufmerksamkeit. Als anerkanntes Gütesiegel weist es auf einen vertrauenswürdigen Anbieter und ein qualitativ hochwertiges Produkt hin. Auch konnotiert bereits der Begriff ‘ Weltliteratur ’ eine globale Bedeutsamkeit. Sommer definiert in einem Artikel auf seiner eigenen Webseite sein Verständnis des Begriffs, in welchem sowohl die Bedeutungskomponenten der Quantität in Form einer übernationalen Verbreitung und der Qualität im Sinne eines kosmopolitischen Geistes Verwendung finden: “ Werke mit den Merkmalen ‘ qualitativ hochwertig ’ , ‘ universell zugänglich ’ , ‘ originell ’ , ‘ für die ganze Menschheit und alle Zeiten relevant ’ , ‘ einflussreich ’ und ‘ populär ’” (cf. Sommer 2017 b). Gleichzeitig hält er fest, dass “ [n]icht alle Werke, die ich bisher schon verplaymobilisiert habe und in Zukunft zusammenfassen werde, qualifizieren sich meines Erachtens für den schönen Titel ‘ Weltliteratur ’” (Hervorhebung im Original, cf. Sommer 2017 b). Trotz eines damit verbundenen, unbestreitbaren Kanonisierungsprozesses, durch den die ausgewählten literarischen Artefakte als besonders repräsentativ und das in ihnen vermittelte Wissen als wertvoll deklariert werden, hinterfragt Sommer die Angemessenheit eines Kanons und trifft daher die Einschränkung: “ Naja, ich halte meinen Kanal nicht für exklusiv, sondern für einen Ausgangspunkt, um sich Gedanken zum Thema zu machen ” (cf. Sommer 2017 b). Sommer versteht sein Angebot allerdings auch nicht als Gegenkanon. Weil er jedoch seine Auswahlkriterien reflektiert, hinterfragt er zumindest den schulischen Kanon sowie dessen nationale Referenzpunkte. 16 In einer Selbstaussage bezeichnet er sich als “ ein[en] leicht übergewichtige[n] weiße[n] mitteleuropäische[n] heterosexuelle[n] Mann aus dem deutschen Kulturkreis, und davon ist meine Werkauswahl geprägt. Das muss anders werden und ich arbeite dran ” (cf. Sommer 2017 b). 17 Als Ausblick verspricht er in selbigem Artikel eine größere Heterogenität, weniger Eurozentrismus und mehr Repräsentation anderer Gegenden der Welt (cf. Sommer 2017 b). 18 Dem Aspekt der Globalität im Digitalen wird zumindest über einen englischsprachigen Kanal namens Sommer ’ s World Literature to go Rechnung getragen. 19 16 Die Playlisten auf Sommers Weltliteratur to go nehmen ebendiese nationalen Referenzen allerdings wieder als Strukturierungshilfen: “ LALA! - Die wichtigsten Werke der französischen Literatur ” , “ VERY BRITISH! - Englische Klassiker ” , “ KÜSS DIE HAND! - Österreichische Klassiker to go ” , “ NA STARO WJE! - Die größten Werke der russischen Literatur ” . 17 Die Mehrheit der EduTuber ist nach der Kröber-Stiftung männlich. Die schulisch orientierte YouTube- Lernwelt wird demzufolge von Männern geprägt, wohingegen Mädchen und junge Frauen bei Themen wie Lifestyle, Beauty und Kreativität dominieren (cf. Körber-Stiftung 2019). Auch in den Playlisten finden sich nur Sammlungen von Autoren ( “ OH MANN! -Die Mannschen Hauptwerke ” ) und keine zu Autorinnen. 18 Aufgrund der Zielgruppe ist allerdings - wie gesagt - die abiturrelevante Literatur im Fokus. Diese Abhängigkeit wird auch von Nutzer*innen erkannt: “ Hast Du Lust, mal etwas Exotischeres zu verplaymobilisieren? Ein [sic] Roman von Rabindranath Tagore oder Literatur aus China, Japan, Afrika oder Südamerika vielleicht? Dadurch schwindet zwar evtl. die Nützlichkeit für ’ s [sic] Abi, aber ich fände es total spannend, mal noch ein Stück weiter über den Tellerrand zu schauen ” (Kommentar von Nes Tor, cf. Sommers Weltliteratur to go 2019 i). 19 Dieser hat allerdings wesentlich weniger Videos als auch Abonnentinnen und Abonnenten (11.400 Abonnenten, 66 Videos, Stand: 18. 09. 2019). Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 59 4 Partizipation & Nachhilfe Die Potentialität einer Feedback-Kultur über YouTube impliziert nicht bereits eine tatsächliche Partizipation oder Interaktion der Nutzer*innen. Allerdings sei es, so die Körber-Stiftung, für den Erfolg eines Kanals auf YouTube essentiell, dass “ mit [d]en Usern kommuniziert und auf Wünsche und Kritik ” (cf. Körber-Stiftung 2019) eingegangen werde, man sich demzufolge der partizipativen Möglichkeiten der Plattform bediene und versuche, die “ ZuschauerInnen aktiv in den Kommunikationsprozess einzubinden ” (cf. Geipel 2018: 158). Sommer realisiert dies durch einen jährlichen Wahlaufruf im September, wobei innerhalb von zwei Wochen auf seiner Internetseite aus 100 vorgegebenen Werken fünfzehn gewählt werden können, welche im darauffolgenden Jahr als Video erscheinen. 20 Angelehnt an den Spielplan der Theater beginnt demnach im Oktober seine neue ‘ Saison ’ . Die Mitbestimmung des Programms tituliert Sommer als ‘ Volksentscheid ’ (die URL lautet http: / / mwsommer.de/ volksentscheid) und inszeniert damit die Ermächtigung der Nutzenden innerhalb seines Kanals demnach als Instrument einer direkten Demokratie. In der Begrüßungs- und Abschiedsformel der Videos spricht Sommer sein Publikum zudem kollektiv als ‘ Gemeinde ’ an und ruft mit dem kirchlichen Kontext des Begriffs also Konnotationen von Gottesdienst, Versammlung, Regelmäßigkeit und Verbundenheit der Anwesenden durch gemeinsame Werte hervor. 21 Durch die regelmäßige Pflege der Kommentarsektion arbeitet Sommer am Aufbau einer Kommunikationsgemeinschaft auf seinem Kanal, die sich insbesondere durch die gemeinsamen Merkmale ‘ Deutschunterricht ’ und ‘ Abitur ’ konstituieren. 22 Das meistgeklickte Video ist demzufolge Faust to go (Goethe in 9 Minuten) (979.420 Aufrufe, abgerufen am 04. 10. 2019). Auch eine Playlist mit dem Titel Deutsche Klassiker - Was jeder kennen muss oder die Peritexte der ersten Videos in dem Muster ‘ Alles was Sie über XXX wissen müssen: Michael Sommer stellt XXX mit seinem Playmobil-Ensemble in XX Minuten vor ’ weisen auf einen möglichen Rollenwandel der Institution Schule hin und beziehen sich insbesondere auf das Wissensmonopol: “ Dass der Dank, die beiden Schuljahre vor dem Abitur erfolgreich überstanden zu haben, aber auch explizit an YouTuber wie MrWissen2go und TheSimpleClub ausgesprochen wird, zeigt die Bedeutung dieser Form der medialen Nachhilfe und des Lernens ” (cf. Vollberg 2018: 51). Laut Körber-Stiftung gewinnen selbstgesteuerte Praktiken des Lernens im schulischen Kontext für Jugendliche an Bedeutung (cf. Körber-Stiftung 2019). Das Wiederholen von Unterrichtsstoff über das Netz ist für viele Jugendliche bereits Alltag (cf. Vollberg 2018: 52). Die Vorteile von YouTube liegen nach Ansicht der Schülerinnen und Schüler zum einen in der ständigen Verfügbarkeit der Videos. Der Zugriff auf Informationen durch Erklärvideos zu jeder Zeit und an jedem Ort entspricht den Erwartungen an eigene Lernrhythmen und 20 2019 gab es nach eigenen Angaben eine Rekordbeteiligung. Da er in der Regel wöchentlich neue Videos hochlädt, bleiben noch einige literarische Texte für Sommer zur freien Auswahl. 21 Seit Kurzem betreibt Sommer zudem einen Fanshop. Auch in den Kommentaren wird des Öfteren eine Verbundenheit zu Sommer kommuniziert: “ Es ist schon gruselig, dass ich vor ein paar Tagen erst geschaut habe, ob du zu dem Buch schon etwas gemacht hast . . .und hier ist es ” (Kommentar Severn Fox, Sommers Weltliteratur to go 2019 j). 22 “ Die meisten Wissenschafts-YouTuberInnen fordern zwar in ihren Videos aktiv dazu auf, Kommentare zu hinterlassen, Inhalte zu diskutieren oder Fragen zu stellen. Aber nicht immer entstehen so auch tatsächlich fachliche Diskussionen oder kontroverse Auseinandersetzungen ” (cf. Geipel 2018: 158). 60 Miriam Frank (Passau) -zeiten und liefert außerdem die Möglichkeit beliebig vieler Wiederholungen und Pausierungen der Videos (cf. Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019: 29). 5 Visualisierung, Playmobilisierung 23 & Jugendsprache “ Das Internet hat sich gerade auch durch YouTube von einem Text- oder Text-und-Bild- Medium zu einem voll-visualisierten Bewegtbildmedium verwandelt ” (cf. Haarkötter und Wergen 2019: 2). Visuelle Zeichen im Web haben eine hohe Bedeutung (cf. Meier 2008). Die Beliebtheit von Videos als Wissensquelle steigt. Für knapp zwei Drittel der Jugendlichen sind laut JIM-Studie Videos auf YouTube der bevorzugte Weg, sich regelmäßig über Themen zu informieren. “ Damit ist YouTube ein relevanteres Rechercheinstrument als die drittplatzierten Online-Enzyklopädien wie Wikipedia, die von einem Drittel regelmäßig genutzt werden ” (cf. JIM 2018: 52). In diesem Zusammenhang wird auch gerne auf die Anschaulichkeit der Wissensvermittlung in Videos verwiesen (cf. ZEIT 2019): “ Es wird mir bildlich etwas vorgeführt und erklärt. Durch das Ansehen wird es leichter, es zu verstehen ” (Schüler, 13 Jahre, cf. Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019: 29). Dies findet sich auch in den Kommentaren zu Sommers Videos wieder: “ Danke, echt[,] wir mussten das Buch lesen[,] aber erst jetzt kann ich mir das überhaupt vorstellen ” (Kommentar von Sebastian Menzel, cf. Sommers Weltliteratur to go 2015 a). Oder in umgekehrter Reihenfolge: “ Unsere Deutschlehrerin hat uns angewiesen dieses Video zu schauen, bevor wir uns durch das Drama kämpfen ” (Kommentar von Lilly Wayne, cf. Sommers Weltliteratur to go 2016 a). Zugänglichkeit wird in den Rezeptionsanmerkungen vor allem auch über die Visualisierung der Wissensvermittlung verhandelt: “ inzwischen sehe ich jedes Buch, das ich lese, immer als [P] laymobil-Theater vor meinem inneren Auge ” (Kommentar von Missy Flamingo, cf. Sommers Weltliteratur to go 2019 c). Der literarische, schriftsprachliche Text wird in die szenische Darstellung übersetzt. Der Prozess des Spielens wird zudem betont. So erklärt Sommer seine Entscheidung für Playmobil und gegen Lego wie folgt: “ man SPIELT mit Playmobil und man BAUT mit Lego. [. . .] Denn bei den Geschichten, die ich da erzähle, stehen nicht Dinge, sondern Menschen im Mittelpunkt ” (cf. Sommer 2017 a, Hervorhebung im Original). 24 Bereits am Figurendesign ist die infantile Anthropomorphisierung zum Zwecke der identifikatorischen Haltung am großen und kugeligen Kopf als hervorstechendstem Körpermerkmal erkennbar (cf. Rühle 2010). Das genormte Lächeln der Figuren evoziert eine freundliche Welt: “ Hans Beck baute seinen unkaputtbaren Ritter von der fröhlichen Gestalt und sagte: ‘ Von der Figur ausgehend entwickeln wir die ganze Welt ’” (cf. Rühle 2010). Den harmlosen Charakter der Figuren bestätigte sogar der Bundesgerichtshof (cf. ibid.). 23 Die Grundinspiration der spielerischen Wissensvermittlung anhand von Playmobilfiguren geht wohl auf die Harald Schmidt Show Ende der neunziger Jahre zurück, in welcher aktuelle Ereignisse, Romaninhalte und Lebensläufe mit Hilfe des Kinderspielzeugs dargestellt und erläutert wurden (cf. Mühl 2015). 24 Interessant wäre sicherlich auch ein Vergleich von Sommers Videos mit den Videos der DoReMikro- Redaktion von BR-KLASSIK, welche Opern mit Lego Figuren darstellen (cf. Hirl et al. 2016). Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 61 Abb. 4: Sommers Ensemble-Bild zur Nominierung für den Grimme Online Award, bearbeiteter Screenshot, im Internet unter http: / / mwsommer.de/ grimme-online-award-nominierung/ [24. 03. 2020] Die ursächlich namenlosen Playmobilfiguren werden als “ Ensemble ” von Sommer wie in dem Bild zur Grimme-Online-Award-Nominierung zu identifizierbaren Autor-Personen (ausgenommen Darth Vader, s. Abbildung 4). 25 Die Benennung verweist auf eine vormediale Biografie und Identität und verknüpft Person und Figur. Grundsätzlich ist das äußere Erscheinungsbild der Figuren eher homogen (es gibt etwa keine korpulenten Playmobilfiguren). 26 Diese Figurengruppe ist allerdings a-historisch. Als Playmobil-Ensemble werden die historischen oder historisch gebundenen Figuren gemeinsam in den gegenwärtigen Kontext der Award-Nominierung gestellt, obwohl außer Sommer selbst keine der Personen mehr in der außermedialen Lebenswelt existiert. Anachronistisch ist im Allgemeinen auch die Sprache, welche als gegenwärtige Sprache in einen meist historischen Kontext gestellt wird, in der sie noch nicht existierte. I. e., die Figurenreden der Playmobilfiguren, ob antike Werke oder Literatur des 20. Jahrhunderts darstellend, gleichen sich sprachlich. Der Erzählkommentar ist von der Figurenrede des szenischen Spiels zwar sprachlich unterschieden, aber Merkmale der gesprochenen Sprache wie Ellipsen oder Parenthesen finden sich auch dort: “ Dann gibt es Tatiana Kosic, hot, hot, hot, in der Klasse von den beiden ” (cf. Tschick to go, Sommers Weltliteratur to go 2015 b); 25 Die Kose-, Spitz- oder Kurznamen (wie etwa “ Fritze ” Schiller in der zugehörigen Bildunterschrift) dienen als Zeichen der Nähe, da Verniedlichungen Intimität ausdrücken (auch in den Videos etwa “ Odo ” zu Odoardo Galotti). Verplaymobiliserte Werke von Autorinnen sind zudem deutlich in der Minderheit, so besteht im Nominierungsbild das Ensemble auch ausschließlich aus männlichen Figuren. 26 Ein Kommentar zum Video Der Zauberer von Oz to go merkt etwa an: “ Dabei ist ja die Gretel-Figur aus der Playmobil Hänsel-und-Gretel-Edition [sic] mit der Dorothy-Figur fast identisch ” (Kommentar von Odin Allvater, Sommers Weltliteratur to go 2019 i). 62 Miriam Frank (Passau) “ Dann gibt es die Mitzi, eine Dirne, das ist aber nur ein Künstlername, die nach eigener Auskunft 17 Jahre alt ist ” (cf. Traumnovelle to go, Sommers Weltliteratur to go 2016 b). Schriftsprache wird somit nicht als wesentliches Element von Literatur inszeniert. 27 Stattdessen setzt Sommer auf Merkmale der Mündlichkeit, der Umgangssprache und der Jugendsprache: Jugendsprache wird heute überwiegend, aber durchaus nicht ausschließlich, als ein mündlich konstituiertes, von Jugendlichen in bestimmten Situationen verwendetes Medium der Gruppenkommunikation definiert und durch die wesentlichen Merkmale der gesprochenen Sprache, der Gruppensprache und der kommunikativen Interaktion gekennzeichnet (cf. Neuland 2018, 78). Jugendlichkeit wird hier als Stilmittel durch Merkmale einer inszenierten Jugendsprache konstruiert. 28 Sommer schafft Identifikationspotenziale bei jungen Zuschauenden, indem Begriffe etwa einen jugendlichen Erfahrungshorizont oder jugendliche Interessen widerspiegeln. Zu nennen wäre z. B. der Einfluss aus Domänen wie der Computerbranche: “ Nein, ich habe mich verfahren, nicht dahin gucken, nicht da hingucken, Control Z, Control Z ” cf. (Erec to go, cf. Sommers Weltliteratur to go 2018) 29 oder der Sportbranche: “ Ja, aber ich bin ausgebildeter Wrestler! ” (ibid.). Auch die Referenzen auf die Welt der Mode-, Medien- oder Musikbranche können die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt abholen. 30 Gegenwartsbezüge sind für Sommer dabei essentiell, da der Status der Weltliteratur davon abhänge, ob ein Werk “ heute noch zugänglich ” sei (cf. Sommer 2017 b). Die Aktualität des Stoffes fungiert hier als normativer Maßstab. Die Kontextualisierungen in der heutigen Zeit dienen dabei insbesondere funktional einer Universalisierung der Geschichten: “ Was hat schließlich die Welt von Thomas Mann, Franz Kafka oder Homer mit dem schnellen, aufregenden Leben von jungen Schülern zu tun? ” (cf. Engel 2015) Des Weiteren spielen nach Bahlo auch Entlehnungen aus Fremdsprachen eine Rolle für die Jugendsprache (cf. Bahlo et al. 2019: 57). Im Video Erec to go fällt häufiger der spanische Ausdruck für Mädchen: “ Finger weg von meiner Chica ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2018). Einflussreicher ist vor allem die englische Sprache, was an vielen Anglizismen zu erkennen ist: “ Howdy Genossen ” (cf. Tschick to go, Sommers Weltliteratur to go 2015 b), 27 Verständlichkeit wird auch in den Kommentaren mit einer unverständlichen Sprache in Verbindung gebracht: “ Wirklich gut! Bei der alten Literatur hab ich immer Probleme auch nur einen Satz zu verstehen, da sind deine Videos klasse! ” (Kommentar von Agrarpro YT, Sommers Weltliteratur to go 2015 d) 28 Die eine Jugendsprache gibt es freilich nicht (cf. Neuland 2018, 42). Von musstewissen Deutsch wurde Emilia Galotti etwa als Chat-Nachrichtenverlauf zusammengefasst (cf. musstewissen Deutsch 2018). Hinsichtlich der geschriebenen Jugendsprache im Bereich der neuen Medien spielen weitere Merkmale wie Verkürzung, Aneinanderreihung von vergleichsweise kurzen Beiträgen und Emojis eine Rolle. 29 Mit der Tastenkombination ‚ CTRL + Z ’ werden letzte Änderung rückgängig gemacht. 30 Insbesondere Bezüge zu Serien werden von den Jugendlichen selbst in den Kommentaren hergestellt: “ hmm, riesiges, schwarzes [T]entakelding . . . Das [U]pside [D]own hat die [E]rde übernommen! ” Eine Referenz zu der Serie Stranger Things in Die Zeitmaschine to go (Sommers Weltliteratur to go 2019 j). “ Karl sieht aus wie Rick von The [W]alking [D]ead ” (Die Räuber to go, Sommers Weltliteratur to go 2015 d). Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 63 “ Hangover ” und “ Greenhorn ” (cf. Erec to go, Sommers Weltliteratur to go 2018). 31 Personen werden über Lexeme beschrieben, “ die als umgangssprachlich, salopp, derb oder vulgär markiert sind ” (cf. Bahlo et al. 2019: 59): “ Arschloch ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2018) und “ Miststück ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2018) etwa. Auch das Merkmal der Expressivität prägt den jugendlichen Sprachgebrauch: “ Kack mich nicht so an! ” (cf. Masse - Mensch to go, Sommers Weltliteratur to go 2017) Emotionalität äußert sich durch wertende und intensivierende Ausdrücke: “ Und die Tatiana ist ‘ ne hohle Nuss, wenn die nicht auf dich steht ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2015 b), “ Da ist doch ‘ ne andereTussi, oder? ” (cf. Emilia Galotti to go, Sommers Weltliteratur to go 2015 c). Übertreibungen wie “ Ich zerquetsch dich! ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2018) sowie humoristische oder spielerische Wortbildungen wie “ Sadomasozwerg ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2018), “ Kussvoucher ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2018) signalisieren ebenfalls Jugendlichkeit. Auch Interjektionen kommen gehäuft vor. Ausrufewörter wie “ Boah ” oder “ Au ” drücken als Reflexlaute eine bestimmte Empfindung wie Schmerz oder Überraschung aus. Auch Onomatopoetika wie “ Peng ” , “ Bam ” oder “ Bang ” , welche Geräusche simulieren, finden sich im Transkript wieder ebenso wie Inflektive wie “ Peitsch ” , “ Knutsch ” und “ Schluchz ” . Diese ersetzen durch ihre expressive oder appellative Funktion nonverbale Kommunikationshandlungen, da die Playmobilfiguren wenig Darstellungsmöglichkeiten auf dem Gebiet von Mimik und Gestik vorweisen. Dabei ist die Erzählhaltung eher von Humor und Distanz als von Anteilnahme und Ergriffenheit geprägt. “‘ Literatur ist nichts Bierernstes ’ , sagt er. ‘ Die Geschichten machen Spaß ’” (cf. Sommer zit. nach Engel 2015). In der Figurenvorstellung zu Emilia Galotti verweist Sommer etwa auf den Reifenhersteller Continental: “ Dann gibt es noch den Maler Conti, der später mal ‘ ne Reifenfirma aufmacht ” (cf. Sommers Weltliteratur to go 2015 c). Sommer beobachtet das Verhalten der einzelnen Figuren mit einem gewissen Abstand. Räumlich befindet er sich zudem über den Figuren. Dies ist erkennbar, da seine Hände sowie die Figuren sichtbar sind und die Hände stets anzeigen, welche Figur spricht. Des Weiteren verwendet er die substantivisch gebrauchten Demonstrativpronomen ‘ der ’ und ‘ die ’ statt ‘ er ’ und ‘ sie ’ , um sich rückweisend auf vorher Erwähntes zu beziehen. In einem sogenannten Hinter-den-Kulissen-Video spricht Sommer davon, dass in seinem Wandschrank über 1000 Ensemble-Mitglieder wohnen, denn es sollen nicht immer die gleichen Leute die Hauptrollen spielen (cf. Sommers Weltliteratur to go 2019 d). Durch die Spielfiguren wird also auch das Modellhafte von Darstellung per se betont. Dieselbe Zeichnung in den Videos Tschick to go und Emilia Galotti to go stellt in der einen Diegese Beyoncé (Mikes Geburtstagsgeschenk für Tatiana), in der anderen Emilia Galotti (Contis Porträt der schönsten Frau der Stadt) dar. Der Gegenstand bleibt der gleiche, jedoch Ausdruck und Inhalt verändern sich. Der Konstruktionscharakter wird hervorgehoben. Die Figuren sind austauschbar und exemplarisch. Der Kulturwissenschaftler Stephan Porombka hält die Videos für “ ein grundsätzlich ironisches Format, also einerseits führt es mich ein und gibt mir ein Stück Bildung mit, andererseits ist natürlich in dem Moment, wo 31 Auch an Playlisttiteln erkennbar: REAL LIFE! - Romane des Realismus. Wichtige Werke aus den USA werden in der Playlist betitelt mit AMERICA FIRST? 64 Miriam Frank (Passau) ich die Playmobilfiguren sehe, der Widerruf schon eingebaut, also dass man es so ernst jetzt auch nicht nehmen kann ” (Porombka im Interview, cf. Sommer 2016). Die Reduktion des Figurenausdrucks aufgrund der fehlenden Möglichkeit, durch Mimik Emotionen auszudrücken, behindert auch die Einfühlung des Publikums in die dargestellten Figuren und damit den Aufbau einer parasozialen Interaktion zwischen Rezipierenden und Figuren. Dieser Mangel an Empathieerzeugung zeigt sich bereits am Kanalsymbol durch eine Playmobilfigur in der Hamlet-Pose des Denkers mit Totenschädel (s. Abbildung 5). Hamlet als Paradigma psychologischer Figurenführung (cf. Marx 2014), theater- und filmgeschichtlich von Schauspiellegenden wie Laurence Olivier gespielt, fehlt im leblosen Gegenstand einer Playmobilfigur die Möglichkeit der Introspektion. Das in der Spielfigur vorhandene, reduzierte Zeicheninventar kann etwa die Pose des Melancholikers nicht vermitteln. 32 Der Comiczeichner und -theoretiker Scott McCloud spricht im Zusammenhang der vereinfachenden Darstellung vom ‘ Cartooning ’ . Er weist darauf hin, dass sich jede/ r in einem Smiley-Gesicht wiederentdecken könne: “ The more cartoony a face is, for instance, the more people it could be said to describe ” (Hervorhebung im Original, McCloud 1994: 31, s. Abbildung 6). 33 Der Smiley ist eine Abstraktion der Wirklichkeit, eine Verallgemeinerung und Verdichtung. 32 Das genormte Lächeln hat dabei selbstredend Einfluss auf die Semantik. Negatives (Intrigen, Mord, etc.) wird hier durch die Darstellung verharmlost, da alle Figuren stets freundlich lächeln. Und da es keine Abweichungen gibt, treten auch keine Gruseleffekte wie etwa im Fall von Horrorclown-Figuren ( Joker) auf. Abb. 5: Kanalsymbol von Sommers Weltliteratur to go, bearbeiteter Screenshot, im Internet unter https: / / www. youtube.com/ user/ mwstubes [24. 03. 2020]. 33 Emojis etwa sind zu einem integralen Bestandteil der digitalen Alltagskommunikation geworden und erweitern die Sprache über digitale Bildzeichen. Mittlerweile werden diese allerdings immer komplexer und mit einem ‘ individuellen ’ Memoji lässt sich bereits ein Emoji vom eigenen Gesicht erschaffen, ein “ Smiley- Ich ” (cf. Pauer 2019), womit die Universalität von McClouds Skala (s. Abbildung 6) wieder umgekehrt wird und stattdessen die Personalisierung Bedeutung erhält. Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 65 Abb. 6: Entpersonalsierung durch Cartooning nach Sctt McCloud (cf. McCloud 1994: 31) Auch das ‘ Playmobilgesicht ’ evoziert kein bestimmtes Individuum, sondern schafft eine Art generischen Protagonisten (siehe Abbildung 7). Nicht das Persönliche, sondern das Allgemeine gerät hier in den Fokus. Die Abstraktion dient somit der Gleichheit und Verbundenheit aller Figuren, die einer gemeinsamen Spielwelt entstammen. Eine komische Wirkung wird zudem erzeugt, da Sommer nur minimale Intonationsänderungen vornimmt und somit alle Figuren eine ähnliche Parasprache aufweisen. Hinsichtlich der Rezeptionserfahrung steht demzufolge nicht die Einfühlung in die dargestellten Figuren im Fokus, sondern die Aufmerksamkeit gilt der Interpretation, nicht der Identifikation. Mit Verweis auf die theatergeschichtliche Tradition kommentiert der Kanal die eigene Stellung innerhalb dieser Geschichte und kommuniziert über das Kanalsymbol bereits die Annahme einer irrelevanten, konstruierten und aufzulösenden Trennung zwischen ‘ Hochkultur ’ und ‘ Alltags ’ - oder ‘ Populärkultur ’ . Die immer gleichen In- und Outros der Videos zitieren vor allem akustisch mehrere mediale Dispositive: (i) angefangen bei der antiquiert wirkenden Ankündigung auf der Tonebene durch Fanfarenstöße, welche aufgrund kulturellen Wissens Signalcharakter annehmen, (ii) über die Ästhetik der Medientechnologie der Schreibmaschine in der Schrifteinblendung des Abb. 7: Profilbild der Playmobil Deutschland Facebook Seite, im Internet unter https: / / www.facebook. com/ pg/ PlaymobilDeutschland/ about/ ? ref=page_internal [23. 03. 2020]. 66 Miriam Frank (Passau) Titels sowie (iii) Ausrufe kindlichen Erstaunens und (iv) das technisch-apparative Geräusch des Abschaltens eines Röhrenfernsehers (v) bis hin zu Applausgeräuschen und einem orchestralen Schlussakkord. 34 Das imaginäre akustische Umfeld versammelt also mediale Merkmale aus Literatur, Fernsehen und Theater. Die sich zum Bildmittelpunkt hin schließende Irisblende oder Maskenblende am Textende “ reflektiert [. . .] auf die technische Verfaßtheit [sic] des Films, insbesondere auf die Trennung von Bild und Bildträger ” (cf. Wulff 2001). Markierungen von Filmizität durch visuelle, filmische Mittel sind nicht allzu häufig, kommen allerdings vor, bspw. bei Traumsegmenten (cf. Masse - Mensch to go), Inserts (cf. Uhrwerk Orange to go), Rückblenden in schwarz-weiß (cf. Der Sandmann to go) oder der Edgar-Allan-Poe-Serie, welche monochrom in Sepia gezeigt wird. 6 Erzählakt Die Werke erfahren von Sommer allesamt eine zeitliche Homogenisierung, da die Länge und Erzählzeit der Videos sich insgesamt ähnlicher ist als es die Erzählzeiten der unterschiedlichen literarischen Werke untereinander sind oder diese es je zu den Videos sein könnten. Die durchschnittliche Erzählzeit der Videos erstreckt sich meist auf einen Zeitraum von ungefähr zehn Minuten. Das summarische Erzählen ist stets raffend, da die erzählte Zeit weitaus längere Zeitabschnitte abdeckt. Im Einzelnen wechseln sich in den Videos die berichtenden und szenischen Passagen ab und das Verhältnis zwischen Figurenrede und Erzählkommentar stellt sich meist ausgewogen dar, unabhängig davon, ob ein dramatischer oder ein epischer Text verplaymobilisiert wurde. Sommer selbst beschreibt in einem Interview seinen ersten Arbeitsschritt wie folgt: “ die wichtigsten Szenen [. . .] im Buch zu identifizieren ” (cf. Sommer 2016). Der Fokus liegt dabei auf menschlicher Interaktion durch Montage, Kompilation und Kommunikation, das Genre oder die Gattung des Ausgangswerkes spielt keine Rolle, der Zugang gleicht diese an die Textsorte ‘ Sommers Weltliteratur to go ’ an. Sommer definiert daher Literatur auch als “ Kommunikation ” und sieht es als seine Aufgabe an, diese “ in eine moderne Form der Kommunikation [zu] übersetzen ” (ibid.). Durch die theaterhafte Übersetzung kann diese also auch als Kommunikation zwischen Akteurinnen und Akteuren (Darstellerinnen und Darstellern) und dem Publikum verstanden werden. Der stetige Wechsel von szenischer Vergegenwärtigung in den (kurzen) Dialogpassagen und berichtender Überleitung zur nächsten Szene beschleunigt das Erzähltempo (unterstützt durch einen häufigen Szenenwechsel und die Kürze der einzelnen Szenen) 35 und da sowohl die “ Rasanz ” der Erzählung als auch die “ scheinbare Spontaneität ” von der Grimme Jury positiv hervorgehoben wurden, ist der Moduswechsel nach Sommer wohl ein Merkmal moderner Kommunikation (cf. Grimme 34 Das In- und Outro wird bei Werken mit ernsten Themen geändert, so dass kein Applaus und keine Musik zu hören sind, bspw. bei Anne Frank to go oder Der Report der Magd to go. 35 Dabei kann es vorkommen, dass Zuschauende diesen Sprüngen ohne Vorwissen nicht folgen können: “ Das ist wie [ ‘ ]ne schlechte Pornostory: Wir spielen 3sek [sic] Tischtennis und dann gehen wir in die Kiste . . .. Oder hab ich was falsch verstanden? ” (Kommentar von xX By Yuna Xx, Sommers Weltliteratur to go 2015 e) Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 67 Online Awards 2018). 36 “‘ Verhackstücktes ’ nennt Sommer selbstironisch seine Videos ” (cf. Mühl 2015). Vereinfachung und Komplexitätsreduktion zeigen sich auch durch die Umwandlung von nicht-chronologischem zu chronologischem Erzählen in den Videos wie etwa bei Es to go, so dass die Geschehnisse nun ihrer eigentlichen Reihenfolge nach dargestellt werden. Verständlichkeit geht hier dementsprechend vor Komplexität der Erzählstruktur. Insbesondere durch die expositorische Figurenvorstellung zu Textbeginn werden Ereignisse aus der Vorgeschichte analeptisch nachgereicht, aber auch Vorinformationen zur Vorausschau proleptisch vorweggenommen. Das einleitende “ Mit dabei sind ” impliziert Anwesenheit und Teilnahme. Das Präsens als Erzählzeit evoziert Unmittelbarkeit sowie Lebendigkeit. Die personalen Erzählelemente, i. e. insbesondere die Präsentation von gesprochener, direkter und figuraler Rede, werden allerdings stets von Erzähleinschüben und damit durch die ständige Präsenz einer Erzählstimme unterbrochen. Die Erzählstimme verweist auf Mittelbarkeit und stellt Distanz zum erzählten Geschehen her. Die Überleitungen der Erzählstimme erhalten hier oft den Charakter eines Botenberichts, da Ereignisse geschildert werden, welche für die Handlung wichtig sind, aber nicht dargestellt werden. Auf das stetige Changieren berichtender und szenischer Passagen ist auch der gehäufte Einsatz des Partikels “ so ” sowie der Temporaladverbien “ als ” und “ irgendwann ” zurückzuführen, um zeitliche Übergänge oder Sprünge als etwas zeitlich Folgendes, Gleichzeitiges oder Unbestimmbares zu markieren. Auch die Ansprache alterniert zwischen szenischen Dialogen und Direktadressierungen, i. e., die Figuren reden sowohl untereinander als auch zum Publikum. Meist wenden sich nur die Protagonistinnen und Protagonisten explizit an eine nichtdiegetische Adressatenschaft und etablieren darüber eine Sprechsituation zu filmisch implizierten Adressierten, welche die Rezipierenden repräsentieren. Perspektiviert sind die Geschichten meist über eine Nullfokalisierung, da die Zusammenfassungen Übersicht ermöglichen sollen. Die körperlose Stimme eines extradiegetischen, heterodiegetischen Erzählers vermittelt das Geschehen. Informationen werden also vor allem durch den auditiven Informationskanal der Sprache vergeben. Sommer ist als Stimme aus dem Off präsent, i. e., die Inhalte werden von einer einzigen Stimme kommuniziert. Bereits über den Kanaltitel Sommers Weltliteratur to go werden die Videos mit seiner Person verknüpft. Durch die rahmende Begrüßungs- und Abschiedsformel der Videos tritt er zudem als presenter auf, als Ankündigungsfigur, die nicht zur Diegese gehört, aber zur Produktionssphäre des Films. Über die Vermittlungsebene inszeniert sich Sommer als allwissenden Erzähler der jeweiligen Geschichte, der das Geschehen inszeniert und präsentiert. In einigen Beispielen schafft zudem eine Rahmenhandlung Distanz, welche Bezug auf die Rezeptionsgeschichte nimmt oder Hintergrundinformationen zur Autoreninstanz liefert. 37 Das auktoriale Voice-Over verhält sich zudem nicht neutral zur 36 Umgekehrt finden sich allerdings auch Kommentare, welche eine Zusammenhangslosigkeit bemängeln und diese dem Format zuschreiben: “ Puh! Irgendwie wirkt das Ganze doch etwas zusammenhangslos. Das ist wohl dem Format geschuldet. Muss ich wohl lesen, um ’ s [sic] zu verstehen ” (Kommentar von Nope, Sommers Weltliteratur to go 2019 g). 37 Eine Trennung in Rahmen- und Binnenerzählung findet etwa in Madame Bovary to go, Die Falkennovelle to go und Traumnovelle to go statt. 68 Miriam Frank (Passau) Handlung, sondern mischt sich kommentierend und wertend ein: “ Schön ist jedenfalls, dass Fontane hier die Geschichte einer klugen und pragmatischen Frau erzählt, die ihr Leben selbst gestaltet, so geht ’ s nämlich auch ” (cf. Mathilde Möhring to go, Sommers Weltliteratur to go 2019 e). Sommer kennzeichnet seine persönliche Meinung: “ Und damit endet eines der schönsten und zugleich traurigsten Bücher, die ich kenne ” (cf. Von Mäusen und Menschen to go, Sommers Weltliteratur to go 2019 d). Auch überAnmerkungen am Textende beeinflusst er die Interpretation der Geschichte: “ Damit sind wir am Ende der Geschichte, die vielleicht eine Botschaft hat, wenn ihr in jemanden verliebt seid, dann legt mal alle eure Masken ab, bevor ihr versucht ihn oder sie kennenzulernen ” (cf. Das Phantom der Oper to go, Sommers Weltliteratur to go 2019 f ). Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wird vom Ablauf auf die Sinngebung und die impliziten ideologischen Determinanten gelenkt: “ Was ist jetzt der Kern dieser phantastischen Geschichte? Neben vielen anderen Dingen vielleicht das: Gender, also die soziale und kulturelle Geschlechteridentität ist weder unveränderlich noch etwas schicksalhaft Verordnetes, im besten Fall ist es etwas, mit dem wir lustvoll spielen können ” (cf. Orlando to go, Sommers Weltliteratur to go 2019 g). In einigen Fällen positioniert er sich über einen Schlusskommentar deutlich und ruft das Publikum zu Engagement auf: 38 Naja meine Damen und Herren und wenn Sie diese Begegnung mit einem menschenverachtenden Manipulator just in der ersten Hitze des Faschismus in Italien politisch interpretieren wollen, meinen Segen haben Sie. In Deutschland hat ’ s ja dann auch nicht mehr lange gedauert bis die Leute wie die Schafe hinter dem braunen Rattenfänger hergelaufen sind. Danke Tommy! Und seufzend fügen wir hinzu: Es kann echt nicht sein, dass die Leute 100 Jahre später schon wieder hinter solchen populistischen, fremdenfeindlichen Idioten herlaufen, die sie von vorn bis hinten nur verarschen, oder? Lacht Sie aus in Italien und anderswo, die populistischen Pappnasen (cf. Mario und der Zauberer to go, Sommers Weltliteratur to go 2019 h) Das Publikum wird didaktisch zum Eingreifen in Politik und Gesellschaft aufgefordert. 7 Fazit/ Outro Die Bedeutung von YouTube als Lernplattform wird nach Ansicht von Schülerinnen und Schülern sowohl hinsichtlich des Einsatzes für das Lernen zu Hause als auch im Unterricht in Zukunft zunehmen (cf. Rat für Kulturelle Bildung e.V. 2019: 34 f.). Es ist also stärker danach zu fragen, (i) welche Merkmale, (ii) welche Struktur(en) und (iii) welche Funktion (en) das Netzangebot dieser medialen Wissensvermittlung aufweist. Insbesondere wenn diese Wissensformate auch Eingang in den schulischen Unterricht finden. Für Sommers Videos ist zum einen die einheitliche Übersetzung in ein szenisches Spiel relevant, welche auf der Bildebene den Eindruck vermittelt, als handle es sich bei allen Geschichten um eine Aneinanderreihung von Interaktionen von Figuren und welche das jugendliche Publikum damit in seinen auch an Serien geschulten medialen Sehgewohnheiten abholt. Das literarische Werk dient nur noch als Handlungsgerüst, die Sprache ist zielgruppenspezifisch aufbereitet. Gleichzeitig fungiert die Sprecherstimme als meinungsstarker, interpretierender und wertender Kommentar, welcher die Welt nicht verrätselt, sondern gegenwärtig und verständlich darstellt und erklärt. 38 Cf. dazu auch Beiträge in seinem Blog wie “ Das Schweigen ” (Sommer 2015 b). Aus ‘ alt ’ mach ‘ neu ’ . Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 69 Bibliographie Bahlo, Nils Uwe et al. 2019: Jugendsprache. Eine Einführung, Berlin: Metzler Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. 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Die to-go-Videos von Michael Sommer als Weltliteratur auf YouTube 71 Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 b: Wilhelm Meisters Lehrjahre to go (Goethe in 11,5 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=VXmri2hF7Ag [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 c: Hinter den Kulissen von SOMMERS WELTLITERATUR TO GO, im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=ks7QdZeTZZQ [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 d: Von Mäusen und Menschen to go (Steinbeck in 11 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=UXfmfR3Ph5E [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 e: Mathilde Möhring to go (Fontane in 10 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=IS1vbq5j5wI [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 f: Das Phantom der Oper to go (Leroux in 11 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=RgBfBNSMe-U [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 g: Orlando to go (Woolf in 10 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=GyQpjEifE_s [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 h: Mario und der Zauberer to go (Mann in 8 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=zMqI1-KrlRQ [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 i: Der Zauberer von Oz to go (Baum in 13 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=jz4PpD3hZDM [10. 10. 2019] Sommers Weltliteratur to go (ed.) 2019 j: Die Zeitmaschine to go (Wells in 9,75 Minuten), im Internet unter https: / / www.youtube.com/ watch? v=0UN0zh81ixU [10. 10. 2019] Vollberg, Susanne 2018: “ Klug durch YouTube! ? 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Zur Interaktion audiovisueller, ludischer und literarischer Erzählstrategien in der Visual Novel Martin Hennig (Passau) The Japanese Visual Novel as a mixed media artefact enriches the dominant text with supplementary illustrations and sound on the one hand, and incorporates simple ludic structures with influence on the narrated story on the other. Using selected examples, this paper will first analyze the text-image relationship of the visual novel. Secondly, it will work out the values and norms transported in this context with a focus on the question to what extent cultural specifics can be observed here. Thirdly, I will examine how the basic structures of digital games are realized in the literary format. On the basis of these dimensions, a final conclusion will be drawn as to the position of the Visual Novel in the media network and the synergy effects between the media complements in this context. 1 Die Visual Novel als digitaler Medienhybrid Die Visual Novel ist ein spezielles, aber in zweierlei Hinsicht besonders aufschlussreiches Beispiel für aktuelle medienkulturelle Tendenzen. Erstens ist sie ein digitaler Medienhybrid und inkludiert vielfältige Schnittstellen zwischen Literatur und anderen Medien. Die Visual Novel, auf Deutsch auch ‘ Bildroman ’ , wird stationär auf PC und Spielekonsolen veröffentlicht, viele Titel werden jedoch gleichzeitig auch für mobile digitale Medien wie Smartphones, Tablets und mobile Spielekonsolen wie die Playstation Vita oder den Nintendo 3DS produziert. Dabei reichert die Visual Novel ihre primäre Textausgabe einerseits multimedial mit grafischen Standbildern (teilweise auch einfachen Animationen), Sprachausgabe und Sound an, andererseits inkorporiert sie reduzierte ludische Elemente, also interaktive Spielstrukturen, mit denen an einzelnen Punkten Einfluss auf den weiteren Verlauf der erzählten Geschichte genommen werden kann. Hinzu kommt zweitens eine interkulturelle Dimension der digitalen Textgattung. Visual Novels werden in der Regel auch heute noch primär in Japan produziert und sind dort äußert populär und erfolgreich. So konnte Steins; Gate 0 (5pb. 2015), der Nachfolger des Visual-Novel-Klassikers Steins; Gate (5pb./ Nitroplus 2009) bereits am ersten Veröffentlichungstag über 100.000 Kopien absetzen (cf. Ressler 2015). Dabei gewinnt die Visual Novel jedoch auch international an Relevanz und Popularität: So listet die Seite VisualNovel.de mittlerweile über 120 Veröffentlichungen mit deutscher (zum Teil von Fans produzierter) Übersetzung (cf. VisualNovel.de 2019) und zusätzlich zu den Neuveröffentlichungen, die häufig zumindest eine englische Sprachvariante enthalten, erfahren Klassiker der Gattung zunehmend eine Wiederveröffentlichung für den amerikanischen und europäischen Markt. Dabei sind die exklusiv in Japan veröffentlichten Produktionen und solche, die auch in Amerika und/ oder Europa lizensiert werden, auf thematischer Ebene tendenziell unterscheidbar: Während der japanische Markt von Visual Novels mit romantischen Inhalten dominiert wird, die außerhalb Japans weniger populär sind, basieren die exportierten Produktionen im Schwerpunkt auf im westlichen Raum konventionalisierten Genres wie der Kriminal-, Science-Fiction- oder Horrorerzählung (cf. Cavallaro 2010). Dabei erschöpft sich die Visual Novel jedoch keineswegs in solchen - nach Genette - architextuellen Gattungsreferenzen, sondern fügt relevante Bedeutungsebenen hinzu, wobei ihre grundsätzlichen Erzählstrukturen genreübergreifend vergleichbar auch mit den Texten mit romantischen Inhalten angelegt sind. Mit Blick auf Schnittstellen zur Literatur wird der folgende Beitrag nun anhand ausgewählter Beispiele erstens das Text-Bild-Verhältnis der Visual Novel analysieren, mit einem Schwerpunkt darauf, inwiefern systemische Nullpositionen von Text und Bild durch das jeweilige Komplement gefüllt und konkretisiert werden. Zweitens wird herausgearbeitet, welche Bedeutungen die Visual Novel im Allgemeinen transportiert und inwiefern hier kulturelle Spezifika auszumachen sind. Drittens wird untersucht, wie sich interaktive Grundstrukturen des Computer- und Videospiels in diesem Format realisieren. Auf dieser Basis soll viertens ein Fazit dazu gezogen werden, welche Stellung dem Dispositiv der Visual Novel im Medienverbund zukommt. Als Grundlage der Untersuchung dienten 20 Visual Novels aus unterschiedlichen Erzählgenres 1 , denen sämtlich eine gewisse Popularität zukommt, insofern sie alle eine (in der Regel englischsprachige) Lokalisierung für den westlichen Markt und zum Teil auch eine Fortsetzung erfahren haben. 2 Text-Bild-Verhältnis Grundsätzlich ist bezüglich des Text-Bild-Verhältnisses der Visual Novel ein einheitliches Schema zu konstatieren: Am unteren Bildrand konstituiert sich die eigentliche Erzählung über eine Abfolge von Textkästen, wobei deren Textlänge - dem häufig mobilen Nutzungskontext geschuldet - in der Regel wenige Zeilen nicht überschreitet. Der Wechsel der Bildschirmtexte erfolgt entweder nach einer gewissen Zeit automatisch oder muss durch einen Tastendruck gesondert initiiert werden. Der Erzählinhalt wird auf grafischer Ebene ergänzt durch eine recht generische Abfolge von Standbildern, die den jeweiligen Handlungsort repräsentieren. Gemäß filmischer Darstellungskonventionen wird dabei zur Raumorientierung von Panoramaaufnahmen der jeweiligen Handlungsorte zu Standbildern der Innenräume geschnitten, auch dominiert eine zentrale Bildperspektive, seltener 1 Dabei wurden unter anderem Beispiele aus den Genres Science-Fiction (Psycho-Pass: Mandatory Happiness, 5pb. 2015), Horror (Corpse Party: Blood Covered, Team GrisGris 2008), Thriller (Virtue ’ s Last Reward, Spike Chunsoft 2012), Krimi (Hotel Dusk: Room 215, CING 2007), Justiz (Phoenix Wright: Ace Attorney Trilogy, Capcom 2014) und Romantik (Is It Love? Carter Corp, 1492 Studio 2019) gewählt. 74 Martin Hennig (Passau) finden sich isometrische Raumbilder. In Dialogen kommt ein Portrait der jeweiligen Sprechenden im Bildvordergrund hinzu (cf. Abb. 1). Abb. 1: Screenshot aus Psycho-Pass: Mandatory Happiness Hier ergeben sich auf den ersten Blick nun zwar deutliche ästhetische Parallelen zum Medium des Comics und noch spezifischer zur Graphic Novel, die sich aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung und strukturellen Komplexität in der Regel tendenziell ebenfalls an ein erwachsenes Zielpublikum richtet. Als erster Unterschied fällt allerdings auf, dass Dialoge in der Visual Novel nicht durch Sprechblasen vermittelt werden, sondern konventionell wie die schriftbasierte Weltbeschreibung in die Textkästen unten im Bild integriert sind, die damit die Funktion einer impliziten Erzählinstanz als vermittelnder Größe zwischen Intra- und Extradiegese übernehmen und diese im Bild verorten. Zweitens ist die bildliche Struktur der Visual Novel gegenüber dem Comic außerordentlich starr angelegt, die Konventionalität der Inszenierung geht regelmäßig entgegen ihrer diegetischen Kohärenz und entspricht nicht den Regeln der Kontinuitätsmontage des klassischen Hollywood-Kinos (an denen sich zumindest Mainstream-Comics häufig orientieren): Nicht nur, dass sämtliche Sprechende im Dialog stets in Frontalansicht abgebildet und damit den Rezipierenden (anders als etwa im Schuss-Gegenschuss-Verfahren) permanent zugewandt sind. Auch verweist der Bildhintergrund der Charakterportraits häufig nur zeichenhaft und nicht mimetisch auf die dargestellte Situation. So wird ein Dialog zwischen zwei Figuren in einem fahrenden Auto in der Visualisierung von Psycho Pass vor dem statischen Hintergrund einer Straße inszeniert, derAutoinnenraum bleibt eine visuelle Leerstelle. Hier zeigt sich, dass die Bildhaftigkeit einer Visual Novel nur oberflächlich den in der Regel um Kohärenz bemühten Darstellungskonventionen des Filmes oder des Mainstream- Comics entspricht, ihr Mehrwert liegt vielmehr in einer losen räumlichen Orientierung sowie der Konkretisierung von schriftbasierten Charakterbeschreibungen. Auch wenn es auf dem Bildschirm den größeren Raum einnimmt, ist das Bild dem Text hier deutlich subordiniert und funktional für die maximal ökonomische Struktur der schriftbasierten Bild - Spiel - Literatur 75 Informationsvergabe (mit jeweils nur wenigen Zeilen Text pro Bild). Als Konsequenz wird die dargestellte Welt (die im Beispiel Psycho Pass genrebedingt eigentlich im Fokus der Science-Fiction-Erzählung steht) nur ausschnittsweise anhand weniger Standbilder sichtbar, ihre Details werden ausschließlich über Figurendialoge und Beschreibungen der impliziten Erzählinstanz in den Textkästen expliziert, was der Visual Novel eine dezidiert literarische Qualität verleiht. Demgegenüber ist etwa das Text-Bild-Verhältnis 2 des Vergleichsmediums des Comics und der Graphic Novel im Schwerpunkt komplementär angelegt. Analog zum interaktiven Charakter der Visual Novel realisiert die Portraitästhetik darüber hinaus eine ästhetische Referenz auf das digitale Spiel. Insofern die Sprechenden konventionell in einer Frontalansicht abgebildet sind, akzentuieren Visual Novels die Blickachse zwischen Rezipierenden und Figuren. Das Dargestellte wird folglich äquivalent zu den meisten Computer- und Videospielgenres “ über die Zurichtung und Ausrichtung des Sichtbaren ” (Zumbansen 2008: 193) auf die Blickperspektive der Nutzenden strukturiert, auch wenn Dialogzeilen zum Beispiel eigentlich an jemand anderen im Bild gerichtet sind. Mithilfe dieses intermedialen Bezugs werden der interaktive Charakter der Erzählung und die aktive Rolle der Rezipierenden bei der Handlungsrealisation hervorgehoben. Insgesamt wird durch diese Mixtur aus generischer, unterkomplexer grafischer Oberfläche und den schon in der Gattungsbezeichnung als romanhaft ausgewiesenen Erzählungen eine ästhetische Differenz erzeugt. Diese Differenz wird insofern kohärent in die erzählten Geschichten eingebettet, als diese in ihren Themen häufig ebenfalls eine Dichotomie aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ entwerfen, womit die Histoire die ästhetische Opposition des Discours multipliziert: Die Erzählungen der Visual Novel kreisen im Schwerpunkt um psychische Traumata, Identitätskrisen oder verworrene Familiengeschichten im Sinne biografischer Tiefenstrukturen, die im Rahmen der Mediennutzung sowohl ‘ hinter ’ der generischen grafischen Oberfläche wie auch ‘ hinter ’ scheinbar stereotypen Strukturen der dargestellten Welt und ihren Figuren freizulegen sind. Diese Beobachtung führt zur semantischen Struktur. 3 Semantische Struktur Auf visueller Ebene der Charakterportraits einer Visual Novel finden sich häufig stark jungen- oder mädchenhafte Zeichnungen im sogenannten kawaii-Stil. 3 Dieser repräsentiert eine Art überzeichnetes Kindchenschema oder nach Dani Cavallaro: “ the cult of cuteness ” (cf. Cavallaro 2010: 21). In der Manga- und Anime 4 -Forschung wird dieser Zeichenstil einerseits als eine gezielte Abweichung gegenüber den kulturellen Paradigmen der Strenge und Ernsthaftigkeit im Kontext von Arbeit, Familie und sozialen Beziehungen in Japan aufgefasst. Anderseits würden damit Konzepte von Einfachheit, Schwäche oder gar Unfähigkeit aufgerufen, was einer buddhistischen Weltsicht entspräche, welche die 2 Cf. allgemein zum Verhältnis von Texten und Bildern Titzmann 2017. 3 Zu den Spezifika japanischer Medien- und insbesondere von Spielkultur cf. den breiten Überblick bei Kato/ Bauer 2020. 4 Der Begriff subsumiert in Japan produzierte Zeichentrickfilme, zu denen häufig Mangas (japanische Comics) die Vorlage liefern. 76 Martin Hennig (Passau) Akzeptanz eigener Schwächen als Voraussetzung zur Selbsterkenntnis propagiere. Dabei repräsentiere sich im Kindchenschema ein eher emotionaler gegenüber einem rein rationalen Weltzugang (cf. Cavallaro 2010: 19 - 27). 5 Insgesamt wird der Zeichenstil folglich als Kompensationsstrategie gegenüber rigiden kulturellen Normen verstanden. In diese Richtung mag auch die häufig starke visuelle Sexualisierung der in der Regel mädchenhaften weiblichen Charaktere deuten, womit die Bilder einer dominanten Male-gaze-Struktur (cf. grundlegend Mulvey 1994) unterworfen werden, 6 was vor allem im Falle sehr junger Protagonistinnen zusätzlich irritierend auf westliche Sehgewohnheiten wirkt. Aus mediensemiotischer Perspektive ist nun allerdings weiter nach der Funktion von derlei Oppositionsbildungen in der Charakterisierung zwischen kindlich und erwachsen (was auf die bereits besprochene Dichotomie aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ verweist) für die Bedeutungsbildung der Visual Novel in ihrer Gesamtheit zu fragen. Ein Schwerpunkt der Visual Novel liegt im sogenannten Otome-Genre. Hier gilt es, durch Entscheidungen an ausgewählten Punkten des Geschehens darüber zu bestimmen, mit welcher Figur der Protagonist oder die Protagonistin eine romantische Beziehung eingehen soll. Insofern diese Struktur stark konventionalisiert ist, finden sich mittlerweile einige Werke, die das zu Grunde liegende Schema reproduzieren, dabei jedoch selbstreflexiv mit dem Sujet umgehen und eine weitere Bedeutungsebene eröffnen, wobei die angesprochenen Oppositionen aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ dramaturgisch noch einmal pointiert werden. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür wird im Folgenden näher untersucht. 7 In Hatoful Boyfriend HD (Mediatonic 2014) 8 werden drei Trimester an einer japanischen High-School geschildert, wobei im Idealfall am letzten Tag des Schuljahres eine romantische Beziehung zu einer der übrigen Figuren konstituiert wird. Dafür gilt es, an über 20 Handlungspunkten kleinere Entscheidungen zu treffen (welches Schulfach wähle ich, wen nehme ich mit zum Sportfest usw.), die dann in der abschließenden Beziehungsanbahnung kulminieren. Das besondere an Hatoful Boyfriend HD ist nun allerdings, dass sämtliche Charaktere, bis auf die Protagonistin, Tauben sind (s. Abb. 2). Dies spielt für den Handlungsverlauf allerdings auch erst einmal eine untergeordnete Rolle, denn dieser Umstand manifestiert sich neben der visuellen Charakterdarstellung lediglich in wenigen diegetischen Details (zum Beispiel dienen als Geschenke zwischen den Figuren Körner). Im Schwerpunkt reproduziert die textuelle Struktur dabei weiterhin Charakter-Stereotypen der Otome: Es gibt den nachdenklichen (Tauben-)Aristokraten, den fürsorglichen Freund, einen reiferen Männertypus mit tragischer Vergangenheit etc. Diese simple Textstruktur sieht vor, dass es im Normalfall genügt, sich an mehreren narrativen Knotenpunkten für eine dieser Figuren zu entscheiden, um eine Beziehungsintensivierung zu gewährleisten. Das geht dann stets mit der Aufdeckung einer psychologischen 5 Aus einer produktionsästhetischen Perspektive wird von Cavallaro weiter auf die historischen Anfänge der japanischen Comickultur und deren Orientierung an der Ästhetik früher Disney-Cartoons verwiesen. 6 Dies gilt insbesondere für die in einigen Visual Novels auftauchenden sogenannten Panty Shots, in denen eine untersichtige Kameraperspektive den Blick auf die Unterwäsche der Figuren lenkt. 7 Ein weiteres einschlägiges Beispiel für selbstreferenzielle und selbstreflexive Formen der Visual Novel ist Doki Doki Literature Club (Team Salvato 2017). Cf. die Analyse bei Ruf/ Matt 2020. 8 Untersucht wurde hier das internationale Remake des japanischen Originals aus dem Jahr 2011. Bild - Spiel - Literatur 77 Tiefenstruktur oder biografischen Zäsur einher: Ein traumatisches Erlebnis in der Vergangenheit des jeweiligen Partners wird offenbart; der Grund für dessen abweichendes Verhalten in der Gegenwart wird ausgeführt. Die Offenbarung dieses figurendefinierenden Geheimnisses repräsentiert dabei zeichenhaft den romantischen Erfolg, denn die eigentliche Beziehung oder eine erotische Ebene sind kein Teil der einzelnen Geschichten mehr - was mit Blick auf die speziesübergreifende Personenkonstellation von Hatoful Boyfriend HD noch pointiert wird, da diese die Darstellung einer sexuellen Vereinigung von vornherein auszuschließen scheint. In diesem Rahmen führt das Untersuchungsbeispiel über eine implizite Gattungsreferenz selbstreflexiv die Funktionsweise des Otome-Genres vor Augen: Die übliche darstellungsästhetische Opposition aus ‘ Kindchenschema ’ vs. ‘ Sexualisierung der Charaktere ’ inszeniert auf visueller Ebene eine Opposition aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ , die auf Handlungsebene in der Regel jedoch gerade nicht im Sinne sexueller Ausschweifungen aufgelöst wird. Solche sind im kulturellen Kontext üblicherweise in der Gattung des Hentai angesiedelt, der pornografischen Variante des Mangas oder Animes. 9 Dagegen wird in der Visual Novel die nicht aufgelöste bildliche erotische Opposition ( ‘ Kindchenschema ’ vs. ‘ Sexualisierung der Charaktere ’ ) durch die Aufdeckung einer weiteren Tiefenstruktur kompensiert: Die Diskrepanz zwischen kindlich-stereotyper Charakterzeichnung in den Dialogen und der aufzudeckenden biografischen Tiefe verweist auf genau jene Konnotation von ‘ Erwachsensein ’ und ‘ Erwachsenwerden ’ , auf die sonst auch die visuelle Sexualisierung der Figuren deutet. Hieran anknüpfend verweigert Hatoful Boyfriend HD durch das Taubenmotiv von vornherein jegliche erotisierte Blickstruktur und übersteigert gleichzeitig das Otome- Erzählprinzip. Weil die Protagonistin nie zu sehen ist und weil ihre potenziellen Liebhaber sämtlich Tauben sind, die zwar charakterlich als stark unterschiedlich beschrieben werden, visuell jedoch - analog zur figurenübergreifenden Sexualisierung der weiblichen Charaktere und der im kawaii-Stil gehaltenen männlichen Figuren in anderen medialen Beispielen - kaum voneinander abweichen, wird unterstrichen, dass die visuelle Ebene hier strukturell eine nur untergeordnete Rolle spielt. Die visuellen Zeichen bilden lediglich die zu ‘ enthüllende ’ und damit transparent zu werdende Oberfläche der Erzählung. Den eigentlichen Handlungskern der Otome bildet dagegen die Aufdeckung der individuellen, zumeist tragischen und schriftbasiert vermittelten Figurenhintergründe, wobei sich diese Ebene hinter der knallbunten Oberfläche der Dating-Erzählung, deren Farbschema im vorliegenden Fall von im Schwerpunkt rosafarbenen Pastelltönen geprägt ist, nur maskiert. Hat man nun in Hatoful Boyfriend HD die zentralen Beziehungskonstellationen einmal durchlaufen, das heißt, man ist in mehreren Handlungsdurchläufen mit jeder Hauptfigur eine Beziehung eingegangen, öffnet sich eine weitere Ebene der Geschichte. Das dargestellte Schuljahr folgt dem üblichen Ablauf, doch an einem vordefinierten Handlungspunkt wird die Leiche der bisherigen menschlichen, weiblichen Hauptfigur aufgefunden und die Nutzenden verkörpern von nun an einen der männlichen (Tauben-)Charaktere (Ryouta), mit dem es im ursprünglichen Programmmodus galt, eine Beziehung zu beginnen. 9 Wobei es auch entsprechende Visual Novels gibt, die allerdings - vor allem mit Blick auf jene für den westlichen Kulturraum lokalisierten Produktionen - deutlich in der Minderheit sind. 78 Martin Hennig (Passau) Mit dem Wechsel der Erzählperspektive ist dabei gleichzeitig ein Wechsel des Erzählgenres indiziert: Aus der Beziehungssimulation wird eine Kriminal- und Verschwörungsgeschichte. 10 Dabei werden laufend Elemente der Ursprungserzählung des Dating-Adventures rekontextualisiert, indem etwa zeitliche Leerstellen in einer Figurenerzählung nun zu Gelegenheiten für eine Mitwirkung an der Ermordung der Protagonistin umgedeutet sind. 11 Zum Schluss stehen die beiden Handlungsteile dann in Opposition zueinander. Denn gilt es im ersten Teil weitestgehend unproblematisiert durch die Anbahnung einer Liebesbeziehung eine Brücke zwischen den Spezies Mensch und Taube zu schlagen, dreht sich der trotz des Sujets sehr ernst erzählte (siehe unten) und an die bildlichen Kodes des Horrorfilms angelehnte zweite Teil 12 um die unauflösbare ideologische Differenz der beiden Gruppen. Der Mord an der Protagonistin ist das Resultat eines übergeordneten Konflikts zwischen Menschen und Tauben. Das Finale dreht sich gar um ein Massaker der Tauben an den Menschen durch die Verbreitung eines Vogelgrippevirus (! ), was nur knapp verhindert werden kann. Dieser Handlungsumschwung korrespondiert wiederum mit den typischen Erzähltechniken der Visual Novel im Allgemeinen. Cavallaro subsumiert diese folgendermaßen (cf. Cavallaro 2010: 12): narrative multiperspectivalism; branching and crisscrossing yarns; deliberately inconclusive resolutions; unconventional blend of the mundane and the supernatural; interweaving of domestic and mythological milieux. Die hier konstatierte Tendenz zur Grenzüberschreitung auf Ebene der strukturell häufig offen endenden, multiperspektivischen Erzählungen (indem sich Genres und Motive in ihnen vermischen) korrespondiert mit einer Vielzahl von Grenzen innerhalb des Erzählten, die funktional für die Inszenierung der Visual Novel sind. Im zweiten Handlungsteil von Hatoful Boyfriend HD zeigt sich die Tendenz zur Grenzkonstruktion auf mehreren Ebenen: 1. Kulturell: Handlungstragend für den zweiten Teil der Geschichte ist eine kulturelle Grenze (Menschen vs. Tauben), die in einen Genozid zu münden droht, auf deren Grundlage ein Konflikt zwischen kulturellen Selbst- und Fremdbildern verhandelt wird. Dieser ideologische Konflikt wird einerseits dramaturgisch in Form des Perspektiv- und Genrewechsels zwischen erstem und zweitem Handlungsteil von Hatoful Boyfriend HD angezeigt. Dabei wird der ideologische Konflikt andererseits durch die Zäsur zwischen den beiden Weltentwürfen, die mit Dating- und Detektiverzählung jeweils verkoppelt sind, strukturell in Form von unterschiedlichen Erzählmodellen und darauf bezogenen Interaktionen erst kanalisiert. 10 Wenn mit dem Gender der Hauptfigur auch das Genre wechselt, dann stellt dies natürlich einen stereotypen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Protagonisten und der Erzählweise her. 11 Diese Polysemie betrifft auch den Titel des Spieles. “ Hato ” beutet im japanischen “ Taube ” und “ Hatoful ” lässt sich je nach englischer Aussprache entweder als “ heartful ” oder “ hateful ” verstehen. 12 Auch außerhalb von so herausgehobenen Beispielen wie Hatoful Boyfriend HD ist es im Otome-Genre nichts Ungewöhnliches, dass das Motiv der zukunftsgerichteten Partnersuche durch auffallend düstere Erzählwendungen (konventionell durch ein Aufdecken der Vergangenheit der Figuren) konterkariert wird. Bild - Spiel - Literatur 79 2. Sozial: Dieser übergeordnete kulturelle Konflikt manifestiert sich im Rahmen der Kriminalerzählung in der sozialen Grenze zwischen Individuum und Kollektiv. Potenziell sind alle Figuren für den Protagonisten verdächtig. Statt Nähe im Rahmen der Dating- Erzählung herzustellen, wird nun reflexive Distanz im Dialog erzeugt, insofern es gilt, sämtliche Äußerungen zu hinterfragen und die Figuren damit zu konfrontieren. 3. Psychisch: Schließlich wird auf individueller Ebene die Grenze zwischen Ich und Nicht- Ich thematisch. Ryouta deckt im Handlungsverlauf sukzessive Erinnerungen an seine Vergangenheit und den Tod seiner Eltern auf. 13 Hier wird wieder die Brücke zur obersten Ebene geschlagen, denn Ryoutas Vorgeschichte steht ebenfalls im Zusammenhang mit dem Konflikt der Spezies. Am Ende wird enthüllt, dass Ryouta selbst ohne sein Wissen mit dem Vogelgrippevirus infiziert wurde, als lebende Waffe gegen die Menschheit eingesetzt werden sollte und aufgrund einer ungewollten Ansteckung für den Tod der früheren Protagonistin verantwortlich zeichnet. Derlei semantische Oppositionen und Grenzziehungen sind typisch für die Visual Novel. Sie werden lediglich je nach Sujet unterschiedlich ‘ befüllt ’ , etwa wenn in Bezug auf kulturelle Konflikte das Verhältnis ‘ Mensch ’ vs. ‘ Technik ’ verhandelt wird (cf. etwa das Beispiel Psycho Pass: Mandatory Happiness vom selben Entwicklungsstudio) oder wenn im Rahmen einer Horrorerzählung der Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv über eine zeitweilige dämonische Besessenheit der Figuren erzeugt ist (cf. Corpse Party: Blood Covered). Generell zeichnen sich die Erzählungen der Visual Novel damit stets durch eine Vielzahl an Grenzziehungen zwischen Protagonisten und Umwelt aus und transportieren im Schwerpunkt Entfremdungserfahrungen. Dies wird funktional für die hier repräsentierten, stark subjektivierten, häufig autodiegetischen Erzählungen in der ersten Person, die in der Regel keine den Protagonisten übergeordnete, personalisierte Erzählinstanz aufweisen. Dieser Ich-Fokus der Erzählung sorgt dafür, dass neben der zentralen Figur auch die Lesenden unmittelbar adressiert werden, was wiederum die interaktive Handlungsposition der Nutzenden akzentuiert. 4 Interaktive Struktur Im Rahmen der in der Visual Novel verhandelten Grenzkonflikte besteht das oberste Spielziel stets in einer Überwindung dieser Grenzen, wobei Hatoful Boyfriend HD diese Struktur dramaturgisch pointiert, insofern sich die eigentlich simpel zu überwindende soziale Grenze der Dating-Erzählung hier im Verlauf in eine ideologische Grenze transformiert, die nicht endgültig zu tilgen ist. 13 Dieses Motiv derAufdeckung einer familiären Vorgeschichte haben Visual Novels mit ebenfalls eher text- und erzählorientierten Computer- und Videospielgenres wie dem Adventure gemein, insofern das sukzessive Aufdecken von Geheimnissen hier homolog den Spielfortschritt symbolisiert (cf. Hennig 2017 b: 170). Im Rahmen der symbolischen Rekonstruktion der Familie durch die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit fungiert die damit präsupponierte Wertedimension als ein “ Minimalkonsens in den Kulturen der Moderne ” (Decker 2016: 142), der gerade bei international distribuierten Produktionen für Anschlussfähigkeit sorgt. 80 Martin Hennig (Passau) Für die Visual Novel gilt dabei eines der grundlegenden Prinzipien interaktiver 14 Erzählungen: Je stärker Nutzende durch Entscheidungssituationen auf den Verlauf einer erzählten Geschichte einwirken können, desto schwieriger gestaltet sich die Erzeugung eines kohärenten, sequenzübergreifenden Bedeutungszusammenhangs. Nach Martinez und Scheffel konstituiert sich die Einheit einer Geschichte dadurch, dass sie nicht nur einem chronologischen, sondern auch einem kausalen Zusammenhang folgt (cf. Martinez und Scheffel 2009: 25). Aus dieser Perspektive produzieren alternative Handlungsverläufe stets ein erhöhtes Maß an Kontingenz, denn keine Ereignisfolge ist damit als zwangsläufig zu verstehen. Auch müssen mindestens zwei unterschiedliche Handlungsabläufe programmiert werden, wenn die Entscheidungen der Nutzenden gleich zu Beginn schwerwiegende Auswirkungen auf den Verlauf der erzählten Geschichte nehmen. Mit jeder weiteren Entscheidung potenziert sich dieser Entwicklungsaufwand. Prinzipiell offeriert deshalb auch die Visual Novel Einflussmöglichkeiten auf Ebene der Histoire lediglich an einigen wenigen ausgewählten Kardinalpunkten (cf. zum Begriff Barthes 1988 b), wobei sich die Entscheidungen der Nutzenden vorrangig in unterschiedlichen Endsequenzen summieren (sowohl auf Ebene der Einzelkapitel als auch das Ende der Gesamterzählung betreffend). 15 Dies hält den Programmieraufwand angesichts multilinearer Narrationsverläufe in Grenzen. Allerdings sind Visual Novels prinzipiell auf mehrere Komplettierungsvorgänge der erzählten Geschichte angelegt, um die Erzählung erneut aus einer anderen Figurenperspektive zu verfolgen, oder aber es werden abhängig von den Entscheidungen unterschiedliche episodische Einschübe innerhalb der Diegese aktualisiert, die einzelne Figuren mit einer erweiterten Hintergrundgeschichte versehen. Beispielsweise wenn man sich in einer Otome für eine/ n andere/ n Partner/ in entscheidet und dann dessen/ deren individuelle Biografie offengelegt wird. Hatoful Boyfriend HD übersteigert dieses Prinzip noch, da sich hier die eigentliche Geschichte erst nach mehreren Durchläufen einer anderen Geschichte offenbart. Die hohe Figurenfokussierung der Erzählungen einer Visual Novel erlaubt es folglich generell, Varianzen in der sujetlosen Struktur (nach Lotman: reines Geschehen, ohne Ereignisse, cf. Lotman 1973) der Personenkonstellation zu implementieren, ohne dass dies unmittelbaren Einfluss auf den übergeordneten, sujet- und ereignishaften Handlungsverlauf hätte. Das zu Grunde liegende Schema trägt den Eigenheiten der gewählten Figuren auf Ebene des Geschehens Rechnung, während es prinzipiell identische Ereignisverläufe auf Ebene der sujethaften Textschicht produziert. Die sich aus den Entscheidungsalternativen ergebenden Konsequenzen sind damit in ihren Auswirkungen auf das übergeordnete Weltmodell als gering einzustufen. Visual Novels suggerieren ihren Nutzenden durch die quantitativ vielfältigen Entscheidungssituationen jedoch oberflächlich einen hohen situationsübergreifenden Einfluss. In diesem Zusammenhang halten Marcel Schellong und Tobias Unterhuber der häufig rezeptionsseitig formulierten Kritik, dass solche ausgestellten Handlungsentscheidungen in digitalen Spielen generell nur marginale Konsequenzen nach sich zögen, entgegen: 14 Zu den Unschärfen des Interaktivitätsbegriffs und seinen Bedeutungsdimensionen cf. Hennig 2017 a. 15 Bei Hatoful Boyfriend HD ist es auf diese Weise etwa möglich, einen zusätzlichen Epilog freizuschalten, der andeutet, dass ein Impfstoff für das Virus gefunden wurde, womit das Spiel dann insgesamt auf einer etwas positiveren Note ausklingt. Bild - Spiel - Literatur 81 [Es ist] nicht so wichtig, ob die Entscheidungen Auswirkungen haben, sondern dass die Spielerin annimmt, sie hätten welche. Die Inszenierung der Entscheidung macht die Momente der Entscheidung aus. Wir nehmen sie anders wahr. Wenn wir den Entscheidungsmomenten im heiligen Ernst des Spiels entgegentreten, werden sie erlebbar als Simulationen von realer Erfahrung. (cf. Schellong und Unterhuber 2016: 26) Doch wie lässt sich diese spezifische interaktive Erfahrung der Visual Novel zusammenfassend bewerten? Aufbauend auf den bisherigen Ausführungen lässt sich konstatieren, dass die Visual Novel vornehmlich einer literarischen Struktur folgt und dieser auch prinzipiell nähersteht als den Strukturen digitaler Spiele. Tatsächlich entsprechen ältere Varianten der intermedialen Text-Spiel-Kombination, also etwa Textadventures wie Zork (Marc Blank u. a./ Infocom, 1979) oder Abenteuer-Spielbücher wie diejenigen aus dem Mantikore-Verlag, der interaktiven Grundstruktur digitaler Spiele wesentlich eindeutiger, da sie auch situative Interaktionen außerhalb von strukturell herausgehobenen Entscheidungssituationen kennen. Sowohl im Textadventure als auch in Abenteuer-Spielbüchern werden in der Regel Kämpfe ausgefochten und im Kontext des Abenteuer-Spielbuchs selbst ausgewürfelt. Konventionell muss auch die Figurenbewegung im Textadverture von den Rezipierenden selbst initiiert werden. Demgegenüber stellt die Visual Novel Verbindungen zum Dispositiv des digitalen Spiels vornehmlich auf ästhetischer und thematischer Ebene her. Dies manifestiert sich insgesamt als eine Korrelation zwischen (i) subjektivierter Perspektivierung, (ii) personenzentrierter Erzählung und (iii) Interaktionsschemata. So akzentuieren digitale Spiele bereits auf Ebene ihrer grundlegenden Spielmechaniken und Rauminszenierungsstrategien strukturell die herausgehobene Position der Spielenden: Computerspiele handeln thematisch meist von topographischer Inbesitznahme [durch den Avatar, M. H.] (und visualisieren dadurch eingängig die Zunahme der Machtfülle), sie stellen den Spieler graphisch in den Mittelpunkt (was gerade bei Ego-Shootern vervollkommnet wird), und sie ordnen sich auf technischer Ebene dem realen Spieler stets unter. (cf. Gorsolke 2009: 281) In der Visual Novel repräsentiert sich dieses Prinzip zum einen ebenfalls auf Ebene der Perspektivierung - also im Rahmen der bereits besprochenen Zurichtung des Sichtbaren auf die Perspektive der gespielten Figur, was die dargestellte Welt homolog auf die Nutzenden ausrichtet. 16 Die herausgehobene Position von Spielenden und gespielter Figur manifestiert sich weiter in den vielfältigen intradiegetischen Grenzziehungen zwischen dem Ich und der dargestellten Welt sowie den dort beheimateten Figuren. Schließlich steht das Paradigma der Person im Fokus der Histoire, insofern diese sukzessiv charakterliche Tiefenstrukturen freilegt und die Aneignung der Welt durch die Nutzungsinstanz in der im Handlungsverlauf zunehmenden ‘ Lesbarkeit ’ der übrigen Figuren repräsentiert wird. Diese spezifische Struktur der Visual Novel findet sich im Bereich der populären Beispiele, die auch in der westlichen Kultur erfolgreich sind, semantisch signifikant verdichtet in der Serie Ace Attorney (auf Deutsch: Anwaltsass), deren Serienteile in der Regel 16 Dass sich Figur und Nutzungsinstanz in der Inszenierung aneinander annähern, zeigt sich auch darin, dass die eigene Spielfigur bei vertonten Visual Novels in der Regel keine Sprachausgabe und damit auch keine eigene Stimme erhält. 82 Martin Hennig (Passau) sogar über eine deutsche Lokalisierung verfügen. Weite Teile der dort erzählten Anwaltsgeschichten bestehen aus Gesprächen und Wortgefechten mit Staatsanwälten und Richtern; regelmäßig sind Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen und dabei jeweils Lücken und Lügen in den Aussagen aufzudecken. Anders als im verwandten Computerspielgenre des Adventures üblich sind dabei Welträtsel weniger zentral, bei denen gefundene Gegenstände geschickt kombiniert werden müssen, um ein Weiterkommen in der Topografie des Spiels zu ermöglichen. Stattdessen müssen primär Unstimmigkeiten in persönlichen Aussagen gefunden werden, um damit die ‘ wahre ’ Person hinter ihrer schützenden Fassade freizulegen. Der Figurenfokus der Visual Novel wird hier also eingebunden in das Setting des Gerichtsprozesses als Ort der institutionalisierten Wahrheitsfindung und ist in diesem konventionellen Rahmen auch im westlichen Raum populär. In ähnlicher Weise ergeben sich innerhalb der Visual Novel Strukturanalogien zwischen Erzählung und Interaktionsschemata, wenn sich die spielstrukturell simulierte Freiheit während der Entscheidungssituationen in Verhandlungen von persönlicher Freiheit und Autonomie sowie umgekehrt Kontrolle und Fremdbestimmung innerhalb der erzählten Geschichten spiegeln. Dies gilt prinzipiell für die meisten interaktiven Erzählformen, insofern ihre strukturellen Entscheidungsfreiheiten durch die parallele Thematisierung von semantischen Feldern wie ‘ Autonomie ’ vs. ‘ Heteronomie ’ innerhalb der erzählten Geschichte aufgewertet und mit einer über sie selbst hinausgehenden Bedeutung versehen werden (cf. hierzu ausführlich Hennig 2017 b: 211 - 266). Im Rahmen der thematischen Schwerpunkte der Visual Novel zeigt sich diese Analogie zwischen der Struktur der dargestellten Welt und der auf sie bezogenen Interaktionen dann etwa darin, dass sich die Vorstellung von multiplen Universen in der Diegese homolog zu den strukturell offerierten, multiplen Handlungsverläufen der Erzählung gestaltet (cf. etwa Steins; Gate) oder auch konkret in den dargestellten Konflikten, die um Themen wie individuelle Autonomie in Mensch-Technik-Verhältnissen kreisen (cf. Psycho-Pass), was wiederum auf den technischapparativen Kontext der Mediennutzung verweist. 5 Die Visual Novel im Medienverbund Die Visual Novel ist als Hybridform zwischen Literatur, Comic und Computerspiel zu verstehen. Allerdings sind diese Mediensupplemente vor allem funktional für die Inszenierung der Visual Novel als literarisches Medium. So nähert sie sich in ihrer Ästhetik eher dem Buch als den Medien Comic oder Computerspiel an; denn die reduzierten visuellen Details sind zuvorderst funktional für die Rezeptionsökonomie des Textes, genau wie auch die reduzierte interaktive Struktur primär einer erneuten Rezeption der Werke zuarbeitet und nur marginale situative Interaktion zulässt. In Einklang mit dem spezifisch technisch-apparativen Rezeptionskontext, - der zum Teil vor allem eine Spielumgebung wie etwa bei dem japanischen Handheld PS Vita ist, auf dem Visual Novels einen großen Teil der in Europa und Amerika exklusiv veröffentlichten Produktionen einnehmen - , finden sich aber auch dramaturgische, thematische und darstellungsästhetische Referenzen zum digitalen Spiel. Die erzählte Geschichte wird überwiegend über Dialoge vermittelt und aus einer subjektivierten Perspektive präsentiert. Auch die Vermischung unterschiedlichster medialer Formen, Gattungen, Genres und Bild - Spiel - Literatur 83 Stilelemente verweist auf die Hybridität des digitalen Spiels (cf. Wenz 2003). Dabei verursacht der Rückgriff auf ähnliche Interaktionsschemata eine hohe strukturelle Ähnlichkeit der erzählmotivisch unterschiedlichen Beispiele. Somit verspricht die Visual Novel unabhängig von der jeweiligen Thematik eine äquivalente Rezeptionserfahrung, die aus einer individualisierten Erkundung einer ‘ literarischen ’ Welt besteht, die wiederum gleichbedeutend mit einer Offenlegung und Aneignung dieser Welt ist, die durch eine zunehmende Transparenz der handelnden Figuren vermittelt wird. Auf diese Weise füllt die Visual Novel eine Lücke im Medienverbund, insofern digitale Spiele im Rahmen ihrer allgemeinen ästhetischen Entwicklung mittlerweile konventionell vor allem intermediale Referenzen auf den Spielfilm integrieren (cf. Rauscher 2011) - Beispiele mit starkem Erzählfokus und marginaler Interaktion werden nicht umsonst zur Gattung des ‘ interaktiven Films ’ gezählt. Die Visual Novel leistet Ähnliches in Bezug auf einen literarischen Kontext und macht die Opposition aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ auch marktstrategisch funktional: An der Oberfläche zeigt die Visual Novel eine Spiel- und Comicästhetik - verbunden mit dem Versprechen ‘ literarischer Tiefe ’ . Dabei sind die vordergründigen Stereotype auf Darstellungsebene funktional für die Erfüllung dieses Versprechens, da ‘ Tiefe ’ hier vor allem als Abgrenzung von einer sehr dominanten ‘ Oberfläche ’ und weniger als ästhetische, denn als strukturelle Kategorie zu verstehen ist. Letztlich werden im Kontext der Visual Novel damit ganz traditionelle Werte und Bedeutungen von Literatur aufgerufen und im digitalen Kontext mit dem Versprechen partizipativer Teilhabe und hoher ästhetischer Zugänglichkeit verknüpft. Bibliographie Barthes, Roland 1988 a: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt: Suhrkamp Barthes, Roland 1988 b: “ Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen ” , in: Barthes 1988: 102 - 143 Cavallaro, Danni 2010: Anime and the Visual Novel. Narrative Structure, Design and Play at the Crossroads of Animation and Computer Games, Jefferson, NC: Mc Farland & Company Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 - 171 Gorsolke, Stefan 2009: Interaktivität in narrativen Medien. Das Spiel von Selbst- und Fremdreferenz, Marburg: Tectum Hennig, Martin 2017 a: “ Interaktive Medien ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 331 - 349. Hennig, Martin 2017 b: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels, Marburg: Schüren Hennig, Martin und Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Hennig, Martin und Hans Krah (eds.) 2020: Spielzeichen III: Kulturen des Computerspiels/ Kulturen im Computerspiel, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Kato, Hiloko und René Bauer, 2020: “ Magic Cone - der erweiterte Magic Circle. Japanische Spielkultur, Mukokuseki und ihre Aneignungen im Westen ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2020: 277 - 340 Krah, Hans und Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Schuster Lotman, Jurij M. 1973: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt am Main: Suhrkamp Martinez, Matias und Michael Scheffel 8 2009: Einführung in die Erzähltheorie, München: C. H. Beck 84 Martin Hennig (Passau) Mulvey, Laura 1994: “ Visuelle Lust und narratives Kino ” , in: Weissberg (ed.) 1994: 48 - 65 Rauscher, Andreas 2011: Spielerische Fiktionen, Marburg: Schüren Ruf, Oliver und Markus Matt 2020: “ Sphären-Konvergenzen. Doki Doki Literature Club als Indiz kulturästhetischer Körperlichkeit ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2020: 435 - 455 Schellong, Marcel und Tobias Unterhuber 2016: “ Wovon wir sprechen, wenn wir vom Decision Turn sprechen ” , in: Redaktion PAIDIA (ed.) 2016: »I ’ ll remember this. . .«. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch, 15 - 31 Titzmann, Michael 2017: “ Text-Bild-Beziehungen ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 177 - 200 Weissberg, Liliane (ed.) 1994: Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt am Main: S. Fischer Zumbansen, Lars (2008): Dynamische Erlebniswelten: Ästhetische Orientierungen in phantastischen Bildschirmspielen, München: kopaed Visual Novels Corpse Party: Blood Covered (Team GrisGris 2008) Danganronpa (Spike Chunsoft 2010) Day of Love (Princess Soft 2000) Doki Doki Literature Club (Team Salvato 2017) Fate/ stay night (Type-Moon 2004) Forest (Liar Soft 2004) Hakuoki: Kyoto Winds (Otomate 2015) Hatoful Boyfriend HD (Mediatonic 2014) Hotel Dusk: Room 215 (CING 2007) Is It Love? Carter Corp (1492 Studio 2019) Last Window: Das Geheimnis von Cape West (CING 2010) Nine Hours, Nine Persons, Nine Doors (Chunsoft 2009) Phoenix Wright: Ace Attorney Trilogy (Capcom 2014) Psycho-Pass: Mandatory Happiness (5pb. 2015) Steins; Gate (5pb./ Nitroplus 2009) Steins; Gate 0 (5pb. 2015) Sweet Fuse: At Your Side (Idea Factory/ Comcept 2012) The Royal Trap (Hanako Games 2013) Virtue ’ s Last Reward (Spike Chunsoft 2012) Zero Time Dilemma (Chime 2016) Internetquellen Ressler, Karen 2015: Steins; Gate 0 Game Sells Over 100,000 Copies on 1st Day, im Internet unter http: / / www.animenewsnetwork.com/ news/ 2015 - 12 - 10/ steins-gate-0-game-sells-over-100000-copieson-1st-day/ .96351 [04. 09. 2019] VisualNovel.de (ed.) 2019: Das deutsche Visual Novel Wiki, im Internet unter http: / / www.visual-novel. de/ doku.php [29. 08. 2019] Wenz, Karin (2003): Computerspiele: Hybride Formen zwischen Spiel und Erzählung, im Internet unter http: / / www.netzliteratur.net/ wenz/ wenz_computerspiele.htm [29. 08. 2019] Bild - Spiel - Literatur 85 K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? Schnittstellen zwischen Libretto, Musik und Konkretisierung im Musiktheater Stephanie Großmann (Passau) The very stable repertoire of opera houses comprises mainly works from the 18th and 19th centuries, perpetuating a canon characterized by highly conservative and problematic discourses on gender, race and class. This presents a challenge for current staging concepts to deal with these normative value sets. Taking the media conception of opera as an ‘ art form of the interface ’ and an overview of the historical development of the hierarchical relationship of the sign systems constituting opera as a starting point, the different strategies of how an opera based on a libretto that is problematic from a contemporary and critical normative perspective and its staging can relate to each other are at the focus of this contribution. On the basis of the operas Die Zauberflöte and La Traviata and their productions, this paper analyses in an exemplary fashion how works and their staging concepts relate to each other through the lens of their gender staging, in order to draw on more general insights into the interfaces between libretto, music and concretisation in music theatre and to reflect on these in the context of the performative disposition of the opera. 1 Einleitung Weltweit zeichnet sich der gegenwärtige Musiktheater- und Opernbetrieb dadurch aus, 1 dass das gespielte Repertoire vornehmlich aus Werken besteht, die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen. Auch in Deutschland - immerhin einem der Länder mit der höchsten Dichte an Stadt- und Staatstheatern 2 sowie eines breiten finanziellen Protegierens 1 Die Begriffe ‘ Musiktheater ’ und ‘ Oper ’ werden in diesem Beitrag synonym verwendet, auch wenn in anderen Kontexten eine differenzierte Unterscheidung der Begriffe sinnvoll sein mag. Cf. dazu z. B. die Überlegungen von Desi (2012: 47 ff.). 2 Deutschlands Stellung als führende Opernnation kommt auch in dem 2018 gestellten Antrag des Auswärtigen Amtes an die UNESCO zum Ausdruck, die deutsche Theater-Orchesterlandschaft auf die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Als Begründung äußert Ulrich Khuon, der Präsident des Deutschen Bühnenvereins: “ Deutschland hat die reichste Theaterlandschaft der Welt. Etwa die Hälfte aller Opernhäuser auf der ganzen Welt ist in Deutschland situiert. Und was Schauspielhäuser angeht, gibt es eine ähnliche Dichte ” (cf. UNESCO Onlineportal 2018). von Auftragskompositionen und Uraufführungen im Bereich des Musiktheaters 3 - findet sich in der aktuellen Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins unter den 20 Opern mit den jährlich höchsten Aufführungszahlen kein einziges zeitgenössisches Musiktheaterstück. 4 Blickt man auf die Sujets dieser meistgespielten Opern, dann erweisen sich diese aus einer heutigen Perspektive als historische Dokumente einer Zeit, die sowohl politisch als auch sozial-gesellschaftlich völlig anders gestaltet war. Deshalb wirken viele der Opern heute antiquiert und überkommen, selbst wenn sie zu ihrer Entstehungszeit inhaltlich progressiv und visionär gewesen sein sollten. 5 Dies hat dazu geführt, dass die Oper zumindest in der populären Wahrnehmung der Gegenwart als überholte Kunstform gilt und bereits vielfach totgesagt wurde. So titelt auch das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung recht provokativ: “ Operntod. Alberner Ehrenkodex, Patriarchat, Chauvinismus: Wie kann man heute noch Musiktheater auf die Bühne bringen, wenn uns die Stoffe so unendlich fern sind? ” (cf. Brembeck 2017: 17) und zeigt damit, dass die bereits 1967 mit dem Schlachtruf “ Sprengt die Opernhäuser in die Luft! ” (cf. Der Spiegel 1967: 166 - 174) von Pierre Boulez angestoßene Debatte nicht abgeschlossen und weiterhin virulent ist. Durch die Wiederholung der immer gleichen Opern hat sich in den letzten 70 Jahren ein Kanon gebildet, der vor allem bezüglich seiner Diskurse über Gender, Race und Class sehr konservative und häufig auch problematische Positionen perpetuiert und damit die Inszenierungskonzepte herausfordert, sich mit diesen überkommenen, normativen Wertekonzeptionen auseinanderzusetzen. Mit den Prozessen der Kanonbildung in der Musik und ihren weitreichenden Konsequenzen hat sich Marcia J. Citron aus einer genderwissenschaftlichen Perspektive umfassend auseinandergesetzt. Sie konstatiert einerseits für die Produktionsebene, dass die Zahl der von Frauen komponierten Werke im musikalischen Kanon marginal und andererseits die wertebildende Kraft eines Kanons nicht zu unterschätzen sei: “ Canonicity exerts tremendous cultural power as it encodes and perpetuates ideologies of some dominant group or groups. These exemplary values establish norms for the future. Works that do not measure up are excluded or omitted and as a result potentially ignored ” (cf. Citron 2000: 9). In meinem Beitrag möchte ich danach fragen, wie der gegenwärtige Musiktheaterbetrieb mit diesen in den Librettotexten angelegten Wertekonzepten umgeht, ob und wie also aktuelle Inszenierungen diese Konzepte transformieren, aktualisieren, kritisieren oder aber “ kommentarlos ” übernehmen. Zugleich gilt es zu betrachten, wie sich die musiktheatralen, dispositiven Strukturen der Performativität und Medialität in diesem Prozess auswirken. 3 Zu den Opern-Uraufführungen und ihren Zuschauerzahlen in der Spielzeit 2017/ 18 cf. Deutscher Bühnenverein (2019: 59). 4 Cf. Deutscher Bühnenverein (2019: 56). Laut der statistischen Auswertung von Operabase waren weltweit die zwei Spitzenreiter in der Zeit von 2010 bis 2017 die Opern La Traviata und Die Zauberflöte, dicht gefolgt von Carmen und La Bohème. Jährlich werden diese beiden Opern weltweit jeweils in 500 bis 800 verschiedenen Produktionen ungefähr 3.000bis 4.000-mal aufgeführt. Für den deutschen Markt lässt sich ein ähnliches Bild konstatieren, nur liegt hier der Weihnachtsklassiker Hänsel und Gretel ebenfalls immer unter den meistgespielten Stücken (cf. Operbase o. J.). 5 So löste beispielsweise Aubers Grand Opéra La muette de Portici (UA 1828) mit einem Libretto von Scribe und Delavigne 1830 bei einerAufführung in Brüssel die belgische Revolution gegen die niederländische Herrschaft aus (cf. Schreiber 3 2002: 364 ff.). Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 87 Ausgehend von einigen basalen Grundlagen zur Medialität der Oper als ‘ Kunstform der Schnittstellen ’ nehme ich in den Blick, wie sich eine Hierarchisierung der einzelnen, für die Oper konstitutiven Zeichensysteme historisch entwickelt hat und welche Tendenzen sich gegenwärtig abzeichnen. Von den drei bereits genannten kritischen Diskursen in den Libretti greife ich die Genderthematik heraus und zeige exemplarisch an zwei Opern- und Inszenierungsbeispielen, wie sich eine problematische Werkvorlage und eine aktuelle Inszenierungskonzeption zueinander verhalten können, um ausgehend davon allgemeinere Befunde zu den Schnittstellen zwischen Libretto, Musik und Konkretisierung im Musiktheater zu abstrahieren und diese auch im Kontext der performativen Disposition der Oper zu reflektieren. 2 Medialität der Oper - Kunstform der Schnittstellen Vor gut 400 Jahren wollten die Mitglieder der Florentiner Camerata - einer Gruppe von Philosophen, Dichtern, Musikern und Gelehrten des Adels - die antike Tragödie wiederbeleben. Sie gingen davon aus, dass in derAntike derText gesungen wurde und entwickelten daher in Abgrenzung zur damals vorherrschenden Polyphonie eine neue Art des Einzelgesangs, bei dem sowohl der Text verständlich sein sollte als auch die Affekte zum Ausdruck kommen sollten. Damit war eine neue Kunstform geschaffen - die Oper. Strukturell zeichnet sich die Oper dadurch aus, dass sie drei Zeichensysteme integriert: (i) Die Handlung: Wie im Dramentext konstituiert sich die Handlung aus der Figurenrede und dem Nebentext, die beide im Libretto abgedruckt sind. (ii) Musik und Gesang: Konstitutiv für die Oper sind Musik und Gesang, und zwar nicht nur in Form von einzelnen Liedeinlagen, die auch schon vor dem Ende des 16. Jahrhunderts Usus in den Theaterproduktionen waren. In der Oper wird Sprache ausschließlich und vorwiegend über Musik transportiert. (iii) Die Konkretisierung: Durch die Form der direkten und unmittelbaren Darstellung auf der Bühne partizipiert die Oper auf der Ebene der Konkretisierung an visuellen Zeichensystemen. Hierzu zählen Bühnenbild, Kostüm, Frisur, Maske, Proxemik, Gestik, Mimik, Requisiten und Licht. Die Ebenen Libretto und Musik, beide zusammen dokumentiert in der Partitur, haben hierbei einen eher überzeitlichen, persistenten Charakter, da sie schriftlich fixiert und nur wenigen Veränderungen im Zeitverlauf unterworfen sind. Sie bilden zusammen den ‘ potentiellen Bedeutungsrahmen ’ einer Oper. Die Konkretisierung hat hingegen verglichen mit den beiden anderen Ebenen einen eher kurzlebigen, volatilen Charakter. Sie stellt immer nur eine mögliche visuelle Umsetzung des potentiellen Bedeutungsrahmens dar, bei der bestimmte Anteile dieses Bedeutungsrahmens fokussiert, aktualisiert oder transformiert werden. Die Inszenierung ist dann das Zusammenspiel der drei Ebenen Libretto, Musik und Konkretisierung und die denkbare Anzahl unterschiedlicher Inszenierungen einer Oper ist prinzipiell beliebig groß. Die Bedeutungsgenerierung erfolgt durch das Zusammenspiel dieser drei Ebenen. Sie kann als ‘ plurimedial ’ bezeichnet werden, da sie nicht nur die Summe der Bedeutungen der einzelnen Ebenen umfasst, sondern auf der Ebene der Inszenierung 88 Stephanie Großmann (Passau) neue Bedeutung entstehen lassen kann, die sich erst durch das spezifische Zusammenwirken von Libretto, Musik und Konkretisierung entwickelt. 6 Die Inszenierung selbst ist nur über einzelne Aufführungen zugänglich, die jeweils singuläre Ereignisse darstellen, die als jeweils individuelle Konkretisierungen des abstrakteren Inszenierungstextes maßgeblich durch die Ko-Präsenz von Darstellenden und Rezipierenden, also die gleichzeitige physische Anwesenheit von Sendenden und Empfangenden, mitbestimmt werden. Die Oper lässt sich daher zu den Präsenzmedien zählen, die sich gerade durch diese besondere Konstellation bezüglich des Kommunikationsmodells (Sendende - Nachricht - Empfangende) auszeichnen und einen performativen, ereignishaften Charakter haben. 7 Ausgehend von diesen Überlegungen zur medialen Struktur der Oper zeigt sich, dass sie par excellence eine ‘ Kunstform der Schnittstellen ’ ist, wenn man die Schnittstelle als einen Bereich des Übergangs zwischen zwei an sich getrennten Bereichen versteht, als eine Kontaktzone, in der durch die Interaktion der beiden Bereiche (mit ihren je eigenen Zeichensystemen) etwas ‘ Neues ’ entsteht, das auch in die Ursprungssphäre zurückwirken kann. So bildet die Oper (i) auf ihrer strukturellen Ebene mediale und semantische Schnittstellen zwischen den Zeichensystemen Libretto, Musik und Konkretisierung, (ii) performative Schnittstellen zwischen dem Publikum und der Bühne sowie (iii) temporale Schnittstellen zwischen der im potentiellen Bedeutungsrahmen gespeicherten Vergangenheit und der sich in der Konkretisierung ausdrückenden und in der Aufführung vollziehenden, performativen Gegenwart. 3 Fragen der Hierarchisierung Auch wenn im Gesang Musik und Sprache auf das Engste miteinander synchron verwoben sind, wurden und werden die beiden Ebenen in der Oper nicht als egalitär, als vollständig gleichranging betrachtet, sondern ihr spezifisches Verhältnis zueinander war und ist immer wieder Ausgangspunkt für theoretische Diskussionen um die führende Stellung entweder der Musik oder der Sprache. Die Konkretisierung bleibt in diesen Debatten zunächst weitgehend unberücksichtigt und tritt erst mit den neueren Diskussionen um die Werktreue und das Regietheater in den Fokus. 8 6 Zu den strukturellen und methodischen Grundlagen der Inszenierungsanalyse von Opern cf. Großmann 2013. Hier wird das auch folgend angewandte Modell entwickelt, bei dem sich die Bedeutung der Oper nacheinander durch (i) die textuelle Ebene (nur Musik, nur Librettotext), (ii) die intermediale Ebene (Musik und Text, Text und Konkretisierung) und schließlich (iii) die plurimediale Ebene (Text, Musik, Konkretisierung) konstituiert. Die Begriffe intermedial und plurimedial sind in der Oper insofern immer nie ganz passgenau, weil zwar Musik und Text mehr oder weniger als in sich geschlossene Zeichensysteme zu verstehen sind, die Konkretisierung mit Bühnenbild, Licht, Bewegung, Requisiten usw. aber sicherlich nicht streng kodierte Zeichensysteme aufgreift. In der Konkretisierung treffen ganz viele unterschiedliche Zeichentypen und Informationskanäle aufeinander, die Versatzstücke einzelner Zeichensysteme aufgreifen, diese aber in einem viele mediale Informationskanäle kombinierenden Gesamtkunstwerk vereinen. 7 Zur grundlegenden Konzeption von Präsenzmedien cf. Großmann (2017: 249 - 266). 8 Eine sehr frühe Ausnahme in der Thematisierung der Konkretisierung ist das erste erhaltene deutsche Singspiel Seelewig (Staden/ Harsdörffer 1644), das selbstreflexiv auf der Textebene das Verhältnis aller drei Ebenen bestimmt: “ Unter Einbezug des Pro- und Epiloges verhandelt Seelewig [. . .] implizit eine Theorie der Oper, indem sie zeichenhaft den Prozess der Hierarchisierung und Ausbalancierung der für diese sich neu Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 89 3.1 Die historische Perspektive Die Debatte um eine hierarchische Vorrangstellung von Dichtung oder Musik ist so alt wie die Oper selbst und kann stark verkürzt und vereinfacht folgendermaßen umrissen werden: In der Geburtsstunde der OperAnfang des 17. Jahrhunderts plädiert Claudio Monteverdi im Streit mit dem Geistlichen Giovanni Artusi dafür, dass es durchaus vertretbar sei, gegen die kompositorischen Kontrapunktregeln und die in der zeitgenössischen Musik vorherrschende Polyphonie zu verstoßen, wenn es der Verständlichkeit und der Textsemantik diene. Diese Haltung, dass die Musik gegenüber der Rede eine dienende Rolle einnehmen soll, konstatiert auch das von seinem Bruder formulierte Vorwort zu den 1607 in Bologna publizierten Scherzi musicali a tre voci “ che l ’ orazione sia padrona dell ’ armonia e non serva ” (cf. Monteverdi 1998: 8), 9 wodurch eine neue Epoche eingeleitet wird, in der die rhetorischen Qualitäten der Musik in den Vordergrund treten, mit denen sie die Textbedeutung unterstützt (cf. Steinbeck 2016: 167 f.). Ausgehend von der sich ebenfalls im 17. Jahrhundert entwickelnden reinen Instrumentalmusik, die den symphonischen Prozess in den Mittelpunkt rückt, ändert sich dann in der Wiener Klassik die Einstellung zum Verhältnis von Text und Musik in der Oper. So tritt Wolfgang Amadeus Mozart für eine umgekehrte Relation ein, wenn er 1781 in einem Brief an seinen Vater schreibt: “ Bey einer opera muß schlechterdings die Poesie der Musick gehorsame Tochter sein ” (Mozart 1963: 167). Zeitgleich verhandelt das 1786 uraufgeführte, einaktige Divertimento teatrale Prima la musica e poi le parole von Antonio Salieri auf einen Text von Giambatista Casti selbstreflexiv die Relation von Musik und Dichtung auf sehr humoristische Weise: Um innerhalb weniger Tage eine Oper für den Fürsten fertigzustellen, schustern Maestro und Poet aus jeweils alten Kompositionen und Texten ein Stück zusammen, das sich vor allem pragmatisch nach den Bedürfnissen der beiden bereits verpflichteten Sängerinnen richtet und weder inhaltlich noch poetisch überzeugen kann. Auch wenn sowohl die Komposition als auch die Dichtung nicht als genuin künstlerisch inspirierte Schaffensprozesse, sondern lediglich als ein an Profit orientiertes Handwerk dargestellt werden, steht der Poet innerhalb der Handlung hierarchisch unter dem Maestro, denn er muss seine Texte den Kompositionen anpassen, wohingegen die Kompositionen nicht modifiziert werden. Dass auch hier die Musik höher bewertet wird als der Text, zeigt sich schließlich auch am Ende des Divertimento, wenn der Maestro feststellt: “ Grazie al Ciel, che la ragione alla fin l ’ ostinazione d ’ un poeta convertì ” (Casti 1838: 360) 10 , wobei allerdings der gesamte Opernbetrieb in diesem Sujet augenzwinkernd als korrupt und egozentrisch konterkariert und durch die ironische Brechung des Sprechaktes eine eindeutige Positionierung innerhalb des Hierarchisierungsgefüges verhindert wird. generierende Kunstform konstitutiven Ebenen thematisiert. Hierbei werden Musik und Reimkunst als gleichrangige Schwestern gesetzt, die eine Symbiose eingehen. Die Malkunst - hier auch weiter zu fassen als Konkretisierung - wird dieser Verbindung untergeordnet und ihr wird die Rolle des Ausschmückens zugeteilt ” (cf. Großmann 2013: 74). 9 “ [. . .], dass die Rede Herrin und nicht Sklavin der Harmonie sei ” (Übersetzung S. G.). 10 “ Dank sei dem Himmel, dass die Vernunft schließlich doch den Starrsinn eines Dichters besiegt hat. ” (Übersetzung S. G.) 90 Stephanie Großmann (Passau) Mit Richard Wagner schlägt das Hierarchisierungspendel erneut in die andere Richtung zurück, wobei sich bei ihm deutlicher ein synthetisierendes Verhältnis von Musik und Literatur abzeichnet, wenn er 1852 in Oper und Drama ekstatisch verkündet: [S]o vermag der Organismus der Musik die wahre, lebendige Melodie nur zu gebären, wenn er vom Gedanken des Dichters befruchtet wird. Die Musik ist die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger; und auf dem Gipfel des Wahnsinnes war die Musik daher angelangt, als sie nicht nur gebären, sondern auch zeugen wollte. Die Musik ist ein Weib. Die Natur des Weibes ist die Liebe: aber diese Liebe ist die empfangende und in der Empfängnis rückhaltlos sich hingebende. (Wagner 3 2000: 118, Hervorhebungen im Original). Dass zumindest im heutigen Bewusstsein die Musik den Sieg über die Dichtung davongetragen hat, spiegelt sich unter anderem darin, dass als Urhebende einer Oper zumeist nur die Komponierenden genannt werden - wir sprechen von Mozarts Zauberflöte, Händels Alcina und Beethovens Fidelio - und die Librettisten deutlich in ihrem Schatten stehen. 3.2 Neuere Entwicklungen - Werktreue und Regietheater Die Oper als Gegenstand stellt aber eine genuin plurimediale Kunstform dar, die neben Musik und Sprache auch eine visuelle Konkretisierung der Handlung auf der Bühne impliziert. Auch wenn die Konkretisierung in den früheren Diskussionen über die hierarchischen Verhältnisse der Zeichensysteme in der Oper eher ausgeklammert wurde, ist sie doch einer ihrer konstitutiven Bestandteile, der spätestens mit Adolphe Appias Überlegungen zum dreidimensionalen Bühnenraum in Die Musik und die Inscenierung (1899) auch in den theoretischen Überlegungen zum Musiktheater einen festen Platz innehat. So verschiebt sich dann auch die frühere Grenzlinie um das Primat von Dichtung oder Musik ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Streit um Werktreue und Regietheater, also zu einem Streit, der notierte Musik und gedruckten Text als das eigentliche Werk definiert und eine ästhetisch-normative Grenze zwischen diesem Werk und seiner Inszenierung auf der Bühne zieht. Dieses Verständnis von Musiktheater spiegelt sich auch noch 2007 in Michael Rosenfelds Beitrag “ Regie zwischen Kunst und Geschmacklosigkeit ” , in dem er polemisch fragt: Warum ist der Staat als Träger und Mäzen von Kultur, der Bürger als Hauptsponsor und Steuerzahler nicht berechtigt, klassische Kunstwerke vor den bloß reproduzierenden Künstlern zu schützen? Was würden die Kunsthistoriker und Besucher einer Rembrandtausstellung sagen, wenn unter Hinweis auf die fabelhaften Fähigkeiten der Restauratoren der Veranstalter die Bilder mit flottem Pinselstrich verschönern würden? (Rosenfeld 2007: 115) Der zentrale Grund für die Verschiebung der Kampflinie scheint mir im verstärkten Repertoirebetrieb der Opernhäuser zu liegen: Während die vergangenen Jahrhunderte dadurch geprägt waren, dass die Spielpläne vorwiegend von aktuellen, zeitgenössischen Opern dominiert wurden, wandelt sich die Opernlandschaft nach dem 2. Weltkrieg fundamental. Es etabliert sich ein fester Kanon an Opern, die immer wieder aufgeführt werden und zu denen keine neuen, zeitgenössischen Werke hinzukommen. Dies hat mehrere Konsequenzen: Die Erwartungshaltungen der Rezipierenden sind (i) häufig durch bereits gesehene Inszenierungen einer Oper stark vorgeprägt. Das Regieteam ist (ii) durch die zeitgleiche Koexistenz zahlreicher Inszenierungen einer gleichen Oper gezwungen, eine Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 91 neue Sicht auf das Werk zu entwickeln, die sich deutlich von den anderen Inszenierungen unterscheidet. Dieser Punkt wird weiter durch eine höhere räumliche Flexibilität der Rezipierenden und eine verstärkte mediale Distribution von Operninszenierungen über Fernseh-, DVD-Aufzeichnungen und Angeboten wie die MET live im Kino verschärft. Eine (iii) weitere und meines Erachtens besonders schwerwiegende Konsequenz liegt in den Sujets der Repertoire-Opern, die vornehmlich aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen und bezüglich ihrer Diskurse über Gender, Race und etwas eingeschränkter auch Class aus heutiger Sicht überholt erscheinen. Die musikalische Ebene dieser Opern aus der Klassik und Romantik wird hingegen als meisterhaft und (immer noch) so zeitgemäß empfunden, dass sie weiterhin den Motor der Opern- und Musiktheaterbetriebe bilden. Zudem sind die musikalische Ebene und zumindest die eng mit der Musik verwobenen Textanteile nach wie vor sakrosankt, sodass textliche Adaptionen oder Eingriffe in die syntagmatische Struktur - wie sie in Klassikerproduktionen im Schauspiel weitgehend akzeptiert und unproblematisch sind - in der Oper extrem selten vorgenommen werden und sich meistens nur auf gesprochene Passagen im Singspiel beziehen. Diese Konstellation zwischen Sujet und musikalischer Ebene fordert die Opernschaffenden dementsprechend heraus, quasi als Mittlerinstanz zwischen Musik und Libretto zu agieren, wenn ihre Inszenierungen keinen musealen, sondern einen die Gegenwart verhandelnden Auftrag verfolgen. 4 Genderdiskurs im Musiktheater Anhand des Diskursfeldes Gender möchte ich nun im Folgenden exemplarisch untersuchen, wie gegenwärtig im Opern- und Musiktheaterbetrieb mit den Herausforderungen umgegangen wird, die sich aus der beschriebenen Konstellation der Zeichensysteme für die Inszenierung ergeben. 11 Um die Befunde zur Analyse der Opern und ihrer Inszenierungen besser in einen größeren Kontext einbinden zu können, werde ich zunächst darlegen, welche systemimmanenten Möglichkeiten sich innerhalb der drei für die Oper konstitutiven Bedeutungsebenen bieten, um explizite und implizite Propositionen und Positionen in Bezug auf den Genderdiskurs zu vermitteln. Auf der Ebene des Librettos konzipieren Opern bestimmte Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit durch die Ausgestaltung der Figuren mit spezifischen Merkmalsbündeln und durch die präsentierte Handlung. Dabei ist zu beachten, dass im Sinne Jurij M. Lotmans Texte nicht nur jeweils beispielhaft konkrete Personen repräsentieren, sondern ihnen zugleich auch immer eine mythologische Dimension inhärent ist, durch die sie eine umfassende, allgemeingültige Aussage über das So-Sein von Figuren oder Ereignissen, das So-Sein und So-Handeln von Frauen und Männern treffen (cf. Lotman 4 1993: 300 ff.). Diese Ausgestaltung von Geschlechterkonzeptionen ist dabei auch rückgebunden an die Vorstellungen über Weiblichkeit und Männlichkeit im kulturellen Wissen der jeweiligen Entstehungszeit einer Oper. 12 Transportiert und konturiert werden diese Positionen zunächst über die sprachliche Ebene der Oper: In den Sing- und Sprechtexten artikulieren 11 Analog wäre dies auch für die Diskursfelder Race und Class interessant, kann aber an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zur Frage von kultureller Fremdheit und Race in der Oper cf. u. a. Balme 2002. 12 Zum Begriff des ‘ kulturellen Wissens ’ cf. Titzmann (1989: 47 - 61). 92 Stephanie Großmann (Passau) sich die Propositionen, die die Normen und Werte der dargestellten Welt etablieren und das Handlungsgerüst für die performativen Interaktionen implizieren. Die Musik selbst kann keine Propositionen hervorbringen, da sie über keine sprachäquivalente Bedeutung verfügt (cf. u. a. Mehltretter 2016). Sekundär wirkt sie aber dennoch im Prozess der Bedeutungsgenerierung emotional lenkend mit, da sie durch ihren Wohlklang die literarischen Modelle der Libretti legitimiert und durch ihr affektives Potential die ideologischen Implikationen der sprachlich vermittelten Propositionen rhetorisch-persuasiv überhöht. Diese Konstellation führt - vielleicht etwas überspitzt gesagt - dazu, dass aufgrund der großartigen Musik von Bizet, Mozart und Verdi eigentlich normativ durchaus problematische Opern den Musiktheaterbetrieb dominieren. Auch wenn Musik innerhalb ihrer eigenen Zeichenstrukturen keine direkten Aussagen formulieren kann, ist sie doch sekundär an der Geschlechterkonzeption beteiligt, wenn es beispielsweise darum geht, welche Tonhöhen und welche melodische Wendigkeit und rhythmische Ausgestaltung sie mit den Geschlechtern korreliert. Die Singstimmen werden gewöhnlich in sechs Stimmfächer eingeteilt: für die Frauen Sopran, Mezzosopran und Alt sowie für die Männer Tenor, Bariton und Bass. Dass es sich bei dieser häufig als ‘ natürlich ’ wahrgenommenen klanglichen Dichotomie von ‘ weiblich ’ vs. ‘ männlich ’ allerdings um ein Konstrukt handelt, das nicht nur unser Hören, sondern auch die Benutzung der Stimme entscheidend prägt, zeigt ein Blick in die Geschichte der europäischen Kunstmusik, bei dem sich zahlreiche Gegenbeispiele finden lassen: Männerrollen, die in Alt- und Sopranlage geschrieben sind und auch (aber sehr selten) Frauenbesetzungen in der Tenor- und Baritonlage (cf. Grotjahn 2005: 36). Dies demonstriert einerseits, dass die Singstimmlagen Konstruktionen sind, die normierend eingreifen und Vorstellungen von ‘ natürlicher ’ weiblicher und männlicher Stimme prägen. Andererseits macht dies auch deutlich, dass nicht zu allen Zeiten die Stimmlage als Zeichen von Geschlecht aufgefasst wurde. So ist es in der Barockoper ganz selbstverständlich, dass auch die hohen Stimmfächer von Männern gesungen werden und männliche Rollen in Sopranstimmen notiert sind. Dies war durch den Einsatz von Kastraten oder das Benutzen der Kopfstimme möglich, das sogenannte Falsettieren. Hohe Stimmen sind im Barock Zeichen für Göttlichkeit, Herrschaft und Jugend, nicht für Weiblichkeit. Tiefe Stimmen hingegen sind eher Zeichen einer gealterten Person. So wurde die Rolle der Amme häufig für die Stimmlage Tenor geschrieben (cf. ibid.: 40 f.). Erst mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt sich die klangliche Geschlechterdichotomie in der Oper. Ab da wird sukzessive die Besetzung der hohen Stimmlagen mit Männern als problematisch und unnatürlich wahrgenommen, sodass sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Forderung nach einer Übereinstimmung von Rollengeschlecht und Stimmfach durchsetzt. Das heißt, männliche Helden sind im Tonumfang für Tenor, Bariton oder Bass geschrieben und werden von einem Sänger gesungen. Weibliche Figuren sind im Tonumfang für Sopran, Mezzosopran oder Alt geschrieben und werden von einer Sängerin gesungen (cf. ibid.: 45 f.). Von dieser sprachlichen und musikalischen Zeichenebene des potentiellen Bedeutungsrahmens einer Oper ausgehend entwirft das Regieteam seine visuelle Konkretisierung, die sich selbst auch in Bezug auf eine Geschlechterkonzeption untersuchen lässt. Auf dieser Ebene kann der Genderdiskurs auf ganz vielfältige Weise in die Inszenierung einfließen, sei Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 93 es durch die figurengebundenen Systeme wie Kostüm oder proxemische und kinesische Zeichen, sei es durch die raumgebundenen Systeme wie Bühnenbild und Licht. Der Frage, wie sich Inszenierungen innerhalb des Genderdiskurses positionieren und mit Diskrepanzen zwischen den Bedeutungsebenen Libretto, Musik und Konkretisierung umgehen, 13 möchte ich an zwei konkreten Opernbeispielen nachgehen, die seit Jahrzehnten weltweit zu den meistgespielten Opern überhaupt gehören. Beide führen in der Spielzeit 2011/ 2012 in Deutschland sowohl bezogen auf die Aufführungszahlen als auch auf die Anzahl der Neuproduktionen die Statistik an und beide waren auch in der Spielzeit 2017/ 18 unter den Top Five (cf. Operabase o. J.): Die Zauberflöte (1791) in einer Inszenierung von Barrie Kosky und dem Theaterkollektiv 1927 (Komische Oper Berlin, 2012) und La Traviata in einer Inszenierung von Peter Konwitschny (Oper Graz, 2011). 4.1 Die Zauberflöte (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, Libretto: Emanuel Schikaneder, 1791; Inszenierung: Barrie Kosky und das Theaterkollektiv 1927, 2012) Das 1791 in Wien uraufgeführte deutsche Singspiel Die Zauberflöte kann man einerseits aus einer historisch-geistesgeschichtlichen Perspektive des (Freimaurer-)Mysteriums betrachten, wie sie Jan Assmann in seiner umfassenden und wegweisenden Monografie einnimmt. Bei ihm ist “ die Zauberflöte in ihrer Gesamtheit ein ästhetisiertes, zum Kunstwerk gestaltetes Ritual ” (cf. Assmann 2005: 285). Die zentrale, handlungstreibende Opposition verläuft ihm zufolge zwischen Aberglaube und Wahrheit. Das Sujet lässt sich andererseits aber auch aus einer Genderperspektive betrachten und verkürzt folgendermaßen umreißen: Die Königin der Nacht bittet den jungen Prinzen Tamino ihre von dem Gegenspieler Sarastro entführte Tochter Pamina, in deren Bildnis sich der Prinz unmittelbar verliebt, zu befreien. Zur Unterstützung gibt sie ihm sowohl die titelgebende Zauberflöte als auch ihren Vogelfänger Papageno mit. In Sarastros Reich angekommen merkt Tamino schnell, dass die Beschreibungen der Königin der Nacht nicht der Wahrheit entsprechen, denn Sarastro ist kein Tyrann, sondern ein weiser und gerechter Eingeweihter des Isis-Ordens. Tamino beschließt zusammen mit Papageno, sich den Prüfungen des Tempels zu unterziehen. Nachdem er mit Hilfe der Zauberflöte und in Begleitung von Pamina die Prüfungen bestanden hat, führt Sarastro Tamino und Pamina als Paar zusammen und auch Papageno erringt sich eine ihm ebenbürtige Frau mit Namen Papagena, obwohl er keine der ihm auferlegten Prüfungen bestehen konnte. Die Königin der Nacht will nun selbst Sarastro besiegen und verschafft sich mit Hilfe des Mohren Monostatos, einem abtrünnigen und ebenfalls in Pamina verliebten Aufseher Sarastros, Zutritt zu dessen Burg. Mit den Strahlen der Sonne kann Sarastro jedoch diesen Angriff abwenden und die Eindringlinge vernichten. Schaut man sich das Endergebnis der Zauberflöte an, lässt es sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Königin der Nacht und ihre drei Damen fahren zur Hölle, Pamina und Papagena werden durch Paarbildung an Tamino und Papageno gebunden, der Mohr Monostatos wird zusammen mit der Königin 13 Wie intermediale Diskrepanzen zwischen den Zeichensystemen in der Oper zu Rückkopplungseffekten von einem Zeichensystem auf ein anderes führen können, habe ich in einem Beitrag zu den Inszenierungen von Calixto Bieito untersucht (cf. Großmann 2010). 94 Stephanie Großmann (Passau) der Nacht getilgt, nachdem er sich von Sarastro abgewandt hat, und Sarastros umfassender Herrschaftsanspruch wird legitimiert. Bezogen auf die Genderkonzeption stehen hier also die Figuren Sarastro und die Königin der Nacht im Fokus der Betrachtung. In der Tiefenstruktur der Zauberflöte repräsentiert die Königin der Nacht den semantischen Raum einer negativ konnotierten Weiblichkeit. Sie wird mit Hass, Rache und Emotionalität korreliert und repräsentiert zugleich das Paradigma ‘ Aberglauben ’ . Sie handelt ausschließlich egozentriert, ist machtgierig und versucht andere durch Manipulation zu ‘ überzeugen ’ . Außerdem ist sie dem Bereich der Nacht und der Dunkelheit zugeordnet. Sie vertritt eine falsche Ordnung, die sich durch Lasterhaftigkeit auszeichnet. In Opposition zu ihr steht der von Sarastro repräsentierte semantische Raum einer als positiv gesetzten Männlichkeit. Als zentrale Werte werden diesem Raum Tugendhaftigkeit, Rationalität, Vertrauen in eine höhere Ordnung - hier dargestellt durch den Isis-Kult - und Vergebung zugewiesen, sowie das Paradigma ‘ Wahrheit ’ . Ganz im Sinne der Aufklärung wird dieser Raum durch die Merkmale Tag und Licht positiv aufgeladen. Diese als richtig gesetzte Ordnung siegt nicht mittels brutaler Gewalt und manipulativer Verführung, sondern setzt sich durch Einsicht und Eingeweihtwerden durch. 14 Die die Handlung initiierende Grenzüberschreitung in der Zauberflöte liegt zeitlich vor der dargestellten Handlung und wird in einem Gespräch zwischen der Königin der Nacht und ihrer Tochter Pamina nachgeliefert: 15 KÖNIGIN [. . .] Mit deines Vaters Tod ging meine Macht zu Grabe. PAMINA Mein Vater - KÖNIGIN Übergab freiwillig den siebenfachen Sonnenkreis den Eingeweihten; diesen mächtigen Sonnenkreis trägt Sarastro auf seiner Brust. - Als ich ihn darüber beredete, so sprach er mit gefalteter Stirne: “ Weib! meine letzte Stunde ist da - alle Schätze, so ich allein besaß, sind dein und deiner Tochter. ” - “ Der alles verzehrende Sonnenkreis ” , fiel ich ihm hastig in die Rede - “ ist den Geweihten bestimmt ” , antwortete er: “- Sarastro wird ihn so männlich verwalten, wie ich bisher. - Und nun kein Wort weiter; forsche nicht nach Wesen, die dem weiblichen Geiste unbegreiflich sind. - Deine Pflicht ist, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen. ” PAMINA Liebe Mutter, nach allem dem zu schließen, ist wohl auch der Jüngling auf immer für mich verloren. KÖNIGIN Verloren, wenn du nicht, eh die Sonne die Erde färbt, ihn durch diese unterirdische Gewölber zu fliehen beredest. - Der erste Schimmer des Tages entscheidet, ob er ganz Dir oder den Eingeweihten gegeben sei. 14 Zur Modellierung von Texten mit der Lotmanschen Grenzüberschreitungstheorie cf. Lotman ( 4 1993: 311 ff.) und Krah ( 2 2015: 186 ff.). 15 Zur Divergenz von fixiertem und realisiertem Librettotext in der Oper, im Speziellen auch zu dieser Stelle in der Zauberflöte, cf. Kanzog (1991: 11 ff.). Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 95 PAMINA Liebe Mutter, dürft ich den Jüngling als Eingeweihten denn nicht auch ebenso zärtlich lieben, wie ich ihn jetzt liebe? - Mein Vater selbst war ja mit diesen weisen Männern verbunden; er sprach jederzeit mit Entzücken von ihnen, preiste ihre Güte - ihren Verstand - ihre Tugend. - Sarastro ist nicht weniger tugendhaft. - - (Mozart 2014: 47, Hervorhebungen S. G.) Das Streben der Königin nach einer ihr als Frau nicht zustehenden männlichen Macht - zeichenhaft repräsentiert durch den siebenfachen Sonnenkreis - stellt somit die zentrale Grenzüberschreitung im Librettotext der Zauberflöte dar. Dass es sich hier um die Verletzung einer als natürlich gesetzten Grenze handelt, wird dadurch deutlich, dass die Königin als Repräsentantin der Nacht selbst als Figur in Opposition zum Zeichen der Macht - dem Sonnenkreis - steht. Aus dem Textauszug wird zugleich deutlich, warum Pamina aus der dargestellten Welt nicht getilgt werden muss: Sie erkennt die tugendhafte Überlegenheit der Männer an und ordnet sich ihr unter. So glückt dann auch ihre Paarbildung mit Tamino, nachdem sie bereit ist, dem Jüngling nicht nur ihr Herz, sondern auch ihr Leben opfern. Die im Librettotext der Zauberflöte etablierte oppositionelle Genderkonzeption wird auch von der Ebene der Musik aufgegriffen und gestützt. Die beiden Arien der Königin der Nacht “ O, zittre nicht, mein lieber Sohn ” (1. Aufzug, Nr. 4 - Rezitativ und Arie) und “ Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen ” (2. Aufzug, Nr. 14 - Arie) zeichnen sich durch ihre extrem hohen Spitzentöne (bis zum dreigestrichenen f ) und weitläufige Koloraturen aus. Musikalisch ist die Königin höchst impulsiv, expressiv und dominierend ausgestaltet, so dass ihre Arien - gerade, wenn sie von einer nicht extrem versierten Sängerin gesungen werden - fast schon in ein Kreischen übergehen. Catherine Clément erkennt in dieser Ausdrucksweise etwas, das in höchstem Maße dem Konstrukt der Weiblichkeit zugesprochen wird: “ Die Königin der Nacht ist die einzige, die sich musikalisch in einer unhaltbaren Lage ausdrückt [. . .]; sie singt die Sprache des reinen Affekts, jenseits der Worte, an die der Sinngehalt gebunden ist [. . .]; es ist der Gesang der Weiblichkeit ” (cf. Clément 1994: 137). Sarastros Partie hingegen zeichnet sich durch eine extrem tiefe Lage (bis zum großen F) und bedächtige Tempi aus. Seine Arie “ In diesen heil ’ gen Hallen ” (2. Aufzug, Nr. 15 - Arie) weist keine großen Intervallsprünge auf und vermittelt durch das Fehlen jeglicher Chromatik eine große Ruhe und Seriosität. In der Zauberflöte, die Barrie Kosky zusammen mit der britischen Theatergruppe 1927 an der Komischen Oper Berlin im Jahr 2012 erarbeitete, konstituiert sich die dargestellte Welt im Format eines Stummfilms. Der Bühnenraum beschränkt sich auf wenige Meter hinter dem Bühnenvorhang und ist nach hinten hin durch eine weiße Wand begrenzt, die als Projektionsfläche dient. Das gesamte Bühnenbild sowie auch ein Großteil der Bewegungen der Figuren sowie ihre Kostüme werden durch filmische Projektionen ersetzt. Die gesprochenen Texte des Singspiels werden gänzlich in schriftliche Zwischentitel überführt und die Zauberflöte scheint hier als Ganzes im Medium Film aufzugehen. Die Figur der Königin der Nacht ist dabei in dieser Produktion folgendermaßen konzipiert: Durch das Zusammenspiel von Kostüm, Maske und die Projektion auf eine so genannte Opera- Projektionsfolie erscheint sie als Spinne, als schwarze Witwe, die überdimensional den gesamten Bühnenraum beherrscht und Tamino zwischen ihren acht Beinen einsperrt (s. Abb. 1). Durch diese Form der Konkretisierung wird sie mit den Merkmalen ‘ heimtückisch ’ , 96 Stephanie Großmann (Passau) ‘ bedrohlich ’ und ‘ todbringend ’ korreliert. Dieser Aspekt der Todesnähe wird dann im weiteren Verlauf der Inszenierung weiter expliziert, indem die Königin der Nacht während ihrer Rachearie als “ La Mort ” auf einer Tarotkarte erscheint, von der aus sie zwei Exemplare der Tarotkarten “ L ’ Amoureux ” mit Blut bespritzt und damit zeichenhaft die darauf sich befindenden beiden Paare Tamino und Pamina sowie Papageno und Papagena ermordet. Sarastros Reich hingegen wird durch die Projektionen einer Konstruktionszeichnung sowie eines gigantischen Kopfes dargestellt. Durch die Schrift im Kopf werden die Tugenden, die das männlich dominierte Sonnenreich auszeichnen, benannt: “ Wahrheit ” , “ Klugheit ” , “ Kunst ” , “ Arbeit ” und “ Weisheit ” . Indem diese Tugenden innerhalb des Kopfes situiert sind und hier alle Funktionen antreiben, erscheinen sie zum einen als mit dem Denken, der Ratio, verbunden und zum anderen als Merkmale, die das männliche Wesen allumfassend steuern. Männlichkeit wird hier also mit Wissenschaft und Präzision korreliert und alles Emotionale, Triebhafte scheint per se ausgeschlossen, da die projizierte Darstellung allein aus einem Kopf besteht und eines Körpers nicht bedarf. Sarastro selbst tritt dann auf einem weißen Elefanten reitend auf, der die Schriftzüge “ Weisheit ” und “ Gerechtigkeit ” trägt und selbst mechanisch angetrieben zu sein scheint. Durch sein Kostüm - schwarzer hoher Zylinder, schwarzer Anzug mit langem Gehrock und langer Bart - wird er als eine kultivierte menschliche Person dargestellt, wohingegen die Königin der Nacht nie als menschliche Gestalt erscheint. In ihrer Polarität des Weiblichen und Männlichen lässt sich für diese Inszenierung konstatieren, dass die semantischen Schnittstellen zwischen dem potentiellen Bedeutungsrahmen durch das Libretto und die Musik der Zauberflöte und der hier untersuchten Konkretisierung in der Tat breit sind: So werden ‘ Weiblichkeit ’ und ‘ Männlichkeit ’ mit der Opposition ‘ Aberglaube ’ vs. ‘ Wahrheit ’ korreliert und damit einerseits als Esoterik und Animalismus sowie andererseits als Präzision und Technik aktualisiert und ausgedeutet. Die Umsetzung der Oper vorwiegend mit den Mitteln des Films, die durchaus spektakuläre Bilder hervorbringt, wird aber selbst auf einer Metaebene für die strukturellen Schnittstellen zwischen den musiktheatralen Zeichenebenen fruchtbar gemacht. Denn das Ende der Oper bildet eine ganz eigene, selbstreflexive Argumentation über das Verhältnis von Libretto, Musik und Konkretisierung: In dem Moment, in dem die Königin der Nacht besiegt wird, beginnt der Film zu stocken und zeigt im Schnelldurchlauf noch einmal einzelne Stationen der Geschichte. Die Ablaufgeschwindigkeit des Zelluloidstreifens scheint gestört und die Einzelbilder des Filmes sowie deren Übergänge und die seitliche Perforation sind zu erkennen, bis schließlich der Film verschmort und die Konkretisierung damit explizit ihre eigene Medialität reflektiert. 16 Über den Umweg der Intermedialität Abb. 1: Darstellung der Königin der Nacht in Koskys Zauberflöte (Berlin 2012, © Iko Freese / drama-berlin.de) 16 Obwohl die Konkretisierung durch die dominierende filmische Umsetzung zunächst in ihrer Machart sehr modern wirkt, knüpft die Gestaltung als Stummfilm (v. a. indiziert über die die Rede ersetzenden Zwischentitel) auch an einen Diskurs des Veralteten und Überkommenen an, in dessen Spannungsverhältnis die Oper als Medium damit ebenfalls gestellt wird. Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 97 indiziert das Verschmoren des die dargestellte Welt konstituierenden Filmstreifens zum einen eine mediale Materialität der performativen Aufführung und zum anderen zugleich eine Zerstörung der Konkretisierungsebene der Oper. Im Bild einer konzertanten Aufführungssituation bleibt am Ende allein die musikalisch-sprachliche Ebene übrig, die sich nun quasi selbst gegen das System Oper wendet, dem sie selber angehört: “ Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, Zernichten der Heuchler erschlichene Macht. [. . .] Es siegte die Stärke/ Und krönet zum Lohn/ Die Schönheit und Weisheit/ Mit ewiger Kron! ” (Mozart 2014: 72). Dass hierbei die als negativ konnotierte Nacht nicht allein die Konkretisierungsebene meint, sondern die gesamte dargestellte Welt mit all ihren sich durch Sprache konstituierenden Propositionen und Implikationen, und sich die positiv konnotierten “ Strahlen der Sonne ” ausschließlich auf die musikalische Ebene beziehen, wird dadurch deutlich, dass ganz am Ende schließlich Noten wie Feenstaub auf die Chorsänger herniederregnen (s. Abb. 2). Das Schlusstableau deutet zugleich tendenziell auch eine Auflösung oder zumindest eine Abschwächung der Genderkonstellation an; denn Frauen und Männer stehen sich gleichberechtigt gegenüber. Ihre Kleidung markiert mit Anzug und Fliege einerseits und Kleid, Strumpfhose und weißem Kragen andererseits zwar eine Geschlechterdichotomie, aber die hierarchischen Unterschiede des potentiellen Bedeutungsrahmens sind überwunden. 4.2 La Traviata (Musik: Giuseppe Verdi, Libretto: Francesco Maria Piave, 1853; Inszenierung: Peter Konwitschny, 2011) Die italienische Oper La Traviata feierte 1853 in Venedig ihre Premiere. Bereits der Titel ist in Bezug zur Genderthematik bedeutsam, heißt er doch übersetzt ins Deutsche “ Die vom Weg Abgekommene ” . Zentrale Figur der auf dem Roman La dame aux camélias (1848) von Alexandre Dumas d. J. basierenden Handlung ist Violetta, die als Kokotte die Semantiken ‘ Promiskuität ’ und ‘ Prostitution ’ verkörpert. Ihre Liebe zum Studenten Alfredo bewegt sie zur Abkehr von ihrem bisherigen Leben und sie bereut ihre ausschweifende Vergangenheit. Die Verbindung der beiden wird jedoch durch Alfredos Vater getrennt, der um den Ruf seiner Familie fürchtet. Einsichtig und verständnisvoll kehrt Violetta als Kurtisane zurück nach Paris, wo sie schließlich an Tuberkulose stirbt, 17 nicht ohne zuvor Alfredo und seinem Vater zu verzeihen, die ihr Unrecht auch erkennen, aber letztendlich geläutert aus dem Verlust Violettas hervorgehen. In ihrem die Oper schließenden Abgesang wünscht Violetta dem von ihr geliebten Alfredo eine rosige Zukunft: “ Se una pudica vergine/ Degli anni suoi Abb. 2: Tilgung in Koskys Zauberflöte (Berlin 2012, © Iko Freese / dramaberlin.de) 17 Aus der 1836 publizierten wissenschaftlichen Abhandlung des Pariser Gesundheitsrates Parent du Châtelet mit dem Titel Die Sittenverderbnis des weiblichen Geschlechts in Paris unter Napoleon I. geht hervor, dass die Krankheit Tuberkulose oder Schwindsucht im 19. Jahrhundert durchaus im Zusammenhang mit Prostitution gesehen wurde (cf. Parent-Duchâtelet 1913: 80 und 447). 98 Stephanie Großmann (Passau) nel fiore/ A te donasse il core . . ./ Sposa ti sia . . . lo vo ’” (Verdi 2017: 100). 18 Über die Verbindung mit einer solchen als Gegenmodell zu ihrer eigenen Person konzipierten “ keuschen Ehefrau ” wird sie dann als Engel aus dem Himmel wachen. Das Libretto zeichnet damit ein Weltmodell, das sich in die semantischen Räume ‘ Promiskuität ’ und ‘ monogame Liebe ’ gliedern lässt, wobei ersterer topographisch im städtischen Raum Paris verortet ist und mit ausschweifenden Festen und nächtlicher Halbwelt korreliert und zweiterer topographisch mit der ländlichen Region und semantisch mit Rückzug und bürgerlichem Leben. Die Grenzziehung zwischen den beiden semantischen Räumen ist geschlechtsspezifisch gestaltet, gilt sie doch im Kontext der dargestellten Welt nur für die Frauenfiguren, wie exemplarisch an Violetta und Alfredo vorgeführt wird. Für die männlichen Figuren stellt der semantische Raum ‘ Promiskuität ’ einen Transitraum dar, den sie, ihre Zukunft unbeschadet lassend, in der Jugend passieren dürfen, um Erfahrungen zu sammeln, um dann geläutert dauerhaft in den semantischen Raum ‘ monogame Liebe ’ überzuwechseln. Für die weiblichen Figuren hingegen setzt der Text, dass zumindest eine Grenzüberschreitung von der Promiskuität zur monogamen Liebe sich nicht dadurch lösen lässt, dass die Figur dauerhaft in diesem Feld verbleibt und die Merkmale des semantischen Raumes annimmt, also zur legitimen, bürgerlichen Ehefrau werden kann. Denn die dargestellte Welt konzipiert den semantischen Raum ‘ monogame Liebe ’ nicht allein durch die Gefühlsebene, sondern bindet ihn normativ zugleich eng an eine Konzeption von Familie und Familienehre, die maßgeblich durch die Frage der Adäquatheit geregelt wird. Für die Figur Violetta bedeutet dies, dass sie zwar hinsichtlich der Gefühlsebene ganz authentisch im semantischen Raum ‘ monogame Liebe ’ aufgehen kann, aber stigmatisiert durch ihre Vergangenheit unter keinen Umständen eine adäquate Partnerin für den bürgerlichen Alfredo darstellt. Als erste ordnende Norminstanz tritt Alfredos Vater Germont auf, der mit dem Argument, Violetta gefährde das eheliche Glück seiner Tochter, wenn sie sich nicht von Alfredo löse, Violetta dazu bewegen kann, in ihren Ausgangsraum ‘ Promiskuität ’ zurückzukehren. Eine vermeintliche weibliche Solidarität ist also die Motivation, mit der implizit die Regel der dargestellten Welt, dass weiblichen Figuren nur in einer nie in Frage gestellten kontinuierlichen Situation der Ehrhaftigkeit endgültig im semantischen Raum ‘ monogame Liebe ’ aufgehen können, als auch von Violetta internalisierte Norm präsentiert wird. Die nahezu perfide Argumentationsstruktur, die sich in Germonts anteilnehmendem Ausruf “ Ah, il passato perché, perché v ’ accusa? ” (cf. Verdi 2017: 40) 19 äußert, versucht zwar auf der Textoberfläche die männlichen Figuren zu entlasten, indem sie präsupponiert, dass diese gesellschaftlichen und sozialen Regeln losgelöst von den persönlichen Überzeugungen existieren und die bürgerlichen Figuren quasi dazu gezwungen sind, diese Regeln einzuhalten oder durchzusetzen, selbst wenn sie Sympathie für die Ausgegrenzten empfinden. In der Tiefenstruktur des Textes repräsentieren und konstituieren die männlichen, bürgerlichen Figuren aber selbst genau diese Norm. 18 “ Wenn eine keusche Jungfrau/ in der Blüte ihrer Jahre/ dir ihr Herz schenken sollte . . ./ soll sie deine Ehefrau sein . . . ich will es so ” (Verdi 2017: 101). 19 “ Ach, Eure Vergangenheit, warum nur macht sie Euch zur Angeklagten? ” (cf. Verdi 2017: 41). Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 99 Des Weiteren begünstigt die dargestellte Welt die männlichen Figuren auch auf anderen Ebenen. So ist die Kurtisane nicht aus sich heraus fähig, zu wahrer Liebe und Gefühlstiefe zu finden. Es bedarf vielmehr erst des richtigen Partners, der als Katalysator für diese Entwicklung fungiert. Zugleich vollzieht auch der Mann schließlich die Degradierung der Frau aus dem semantischen Raum ‘ monogame Liebe ’ ; denn Alfredo bezahlt Violetta rückwirkend für die gemeinsame Zeit auf dem Land, nachdem diese ihn erklärungslos verlassen hat, um seine und die Zukunft seiner Schwester zu schützen: “ Da tanta macchia bramo . . ./ Qui testimon vi chiamo/ Che qui pagata io l ’ ho ” (cf. Verdi 2017: 76). 20 Damit deutet er die aufrichtige Liebe Violettas um und macht sie zur Prostituierten (cf. auch Clément 1994: 123). Neben der ersten normativ ordnenden Instanz der Väter führt der Text noch eine zweite, höherrangige Instanz ein. Denn Alfredo und Germont sehen ihre Bewertung der Figur Violetta schließlich als ungerecht ein. Indem Violetta die gesellschaftlichen Normen anerkennt und bereit ist, all deren Last auf sich zu nehmen - also Alfredo zu verlassen, ohne sich zu erklären - kann ihr zumindest potentiell der Zugang zum semantischen Raum ‘ monogame Liebe ’ und ein Platz in der Familie von Germont gewährt werden. Dies wird schlussendlich aber durch ihre Krankheit und ihren Tod verhindert. Im Kontext der dargestellten Welt wäre es die Instanz Gott, die über Leben und Tod entscheidet und in der Tiefenstruktur die gesetzte Ordnung aufrechterhält, indem er Violetta an Schwindsucht sterben lässt. Dies wird implizit auch sprachlich angedeutet, wenn Alfredo nach seiner Rückkehr zu Violetta äußert: “ Null ’ uomo o demone, angelo mio,/ Mai più staccarti potrà da me ” (cf. Verdi 2017: 94). 21 Damit wird auch retrospektiv die Figurenperspektive Violettas infrage gestellt, die mehrfach argumentiert, dass Gott ihr zwar verziehen habe und nur die Gesellschaft dies nicht könne ( “ [Il passato, S. G.] Più non esiste . . . or amo Alfredo, e Dio/ Lo cancellò col pentimento mio ” (cf. Verdi 2017: 40) 22 und “ Così alla misera - ch ’ è un dì caduta,/ Di più risorgere - speranza è muta! / Se pur beneficio - le indulga Iddio,/ L ’ uomo implacabile - per lei sarà ” (cf. Verdi 2017: 44) 23 ). Peter Konwitschny wählt für seine 2011 an der Oper Graz konzipierte La Traviata eine Inszenierungsstrategie, mit der er die Protagonistin Violetta ins Zentrum seiner Betrachtung rückt. Das Bühnenbild besteht aus mehreren hintereinander gehängten Vorhängen, die in ihrer farblichen und materiellen Gestaltung mise-en-abyme das Kostüm Violettas repräsentieren - ein dunkelrotes Kleid über einem schwarzen Unterkleid (s. Abb. 3). Diese Korrelation der die Sicht begrenzenden Vorhänge und der Kleidungsschichten Violettas etabliert einen indexikalischen Kode, der darauf verweist, wie nah sich das Dargestellte an dem Wesenskern der Person befindet. Durch diese Strategie hierarchisiert die Inszenierung einzelne Szenen und Aussagen der Figur in gesellschaftlich erzwungene, gespielte Rollen - 20 “ Von diesem Schandfleck/ will ich mich reinwaschen . . ./ Als Zeugen rufe ich euch auf,/ daß [sic] ich sie hier bezahlt habe ” (cf. Verdi 2017: 77). 21 “ Kein Mensch oder Dämon, mein Engel,/ kann mich jemals wieder von dir trennen ” (cf. Verdi 2017: 95). 22 “ Sie [die Vergangenheit, S. G.] existiert nicht mehr . . . jetzt liebe ich Alfredo,/ und Gott tilgte sie, weil ich bereute ” (cf. Verdi 2017: 41). 23 “ So gibt es für die Elende - die eines Tages gefallen ist - / keine Stimme der Hoffnung, sie jemals wieder aufzurichten! / Wenn ihr auch Gott barmherzig vergeben hat,/ zeigt sich ihr der Mensch doch unerbittlich ” (Verdi 2017: 45). 100 Stephanie Großmann (Passau) Violetta schließt die Vorhänge - und echte, authentische Momente, in denen Violetta ihr Inneres preisgibt - sie öffnet die Vorhänge Schicht um Schicht (s. Abb. 4). Des Weiteren verweisen die Vorhänge auf das erzwungen promiskuitive Leben der Kurtisane; denn die gesamte Pariser Gesellschaft kann sich ungehindert ihren Weg durch die Vorhangschichten bahnen, kann Violetta zeichenhaft unter den Rock kriechen. Abb. 3 und 4: Korrelation von Kleid und Bühnenbild in Konwitschnys La Traviata (Graz 2011) Im zweiten Akt der Oper, nachdem Violetta Alfredo auf Bitten seines Vaters hin verlassen hat, um der bürgerlichen Existenz der Familie nicht im Wege zu stehen, konfrontiert Alfredo Violetta in der Pariser Demimonde mit seiner Eifersucht und bezahlt sie nachträglich in aller Öffentlichkeit für ihre Liebesdienste. In der Grazer Inszenierung reißt Alfredo zunächst die Vorhänge herunter, entkleidet Violetta also zeichenhaft gewaltsam in der Öffentlichkeit, um sie dann anschließend im Tumult der Menge und der umherliegenden Vorhangstücke zu vergewaltigen. Im letzten Akt sind dann alle vorderen roten Vorhänge verschwunden, nur noch ein letzter schwarzer Vorhang begrenzt die Bühne nach hinten hin und Violetta ist mit einem schwarzen Negligé bekleidet (s. Abb. 5). Im Moment ihres Sterbens öffnet sich dieser letzte Vorhang und Violetta geht nach hinten in das Dunkel des Bühnenraums. Abb. 5 und 6: Relation Zuschauerraum - Bühne in Konwitschnys La Traviata (Graz 2011) Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 101 Zeichenhaft verweist die Inszenierung folglich darauf, dass mit dem Tod alle gesellschaftlichen und sozialen Rollenvorstellungen abgelegt werden, dass Violetta sich im Tod in ihrer eigenen, authentischen Individualität auflöst. Dies mag vielleicht zunächst sehr harmonisierend und poetisch anmuten, aber die Inszenierung birgt eine zweite, selbstreflexive Leseebene mit deutlicher Sprengkraft für das Verhältnis zwischen Rezipierenden und Werk. Denn die Vorhänge referieren nicht nur innerhalb der dargestellten Welt auf die Nähe und Distanz der Figur Violetta, sondern zugleich auch auf den äußeren Rahmen, der die Zuschauer von der Oper trennt - den äußeren Bühnenvorhang, der in Graz ebenfalls die gleiche dunkelrote Farbe hat; sie markieren also die performative Schnittstelle zwischen Werk und Rezipierenden. Implizit macht sich das Publikum der Traviata also zumindest des Voyeurismus schuldig, indem es sich genauso an dem Leiden Violettas ergötzt wie die Pariser Gesellschaft in der dargestellten Welt. Forciert wird diese Leseebene dadurch, dass am Ende der Oper Alfredo, sein Vater Giorgio Germont und zwei weitere Figuren Violettas Sterben aus dem Zuschauerraum mitverfolgen und der Orchestergraben das unüberbrückbar trennende Elemente zwischen ihnen und Violetta darstellt (s. Abb. 6). Homolog verwehrt die hoch emotionale Komposition Verdis ein ernsthaftes, empathisches Verständnis der Rezipierenden für die Protagonistin: Die Traviata anzuschauen - so scheint die Argumentation der Inszenierung zu sein - heißt auch zugleich sie zu vergewaltigen. 5 Fazit und Modellbildung zur Schnittstelle Diese zwei Beispiele, die um zahlreiche weitere ergänzt werden könnten, verdeutlichen, dass die Inszenierungsstrategien im Musiktheater vornehmlich mit den Mitteln der Selbstreflexivität arbeiten, um problematische Genderkonzeptionen auf der Ebene des Librettos umzudeuten oder explizit auszustellen. Diese Selbstreflexivität geht in den gezeigten Beispielen von der Ebene der Konkretisierung aus und kann dann sekundär das Libretto und die Musik in ihren Dienst stellen, um zu Umkodierungen auf diesen Ebenen zu führen, die letztendlich alle darauf abzielen, innerhalb der Aufführungssituation die Verwobenheit und gegenseitige Einflussnahme der beteiligten Informationskanäle, Zeichensysteme und Bedeutungsebenen zu markieren und auch das Verhältnis zwischen Werk und Rezipierenden zu problematisieren. Die Zauberflöte von Kosky und 1927 fokussiert dabei stärker auf strukturelle Schnittstellen, indem sie die einzelnen Bedeutungsebenen und ihre Zeichensysteme hierarchisiert und am Ende die Musik ‘ gewinnen ’ lässt. Zugleich eröffnet die Inszenierung auch eine metareflexive Ebene, denn sie greift nicht nur auf die drei konstituierenden Bedeutungsebenen Libretto, Musik und Konkretisierung zurück. Vielmehr überführt sie die Ebene der Konkretisierung fast gänzlich in das Medium Film. Durch diese Strategie wird einerseits die performative Ebene der Oper ein wenig geschont, da nicht sie am Ende in sich zusammenfällt, sondern auf den verschmorenden Film ausgelagert wird, also auf ein sich von der Performativität der Oper abhebendes, eher persistentes Medium. Andererseits stellt die Inszenierung damit auch eine hohe Aneignungsfähigkeit und eine (inter-)mediale Überlegenheit der Ebene Konkretisierung gegenüber dem Film heraus. Sie etabliert einen Diskurs über die medialen Bedingtheiten und Konstitutionen performativer Kunst in Relation zum trägergebundenen, materiellen Film, wobei im ausgehandelten 102 Stephanie Großmann (Passau) Kräfteverhältnis zwischen Oper und Film der Film implizit zur Illusionswelt degradiert und umgekehrt die Oper als wahrhaftig nobilitiert wird. Konwitschnys Traviata funktionalisiert dagegen besonders die performative Schnittstelle zwischen Publikum und Bühne. Seine Inszenierung integriert die Zuschauenden in das Konzept der dargestellten Welt auf der Ebene der männlichen Figuren und damit auch eines männlichen, voyeuristischen Blicks, 24 isoliert vom Weiblichen auf der Bühne, abgetrennt durch den Orchestergraben und damit auch durch die Musik, wodurch auf einer Metaebene eine Reflexion über das Verhältnis von Werk und Rezipierenden angestoßen wird. Durch die Kostüme mit großem Gegenwartsbezug macht die Inszenierung außerdem auch die temporale Schnittstelle fruchtbar, denn diese Traviata erzählt keine Geschichte aus einer zurückliegenden Vergangenheit, wie es das Libretto suggeriert, 25 sondern holt sie in die performative Gegenwart des Aufführungszeitpunktes und thematisiert damit explizit auch die dem Libretto inhärenten genderspezifischen Normen und Werte als aktuelle Problemkomplexe. Gerade durch die Ko-Präsenz von Rezipierenden, Sängerinnen und Sängern und Darstellenden können performative Künste einen hohen Wirklichkeitsanspruch generieren und Distanzierungsstrategien, wie sie in der Literatur vorzufinden sind, werden ausgehebelt. Im Musiktheater werden diese Unmittelbarkeit und kommunikative Präsenz noch weiter durch die Musik und ihre emotionalisierenden Eigenschaften forciert: So, wie die musikalische Ebene einerseits die zahlreichen Inszenierungen und kontinuierlichen Aufführungen der Opern von Mozart und Verdi rechtfertigt, genauso wird sie in Bezug auf den potentiellen Bedeutungsrahmen dann auch zum Problem, da sie eine kritische Auseinandersetzung mit den im Librettotext verhandelten Werten und Normen zumindest erschwert, wenn nicht gar verhindert. An dieser Stelle kann dann die Konkretisierung eingreifend wirken, indem sie das Libretto mit ihren Mitteln kontextualisiert und tragbar macht. Sie tut dies - so lässt sich sowohl für die hier vorgestellten Beispiele als auch für viele weitere aktuelle Produktionen zusammenfassen - dadurch, dass sie die Opern durch einen impliziten, äußeren Rahmen präsentiert: Diese Inszenierungen versuchen die Stücke nicht als Geschichten der Unterdrückung zu erzählen, sondern als Geschichten über die Geschichte(n) der Unterdrückung. Ein probates Mittel dafür ist die Durchbrechung der vierten Wand, die Ausweitung der Handlung auf den Zuschauerraum, sodass die performative Schnittstelle einen erweiterten normativen Verhandlungsraum zwischen Publikum und Bühne eröffnet. 24 La Traviata - wie im Übrigen auch die ebenfalls zu den meistgespielten Opern zählende Carmen von Bizet - sind Adaptionen literarischer Texte, die sich durch eine spezifische Erzählweise auszeichnen, die für den Genderdiskurs ebenfalls relevant ist. Die Referenztexte La dame aux camélias (1848) von Alexandre Dumas d. J. und Prosper Mérimées Novelle Carmen erzählen beide aus der Perspektive einer autodiegetischen Erzählinstanz. Sie konzipieren eine mehrfach geschachtelte Rahmung, die einen mehrfach kodierten männlichen Blick auf die Binnenhandlungen um die Frauenfiguren installiert und deren Geschichte retrospektiv erzählt. In beiden Opernadaptionen fallen diese Rahmungen weg und durch den performativen Charakter einer Aufführung wird eine Unmittelbarkeit der Handlung weiter forciert. Zum ‘ potentiellen Bedeutungsrahmen ’ der Oper Carmen cf. Großmann 2019. 25 Ursprünglich situierte das Libretto die Diegese zeitnah am Entstehungszeitpunkt der Oper. Die Handlung wurde dann aber aufgrund starker Kritik in die Mitte des 18. Jahrhunderts vorverlegt und so dann erst erfolgreich (cf. Schreiber 3 2002: 617 ff.). Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 103 Bibliographie Appia, Adolphe 1899: Die Musik und die Inscenierung, München: Bruckmann Assmann, Jan 2005: Die Zauberflöte. 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Musikalische Leitung: Henrik Nánási, Orchester und Chor der Komischen Oper Berlin, Animation: Paul Barritt, Bühne und Kostüme: Esther Bialas, Pamina: Maureen McKay, Tamino: Peter Sonn, Königin der Nacht: Beate Ritter, Sarastro: Christof Fischesser, Papageno: Dominik Köninger, Papagena: Ariann Strahl, Monostatos: Tansel Akzeybek, Drei Damen: Ina Kringelborn, Karolina Gumos, Maija Skille, Zwei geharnischte Männer: Christoph Späth, Carsten Sabrowski, Drei Knaben: Nicolas Brunhammer, Constantin Schmidt, Julian Mezger Verdi, Giuseppe / Piave, Francesco Maria / Konwitschny, Peter 2011: La Traviata. Oper in drei Akten. Oper Graz: Arthaus Musik 2011. Musikalische Leitung: Tecwyn Evans, Grazer Philharmonisches Orchester und Chor, Bühne und Kostüme: Johannes Leiacker, Violetta Valery: Marlis Peterson, Flora Bervoix: Kristina Antonie Fehrs, Annina: Fran Lubahn, Alfredo Germont: Giuseppe Varano, Giorgio Prima la musica, poi le parole e poi la scenografia? 105 Germont: James Rutherford, Gastone: Taylan Memioglu, Barone Douphol: Ivan Orescanin, Marchese d ’ Obigny: David McShane, Dottor Grenvil: Konstantin Sfiris Internetquellen Operbase (o. J.): Operabase - die Referenz für Opernaufführungen weltweit, im Internet unter https: / / www.operabase.com/ statistics/ de [27. 01. 2020] UNESCO Onlineportal (ed.) 2018: Nominierung der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft für die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes in Paris eingereicht, im Internet unter https: / / www. unesco.de/ kultur-und-natur/ immaterielles-kulturerbe/ immaterielles-kulturerbe-weltweit/ nominierung-der [27. 01. 2020] 106 Stephanie Großmann (Passau) K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” - Schnittstellen von Film, Literatur und bildender Kunst in Edgar Reitz ’ Cardillac (1969) im Kontext des Autorenfilms der 1960er Jahre Dennis Gräf (Passau) The German ‘ Autorenfilm ’ of the 1960 s tries to establish a new kind of film art and a new way of speaking artistically about film art in a self-reflexive way. The goldsmith Cardillac in Edgar Reitz ’ eponymous film (1969) - in his own estimation an artist of greatest skill - steals back his previously sold jewellery from customers, who he then kills subsequently. Cardillac ’ s conception of art is arguably antiquated in several ways. For one, he rejects any kind of development in his way of creating art. Secondly, he tries to attain perfection in his own art, which carries it to unmatched heights. At the same time, this spells out the end of his art as in his eyes there is no way of creating artworks of higher filigree. The function of Cardillac ’ s outmoded character is to argue for a new creative kind of developing art - very much like the film itself strives to be. The several interfaces the film installs mark this intention by showing a certain need for change in the ideological and aesthetical conceptions of what art could be in the 1960 s. 1 Die 1960er Jahre und die Schnittstellen Der Begriff der Schnittstelle, der hier u. a. im Zusammenhang mit Phänomenen der Intermedialität (cf. Rajewski 2002) steht, lässt sich heuristisch fruchtbar auf die Kunstproduktion der 1960er Jahre anwenden. Zunächst ließen sich bereits die Künste der 1950er Jahre mit Georg Bollenbeck (nach Kleßmann) als “ Modernisierung unter konservativen Auspizien ” (cf. Bollenbeck 2000: 197) fassen. Auch hinter dieser Formulierung lässt sich eine Schnittstelle von Tradition und Modernisierung vermuten, die allerdings, und das arbeitet Bollenbeck in seinem Beitrag explizit heraus, als eine eher subkutane Schnittstelle zu bezeichnen wäre: Für den Film und die Literatur der 1950er Jahre gilt sehr deutlich ein alle Texte tragendes Ordnungsparadigma, das nur ein äußerst gering ausgeprägtes Modernisierungspotenzial aufweist. Damit ist gemeint, dass die Texte - im semiotischen Sinne, also alle medial vermittelten kommunikativen Äußerungen, insbesondere die ästhetischen - narrative Strukturen und Wertebildungsverfahren auf Ordnung hin anlegen: Am Ende eines Textes müssen alle Probleme als gelöst gelten und in einen grundlegenden Raum tradierter Ordnungen überführt werden. Von dieser Struktur grenzt sich das gesamte literarische und filmische Korpus der 1960er Jahre insofern ab, als die Texte der 1950er Jahre zwar durchaus weiterbestehen und wie gewohnt verfahren, nun aber Schriftsteller und Autorenfilmer die Bühne betreten, welche die Strukturen der 1950er Jahre sichtbar machen und aufzubrechen gedenken, mithin also auf der Ebene ästhetischer Kommunikation Gegenentwürfe präsentiert werden, die sich an der Kunst der Elterngeneration abarbeiten. In diesem Zusammenhang sei vor allem auch der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann erwähnt, dessen Werk in der literatur- und medienwissenschaftlichen Forschung bereits breit unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität untersucht wurde. 1 Im Folgenden soll also zunächst knapp erläutert werden, vor welchem filmhistorischen und -ästhetischen Hintergrund Reitz ’ Cardillac zu verorten ist. 1.1 Der Autorenfilm der 1960er Jahre Die ästhetischen Wirklichkeitskonstruktionen sind in ihrer Entwicklung von den 1950er Jahren bis zu den 1960er Jahren an die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft gekoppelt und stehen mit dieser in einem signifikanten Verhältnis. In den 1950er Jahren hat sich eine Filmkultur entwickelt, die sich insgesamt auf einer hohen Abstraktionsebene als ‘ Ordnungsformation ’ beschreiben lässt. Das bedeutet, dass sich unabhängig von den erzählten Geschichten für alle Filme eine narrative Strategie rekonstruieren lässt, deren Ziel stets die (Re-)Installierung einer (gesellschaftlichen, familiären, moralischen, juristischen) Ordnung ist. Zu dieser Ordnung gehört - filmübergreifend - auch, dass einzelne Themen tabuisiert werden und nur auf eine konsensuale Weise dargestellt werden dürfen. Erinnert sei hier beispielsweise an die Genres Heimatfilm, Arztfilm und (Anti-)Kriegsfilm, in denen Probleme am Ende als gelöst gelten müssen, in denen Autoritäten die allseits anerkannten Regularitäten formulieren und umsetzen und in denen alle Aspekte des Dritten Reiches oder des Kriegsgeschehens des Zweiten Weltkriegs in Rehabilitationsstrategien münden. Dieses ideologische und narrative Ordnungsparadigma ist dabei an die gesellschaftlichen Regularitäten hinsichtlich des Umgangs mit eben diesen Themen gekoppelt. Gesellschaftliche, öffentliche Diskurse über das Dritte Reich sind in den 1950er Jahren kaum existent (cf. Schildt und Siegfried 2009 sowie Wolfrum 2011). Erst in den 1960er Jahren setzen gesellschaftliche Dynamiken ein, die einer latenten Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft äquivalent sind (cf. Schildt 2000). In diesem Klima entsteht auf dem Gebiet der ästhetischen Kommunikation der sogenannte Autorenfilm, der sich insofern von der gängigen Filmproduktion abgrenzt, als Idee, Drehbuch und Regie von derselben Person stammen und somit eine intellektuelle Kontinuität auf der Ebene der Filmproduktion hergestellt wird. Für den Autorenfilm der 1960er Jahre ist als Gründungsdokument das sogenannte Oberhausener Manifest anzusehen, in dem im Rahmen der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage des Jahres 1962 26 junge - ausnahmslos männliche - Regisseure die Erneuerung des bundesdeutschen Kinos in wirtschaftlicher, ästhetischer und ideologischer Hinsicht fordern. 2 Nachdem in den 1 Hier sind u. a. die Beiträge von v. Petersdorff 2009, Hiller 2011 sowie Schmitt 2012 zu nennen, die sich mit den populärkulturellen Medialisierungs- und Hybridisierungsverfahren Brinkmanns beschäftigen. 2 Hier wäre auch von einer Schnittstelle von Kunst und Wirtschaft zu sprechen, indem es im gängigen Filmbetrieb der 1950er Jahre so war, dass für ein fertiges Drehbuch ein Regisseur eingekauft wurde, der das Drehbuch zu verfilmen hatte und dementsprechend in einem mehr oder weniger distanzierten und eher 108 Dennis Gräf (Passau) folgenden Jahren bis auf Herbert Veselys Das Brot der frühen Jahre aus dem Jahr 1962 zunächst eine Vielzahl von Kurzfilmen der entsprechenden Regisseure produziert und veröffentlicht wird, 3 kommt es im Jahr 1966 mit Alexander Kluges Abschied von gestern neben Veselys Film zum zweiten Langfilm, der die Postulate des abstrakt und offen gehaltenen Oberhausener Manifestes in einem 90-minütigen Film umsetzt. Kluges Film ist auf mehreren Ebenen als praktische Arbeit der im Manifest abstrakt geforderten Aspekte zu bezeichnen, indem er sich thematisch mit der Aufarbeitung des Dritten Reiches befasst, was im Film der 1950er Jahre zu keinem Zeitpunkt geleistet wird. In ästhetischer, formaler und narrativer Hinsicht operiert Abschied von gestern hinsichtlich von gängigen Erwartungshaltungen der Zeit deutlich abweichend, indem er auf eine lineare Narration verzichtet und stattdessen Fragmente und Collageteile installiert, die in einem Akt der Rekonstruktion erst zusammengefügt werden müssen, um so die paradigmatische Klammer des Films erkennen zu können. Die Autorenfilme grenzen sich zudem von den von den Ordnungsformationen praktizierten Strategien des Illusionismus und Eskapismus ab, indem sie ihre dargestellten Welten mit Problemlagen ausstatten, die denen der jungen Generation (der Autorenfilmer) potenziell äquivalent sind. 4 Hier - so viel ist vorweg zu nehmen - weicht Cardillac durchaus von dieser Strategie ab, da Reitz ’ Film zwar in der Gegenwart der 1960er Jahre situiert ist, allerdings in einem elitären Kunst-Milieu spielt, dessen symbolischer Bedeutungsrahmen nicht auf eine gesamtgesellschaftliche Relevanz hinweist, sondern konkret auf die Verhandlung von Kunst in einem allgemeinen Sinn deutet. Insofern ist diesem Film Elitarismus zu unterstellen, der sich allerdings produktiv in den Dienst einer in den 1960er Jahren virulent geführten Kunstdebatte einbringt. Indem die Autorenfilme sich zum einen Themen widmen, die bislang als die gesellschaftliche Ordnung destabilisierend gelten, zum anderen dies auf eine Weise tun, die - zumindest teilweise und latent - den Rezipierenden eine rezeptive Anstrengung abverlangt, das Gezeigte erst verarbeiten zu müssen, intendieren sie eine Intellektualisierung und Politisierung des gesellschaftlichen Lebens durch die Kunst: Die Autorenfilme, so ließe es sich als implizites poetologisches Postulat rekonstruieren, machen es sich zur Aufgabe, bundesrepublikanische Ordnungsmuster (wirtschaftlicher, politischer oder moralischer Art) zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren, mithin auf einen Prüfstand der Adäquatheit hinsichtlich einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zu stellen. In diesem Zusammenhang lassen sich Schnittstellen identifizieren, die sich auf einem auf dem Ordnungsparadigma basierenden und dieses in Frage stellenden Feld alternativer ästhetischer und ideologischer Kräfte befinden, das terminologisch als Angriffsformationen wirtschaftlichen Verhältnis zum spezifischen Film stand. Der Autorenfilm hievt diese Schnittstelle auf eine andere Ebene, indem er das Verhältnis von Film und Regisseur in eine unmittelbare Nähe rückt. 3 Stellvertretend für die große Breite an Kurzfilmen seien hier folgende Produktionen genannt: Brutalität in Stein (1961) von Alexander Kluge und Peter Schamoni, Es muss ein Stück vom Hitler sein (1963) von Walter Krüttner, Marionetten (1964) von Boris Borresholm sowie Granstein (1965) von Christian Doermer. 4 Hier sind beispielsweise die Filme Schonzeit für Füchse (1966), Tätowierung (1967), Der sanfte Lauf (1967) oder Ich bin ein Elefant, Madame (1969) zu nennen, die sich mit der Problematik der Generationendifferenz auseinandersetzen, oder auch Alexander Kluges Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos (1969), der sich mit der Entwicklung der deutschen Gesellschaft hinsichtlich politischer, ökonomischer und auch medialer Fragen beschäftigt. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 109 fassbar zu machen ist. Unter ‘ Angriff ’ ist diejenige Klasse von Filmen zu verstehen, die im Sinne des Oberhausener Manifests die gängigen Muster der Werte- und Ideologievermittlung aufbricht und den gängigen Interpretationsmustern von Gesellschaft und Realität widerspricht oder diese zumindest aufdeckt und zur Disposition stellt: Wenn die Ordnungsformationen eine ontologische Bindung von Kinder- und Elterngeneration etablieren, so weisen die Autorenfilme auf Friktionen zwischen den Generationen hin, die ihrerseits an den Umgang mit der deutschen Vergangenheit gekoppelt sind. Die - bezogen auf die dargestellten Welten der Filme - im Dritten Reich verankerte Elterngeneration wehrt sich vehement gegen einen gesellschaftlichen Diskurs der Vergangenheitsaufarbeitung. Die Verankerung der Eltern im Dritten Reich ist es gerade, die beispielsweise die jungen Männer in Schonzeit für Füchse monieren, ohne dabei allerdings die sich im Alltag, dem Denken und Handeln niederschlagende eigene Sozialisation mit diesen Eltern leugnen zu können. Auch die Denk- und Handlungslogik des dauerhaften konjunkturellen Aufschwungs - des Wirtschaftswunders - stellen die jungen Männer in Frage, bleiben dabei aber ihrerseits - teilweise ohne sich dessen bewusst zu sein, wie der Film Der sanfte Lauf zeigt - davon abhängig. Ordnung und Angriff sind dabei aber keine Oppositionen, sondern Extreme auf einer graduellen Skala, mithin existieren nahezu zwangsläufig Berührungspunkte, weil die Autorenfilme genau auf Friktionen aufmerksam machen wollen, die im Eskapismus und Illusionismus des Nachkriegsfilms verborgen werden. Das heißt, es sind gerade die Schnittstellen, die repräsentativ für den Autorenfilm sind, weil sie es sind, die Alternativen zu gängigen Mustern vorschlagen und dabei nicht umhinkönnen, diese Muster auch offenlegen zu müssen und zu wollen. Darüber hinaus ist es gerade die Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart, die von den Autorenfilmen implizit als fundamental für die Ausdeutung der Gegenwart verstanden wird, indem in den 1960er Jahren die produktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als eines integrativen Bestandteils eines gegenwärtigen Selbstverständnisses der BRD als grundlegend verstanden wird. 5 1.2 Künstlerische Avantgarden der 1960er Jahre in der Semiosphäre Die Beschäftigung mit dem Autorenfilm Cardillac macht in heuristischer und methodischer Hinsicht nicht nur eine medien- und filmsemiotische sowie narratologische Grundlage erforderlich, 6 sie benötigt auch ein Modell, das es ermöglicht, die Stellung sowie Leistung und Funktion des einzelnen Films in seinem kontextuellen, historischen Zusammenhang des Films der 1960er Jahre zu sehen. Dazu eignet sich Jurij Lotmans Modell der Semiosphäre, das er in Die Innenwelt des Denkens (2010) ausführlich erläutert hat. 7 Es handelt sich dabei um ein Kulturbeschreibungsmodell, das “ den gesamten semiotischen Raum einer Kultur ” 5 Hier wäre beispielhaft der Film Alle Jahre wieder (1967) von Ulrich Schamoni zu nennen, in dem anhand des Protagonisten Hannes Lücke symbolisch aufgezeigt wird, inwiefern die anthropologische Ausrichtung der gegenwärtigen BRD an ein einerseits unreflektiert-infantiles, andererseits pathologisches Festhalten an Ritualen des Dritten Reiches - Hannes und seine Freunde treffen sich jedes Jahr zu Weihnachten an ihrer alten Flak-Stellung und lassen die Kriegssituationen wiederaufleben - rückgebunden ist. 6 Zur Mediensemiotik cf. Gräf 2019 sowie Decker 2018, zur Filmsemiotik cf. Gräf et al. 2 2017, zur Narratologie Krah 2 2015. 7 Cf. auch Lotmans Aufsatz zur Semiosphäre in der Zeitschrift für Semiotik aus dem Jahr 1990. 110 Dennis Gräf (Passau) (Lotman 2010: 165) beschreiben kann: Der Kulturraum ist aufgeteilt in ein Zentrum und eine Peripherie, wobei das Zentrum einen Raum hegemonialer Diskurshoheit darstellt, in dem auf der Ebene ästhetischer Kommunikation konsensuale Wirklichkeitsmodelle verhandelt werden, deren oberstes Prinzip stets die Aufrechterhaltung oder Installierung einer (ideologischen) Ordnung ist; Lotman selbst formuliert, dass im Zentrum “ die am weitesten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen ” (Lotman 2010: 169) existieren. Dem gegenüber modelliert Lotman die Peripherie als einen subkulturellen Raum, in dem die im Raum der Ordnung geltenden Regularitäten latent hinterfragt, konterkariert oder angegriffen und “ das Verhältnis zwischen der semiotischen Praxis und der ihr aufgezwungenen Norm immer konfliktträchtiger ” (cf. Lotman 2010: 178) wird. Konkret bedeutet das, dass in Film und Literatur in der Peripherie Texte (im semiotischen Sinn) entstehen, die ästhetische und ideologische Abgrenzungsversuche betreiben, indem sie die im Ordnungsraum geltenden diskursiven Praktiken verletzen. Für Cardillac ist im Folgenden nach einer eingehenden filmsemiotischen Analyse die Frage zu stellen, welchen Standort der Film in der Semiosphäre der BRD-Kultur aufweist und inwiefern dies mit den vom Film installierten, mannigfaltigen Schnittstellen in einem Zusammenhang steht. 2 Edgar Reitz ’ Cardillac (1969) Der Autorenfilm hat in der Regel eine Affinität zu selbst- und metareflexiven Diskursen. Edgar Reitz ’ Film Cardillac aus dem Jahr 1969 führt diesen Diskurs noch in gesteigerter Form: Er rückt nicht nur einen Goldschmiedekünstler in das Zentrum der Handlung und verhandelt somit die Konstruktion des Künstlers im Verhältnis zu seiner Umwelt und seiner Kunst, sondern er basiert insgesamt auf einer literarischen sowie einer musikdramatischen Vorlage. Dabei handelt es sich um E.T. A. Hofmanns Das Fräulein von Scuderi (1819/ 21) als Teil seiner Serapionsbrüder sowie die Oper Cardillac (1926/ 1952) von Paul Hindemith. Dabei weist schon der literarische Referenztext an sich im Sinne romantischer und damit vor allem Schlegelscher Poetologie einen metareflexiven Schriftsteller- und damit Künstlerdiskurs auf. Die romantische Idee einer progressiven Universalpoesie, wie sie sich in Schlegels 116. Athenäum-Fragment konturiert, funktionalisiert Reitz für seinen Film, indem er den zeitgenössischen Diskurs des Neuen Deutschen Films an den romantischen Diskurs einer sich ewig fortschreibenden Poesie anlagert, um somit die Frage nach dem Status von Kunst beantworten zu können. Dabei ist signifikant, dass er mit der Figur Cardillac einen Künstler konstruiert, der sich ausnahmslos an der Vergangenheit orientiert, so wie Reitz sich selbst mit dem Referenztext Das Fräulein von Scuderi seinerseits eines historischen Textes bedient. Der media shift 8 ist es hier, der den Unterschied ausmacht: Indem Reitz von Literatur zu Film wechselt und damit die neuen Bedingungen von Kunst unter dem Aspekt der Medialität auslotet, ist intradiegetisch die Figur Cardillac lediglich an der Fortschreibung eines ‘ Dauerkunstwerkes ’ interessiert, das immer weiter perfektioniert wird. 8 Zur semiotischen Modellierung der Literaturverfilmung cf. Krah 2006 sowie Krah 2008. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 111 2.1 Cardillacs Kunstkonzeption: alt vs. neu Der Film erzählt die Geschichte von René Cardillac, “ eine[m] der renommiertesten Goldschmiede Europas ” (00: 00: 10), der sich nach der Fertigstellung seiner Kunstwerke nicht von diesen trennen kann und die neuen Besitzer ermordet, um den Schmuck wieder an sich zu bringen. Indem Reitz das Kriminalnarrativ von Das Fräulein von Scuderi ausblendet, verschiebt er den Fokus von der Suche nach dem Mörder hin zu einem sich aus einer Introspektion der Figur ergebenden Selbstverständnis des Künstlers und dessen Motivation für die Morde. Dabei entfaltet der Film zwei oppositionelle Perspektiven auf Kunst, die zusätzlich mit unterschiedlichen Generationen korreliert sind. Bereits die Exposition des Films betont, dass Cardillac “ vor dreißig Jahren der Wiedererfinder der berühmten Granulationstechnik [war], eines Verfahrens, das vor ihm nur die alten Etrusker beherrschten ” (00: 07: 25). Seine damit zu Beginn des Films gesetzte Verortung in einem Zustand des ‘ Alten ’ zieht sich strategisch und somit paradigmatisch anhand unterschiedlicher, ihm entgegengesetzter Figuren durch den Film. Cardillac ist als einzige Figur einer älteren Generation zuzuordnen, alle übrigen Figuren gehören der Nachfolgegeneration an und formieren eine oppositionelle Haltung. Dabei stehen vor allem weitere Künstlerinnen und Künstler oder Menschen mit einer konkreten Kunstauffassung im Fokus, an denen ein sich öffnendes, neuartiges Verständnis von Kunst konturiert wird. Die “ Schönberg-Interpretin Liane S. ” (00: 29: 25) steht qua ihres Repertoires für eine die Grenzen konventioneller Musik sprengende Kunstauffassung, indem mit Arnold Schönberg ein Komponist funktionalisiert und semiotisiert wird, der grundlegend die Tonalität sowie die Binarität von Dur und Moll in Frage stellt und dessen Kompositionen somit zu einem revolutionären Musikverständnis führen. Indem Cardillac Liane S. ermordet, wird auch das Cardillac-Syndrom 9 zeichenhaft, indem mit der Interpretin synekdochisch die Aufhebung der Tonalität und damit eine neuartige Musik eliminiert wird. Als nahezu äquivalent zu Liane S. können “ Ali und Katinka, zwei bekannt[e] Grafike[r] ” (01: 17: 50) gelten, die Menschen mit einem von Cardillac veredelten Schaumgummi einkleiden wollen. Wenn Cardillac die beiden Grafiker auch nicht umbringt, so distanziert er sich in Folge dennoch deutlich von ihren Ideen, weil sie “ nicht den Schmuck, sondern die Träger des Schmuckes [verändern] ” (01: 24: 45) wollen und damit für ein grenzüberschreitendes Schmuckverständnis stehen. Cardillacs zweites im Film vorgeführtes Mordopfer nach Liane S. ist der Mineraloge Albert v. Boysen, nach dessen Ansicht Steine nicht veränderbar sind: “ [Den Stein] können wir noch etwas verformen, wir können ihn spalten, wir können ihn einfassen [. . .], aber er bleibt der Stein [. . .]. Ein Granit bleibt Granit ” . (01: 07: 35) Gerade anhand der von v. Boysen Cardillac zur Einfassung überlassenen Steine und Perlen demonstriert der Goldschmied, dass er den Steinen eine eigene Semantik gibt und ihnen im Rahmen des gesamten Kunstwerkes, in das sie integriert werden, eine ihnen eigentlich nicht inhärente thematische Figuration verleiht und somit v. Boysens Sichtweise konterkariert. Cardillac unterzieht die real vorgefundenen und an sich aussagelosen Objekte einem Akt der Interpretation und schreibt ihnen dadurch einen semantischen Mehrwert ein, was an und 9 Das Cardillac-Syndrom bezeichnet in der Psychologie ein nach E.T. A. Hoffmanns Text benanntes pathologisches Festhalten des Künstlers an seinen Werken, cf. Parzer 2012. 112 Dennis Gräf (Passau) für sich als Funktionsprinzip von Poetizität schlechthin gelten kann, hier aber - auch aus der Perspektive des Films - als eine Negation der Realität verstanden wird, die ästhetisch so umgedeutet wird, dass sie nicht mehr zu erkennen ist und in einem artifiziellen Gebilde auf- und untergeht. Dahinter verbirgt sich eine die Mimesis ablehnende Haltung, indem die Wirklichkeit verformt wird. Entsprechend ist Cardillacs letztes Kunstwerk von hoher Semiotizität: Was mir gefallen hat, das war diese unendliche Feinheit der Formen, diese mikroskopischen Strukturen, diese Blasen und Zellgewebe. Jeder hätte gesagt, dass das aus Gold nicht zu machen ist. Das Allerschwierigste, was ich je gemacht habe. Das hier ist eigentlich kein Schmuck mehr. Bei der geringsten Unvorsichtigkeit zerbricht er. Eine Perle ist schon abgebrochen. Eine unvorsichtige Bewegung und alles bricht. Das ist die Grenze meiner Möglichkeiten. (01: 24: 50) Das auf den Abb. 1 und 2 zu sehende letzte Schmuckstück Cardillacs ist als logisch konsequenter Abschluss seines künstlerischen Schaffens und auch Selbstverständnisses zu sehen, weil es an Filigranität und Mikropräzision nicht mehr zu übertreffen ist. Cardillacs Kunst ist somit eine immer schon teleologisch angelegte Kunst, die sich kontinuierlich auf das Ziel absoluter Perfektion als eines finalen Zustandes von Kunst bewegt. Kunst ist in dieser Logik endlich, so dass sich Cardillac nach der Fertigstellung dieses Schmucks konsequenterweise umbringt, da sich nach diesem Kunstwerk nichts mehr schaffen ließe, was einen noch höheren Grad an Perfektion erreichen könnte. Abb. 1 und 2: Das letzte Schmuckstücks Cardillacs Signifikant ist vor diesem Hintergrund auch, dass sich der Film gerade für einen Goldschmied entscheidet, der Schmuck herstellt, der zwar durchaus einen Grad an Semiotizität aufweisen kann, dem aber niemals eine gesellschaftsverändernde Funktion inhärent ist. Die Korrelation von Handwerk und Kunst ist hier eine vom Alltagsverständnis des Begriffes “ Kunsthandwerk ” abweichende, nicht selbstverständliche Korrelation, die Kunst in ihrer Leistung und Funktion für die Gesellschaft zu bestimmen versucht. Wie Ali und Katinka erläutern, geht es ihnen mit ihrer Schaumkunst darum, ein anderes, neues Bewusstsein der Menschen herzustellen. Cardillacs Kunst ist dagegen Selbstzweck, was sich gerade auch auf das Cardillac-Syndrom zurückführen lässt: Sein Schmuck dient noch nicht “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 113 einmal dazu, von Menschen getragen zu werden. Indem er die Kunden ermordet und den Schmuck wieder an sich bringt, schafft er seine gesamte Kunst ausschließlich für sich selbst. Entsprechend platziert er bei seinem Suizid sein gesamtes Oeuvre in einem Bogen um sich selbst, um es noch einmal vollständig betrachten zu können. Die “ Grenze seiner Möglichkeiten ” , wie er es nennt, entspricht der Auflösung von Kunst, indem das Schmuckstück bei der geringsten Bewegung zerbricht: Eine solche Kunst hat keine Funktion mehr, sie kann nur noch als Objekt der Betrachtung dienen, im Sinne des Schmucks dient sie nicht mehr als tragbares Objekt, im Sinne von Kunst allgemein entzieht sie sich jeglicher Handhabung und/ oder Funktionalität. 2.2 Kunst und Künstler Cardillacs Suizid entspricht insofern seinem Kunstverständnis, als er seinen Freitod auch explizit zu einer Inszenierung macht. Zum einen positioniert er sein Oeuvre vor sich, zum anderen konstruiert er einen elektrischen Stuhl, der mit Hilfe eines Elektronenhelms Strom in das Gehirn leitet (siehe Abb. 3 und 4). Dieser Helm ist allerdings als Krone stilisiert, wie vor allem Abb. 4 deutlich macht. Der Blick in den Spiegel bestätigt das egozentrische, vor allem aber narzisstisch ausgerichtete Kunstverständnis. Die konkrete Kameraposition lässt den Elektronenhelm zu einer Krone werden - siehe auch die entsprechende gestische 10 Die Selbststilisierung als poeta laureatus lässt sich nicht nur auf den Zeitraum der Frühen Neuzeit als eines Paradigmas des ‘ Alten ’ beziehen, vielmehr ist die Konzeption eben dieses poeta laureatus an sich bereits an Konzepte des Tradierens gebunden, soll sich der Dichter nach Petrarca doch in der Kunst der Alten üben und in deren Sprache in einen künstlerischen Wettstreit (imitatio et aemulatio) treten. Cf. dazu ausführlicher Mertens 1996. Abb. 3 und 4: Der selbst konstruierte elektrische Stuhl und die poeta laureatus-Inszenierung Cardillacs 114 Dennis Gräf (Passau) Zeichenhaftigkeit Cardillacs - , so dass er ikonografisch einem poeta laureatus ähnelt, der sich hier allerdings selbst krönt. Auch hinter dieser filmischen Inszenierung von Cardillacs Selbstinszenierung, die ganz im Sinne romantischer Doppelreflexion funktioniert, erscheint das Paradigma des ‘ Alten ’ , weil hier von Cardillac ein Kunst- und Dichterverständnis der Frühen Neuzeit und des Barock aktualisiert wird, das vor der Folie der jungen Künstlerfiguren des Films als absolut antiquiert gelten darf. 10 Dieser spezifische Suizid installiert zudem die Identität von Kunstwerk und Künstler, nicht nur, weil das perfekte Kunstwerk in dieser Logik zu einem Tod des Künstlers führen muss, vielmehr auch, weil erstens der elektrische Stuhl selbst gebaut ist und somit kein äußerer Einfluss akzeptiert wird. Zweitens ‘ zerbricht ’ er unter dem Strom analog zu seinem letzten Kunstwerk, das unter einer äußeren Bewegung zerbricht. Dieser Logik folgend ist es schlussendlich so, dass Figuren, die nicht künstlerisch tätig sind wie bspw. sein Assistent Olivier und seine Tochter Madlon keine Identität besitzen. Wenn Cardillac ein Schmuckstück arbeitete, dann sagte er: Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt, und es geht darum, dass dieses Werk unverwechselbar ist, nur von mir möglich. Das erreiche ich dadurch, dass ich Schwierigkeiten einführe, zu deren Bewältigung ein Cardillac nötig ist. (00: 18: 55) Das ist die Tragik unseres Berufes, dass man keine Übersicht über sein Leben [Herv. v. mir, DG] hat. Allen Schmuck, den man Zeit seines Lebens angefertigt hat, der ist irgendwo in der Welt verstreut, bei Privatleuten, die einem nicht mal sagen, ob sie ihn weiterverschenkt haben oder nicht. Und so wird der Künstler anonym und schlussendlich um sein Lebenswerk betrogen. (00: 37: 55) Die Identität des Künstlers mit seinem Werk verhindert in diesem Sinne eine kritische Distanz, die zu existenziellen Fehldeutungen der Realität und zu einer Isolation von der gesamten Außenwelt führt. Cardillacs Assistent Olivier meldet die Werke des Künstlers ohne dessen Wissen bei einem hochrangigen, internationalen Schmuckwettbewerb an ( “ Ich wollte, dass Cardillac aus seiner Höhle rauskommt ” , 00: 16: 05) und gewinnt diesen, was Cardillac jedoch vehement ablehnt: Ich lehne den Preis ab. Ich habe immer wieder gesagt, Kunst kann nur aus sich selbst heraus wirken, muss aus sich selbst heraus wirken. Unterwerfung unter diese zum Teil staatlich nominierten Jurys ist doch entwürdigend, ist doch Hurerei. Ich weigere mich, an dieser Bullenprämierung teilzunehmen. (00: 17: 15) Autonome Kunst darf nach Cardillac nicht Teil gesellschaftlicher und kultureller Diskurse sein - etwa im Gegensatz zur klassischen Auffassung Moritz ’ und Schillers - , sie muss unter allen Umständen Selbstzweck bleiben. Aus diesem Grund findet bei ihm nahezu zeitgleich die Produktion und der Entzug eines Kunstwerkes statt - siehe in diesem Zusammenhang Cardillacs Zitat im Titel dieses Beitrags. Cardillacs soziale und institutionelle Isolation entspricht seinem Verständnis von Kunst als Selbstzweck, was auch die Exposition des Films zeigt, indem sie Cardillac als Kunstwerk ähnlich einer Statue präsentiert und die Kamera unterschiedliche Betrachtungsperspektiven eines simulierten Rezipienten imitiert. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 115 Abb. 5 - 8: Darstellung Cardillacs zu Beginn des Films Dabei ist in der syntagmatischen Reihung der Filmbilder (Abb. 5 - 8) nicht nur der Künstler als Kunstobjekt erkennbar, sondern auch eine Distanzierung der Kamera, die einer Distanzierung des Point of View von Cardillacs Kunstverständnis äquivalent ist; in diesem Sinne spricht das Voice over zu Beginn des Films auch von einem “ krankhafte[n] Leben ” (00: 01: 20). 2.3 Generationendifferenz und Geschlechterrollen Im Laufe des Films wird die Ablehnung von Cardillacs Person vor allem seitens seines Assistenten Olivier zunehmend deutlicher, signifikanterweise aber, weil Cardillac sich temporär überlegt, mit Hilfe von Alf und Katinka einen völlig neuen Stil zu generieren, was er schlussendlich nicht realisiert. [Olivier: ] Der Kunsthandel ist eben empfindlicher als andere Märkte. Was sie da machen, ist so, als wenn man ein hochwertiges Präzisionsinstrument nimmt und mal kräftig durchschüttelt. Der Markt hat seine Gesetze und gegen die kann man nicht verstoßen. [Cardillac: ] [. . .] Das ist doch völlig lächerlich. Man kann doch einen Künstler nicht zwingen, sein Leben lang eine einzige Idee zu variieren. Ist doch albern. Ich lass mich auf meine bisherigen Verhaltensweisen nicht festlegen. Dies hier ist ein völlig freier Entschluss. [Olivier: ]Sie können doch nicht 30 Jahre lang einen bestimmten Stil kultivieren und auf einmal alles umstoßen. Erstens machen sie sich dabei selbst kaputt und zweitens überfordern sie ihre Partner. [Cardillac: ] Es genügt mir, wenn ich mir selbst glaubwürdig bin. [Olivier: ] Sie müssen doch begreifen, dass sie nicht alleine sind. [Cardillac: ] Ich war aber immer allein. Von meiner Arbeit verstand niemand etwas. Ich hatte immer nur einen Maßstab: mich selbst. Dies hier ist ‘ ne völlig neue Erfahrung. [Olivier: ] Sie sind kein Anfänger mehr. [Cardillac: ] Aber das Experiment reizt mich. (01: 20: 45) Damit ist Olivier zwar Repräsentant der jungen Generation, als ‘ identitätslose ’ Figur aber nicht berechtigt, sein eigens Kunstverständnis zu äußern. Dahinter steckt eine Manipulation: Indem der Film grundsätzlich eine Korrelation von Jung-Sein und einem offenen Kunstverständnis etabliert - “ Ich bin nicht mehr jung genug, Ali und Katinka sind mir fremd ” (01: 24: 40), führt Cardillac aus und bestätigt damit die Relevanz der Generationendifferenz vor der Folie der Kunstauffassung - , wird der finanziell von Cardillac abhängige Olivier von seinem metaphorischen Vater ( “ [. . .] Vaterverhältnis zu Cardillac. Lehrmeister, godfather und so weiter ” , 00: 02: 10) zu einem sich verselbständigten Echo Cardillacs gemacht. In seinen Privaträumen hängt demgegenüber ein kubistisches Gemälde und damit ein Zeichen experimenteller Kunst. Tatsächlich führt die Voice over-Stimme zu Beginn aus, 116 Dennis Gräf (Passau) dass “ Cardillac in diesen Menschen [Madlon und Olivier, DG] und den Verhältnissen, die er hinterlassen hat, weiter[lebt] ” (00: 01: 50). Dies bezieht sich vor allem auf eine spezifische Art von Sexualität, die Cardillac symbolisch verschlüsselt an seiner Tochter auslebt. Vom zwölften Lebensjahr an musste ich jeden Sonntagmorgen vor dem Frühstück Vater seinen Schmuck vorführen. Manchmal kam er auch ganz unerwartet. Die Dachkammer unseres Hauses, die er eigens dafür eingerichtet hatte, betrat ich nur mit nüchternem Magen. Manchmal verband Vater mir die Augen, wenn mich das Licht so blendete. (00: 19: 35) Der symbolisch praktizierte Inzest und Missbrauch korreliert seinerseits mit dem Status des Künstlers. Wenn Olivier als “ künstlerisch impotent ” (00: 03: 05) bezeichnet wird, aber sexuell nicht impotent ist, unterdrückt der in Identität mit sich und seinem Werk lebende Künstler Cardillac seine Sexualität und installiert eine Umwegstruktur: Er betrachtet seine nackte Tochter, die seinen Schmuck trägt, dirigiert sie in unterschiedliche Positionen ( “ Senken. Hoch. Zurück ” , 00: 20: 15, siehe Abb. 9), was einer Beischlafbewegung entspricht, und blendet sie mit einem Lichtstrahl (siehe Abb. 10), wodurch sie physischen Schmerz erleidet. Dadurch wird zweierlei verdeutlicht: Erstens erzeugen die emotionslosen Anweisungen des Vaters das Bild patriarchaler und machtbasierter Sexualität, zweitens legt das Ende des Films Wert darauf, dass Madlon aus dieser Situation mit einer gestörten Sexualität geht, aufgrund derer sie eine dauerhafte Beziehung nur zu einem homosexuellen Mann eingehen kann. Abb. 9 und 10: Cardillac fotografiert seinen Schuck an seiner Tochter Madlon “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 117 Wenn der jungen Generation sowohl durch Ali und Katinka und ihre Idee eines performativen Schmückens als erotischer Akt als auch durch Olivier, der sexuelle Annäherungsversuche an Madlon unternimmt, eine positive Sexualität attestiert wird, dann argumentiert der Film hier mit Triebhemmungen der alten Generation, mit denen sich die junge Generation als Erblast arrangieren muss. Madlon als Repräsentantin der von Cardillac ansonsten abgelehnten jungen Menschen scheint dabei allerdings problemlos als Sexualobjekt zu fungieren, womit der Film ihm eine Doppelmoral attestiert, die sich aus seiner egoistischen Persönlichkeit speist. Dabei geht die Übermächtigkeit des Vaters über die sexuelle Ebene hinaus: Madlon wächst isoliert auf, sie darf mit 24 Jahren nur auf dem eigenen Grundstück Rad fahren und kann nur über Funk Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. 11 Die Argumentation des Films weitet den Krankheitsstatus Cardillacs auf die generelle patriarchale Handlungs- und Deutungshoheit gegenüber nachfolgenden Generationen aus. Der Film versteht sich dabei als Plädoyer für eine Ablösung von der alten Generation, was sich an der Entwicklung Oliviers und Madlons nach Cardillacs Tod zeigt. Olivier führt Folgendes aus: Cardillac. Was hab ich eigentlich damit zu tun? Dieser ganze Quatsch, diese, diese muffigen Räume, dieser kleine Werktisch. Im Grunde bin ich ganz anders aufgewachsen, mich interessieren auch ganz andere Sachen. Mich würd ’ s interessieren rumzufahren, mich um Leute zu kümmern, zu fragen, was um mich ‘ rum passiert, was draußen los ist. (01: 13: 45) Olivier betont den offenbar seinem Wesen entsprechenden Wunsch nach Offenheit im Gegensatz zu seiner Aufgabe der Abriegelung Cardillacs von der Öffentlichkeit. 12 Äquivalent fragt sich Madlon, “ wo [sie] denn Leute kennenlernen [soll] ” (01: 26: 50). Erst der Tod Cardillacs, der hier als metaphorisches Ende der Elterngeneration zu lesen ist, ermöglicht den jungen Menschen eine Herausbildung ihrer eigenen Identität, die sie bislang zu unterdrücken und zu verleugnen hatten. 2.4 Der Film als Kunst Der Film selbst markiert deutlich seine Position zur skizzierten Gemengelage, indem er seinerseits seinen Konstruktionscharakter betont. Figuren und Geschichte werden durch Fiktionalitätssignale, die an Brechtsche Verfremdung angelehnt sind, aus einer kritischen Distanz vorgeführt. Zu Beginn des Films geben die Schauspieler Rolf Becker und Catana Cayetano in einer Art Interviewsituation gegenüber der Kamera Auskunft über ihr Verständnis ihrer Rollen Olivier und Madlon, wobei gerade signifikant ist, dass Hans Christian Blech zu keiner Zeit aus seiner Rolle des Cardillac heraustritt. Dabei argumentiert der Film mit dem Parameter der Distanz: Kritische Selbstreflexion ist nur den jungen Figuren gestattet; der alte Cardillac verharrt in einer maximalen Subjektivierung, die zu einer Grenzschließung gegenüber der Außenwelt führt. In dieser Logik ist auch der 11 An dieser Stelle sei an die bewusste Selbstausgrenzung Cardillacs aus dem Kunstmarkt und die daraus resultierende gesellschaftliche Isolation erinnert. 12 Madlon sagt über Olivier in einem marginalen bzw. nicht weiter kontextualisierten Off-Kommentar: “ Olivier wechselte Autos wie Anzüge. Jeden Tag kam er mit einem anderen Auto an, das er sich irgendwo ausgeliehen hatte. Ich glaube, er muss Autos sehr gemocht haben ” (00: 39: 40). 118 Dennis Gräf (Passau) Schauspieler Blech als Vertreter einer älteren Schauspielergeneration identisch mit seiner Rolle des Cardillac homolog zu Cardillacs Identität mit seiner Kunst. Eine Inkorporierung des Rezipierenden wird zudem durch eine den Film einleitende und kontinuierlich anwesende männliche Off-Stimme erschwert, die nüchtern-referenziell biografische Fakten und Hintergründe liefert. Auch Olivier und Madlon rekonstruieren aus dem Off ihre Erinnerungen, so dass diese Ebene des Films der Kritik und Distanzierung vorbehalten ist. Die Filmkunstschaffenden treten damit in Opposition zu dem von ihnen verhandelten Gegenstand: Sie bewahren Distanz, indem sie in den Interviewsequenzen den eigenen Film zu einem verhandelbaren Diskurs machen, der den Film in seiner endgültigen Version erst konstituiert. In dieses Paradigma der Distanz reiht sich auch die Farbverwendung des Films ein: Farbe, Sepia und schwarz/ weiß stehen gleichberechtigt nebeneinander, so dass ästhetisch eine Grenze überschritten wird, die intradiegetisch nicht überschritten werden dürfte. Auch hier distanziert sich der Film von seinem Protagonisten. Die Existenz der drei Farbvarianten demonstriert darüber hinaus noch einmal die Gemachtheit des Kunstwerks, die Cardillac intradiegetisch in seinem wahnhaften Perfektionismus gerade zu kaschieren versucht. Wenn auch den drei unterschiedlichen Farbvarianten nicht kohärent Semantiken oder Zeitebenen zuzuordnen sind, so manifestiert sich gerade auf der Ebene des ‘ Farbspiels ’ die Relevanz von Neuheit als eines Wertes an sich, den der Film für sich geltend macht. 13 Der Umgang mit Vorlagen und Referenzen etabliert im Film Cardillac die Veränderung als Grundlage des impliziten Kunstdiskurses: Eine durch den Titel angezeigte Engführung (z. B. in semantischer Hinsicht) an Paul Hindemiths Oper Cardillac, die der Neuen Musik subsumiert wird, wird nicht eingelöst. Vielmehr ist es die Oper an sich, die in ihrer Genese relevant wird. Hindemith hat die 1926 komponierte Fassung im Jahr 1952 umgearbeitet, allerdings nicht unter dem Zeichen der Perfektion im Sinne des Modells der Klassik (Umschreibung bis zum Erreichen einer ästhetischen Harmonie), sondern aufgrund der veränderten Zeit und der Eindrücke des Zweiten Weltkrieges (cf. Laubenthal 189: 64 - 69). Somit handelt es sich bei der zweiten Fassung um ein verändertes Werk, dessen Funktion anscheinend gerade nicht in der Selbstreflexion, sondern in der Integrativität neuer und virulenter Diskurse besteht. Die Tatsache, dass die Komposition Hindemiths zu einer Avantgarde zu rechnen ist, verstärkt die Anbindung der Opernreferenz an die Paradigmatik des Films: Neues wird zum Wert an sich. Die Oper stellt ihrerseits eine deutliche inhaltliche Veränderung des literarischen Referenztextes von E.T.A Hoffmann dar, so dass sich Reitz ’ Film - tatsächlich im romantischen Sinne - als Ergebnis eines multipel transformierten Kunstwerkes modellieren lässt. Diese Konstruktion findet sich zudem intradiegetisch bei Cardillacs “ Lieblingsmusik ” (00: 21: 25) wieder: Es handelt sich um ein von Bach (BMV 596) für Orgel arrangiertes Violinkonzert Vivaldis (RV 565). Indem Bach Vivaldis Konzert verändert, dürfte es in der 13 Cf. dazu auch die auf allen Ebenen banalisierende Untersuchung von Parzer (2012), die hinsichtlich der Farbverwendung zu dem Ergebnis kommt, dass “ sich dieser Farbwechsel scheinbar zusammenhanglos durch den ganzen Film ” ziehe (cf. Parzer 2012: 59). Parzer nimmt zudem lediglich die Unterscheidung in schwarz/ weiß und Farbe vor; die Verwendung des Sepiatons entgeht ihr vollständig. Gerade damit schöpft der Film aber alle Farbmöglichkeiten aus und verweigert sich keiner Alternative oder Variante und distanziert sich damit umso deutlicher vom konservativen Cardillac. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 119 Logik der dargestellten Welt eigentlich nicht mit Cardillac korreliert werden. Tatsächlich existiert in Cardillac ausschließlich veränderte Kunst: Auch die literarischen Texte des Pierrot Lunaire Albert Girauds sind nur in der von Otto Erich Hartleben übersetzten und von Arnold Schönberg vertonten Fassung im Film präsent. Kunst ohne Veränderung ist nicht möglich, und so ist Cardillac implizit die einzige Figur des Films, die in ihrer Denk- und Handlungslogik gegen eine vom Film als grundsätzlich verstandene Auffassung von Kunst als prozessualer Entwicklung und Veränderung verstößt. In dieser Logik ist die filmische Bezugnahme auf alte Referenztexte nicht als Orientierung an der Vergangenheit zu lesen, sondern als Fortschreibung und Entwicklung, als Anpassung an eine neue Zeit, in der unter Zuhilfenahme überlieferter Kunstwerke neue Kunstdiskurse entwickelt werden. Dabei fungiert die progressive Universalpoesie der literarischen Romantik als grundlegende Idee eines sich dauerhaft verändernden und sich fortschreibenden Kunstwerkes, das a-historisch ist. Cardillac entwickelt damit schlussendlich die Frage, mit welchen künstlerischen Aufgaben sich der Neue Deutsche Film konfrontiert sieht. Die im Film verhandelte Generationendifferenz wird zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Revision des Kunstverständnisses: Kunst verändert sich mit nachfolgenden Generationen, deren Lebensumstände eine entsprechend eigene und neue Kunst erforderlich machen, die sich aber sowohl inhaltlich als auch ästhetisch nicht von jeglicher bisheriger Kunst zu lösen, sondern diese produktiv in das je neue Kunstverständnis zu integrieren hat, wie es Ali und Katinka machen. Hinter der Figur Cardillac zeichnet sich dann auch eine überkommene Filmkunst ab, die auf bewährte Muster und Inhalte setzt, sich aber aufgrund einer sich transformierenden Gesellschaft nicht mehr rechtfertigen lässt. Der Suizid Cardillacs ist in einem metareflexiven Sinn dann als eine metaphorische Forderung gegenüber der alten Filmindustrie zu verstehen, das Feld zu räumen um es den jungen Filmemachern zu überlassen. Der Suizid ermöglicht der nachfolgenden Generation zudem einen schuldfreien Beginn, während Cardillac als Mörder eine gewalttätige Figur ist, so dass (im Sinne der Diskursverflechtung) der Elterngeneration Schuld attestiert wird. Darüber hinaus wird mit den beiden gezeigten Morden, die im Affekt begangen werden, Cardillacs Kunst mit Kontrollverlust korreliert, während der Film selbst durch seine Verfremdungseffekte Kontrolle und Reflexion als der Kunstproduktion zugrundeliegende Bedingungen anführt. Zudem legt der Film sogar Wert auf die bürgerliche Existenz Cardillacs, dessen Villa eine deutlich großbürgerliche Semantik hervorruft: Das Bürgerliche in der Kunst, die konsensuale Moral der als antiquiert verstandenen Filmindustrie, wird hier in einem Aufwasch mit entsorgt. 3 Schnittstellen als Zeichen neuartiger Filmkunst-Konzeption Der Film Cardillac, so deutet dies die vorausgehende Analyse bereits an, zeigt eine Reihe von Schnittstellen auf, die allerdings noch systematisiert werden müssen, um die Repräsentativität des Films hinsichtlich des deutschen Autorenfilms der 1960er Jahre erkennbar werden zu lassen. Eine erste Klasse von Schnittstellen lässt sich im Bereich von Ästhetik und Kunst erkennen: Dies betrifft (i) die Verfilmung eines literarischen Referenztextes, (ii) die 120 Dennis Gräf (Passau) Verhandlung des Kunsthandwerks in einem Film, (iii) das Verhältnis von Kunstschaffenden und Kunst(gegenstand), (iv) das Verhältnis von Film und Musik, (v) das Verhältnis von altem und neuem (Autoren-)Film sowie (vi) das Verhältnis von schwarz/ weiß, Sepia und Farbe. Eine Literaturverfilmung kann (vii) gewiss weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für den Autorenfilm der 1960er Jahre sein, allerdings ist die Referenz auf einen historischen, literarischen Text insofern kohärent in das System des Autorenfilms zu integrieren, als durch die Bezugnahme die Komplexität des Filmkunstwerks gesteigert wird. Die Steigerung des Komplexitätsgrades ist als Wunsch nach Intellektualisierung zu verstehen und wird hier gleich doppelt betrieben: Indem sich der Film nicht nur auf einen literarischen Referenztext bezieht, sondern durch diese Referenz auch schon das im Referenztext angelegte Thema des Verhältnisses von Kunstschaffenden und Kunst(gegenstand) behandelt, ergeben sich die Schnittstellen von Referenzialität und Reflexivität. Cardillac lotet auf dieser Ebene (implizit und übertragen) das Verhältnis von Regisseur und Film aus, das im typischen Nachkriegsfilm der 1950er Jahre, so die implizite Argumentation des Films über die dieses Verhältnis repräsentierende Figur Cardillac, auf einem Beharren an permanenter Steigerung des immer gleichen Prinzips basiert. Das Paradigma der Ordnung wird filigran gesteigert, ohne Veränderungen zuzulassen. Dahinter verbirgt sich ein ideologischer Angriff auf das Filmverständnis einer älteren Generation von Filmemachern, die den Film als Vehikel einer überkommenen Wertehaltung versteht. Im neuen Verständnis ist der Film Repräsentation einer vorgeblichen (Alltags-)Wirklichkeit, die hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung auf dem Prüfstand steht. Der Regisseur des Autorenfilms ist in diesem Verständnis nicht nur der intellektuelle Autor eines Drehbuchs, sondern auch derjenige, der durch die Identität - die hier als eine gesteigerte Schnittstelle zu verstehen ist - von Drehbuchautor und Regisseur unmittelbar die intellektuellen Ideen kreativ filmisch umsetzt. Gerade diese Identität von Drehbuchautor und Regisseur führt aber nicht zu einer Identität von Künstler und Kunst im Sinne Cardillacs, die den Filmemacher an das Kunstwerk koppeln würde: Cardillac geht es um den Entzug des Kunstwerkes, den Autorenfilmern geht es um die Diskursgenerierung in der Öffentlichkeit, mithin um die in den Filmen verhandelten Themen, die von den Autoren als gesellschaftlich virulent verstanden werden. Ästhetik hat hier die Funktion, auf inhaltliche, ideologische Veränderungen hinzuweisen, sie ist kein ästhetischer Selbstzweck, wenn es auch stets um eine Auslotung von Kunst an sich geht; dies ist hier nicht als Widerspruch zu verstehen. In diesem Sinne - der Film holt schließlich auch die Handlung des Referenztextes in die Gegenwart der 1960er Jahre - verhandelt der Film auch die (filmhistorische) Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart. 14 14 Die implizite Verhandlung von Vergangenheit und Gegenwart als grundlegende Folie des filmischen Welt- und Wertemodells ließe sich im Hinblick auf das gesamte Korpus des Autorenfilms auch auf den Umgang der Gesellschaft der 1960er Jahre mit der gesellschaftspolitischen Vergangenheit im Sinne des Dritten Reiches lesen. Allerdings markiert der Film dies an keiner Stelle, höchstens das Alter Cardillacs, der im Dritten Reich ca. sein viertes/ fünftes Lebensjahrzehnt verbracht haben muss, wäre dementsprechend zu lesen. Hier verweisen Filme wie beispielsweise Schonzeit für Füchse, Der junge Törless oder Jonathan weitaus deutlicher auf das Dritte Reich als einen diskursiven Schwerpunkt. Zu nennen wäre aber auch das Verhältnis von Vergangenem in der Spielart des Tradierten und der Gegenwart, wie es sich beispielsweise in Jagdszenen aus Niederbayern äußert, in dem jegliche anthropologische Veränderung aus dem tradierten bäuerlichen Raum ausgegrenzt wird. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 121 Im Zusammenhang mit der Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart ist unterstützend die Schnittstelle von Schauspieler und Rolle in diesem Film signifikant: Hans Christian Blech ( Jahrgang 1915) als Cardillac ist der einzige ältere Schauspieler im gesamten Cast, der zudem in den 1950er Jahren in vielen Filmen agiert hat, die sich den Ordnungsformationen subsumieren lassen. Die Starpersona des Schauspielers wird somit zu einem Bestandteil der filmischen Argumentation, indem der Film eine Identität von Rolle und Schauspieler herstellt: Blech wird zum Repräsentanten des abzulehnenden alten Films. Cardillac inszeniert darüber hinaus eine Schnittstelle von Fiktion und Dokumentarismus. Gerade der Beginn des Films installiert im Rahmen einer Authentifizierungsstrategie eine Distanzierung von der Figur Cardillac (siehe Kap. 2.2), so dass der quasi-dokumentarische Stil die Funktion zugewiesen bekommt, jeglichem Illusionismus vorzubeugen, sodass sich das Publikum nicht mit dem exzeptionellen Künstlerindividuum Cardillac identifiziert. Die Fiktion ist dem Bereich der Handlung vorbehalten, der sich mit den jüngeren Figuren beschäftigt. Das paradigmatisch ‘ Alte ’ wird dadurch per se ferngehalten, währende die jüngere Generation, die sich im Film privat mit abstrakter und moderner Malerei und Kunst beschäftigt, offen für Neues und Experimentelles ist. Das abstrakte Prinzip der Schnittstelle, das, wie die Analyse von Cardillac zeigt, über das Konzept der Intermedialität hinausgeht und weiterführende Möglichkeiten von Berührungspunkten innerhalb eines (filmischen) Zeichensystems anzeigen kann, mag heuristisch vielfältig anwendbar sein. Für den westdeutschen Autorenfilm der 1960er Jahre bietet es eine fruchtbare Möglichkeit, die impliziten argumentativen Strategien sowie das implizite Selbstverständnis der Filme zu modellieren. Es sind die Schnittstellen, die anzeigen, dass das filmische Gesamtkorpus einem Wandel unterzogen wird, dass sich Revisionen vollziehen, was direkt an den Filmen ablesbar ist, indem sie ‘ neuen ’ Positionen ältere entgegensetzen und somit den neuen Positionen Geltung verleihen. Filmographie Abschied von gestern (D 1966, Alexander Kluge) Alle Jahre wieder (D 1967, Ulrich Schamoni) Brutalität in Stein (D 1961, Alexander Kluge und Peter Schamoni) Cardillac (D 1969, Edgar Reitz) Das Brot der frühen Jahre (D 1962, Herbert Vesely) Der junge Törless (D 1966, Volker Schlöndorff ) Der sanfte Lauf (D 1967, Haro Senft) Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos (D 1969, Alexander Kluge) Es muß ein Stück vom Hitler sein (D 1963, Walter Krüttner) Granstein (D 1965, Christian Doermer) Ich bin ein Elefant, Madame (D 1969, Peter Zadek) Jagdszenen aus Niederbayern (D 1969, Peter Fleischmann) Jonathan (D 1970, Hans W. Geißendörfer) Marionetten (D 1964, Boris Borresholm) Schonzeit für Füchse (D 1966, Peter Schamoni) Tätowierung (D 1967, Johannes Schaaf ) 122 Dennis Gräf (Passau) Primärquellen Hindemtih, Paul 2009: Cardillac. Opera d ’ Oro Hoffmann, E.T.A 1986: Das Fräulein von Scuderi. 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Die (Re-)Konstruktion von ‘ Heimat ’ im Film der 1950er Jahre ” , in: Nies (ed.) 2012: 53 - 82 Gräf, Dennis et al. 2017: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Hammer, Erika und Edina Schandorfi (eds.) 2006: “ Der Rest ist - Staunen ” . Literatur und Performativität, Wien: Praesens Hiller, Marion 2011: “ Kreis, Punkt, Linie. Poetische Verfahren und Medialität in R. D. Brinkmanns Die Umarmung, Die Stimme und Godzilla ” , in: Fauser (ed.): 125 - 156 Krah, Hans 2 2015: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig Krah, Hans 2008: “ Der Hitlerjunge Quex - Erzählstrategien 1932/ 1933: vom Großstadtroman der Weimarer Republik zum ‘ mythischen ’ Erzählen im NS-Film ” , in: Spedicato und Hanuschek (eds.) 2008: 11 - 38 Krah, Hans 2006: “ Performativität und Literaturverfilmung. Aspekte des Medienwechsels am Beispiel von Franz Kafkas Der Prozeß (1925), Orson Welles ’ Der Prozess (1962) und Steven Soderberghs Kafka (1991) ” , in: Hammer und Schandorfi (eds.) 2006: 144 - 187 Laubenthal, Annegrit 1989: “ Cardillac ” , in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, München/ Zürich: Piper: 64 - 69 Lotman, Jurij M. 2010: Die Innenwelt des Denkens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Lotman, Jurij M. 1990: “ Über die Semiosphäre ” , in: Zeitschrift für Semiotik. Band 12 Heft 4 (1990): 287 - 305 Mertens, Dieter 1996: “ Zur Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I ” , in: Schwinges (ed.) 1996: 327 - 348 Nies, Martin (ed.) 2012: Deutsche Selbstbilder in den Medien. Film 1945 bis zur Gegenwart, Marburg: Schüren Petersdorff, Dirk von 2009: “ Intermedialität und neuer Realismus. Die Text-Bild-Kombinationen Rolf Dieter Brinkmanns ” , in: Schmidt und Valk (eds.) 2009: 361 - 377 Rajewsky, Irina O. 2002: Intermedialität, Tübingen/ Basel: A. 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Potenziale eines semiotischen Blicks in der Lehrer*innenbildung, (= VZKF-Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 7/ 2019), im Internet unter https: / / ojs3.uni-passau.de/ index.php/ skms/ article/ view/ 198 124 Dennis Gräf (Passau) K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas Hans Krah (Passau) This paper examines how interfaces between texts, media and knowledge are established, by taking the examples of medial adaptations presenting the story of the Spartan king Leonidas. It focuses especially on the perpetuation of knowledge and the appropriation of existing source material. It takes three different aspects into consideration: 1. The relation between text and knowledge and the distinction between an ‘ epistemic ’ and a ‘ configurative ’ reference. 2. The text which is transformed into another medium and the status of such adaptations. 3. The approach to the knowledge generated by media and its ideological relevance concerning meaning, interpretation and attribution. 1 Gegenstand und Erkenntnisinteresse Frank Miller, der als Comiczeichner vor allem durch seine Graphic Novel-Reihe Sin City bekannt geworden ist, legte 1999 den Comic 300 vor, der in seinem durchaus aufwändigen Format eher an einen opulenten Bildband als an einen herkömmlichen Comic erinnert. 1 Untergliedert ist der Band in die fünf Kapitel “ Honor ” , “ Duty ” , “ Glory ” , “ Combat ” und “ Victory ” , wodurch zum einen ein textinterner Geschehenszusammenhang aufgerufen wird, der des Kampfes aus Gründen der Ehre und der Pflicht, zum anderen mit diesem Geschehenszusammenhang und dessen kommentierender Zusammenfassung durch die Titel auf Bekanntes Bezug genommen wird. Das letzte Kapitel “ Victory ” markiert diese Referenz durch den sich darin artikulierenden scheinbaren Widerspruch deutlich: 300 bezieht sich in seiner präsentierten Geschichte auf ein kulturell tradiertes Geschehen, das Wissen um Leonidas. Millers Text soll im Folgenden den Nukleus von Texten bilden, mit denen der Umgang mit solchen Wissensmengen beleuchtet werden soll, die sich durch unterschiedliche Texte konstituieren, die zum einen auf einen gemeinsamen Stoff Bezug nehmen (wie hier eben 1 Es handelt sich um ein Hardcover-Querformat mit den Maßen 25,5 cm x 32,5 cm; auch die Kolorierung (die von Millers damaliger Frau Lynn Varley ausgeführt ist) trägt dieser Opulenz Rechnung. Das Buch ist unpaginiert und wird im Folgenden ohne Seitenverweise zitiert, wobei Textteile einer Sprechblase jeweils in eigene Anführungszeichen gesetzt werden. exemplarisch auf Leonidas) und zum anderen dadurch auch (potentiell) untereinander interagieren. 2 Fokussiert werden sollen dabei (i) zum einen Schnittstellen im Geflecht von Wissen, Formatierungen von Wissen und dessen Funktionalisierung in Texten, (ii) zum anderen Schnittstellen zwischen dem in unterschiedlichen Medien adaptierten Textwissen und (iii) zum Dritten Schnittstellen zwischen textueller Bedeutung und durch Paratexte gesteuerte Rezeption, wodurch wiederum weitere Fortschreibungen forciert werden. 2 Schnittstellen I - Formationen: Wissen und Texte 2.1 Leonidas als Exempel Bezug genommen wird bei dem Leonidas-Wissen bekanntermaßen auf eine Episode aus den Perserkriegen im antiken Griechenland. Der Spartanerkönig Leonidas konnte mit nur 300 Spartiaden und anderen verbündeten Poleis im Engpass der Thermopylen 480 v. Chr. das zahlenmäßig weit überlegene Heer des Perserkönigs Xerxes am Einmarsch in Griechenland aufgrund der strategischen und topographischen Lage des Ortes drei Tage lang behindern, bis die Griechen durch Verrat und der dadurch ermöglichten Umgehung ihrer Stellung diese räumen mussten. Leonidas und seine Spartiaden, die sich nicht zurückzogen, wurden bis auf den letzten Mann in der Schlacht getötet. Es geht um eine militärische Niederlage, die sich aber angesichts der im Jahr darauf, 479 v. Chr., erfolgten Siege von Salamis und Plataiai, bei denen die Perser besiegt und endgültig zurückgeschlagen werden konnten, und der Deutung der Motivation für das Ausharren als spartanisches ‘ Gesetz ’ , als heroische Untergangsinszenierung instrumentalisieren ließ und sinnstiftend sowohl (i) für die Gemeinschaft als auch (ii) für das Individuum wie (iii) für die Relation von Individuum und Gemeinschaft funktionalisiert werden konnte: “ Victory ” also doch. Am Ort des Geschehens wurde eine Gedenkstätte errichtet und erinnert ein in eine Tafel im Boden graviertes, Simonides von Keos zugeschriebenes Epigramm an die Spartaner. Da sie zudem vielfältig ‘‘ archiviert ’’ wurde (zu nennen ist insbesondere Herodot, der das Geschehen im siebten Band seiner Historien aufgreift), konnte diese Episode ins kulturelle Wissen eingehen. Der Comic reiht sich ein in eine lange Tradition der medialen Überlieferung. Wie Anuschka Albertz 2006 in ihrer Studie Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von derAntike bis zur Gegenwart darlegt, sind die antike Schlacht und die mit ihr verbundenen Konnotationen von Heldentum nicht primär national ausgerichtet, sondern aufgrund des kulturellen Abstands mit einer bestimmten Abstraktheit versehen, die es zum einen erlaubt, die Konstellationen von ‘ eigen ’ und ‘ fremd ’ , Gemeinschaft und Individuum, Tradition und Exzeptionalität sowie Gleichheit und Elitarismus mit spezifischer Semantik zu füllen, und die zum anderen als kohärentes symbolisches Sinnangebot für Vergleiche verschiedenster Couleur geeignet ist. Dementsprechend klassifiziert Albertz diesen Gegenstand nicht als kollektive Identität konstituierenden Mythos, sondern spricht von einem Exempel im Sinne der klassischen 2 Der hier verwendete Wissensbegriff orientiert sich an dem von Michael Titzmann eingeführten, grundlegenden Konzept des kulturellen Wissens und baut darauf auf; siehe etwa Titzmann 1999 und 2017 a. 126 Hans Krah (Passau) Rhetorik (cf. Albertz 2006: 14 - 24), wobei sich dieses Exempel hauptsächlich in Historiographie, der Redepraxis und der sozialen Praxis im Totenkult niedergeschlagen hat. Vor dieser Folie haben sich, wie Albertz ausführt, verschiedene Nationen dieses Stoffes zu unterschiedlichen Zeiten bemächtigt. In der Neuzeit gab es einen ersten Rezeptionshöhepunkt in Frankreich zurzeit von Revolution und Empire, dem ein zweiter Höhepunkt in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgt (cf. ibid.: 26 f.), der sich aus einer Tradition speist, die im frühen 19. Jahrhundert vor allem mit einigen Dramen einsetzt 3 und die mit Friedrich Schillers Übersetzung des Epigramms von Simonides auf einen prominenten Bezugspunkt referieren kann. Aus Schillers 1795 verfasster Elegie stammen die Verse: Ehre ward euch und Sieg, doch der Ruhm nur kehrte zurücke, Eurer Taten Verdienst meldet der rührende Stein: “ Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl. ” 4 Dieses literarisch nobilitierte Sprachzeichen diente in seinem ersten Teil, also “ Wanderer, kommst du nach Sparta ” , und in seinem letzten, “ wie das Gesetz es befahl ” , als autorisierte Zeugenschaft, mit der sich semiotisch kulturelle Praktiken legitimieren ließen, indem Wissenskontexte, auf die verwiesen werden konnte, abgerufen wurden. Auch Millers Comic integriert diesen Spruch explizit: “ Go tell the Spartans, passerby: ” “ That here, by Spartan law, we lie. ” Exemplarisches Heldentum, wie Albertz es für den Leonidas-Stoff setzt, funktioniert nur dann, wenn im jeweiligen kulturellen Kontext eine Deutungslinie der ‘ historischen ’ Vorkommnisse in der Überlieferung dominant und grundsätzlich antikes Bildungswissen vorhanden ist; ein Vergleich setzt, um argumentativ wirken zu können, Wissen voraus. Dieses Wissen wurde vor allem durch Schulbildung vermittelt, insbesondere über das humanistische Gymnasium. Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts dürfte dieser Wissenskontext als kanonisiertes Schulwissen das Verstehen dieser Referenz gesichert haben (cf. Albertz 2006: 344). 5 2.2 ‘ epistemisches ’ vs. ‘ konfiguratives ’ Wissen Der insgesamt sehr gut argumentierenden geschichtswissenschaftlichen Arbeit von Albertz ist allerdings eine literaturbeziehungsweise textwissenschaftliche Perspektive, die eine Differenzierung hinsichtlich verschiedener Textsorten und Kommunikationsformen einbezieht, entgegen zu halten bzw. sie ist um eine solche zu erweitern. So sehr Albertz ’ Ergebnisse für Historiographie, Redepraxis und sozialer Praxis zutreffend sein dürften, so sehr muss, zumindest seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, für die Literatur, als ‘ Exemplum ’ ästhetischer Kommunikation, ein eigener Status reflektiert werden. 3 Einige dieser Werke seien genannt: 1812, Franz von Holbein: Leonidas; 1814, Wilhelm Blumenhagen: Die Schlacht bei Thermopylä; 1822, Joseph von Auffenberg: Die Spartaner, oder Xerxes in Griechenland; 1822, Karl von Toussaint: Leonidas bei Thermopylä / Todtenfeier für Leonidas; 1834, Anton Kaspar: Leonidas. 4 1800 in Der Spaziergang umbenannt; cf. Schiller (1795: Vers 95 - 98). 5 Für die Zeit nach 1945 konstatiert Albertz, dass dieses Wissen nicht mehr vorhanden ist, so dass sie nun für die Rezeptionsgeschichte von “ unspezifischen Linien ” (cf. Albertz 2006: 356) spricht. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 127 Hierbei erscheint es sinnvoll, zwei verschiedene Formen von Referenzbeziehungen und damit zwei unterschiedlich grundierte Wissensformationen zu differenzieren. Im Kontext des Verhältnisses von Text und Wissen ist zu unterscheiden (i) zwischen einer Verwendung, bei der der Bezug in seiner ‘ epistemologischen Referenz ’ , wie sie im kulturellen Wissen gespeichert ist, aktualisiert wird und demgemäß solches Wissen zum Verstehen der Textsemantik benötigt wird, und (ii) der Verwendung, die ich als ‘ konfigurative ’ benennen möchte, bei der zusätzlich und vorwiegend durch den Text selbst für diese Referenz Wissen generiert - und damit selbst Allgemeinwissen geschaffen wird. Im einen Fall dienen Wissenselemente als kulturelle Propositionen 6 dem Verständnis dessen, was der Text bedeuten soll, im anderen Fall werden sie selbst einem textuellen Semioseprozess unterzogen. Als prominentes Beispiel einer epistemischen Verwendung sei auf Hermann Görings Thermopylenrede zum 10. Jahrestag der Machtergreifung am 30. 1. 1943 verwiesen, in der er dem deutschen Volk mit “ Wanderer, kommst du nach Deutschland. . . ” die Niederlage von Stalingrad verkündet. Neben der Tatsache, dass in dieser Wissensformation überhaupt erst und nur die eigene militärische Lage vermittelt wird, wird diese damit zugleich in den Konnotationsraum von Erfüllung militärischer Pflicht, ehrenhaftem Untergang durch Kampf (statt elendem Verhungern), Rettung des Abendlandes (statt Invasion) und zukünftigem Endsieg gestellt (cf. Albertz 2006: 360). In ästhetischer Kommunikation können beide Praktiken vorkommen, eine epistemische Bezugnahme wie eine konfigurative, auch in Zeiten, in denen institutionalisierte Imagologien den Diskurs organisieren. Und auch im ersten Fall, dies sei betont, kann diese Referenz als Zeichen für unterschiedliche semantische Ausrichtungen eingesetzt sein, je nachdem, welcher Deutungsvariante gefolgt und welche Auslegung abgerufen wird, wobei diese dann historisch-kulturellen Kodierungen folgen. So etwa, wenn in Frankreich Leonidas mit revolutionär-republikanischem Wissen versehen ist oder zur NS-Zeit damit aristokratische und rassische Konnotationen konglomeriert und diese damit synthetisiert werden können oder im Totenkult auch noch nach 1945, wenn durch die Fokussierung “ wie das Gesetz es befahl ” militärische Pflichterfüllung und damit implizit individuelle Exkulpation betont werden (cf. Albertz 2006: 331). Ästhetische Kommunikation kann sich dieses Wissens bedienen, muss aber in dieser Form der Aneignung, also des epistemischen Bezugs, und damit einer Tradierung und Archivierung nicht aufgehen. Beispiele für Texte, die primär einen solchen epistemischen Bezug etablieren, finden sich nach 1945 wie etwa Bölls Erzählung Wanderer, kommst du nach Spa. . .(1950) oder Jandls Thermopylen-Gedicht (1957), sie finden sich früher wie etwa Bürgers Gedicht Die Tode (1793), wenn Leonidas im Sinne Albertz ’ als Exempel für den besten aller möglichen Tode fungiert: Für Tugend, Menschenrecht und Menschenfreiheit sterben Ist höchst erhabner Mut, ist Welterlöser=Tod: Denn nur die göttlichsten der Heldenmenschen färben Dafür den Panzerrock mit ihrem Herzblut roth. 6 Zum Begriff und zur Begriffsverwendung siehe Titzmann: 2017 a: 81 - 85. 128 Hans Krah (Passau) Am höchsten ragt an ihm die große Todesweihe Für sein verwandtes Volk, sein Vaterland hinan. Drei hundert Sparter ziehn in dieser Heldenreihe Durchs Thor der Ewigkeit den Uebrigen voran [Hervorhebung H. K.] [. . .]. (cf. Bürger 1796: 256) Aber auch Texte, die nicht nur eine Referenz installieren, um diesen Wissensbezug für die eigene textuelle Semantik und Argumentation zu funktionalisieren, Texte also, die Leonidas nicht primär als kulturelles Zeichen verwenden, mit dem ein Verweisungszusammenhang geschaffen wird, sondern diese Referenz durch den Text neu und eigenständig konfigurieren, gibt es nicht erst in jüngster Zeit. 2.3 Beispiele konfigurativer Bezüge: Leonidas-Dramen im frühen 19. Jahrhundert Bereits die Leonidas-Dramen im frühen 19. Jahrhundert gehen in ihren Semantiken nicht darin auf, über das Leonidas-Exempel Ausdruck der napoleonischen Befreiungskriege oder des griechischen Freiheitskampfes zu sein, auch wenn dies auch eine Dimension der Texte sein kann oder in Einleitungen explizit darauf verwiesen wird. Sie verhandeln dabei und darüber hinaus auch Weiteres: zentrale Parameter (spät-)goethezeitlicher literarischer Konstellationen, wie etwa die Fragen nach Autonomie, Kausalität, dem Status des exzeptionellen Individuums oder der Problematik konfligierender Wertesphären. Nicht umsonst vermerkt Albertz bezüglich dieser Dramen, dass die “ Aneignung in Deutschland politisch diffus ” blieb (cf. Albertz 2006: 213). 7 Die Texte sind in ihren Semantiken an ihre Produktionszeit gebunden und referieren darauf, d. h. die textuellen Befunde sind jeweils auf diesen kulturellen Kontext zu beziehen, aber anders als in anderen Textsorten steuern ästhetische Texte als Medien kultureller Selbstvergewisserung zu solchen Exempeln weitere Vorstellungen bezüglich kultureller Paradigmen und Mentalitäten bei, erzeugen als ‘ Bild von Wirklichkeit ’ selbst erst Imagologien des Wünschenswerten. Solche Konfigurationen lassen sich dabei bereits an der Figuration, den jeweiligen Figurenkonstellationen der Texte, und den sich daraus ergebenden Semantisierungen und Fokussierungen nachzeichnen, wie kurz an einigen Beispielen angedeutet und illustriert sein soll. Auch wenn Leonidas, Xerxes und Ephialtes (der Verräter) zum festen Bestandteil der Akteure gehören (oder gehören müssten), kann die jeweilige konkrete Umsetzung doch äußerst verschieden sein. So entfällt etwa in Joseph von Auffenbergs Drama Die Spartaner, oder Xerxes in Griechenland von 1822 die Rolle von Gorgo, der Ehefrau von Leonidas, zugunsten einer Schwester, Olympia, die aus Liebe zu ihrem Verlobten in der Schlacht mitkämpft, freilich gefangen genommen wird und sich nur durch einen von Leonidas empfangenen Dolch durch Freitod selbst vor drohender Vergewaltigung bewahren kann. Hier ist es Xerxes als psychisch problematisierte Person, anhand der ein Konflikt verhandelt wird: Xerxes ist einerseits durch die Vergangenheit, das Erbe seines Vaters, belastet, andererseits dadurch, 7 Zu den zentralen Paradigmen der Dramen der Zeit cf. Krah 1996 und Kainz und Krah 2009. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 129 dass er einen Sieg durch Verrat nicht für sein Helden- und Personenkonzept als angemessen empfindet. In Franz von Holbeins Leonidas von 1812 sind es weniger die (ideologisch) eindeutigen Männer wie Leonidas, seine Spartaner oder die Athener, die im Vordergrund stehen und den Gedanken eines gemeinsamen Vaterlands vertreten, und auch weniger Xerxes, der in einer eigentümlich ambivalenten Semantik einer Projektion Napoleons entspricht, als vielmehr die Frauen Gorgo und Artemisia. Beide vertreten eigene Ansichten und beide sind als Kämpferinnen aktiv an der Schlacht beteiligt, was ihnen im Gegensatz zu Olympia bei Auffenberg (noch) nicht negativ angekreidet wird (auch wenn Gorgo in Gefangenschaft gerät, führt dies nicht zu den Konflikten, um die es bei Auffenberg geht). Beide Frauen agieren aus ihrer Wertschätzung von individueller, leidenschaftlicher Liebe heraus und gelangen durch die Narration zwar zur Einsicht, dass eine solche Liebe und der aus einer solchen resultierende Hass nicht der höchste Wert sein kann, beide werden aber nicht abgewertet oder narrativ sanktioniert, sondern beiden wird für ihre Position durchaus Verständnis entgegengebracht. Ähnlich ergeht es Ephialtes, der den Verrat als treuer Sklave Leonidas ’ begeht, da er im Konflikt zwischen dieser individuellen Treue und dem Eid steht, den er seinen Eltern geschworen hat, nämlich die Heloten für das von den Spartanern an ihnen begangene Unrecht zu rächen. Auch dies wird allgemein akzeptiert und da Ephialtes dies explizit und direkt kommuniziert, wird ihm verziehen und er kann und darf ehrenvoll Selbstmord begehen. In Karl von Toussaints Leonidas bei Thermopylä von 1822 wird fast ausschließlich auf einer kollektiven Ebene argumentiert, was etwa daran zu sehen ist, dass Xerxes als Figur nicht auftritt und die Hauptprotagonisten als “ Freunde, Brüder, Amphiktyonen ” (cf. Toussaints 1822: 2), also als gemeinsamer Rat auftreten. Insbesondere zeigt sich dies daran, dass es keinen Verräter mit dem Namen Ephialtes gibt, sondern der Verrat durch die Thebaner kollektiv verübt wird. Demgemäß ist es hier der Gegensatz von Verrat und Treue und der Umgang damit, der im Fokus verhandelt wird, etwa mit der Figur der Elina, die den Verrat ihres Verlobten verrät, oder des Gesandten Osroe, der als Perser den Verrat der Thebaner negativ bewertet, oder allgemein mit Leonidas, der als von den Göttern vorbestimmtes Opfer für Griechenland sein Verhältnis zu Griechenland darlegt. Die Schlacht selbst steht nicht im Vordergrund, sondern wird auf den letzten zwei Seiten des Textes abgehandelt. DieseThematik setzt sich dann in Toussaints Todtenfeier für Leonidas (ebenfalls 1822) fort, indem es hier um den die Thermopylenschlacht überlebenden und heimkehrenden Spartaner Elates geht, der damit also gegen das Gesetz verstoßen hat, der aber, im Namen (des toten) Leonidas, reintegriert wird und eine zweite Chance erhält. Im Übrigen wird hier bei Toussaint bezüglich der Gegnerschaft zu Xerxes eine Position eingenommen, die die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanders mit Handelsbeziehungen prinzipiell einschließt und nicht das Fremde von vornherein ideologisch ablehnt. Diese Griechen halten sich dann auch explizit an das Völkerrecht, was den Umgang mit dem persischen Gesandten betrifft (cf. hierzu Abschnitt 3). 130 Hans Krah (Passau) 3 Schnittstellen II - Adaptionen: Text und Medien Wissen wird nicht nur durch Bezug zu textexternen Wissensformationen transportiert, sondern insbesondere auch durch textuelle Fortschreibungen, seien dies adaptive, intermediale Formen oder transmediale (wobei letzterer Fall mit der Dominanz von konfigurativem Wissen einhergehen dürfte). 8 Im Kontext von Leonidas sei diesbezüglich die Beziehung von Millers Comic und dessen Verfilmung 300 von Zack Snyder (2007) herausgegriffen, zumal für Film und Comic 300 eine Art symbiotisches Verhältnis deklariert wird: Der Film setze werkgetreu die Ästhetik des Comics um. “ Viele Bilder sind exakt dem gezeichneten Original nachempfunden, ganze Dialogteile wurden Wort für Wort übernommen ” , so ist zu lesen. 9 Die folgende Vorstellung von Comic und Film orientiert sich an der Fragestellung, wieweit eine solche Referenz, die sowohl in den Paratexten zum Film als auch in den mehr oder weniger seriösen Kritiken über den Film eine nicht unwichtige Rolle in der Argumentation spielt (siehe Abschnitt 4), gehen kann und welche Schlüsse tatsächlich daraus gezogen werden können. Für einen Vergleich von Vorlage, Millers Comic, und Adaption, Snyders Film, werden im Folgenden der (medial bedingte) Discours, die (textuell konstruierte) Histoire und das (kulturell geprägte) Dispositiv einer Betrachtung unterzogen. 3.1 Discours - Film und Comic: grundlegende mediale Gegebenheiten Betrachtet man einzelne Panels des Comics und vergleicht diese mit der Mise en Scène des Films, 10 dann sind Ähnlichkeiten offensichtlich. Die Aussage “ Viele Bilder sind exakt dem gezeichneten Original nachempfunden ” trifft auf einer Oberflächenebene durchaus zu. Der filmische Discours scheint dem Comic tatsächlich zu entsprechen und dies scheint im Film durch Auffälligkeiten und Besonderheiten, die ihn von anderen Filmen auf der Ebene des Discours unterscheidbar machen, auch betont zu werden. Die Abb. 1 bis 3 sollen dies illustrieren: Zentrale Beispiele für Einstellungen, die sich an den Comicbildern orientieren, sind anhand der (durch den Film hinaus berühmt gewordenen) ‘ Das ist Sparta ’ -Episode zu sehen, bei der der persische Abgesandte in Sparta durch Sturz in den Brunnen getötet wird, anhand des gerahmten Blicks des Leonidas aus seinem Helm heraus und anhand des toten Leonidas in Mitten der Spartaner. 8 Cf. hierzu einführend Decker 2016. 9 Cinema.de 2007; so auch der Tenor insgesamt bei DiLullu 2007. 10 Die Beschreibungskategorien für den Film als audiovisuellen Format, basierend auf der filmischen Einstellung, folgen der Darstellung in Gräf et. al. 2017, diejenigen für den Comic, aufbauend auf der Panelstruktur, orientieren sich an McCloud 2001; zum Einstieg in die Comicanalyse sei darüber hinaus auf Abel und Klein 2016, Dittmar 2008 und Schüwer 2008 verwiesen. Zum Medienbegriff und seinen Aspekten aus semiotischer Perspektive c.f. einführend Krah 2017 b. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 131 Abb. 1 a: Film, ‚ Das ist Sparta ’ Abb. 1 c: Comic, ‘ Das ist Sparta ’ Abb. 1 b: Film, ‘ Das ist Sparta ’ Abb. 1 d: Comic, ‘ Das ist Sparta ’ Auch wenn dieser Befund gegeben ist, so kann dies allerdings nicht zu der Annahme führen, dass solche ‘ originalgetreuen ’ Übernahmen die Semantik des Films determinieren müssten, also damit eine irgendwie geartete Identität von Film und Comic zu beweisen wäre. Solche Befunde sind zudem zunächst im Kontext der jeweiligen Medialität zu sehen und damit geht einher, dass die transportierte Bedeutung des quasi Übernommenen changiert. Für den Discours in seinem durch das Medium bedingten strukturellen Geflecht gilt, dass ‘ Gleiches ’ noch lange nicht das ‘ Gleiche ’ sein muss. Ausgehend von dem toten Leonidas (Abb. 3 a und b) kann konstatiert werden: (i) Zu sehen ist hier bereits auf der Ebene der Mise en scène, dass diese Bilder die Zeichnungen des Comics selbst nur als Vorlage verwenden, um daraus ‘ Gemälde ’ zu machen. Dieser Medienwechsel innerhalb der Bildenden Kunst geht damit einher, dass diese ‘ Gemälde ’ deutliche Anleihen an spezifischen Genremalereien nehmen, beim Schlachtgemälde etwa und bei der Christus- (oder zumindest christlichen Märtyrer-)Ikonografie. 11 11 Ähnlich erkennt dies auch Herwig 2010: 69. 132 Hans Krah (Passau) Abb. 2 a: Film, ‘ Blick aus Helm ’ Abb. 2 b: Comic, ‘ Blick aus Helm ’ (ii) Dies korreliert damit, dass sich das Format ändert und das Abgebildete durch seine Größe auf der Leinwand monumental erscheint. Da das Gezeigte zudem nicht mehr in einen Panelzusammenhang auf einer Seite oder auf einer Doppelseite eingebunden ist, erscheint es singulär-repräsentativ und verweist damit über sich und seine Einbindung in den Geschehenszusammenhang hinaus. Es wird, nur mehr durch den Filmrahmen an sich gerahmt, zum autonomen Kunstwerk innerhalb des Kunstwerks. (iii) Am Beispiel des toten Leonidas lässt sich des Weiteren zeigen, dass hier nicht einfach nur das Bild übernommen ist, sondern im Film durch einen Zoom weg von Leonidas erst sukzessiv das gesamte Ensemble entfaltet wird. Mit der daraus resultierenden Fokussierung auf Leonidas wird nicht nur die Relevanz des Protagonisten unterstrichen, sondern dieser durch die Kameraführung auch als Ausgangspunkt und Zentrum dieses Ensembles ausgewiesen. Damit wird über das im Bild semantisch-ideologisch Dargestellte hinaus - der schöne Tod inmitten der Seinen - eine zusätzliche argumentativ-rhetorische Dimension installiert. In der Zeichnung, die statisch ist und deren Signifikanten und Zeichenäquivalente simultan vorhanden sind, ist dies so nicht zu leisten. (iv) Der Zoom vermag zudem auf die generelle Qualität der Bilder im Film zu verweisen, durch die sich diese vom Bild im Comic grundsätzlich unterscheiden. Aufgrund der Medialität handelt es sich prinzipiell, auch wenn wie im Beispiel des toten Leonidas das Bild durch eine lange Verweildauer statisch sein kann, um bewegte Bilder. So trivial dies sein mag, es bedeutet auch, dass die Länge des Wahrnehmungsvorgangs nicht durch individuelle Rezeption gesteuert werden kann, sondern vorgegeben ist, wie dies auch für die Abfolge der einzelnen Zeichen und die Auswahl dessen gilt, auf was der Blick gelenkt wird. Letzteres gilt zwar (im Normalfall) auf der Ebene der Panels (in ihrerAbfolge) ebenso im Comic, nicht aber für das, was innerhalb eines Panels dargestellt ist. Hier ist analog einem Bild die Visualität durch Simultanität organisiert und dies bedeutet, dass alle in einem Panel enthaltenen Zeichen zunächst gleich wichtig oder gleich unwichtig sind. 12 12 Cf. zu den Grundlagen des Bildes Titzmann 2017 b. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 133 Abb. 3 a: Film, ‘ der tote Leonidas ’ Abb. 3 b: Comic, ‘ der tote Leonidas ’ (v) Damit ist einerseits eine andere Strategie der Relevantsetzung gefordert, damit können andererseits Daten hinsichtlich ihrer informativen Relevanz in einem Bild ‘ versteckt ’ sein. In 300 ist dies etwa an der Nacktheit der Spartaner zu sehen. Während im Comic Nacktheit in einzelnen Bildern vorhanden ist, ohne dass dies thematisiert wird oder werden müsste, käme einer männlichen Nacktheit im Film durch das kontinuierlich bewegte Bild eine andere Relevanz zu. Dementsprechend sind aufgrund der anderen strukturellen Eigenschaften des Mediums die Spartaner im Film immer bekleidet. (vi) Dies korreliert natürlich auch damit, dass sich dies zudem vor der Folie der Veränderung von gezeichneten Körpern zu Realkörpern vollzieht. (vii) Hier lässt sich zudem die Eigenständigkeit der einzelnen Panels gegenüber der Abfolge von Einstellungen im Film verdeutlichen, die eben keinen gleichartigen kohärenten Zusammenhang ergeben müssen oder nicht primär hinsichtlich eines solchen interpretiert werden. Im Comic stört es eben nicht, wenn die Spartaner in manchen Panels nackt, in anderen nicht nackt sind. Im Film würde dies aufgrund fehlender Kohärenz (die in diesem 134 Hans Krah (Passau) Fall aufgrund kultureller Tabuisierungen zudem sehr offensichtlich wäre) zumindest Irritationen verursachen. Panels und ihr Verhältnis zueinander sind nicht mit der Abfolge von Einstellungen gleichzusetzen. Ihre Größe kann variieren, die Grenze zwischen ihnen ist als sogenannter ‘ Rinnstein ’ explizit markiert. 13 Auch ihre Anordnung muss nicht notwendig linear ausgerichtet, sondern kann selbst partiell dem Prinzip der Simultanität geschuldet sein und damit einer Freiheit der Lesebzw. Rezeptionsrichtung. (viii) Schließlich kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Bilder im Film nicht nur durch ihren nachzeitigen Ablauf gekennzeichnet, sondern auch gleichzeitig mit anderen Informationskanälen kombiniert sind. 14 So transformiert sich bei der Übernahme von sprachlichem Text aus den Schriftteilen des Comics dieser medial ins Mündliche und Auditive, wodurch diesem Text nun eine eigene, andere mediale Qualität inhärent ist, gerade auch was Aspekte von Emotionalisierung und Inkorporierung anbelangt. Solche Soundeffekte spielen im Film eine große Rolle bei der affektiven Involvierung. Stimmlage und Sprechweise eines Voice over-Erzählers und Zeitpunkte, wann die Stimme zu hören ist, verändern und beeinflussen die semantisch-ideologische Relevanz der vermittelten Informationen erheblich. Dabei sind in 300 Sprechanteile und Soundwords, also die visuell durch Signifikanten als Signifikate vermittelten Geräusche, ins Auditive übertragen und werden nicht als Sprechblasen und Soundwords auf der visuellen Ebene des Films wiedergegeben, wie dies in anderen Comicverfilmungen durchaus der Fall ist. 15 Auf diese Variante, die im Medium Film deutlich den intermedialen Bezug, eine Comicverfilmung zu sein, indizieren würde, wird in 300 verzichtet. In 300, so kann resümiert werden, sind es gerade die auditiven Kanäle Musik, Ton und Sprache - deren Zusammenspiel und deren Interaktion mit den Bildern - , die die vielbeschworene Bildgewalt erst mit konstituieren. So verdanken sich die Teile des Films, die zu eigenen ‘ Ikonen ’ geworden sind - die “ Das ist Sparta ” -Episode, die Knie-Episode und der Wurf auf Xerxes, die Einbettung in den Erzählrahmen - , als diese Ikonen gerade der filmischen Umsetzung, also der Verbindung der Bilder mit dem Ton, der spezifischen Bewegung der Bilder und dem Schnitt. Da die Bilder im Film prinzipiell, material medial, bewegte sind, ist eine grundsätzlich andere Zeitregie möglich. Gerade diese filmisch indizierte Abfolge und der Umgang mit Zeit, die nicht auf den Comic zurückgehen, sind es, die für den Film 300 im Einsatz von slow motion, Zeitraffer und Zeitdehnung, einen spezifischen Rhythmus vorgeben, der neben der Mise en Scène wesentlich zur Ästhetik der textuellen Zeichen beiträgt. Die dem Film eigene Ästhetik, die sich angeblich der Vorlage des Comics verdankt, ist also eine genuin filmisch konstruierte. Dass durch diese genuin filmischen Möglichkeiten auch ein eigener Point of View installiert wird 16 und ganz eigene Strategien der Involvierung einhergehen und damit auch die jeweiligen Semantiken zudem in einen eigenen rhetorischen Rahmen zu verorten sind, 13 Zu Begriff und Relevanz des ‘ Rinnsteins ’ und seinen Implikationen cf. McCloud (2001: 68 - 101). 14 Der Discours des Films und der Discours des Comics weisen deutliche Unterschiede auf, wie bereits bisher ausgeführt. Wenn Herwig (2010: 65) davon ausgeht, dass Film und Comic verwandte Medien seien (und ähnlich strukturiert sind), dann ist dies deutlich undifferenziert und greift gerade in diesem Kontext zu kurz. 15 So etwa in Batman hält die Welt in Atem (Batman, USA 1966, Leslie H. Martinson). 16 Siehe zum Erzählrahmen noch Abschnitt 4.2. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 135 sei hier bereits angemerkt, bevor im nächsten Kapitel diese Semantiken selbst - in ihrem Bezug zur Vorlage - Gegenstand der Analyse werden. 3.2 Histoire - Differenz trotz Ähnlichkeit: Spezifika der Filmsemantik Die spezifisch filmisch konstruierte Ästhetik korreliert mit einer spezifisch filmisch modellierten Semantik. Die Semantik des Films bestimmt sich trotz übernommener Elemente nicht aus diesen Übernahmen, sondern daraus, wie diese Übernahmen in einem neuen Gesamtsystem eingebunden sind und wie sie dort mit anderen Elementen interagieren. Dieses neue filmische Gesamtsystem konstituiert sich im Vergleich zum Comic auch aus Modifikationen und Adjunktionen, also Hinzufügungen, die in keiner Weise auf den Comic zurückgehen. 17 Zudem sind auch Übernahmen zu interpretieren; denn auch sie hätten nicht vorgenommen werden müssen. Wenn sie es sind, dann repräsentieren sie Vorstellungen, die zum eigenen, neuen Konzept passen. Dass sie im Film erscheinen, ist also nicht selbstverständlich (und unhinterfragbare Gegebenheit), sondern beruht auf einer Wahl, wie bewusst oder weniger bewusst diese auch sein mag. Dies kann an solchen Beispielen vergegenwärtigt werden, bei denen es gerade zu keiner direkten Übernahme gekommen ist, im Unterschied zu Beispielen auf einer vergleichbaren Ebene, wo dies der Fall ist. Wie etwa bei den Figuren. So ist Xerxes in seiner Physiognomik übernommen, Dilios, der Erzähler, gerade nicht (Abb. 4 a und b). Abb. 4 a: Film, ‘ Dilios ’ Abb. 4 b: Comic, ‘ Dilios ’ Xerxes als übergroßer, gepiercter und damit Fremdheit indizierender Freak passt also weiterhin in das Konzept, ein etwas korpulenter, wenig athletisch aussehender Geschichtenerzähler nicht. Dilios wird im Film zum Rahmenerzähler und damit deutlich aufgewertet, gleichermaßen zur vermittelnden Norminstanz wie zum Krieger-Nachfolger von Leonidas. 17 C.f. zur Vorgehensweise und zu den Begrifflichkeiten, die auf Michael Schaudig Bezug nehmen, Krah 2006. 136 Hans Krah (Passau) Beides, so ist zu schließen, bedarf in der Ideologie des Filmes einer bestimmten Physiognomik, die der ursprüngliche Dilios nicht aufweist. 18 Alle diese Faktoren, Übernahmen, Modifikationen, Hinzufügungen usw., setzen die übernommenen Elemente in einen neuen Bezugsrahmen und verändern damit deren Wertigkeit, Funktion und Bedeutung. Einige der zentralen Veränderungen und die semantischen Implikationen, die damit einhergehen, seien im Folgenden vorgestellt. Zunächst sei ein Blick auf die Figurenkonstellationen von Film und Comic geworfen, die sich sehr ähneln, für die aber doch feine Unterschiede auszumachen sind. Im Film wie im Comic erscheinen sowohl Leonidas als auch Xerxes als Monolithen, die nicht in soziale Strukturen eingebunden sind, sondern über solchen stehen. Xerxes stellt dabei den negativen Gegenentwurf dar, der der Konzeption von Leonidas Kontur und Integrität verleiht. Leonidas wird durch die gesellschaftlichen Strukturen Spartas in seinem Weitblick behindert und eingeschränkt, einen Weitblick, den er legitimer Weise hat, so die zugrundeliegende Semantik in beiden Medien. Im Comic hat er diesen Weitblick autokratisch aus seiner Person heraus. Im Film dagegen erhält Leonidas Legitimität (zusätzlich) dadurch, dass er diachron in eine Familie eingebunden ist. Was er von seinem Vater hat, gibt er seinem Sohn weiter. 19 Der Vater ist im Comic visuell nicht präsent, einen Sohn gibt es im Comic nicht. 20 Handlungsrelevant wird im Film Gorgo, die Ehefrau Leonidas, die als Mutter und liebende Ehefrau aufgewertet wird und der ein ‘ eigener ’ Opponent zugeordnet ist, den es im Comic nicht gibt: den Spartaner Theron, durch den sich der Verrat des Ephialtes doppelt und spiegelt. Diese Veränderungen bezüglich der Figurenkonstellation korrelieren mit einer Veränderung auf der Ebene der Handlung. Der Film etabliert einen vollständig neuen zweiten Handlungsstrang, der im Comic nicht vorkommt oder auch nur implizit angedacht wäre: Das Kampfgeschehen bei den Thermopylen alterniert mit den Heimatepisoden um Gorgo, den Verräter Theron und den Bemühungen Gorgos, in Sparta Unterstützung für Leonidas zu erhalten. Dieser zweite Handlungsstrang dient, so lässt sich resümieren, (i) einer (inszenierten) Darstellung und Aufwertung der Frau als emanzipiert und eigenständig handelnd, er dient (ii) gleichzeitig dazu, Leonidas als liebenden Ehemann zu semantisieren, der sein Handeln auf Frau und Familie ausrichtet, um so seine Attribuierung als positiven Helden zu forcieren. Millers Vorlage ist von einer solchen zweiten Front wie von einem solchen Familiendenken vollständig frei. Leonidas Mutter wird nicht thematisiert, Gorgo spielt keine Rolle. Die pseudoemanzipatorische Aufwertung der Frau wie die familiäre Einbindung in die auf Liebe 18 Nur am Rande sei angemerkt, dass auch die Figur des Leonidas leichten Veränderungen ausgesetzt ist; während sie im Comic eher hager visualisiert ist und älter wirkt, etwa 40 - 50jährig, ist sie im Film deutlich in Richtung Virilität verjüngt. 19 Die diachrone familiäre Einbettung verbleibt auf einer Ebene des ideologischen Einflusses und der einmal getätigten Ausrichtung, die die Konstanz der Person katalysiert. Sobald Leonidas initiiert und damit König ist, verschwinden die Eltern (ganz gemäß dem goethezeitlichen Initiationsmodell) aus der dargestellten Welt. 20 Angedeutet wird nur, dass es in der Nacht vor dem Aufbruch zu den Thermopylen einen intensiven Sexualverkehr zwischen Gorgo und Leonidas gegeben hat (Gorgo: “ This explains your enthusiasm last night. ” , wobei sich das “ This ” auf die Tatsache bezieht, dass der Aufbruch zu den Thermopylen von vornherein als ‘ Himmelfahrtskommando ’ konnotiert ist), der offenbar der Zeugung eines solchen Sohnes dienen soll. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 137 basierenden Kleinfamilie mit Stammhalter gibt es in der Vorlage nicht. Hier ist Gorgo auf wenige Panels reduziert. Familie als Wert, über den auch nur diejenigen verfügen, die sich diesen Wert durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Denken verdient haben, ist eine Vorstellung, die nur der Film bedient und zelebriert, nicht der Comic. Diese Abweichung von der Vorlage ist schließlich (iii) im neuen kulturellen Kontext der Filmproduktion zu sehen: Mit dem Aufbau einer Heimatfront reagiert der Film auf Mentalitäten, die sich im Zuge von 9/ 11 Bahn brechen. Mit Theron wird die generelle Gefahr der Infiltrierung durch das Fremde im Eigenen betont. Letztlich - und die obigen Punkte zusammenfassend - ist dieser Strang im Kontext einer konventionellen Hollywood- Dramaturgie (siehe Abschnitt 3.3) zu sehen, der also trotz Comicvorlage Tribut gezollt wird. Eine weitere, nuancierte Änderung, in der sich die bereits beschriebenen im filmischen Discours im Detail manifestieren, lässt sich anhand der ‘ Das ist Sparta ’ -Episode zeigen. Im Film wie im Comic ist sie eine der zentralen, wirkmächtigen Episoden, im Comic bildet sie den Abschluss des ersten Kapitels “ Honor ” . Sosehr sich diese Episode in den Bildern gleicht, so sehr ist sie im Film auch mit neuen semantischen Implikationen versehen. Im Comic sind es die Panels von zwei Seiten, in denen das Geschehen dargestellt wird (Abb. 1 c und d). Zu sehen ist, wie Leonidas mit seinen Männern und den persischen Gesandten durch eine engere Häuserzeile und die spartanische Öffentlichkeit zum offenen Platz mit der Brunnenöffnung geht, in die dann die Perser mit dem Ausspruch “ Das ist Sparta ” gestoßen werden. Mehr gibt es hier nicht zu sagen oder zu begründen. Im Film dagegen ist bei dieser Episode Gorgo anwesend und wird diese Episode insbesondere in einen Argumentationsrahmen gestellt. Auch wenn dies nicht verbalisiert wird, so wird dies durch filmsprachliche Mittel eindeutig ausgedrückt. Bedient wird sich hierzu des sogenannten Point of View-Shots, eine bestimmte Konstellation der Schnittfolge, durch die im Film die Möglichkeit besteht, eine subjektive Kamera zu installieren, das Geschehen also aus der Perspektive einer Figur zu zeigen und das Gezeigte als Wahrnehmung dieser einen Figur auszuweisen. Etabliert werden in der Episode also subjektive Perspektiven, ein Blick wird gezeigt, dann das, worauf geblickt wird. Im gegebenen Kontext ist diese perzeptive Dimension dazu funktionalisiert, der bevorstehenden Aktion einen Rahmen zu geben und mit diesem Rahmen zu deuten. Blickkonstellationen und Blickfolgen erlauben es, einen größeren Zusammenhang zu erkennen, in den das Antizipierte zu integrieren ist, und so den ‘ eigentlichen ’ Hintergrund für die Tat zu verstehen: Bevor Leonidas den persischen Gesandten in den Brunnen hinabstößt, imaginiert er selbst durch den Blick auf den Raum Sparta den Grund, warum er es tut, blickt dann auf Mütter und Kinder und versichert sich schlussendlich durch einen Blick auf Gorgo des Einverständnisses seiner Frau, die durch ihr Nicken zustimmt. Derart wird bewusst gemacht, für wen die Tat erfolgen muss: 21 für die Heimat, für die Familien, für die jüngere Generation; für die Nachfolger, für die es gilt, das Eigene zu bewahren (Abb. 5 a - g). 21 Diese Sequenz dient Herwig (2010: 69 f.) dazu, die Frage zu diskutieren, ob es sich bei Leonidas und Gorgo um ein “ gleichberechtigtes Herrscherpaar ” handle und mit ihnen das Konzept einer romantischen Liebe vorgeführt werde. Diese Fragen scheinen mir nicht zielführend zu sein, da sie ausblenden, dass es um eine filmische Konstruktion geht, die in einem ganz spezifischen argumentativen Kontext situiert ist. 138 Hans Krah (Passau) Abb. 5 a bis 5 g: filmische Point of View-Struktur Wie in der ‘ Das ist Sparta ’ -Episode zudem deutlich wird, gibt es auch Veränderungen bezüglich der räumlichen Ausgestaltung der dargestellten Welt. Wenn Leonidas seinen Blick auf Sparta schweifen lässt, sieht er nicht Stadtarchitektur, sondern kultivierte Natur. Neu gegenüber dem Comic sind in der Diegese die wogenden Getreidefelder, die blickmächtig den Hintergrund entscheidender Szenen bilden und dabei exklusiv mit dem Sparta Leonidas ’ in Verbindung stehen. Imaginiert wird damit, dass Grundlage der Existenz dieser fruchtbare Boden ist, nicht etwa der Handel (mit Fremden). Konnotativ wird mit diesen Bildern durchaus eine Blut- und Boden-Ideologie anzitiert, die, wie man weiß, ihre historischen Wurzeln hat. 3.3 Die Dispositive (Hollywoodblockbuster-)Film vs. Comic Die Befunde auf Discourswie Histoireebene lassen sich mit einer weiteren medialen Dimension verbinden, dem jeweiligen Dispositiv. Im Kontext der Medialität ist neben der medialen Oberflächenebene ein weiterer medialer Unterschied ausschlaggebend und kommen generelle Wissensbestände zum Tragen: Bei Comic und Film handelt es sich um unterschiedliche Dispositive, um Medien, die jeweils anderen kulturellen Gesetzmäßigkeiten und Wahrnehmungssemantiken unterliegen. Diese Dimension betrifft damit die kulturelle Relevanz und den kulturellen Status von Texten aufgrund ihres medialen Formats. Dies lässt sich nicht nur an der bereits aufgezeigten Adjunktion des zweiten Handlungsstrangs zeigen, in der Überführung des Comics zur Hollywoodkonvention, sondern auch (und vor allem) an ‘ kleinen ’ Veränderungen des Übernommenen. Aussagekräftig ist hierfür etwa folgende, im Film neu hinzugefügte Teilsequenz: Auf dem Weg zu den Thermopylen treffen die Spartaner im Film wie auch im Comic auf Daxos und dessen Arkadier, um dann, nur im Film, vor Erreichen der Thermophylen, einer Gräueltat der Perser ansichtig zu werden. Alle Bewohner einer Ansiedlung sind grausam ermordet, ihre Leichen rituell arrangiert in einen Baum gehängt, das Land brennt, nur ein Kind überlebt Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 139 und kann als Bürge für das Geschehene fungieren. “ Sie kamen aus der Dunkelheit ” , 22 teilt es mit. Zunächst ist offensichtlich, dass sich diese Sequenz in ihrer visuellen Umsetzung wie in ihrem Inhalt filmhistorischer Versatzstücke bedient, die konnotativ aufgerufen werden: Mindestens Aliens (1986) und The 13th Warrior (1999) werden in spezifischen Teilen anzitiert. 23 Gestützt wird damit eine Semantisierung des Gegners, die diesen als eigentlich nicht-menschlich, nicht individuell agierend, als prinzipiell unbegreiflich und ontologisch grausam setzt. Wozu bedarf es aber dieser Sequenz, zumal sie die Logik der Handlung eigentlich etwas konterkariert: Denn wenn die Perser bereits hier im Hinterland eingedrungen sind, wozu dann noch den Engpass der Thermopylen verteidigen? Hier sind mediale Unterschiede ausschlaggebend, die verdeutlichen, dass es sich bei Comic und Film um andere Dispositive handelt, um Medien, die aufgrund anderer kultureller Gesetzmäßigkeiten und Wahrnehmungserwartungen anderen Restriktionen unterliegen. Der Film, so lassen sich diese Befunde deuten, hält sich an eine bestimmte Dramaturgie, die mit dem Status des Films als zwar massenmedial einerseits, dabei aber ‘ kollektivformatiert ’ andererseits zusammenhängt (was es für den Comic nicht braucht). 24 Dem Hollywoodfilm ist als Medium ein Abgleich mit dem, was sich kulturell als ideologische Normalität eingependelt hat, eingeschrieben: Kurz vor dieser Gräuelsequenz wird vorgeführt, wie die persischen Abgesandten in Sparta getötet werden: Das ist - zwar - Sparta, das entspricht aber nicht dem Völkerrecht. Im Film wird diese letztlich doch völlig unmotivierte Gewalt zu plausibilisieren versucht. So bereits innerhalb dieser Sequenz, wenn, wie beschrieben, durch die Schnitttechnik und die Point of View-Struktur deutlich gemacht wird, dass dies für die Kinder und mit Billigung seiner Frau geschieht. Leonidas versichert sich des Einverständnisses und scheint zu reflektieren, seine Tat ist damit keine willkürliche, spontane, affektive, unberechenbare. Zudem wird im Anschluss mit dieser neuen Sequenz auf der narrativen Ebene der ‘ empirische ’ Beleg und die Rechtfertigung nachgeliefert, die rückwirkend diese Handlung als einzig plausible erscheinen lässt und in ihrer Verhältnismäßigkeit bestätigt. Die Dämonisierung der Perser als nicht-menschlich erfüllt in ihrer evidenten und symbolischen Form genau diese Funktion - mit diesen Persern kann nicht verhandelt werden, was Leonidas in seiner Weitsicht schon wusste. Sein Handeln geschah aus Fürsorge für sein Volk, dies dokumentiert sich hier. 22 Timecode 00: 30: 25. 23 In beiden Filmen geht es um den Kampf mit einem Gegner, der entweder per se nicht-menschlich ist (die Aliens) oder in seiner Inszenierung und seinen Merkmalen als übernatürlich, nicht menschlich erscheint (die Wendol). Im Vergleich mit dem Eigenen repräsentiert dieser Gegner jedenfalls immer das Fremde schlechthin, zu dem es keine Verbindung gibt (so erscheinen die Wendol als bärenartige, prähistorische, kannibalistische, aggressive Wesen, die in Höhlen hausen und mit dem Nebel und damit einer Konturlosigkeit und Unfassbarkeit in Verbindung gebracht werden). Für Aliens lässt sich zudem, neben den düsteren Atmosphären und den insgesamt durch die Filme vermittelten semantischen Anspielungen, mit der Sequenz, in der die Crew die vermissten Siedler zusammengepfercht und eingesponnen als Wirte der Aliens in einer Art Nest finden, eine Referenz auf der Ebene des Discours erkennen. 24 Zum Film als Hollywoodfilm siehe überblicksartig Krah 2017 c: 316 - 320. 140 Hans Krah (Passau) Das Comic-Dispositiv braucht diese Ausrichtung auf eine gemeinsame Wertebasis nicht. Leonidas handelt hier, wie er handelt - ohne dass diese Position innerhalb eines solchen ideologischen Geflechts des normal und im Konsens Nachvollziehbaren abgesichert werden müsste. Im Film dagegen dient Leonidas ’ Denken nur für Frau und Kind gerade dazu, einen Wertehorizonts zu installieren, der den Rahmen bildet, innerhalb dessen und mit dessen Hilfe andere Handlungen und Einstellungen relativ dazu ethisch interpretiert werden können. Im Comic ist das, mediengebunden, nicht notwendig für die Geschichte. Hier kann sich Leonidas auch ganz autokratisch explizit gegen Demokratie aussprechen: So antwortet er, als Stelios mit “ we are with you, sire, to the death ” bekräftigt, dass die Spartaner hinter Leonidas stehen, mit: “ I didn ʼ t ask. Leave democracy to the athenians, boy ” . Ein Dialogteil, der im Film nicht übernommen wird; stattdessen geht hier nur der “ boy ” -Anteil ein und wird eine antidemokratische Haltung über die Metaphorisierung seiner Spartaner als “ Kinder ” euphemistisch verbrämt und normalitätskonform kaschiert. Im Dispositivkonzept ist enthalten, welchen Stellenwert ein Medium in seiner Gesellschaft hat und welche Reichweite damit seine Konzepte entfalten können. 25 Als Leitmedium hat Film eine deutlich andere, größere Distribution als der Comic, also eine andere Wahrnehmbarkeit und Wirksamkeit, was sich etwa auch in dem Segment ‘ Verarbeitung ’ zeigt, wenn es mit der Filmkritik eine eigene, letztlich institutionalisierte Sparte gibt (im Gegensatz einer ‘ Comickritik ’ , die sich in Nischen findet oder im Netz eigene, spezialisierte Strukturen ausbildet, aber damit allerdings wenig allgemein wahrgenommen wird). Gewalt ist demgemäß auch nicht gleich Gewalt - Medienprodukte als Adaptionen nur hinsichtlich ihrer Inhalte in Bezug zu setzen und zu vergleichen, das greift zu kurz. 4 Schnittstellen III - Ideologien: Medien und Wissen Als 2007 Zack Snyders Film 300 als einer der erfolgreichsten Filme des Jahres in die Kinos kam, 26 war damit nicht nur ein weiterer Text gegeben, der die Schlacht an den Thermopylen zum Gegenstand hat, sondern zudem einer, der kontrovers diskutiert wurde. 27 Während die einen ihn hinsichtlich seines ideologischen Gehalts ablehnten, feierten die anderen ihn geradezu ob seiner Ästhetik als “ werkgetreue Comicverfilmung mit überwältigender Optik und kunstvoll stilisierten Kampfszenen ” (cf. Cinema.de 2007) und verteidigten ihn vehement gegen ‘ Anfeindungen ’ , wozu als ein zentrales Argument gerade der Sachverhalt bemüht wurde, dass es sich um eine Comicverfilmung handle: 25 Dies ist selbstverständlich eine variable Größe, die historischen Änderungen unterworfen und im Einzelfall zu reflektieren ist, etwa wenn Texte bestimmter Formate eine gesellschaftliche Relevanz erhalten, die ihrer dispositiven Bindung nicht entspricht (etwa Skandal über Comic). Cf. zu diesem Kontext allgemein Decker 2017, insbesondere das zur Semiosphäre Ausgeführte (ibid.: 437 - 441). 26 In den USA spielte der Film 210 Millionen US Dollar ein und erreichte Platz 10 der Jahrescharts, cf. Herwig (2010: 59). 27 Hier soll diese Diskussion nicht im Einzelnen nachvollzogen oder dargestellt werden, da es im Folgenden um die aus diesen Texten abstrahierbaren und verallgemeinerbaren Argumente gehen wird. Tagespolitische Kurzschlüsse (Irakkriegsprojektion und direkte Analogie ‘ Sparta = USA ’ ) bleiben ebenso ausgespart. Zu einem Überblick über diese Diskussion sei auf den Wikipedia-Eintrag zum Film 300 verwiesen, stellvertretend für eine kritische Position cf. Suchsland 2007. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 141 Wenn man schon den Vorwurf faschistoider Blut-und-Boden-Sudelei erheben wollte, müsste man ihn ebenfalls der Vorlage von Frank Miller anlasten, womöglich auch der Erstverfilmung der Schlacht an den Thermopylen von Rudolph Maté (cf. Cinema.de 2007) Der Film 300 sei also, so eine zentrale Argumentationslinie, ein Text, dessen ideologische Ausrichtung vorgegeben ist. Der Medienwechsel an sich dient als Argument, den inkorporierten ideologischen Gehalt zu entschuldigen, was zudem durch das quasi symbiotische Verhältnis, das deklariert wird, unterstützt wird. Bevor näher auf diesen paratextuell evozierten Diskussionskontext eingegangen wird, soll zunächst kurz die im obigen Zitat angesprochene und argumentativ eingebettete Erstverfilmung, der Film The 300 Spartans von 1962 in der Regie von Rudolph Maté, in ihrer Semantik skizziert werden. 4.1 Exkurs: die Verfilmung von 1962 Zu Rudolph Matés Verfilmung Der Löwe von Sparta (The 300 Spartans) ist zunächst anzumerken, dass sie im Sinne des konfigurativen Wissens ihre eigene Leonidas-Geschichte entwirft. Über diejenigen Gemeinsamkeiten hinaus, die sich durch das epistemische Wissen ergeben, weist sie keine weiteren mit Snyders oder Millers Version auf, insbesondere keine gemeinsame semantische Struktur. Dies zeigt sich en détail gerade an der jeweiligen Verwendung epistemisch überlieferter Topoi: So findet sich die auf Herodot zurückgehende Episode, dass der Himmel durch die Pfeile der persischen Bogenschützen verdunkelt wird, sowohl 1962 als auch 2007 (und 1999), 28 jeweils aber in ganz anderen diegetischen Handlungszusammenhängen. Während diese Episode 1962 den Tod der Spartaner verursacht ( “ finish them with arrows ” , heißt es etwas lapidar von Xerxes, was dann auch wenig spektakulär inszeniert umgesetzt wird), also den Endpunkt markiert, 29 ist sie bei Snyder / Miller zu Beginn derAuseinandersetzung mit den Persern zeichenhaft in Szene gesetzt und zeigt, wie wenig eine solche Masse den Spartanern etwas ausmachen kann. Der Angriff bleibt vollständig folgenlos. Insgesamt kann die Leonidas-Geschichte von Maté in ihren Semantiken historischkulturell ‘ eingenordet ’ werden: Sie ist im Kontext des Ost-West-Konfliktes zu sehen. Wie dies konkret modelliert ist und welche Paradigmen dabei wie involviert sind, ergibt sich aus der spezifischen textuellen Verfasstheit. Bereits über das Figureninventar lassen sich Aussagen bezüglich implizierter Welt- und Wertvorstellungen ermitteln. So ist auffällig, dass Leonidas in seiner Heldenrolle begrenzt ist und diese insbesondere durch die Gegenüberstellung mit Themistokles konturiert wird, so dass Leonidas hier nur die Rolle eines Soldaten und Kriegers (und Befehlsempfängers), nicht die eines Staatsmanns und Politikers zukommt. Das Heldenkonzept zeichnet sich wesentlich durch Bündnistreue aus, i. e., Leonidas und die Spartaner sind hierarchisch integriert und untergeordnet. Sie stehen an dem Platz, an den sie gestellt werden und leisten ihren Beitrag. Der zukünftige Sieg ist 28 Der darauf replizierende Ausspruch: “ Dann werden wir im Schatten kämpfen ” (Herodot), wird nur bei Snyder und Miller aufgegriffen. 29 Timecode 01: 47: 04. Leonidas ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot, alle anderen sind aber bereit, mit ihm und für ihn in den Tod zu gehen. Sie verweigern die Herausgabe des Leichnams, obwohl ihnen der freie Abzug für diesen Fall zugesagt wird. Impliziert ist damit ein anderes Konzept von Führerschaft, als es sich im Verhältnis von Führer und Geführte bei Snyder artikuliert. 142 Hans Krah (Passau) aber Themistokles als Planer des Ganzen, durch den die Griechen zu einer Front geeinigt werden, bei Salamis vorbehalten. Die Beziehungen der griechischen Polis untereinander lassen sich mit der unangefochtenen Führerschaft von Athen sehr deutlich auf das Verhältnis der USA zu den westlichen Verbündeten projizieren. Demgemäß spiegeln die Perser die (sowjetische) Gefahr aus dem Osten wider. Xerxes ist dabei nicht der übermächtige Gegner und Alleinherrscher, sondern als eigentlich schwächlich und ohne eigene Linie gekennzeichnet, dies vor allem, da er sich von einer Frau, Artemisia, beeinflussen und verführen lässt. Durch die Konfiguration von Ephialtes artikuliert sich eine spezifische Konzeption des Verrats. Ephialtes wird in seiner Relevanz als Verräter entwertet, insofern er nicht Spartaner, sondern Ziegenhirte ist, den Verrat nicht aus eigenem Wissen begehen kann, sondern nur durch Belauschen seines spartatreuen Ziehvaters und er eben nur angenommenes Kind ist und eigentlich fremd; dieses Fremde im Wesen bleibt dann eben auch trotz Sozialisierung erhalten. Eigen und fremd können nicht vereint werden. Außerhalb von Familie zu stehen ist hier bereits Zeichen von Delinquenz. 30 Ähnliches gilt für eine dominante Frau, die den Mann nur negativ beeinflussen kann; in diesen Aspekten lassen sich anthropologische Ideologeme im Kontext der 1950er Jahre erkennen. Neben diesen Semantiken ist vor allem zentral, dass die Diegese in einen Erzählrahmen integriert ist, der zeitlich in der Gegenwart der Textproduktion situiert ist. Eine sonore, männliche Voiceover-Stimme, die über das Wissen der 1960er Jahre verfügt, leitet in das Geschehen ein, indem sie über den Ort des Geschehens informiert und dessen Bedeutung vorgibt: “ This is the story of a turning point in history [. . .] when 300 greek [! ] warriors fought here to hold with their lifes their freedom - and ours ” (cf. Timecode 00: 00: 35 - 00: 00: 47). Visuell wird dabei auf den Gedenkstein und dessen Inschrift fokussiert, dieser wird am Ende des Films wieder aufgegriffen, die Inschrift nun auditiv vorgetragen, der weitere Verlauf der Perserkriege mit den Siegen von Salamis und Plataiai mitgeteilt und vor dem visuellen Hintergrund eines Reliefs des aufgebahrten Leonidas, das mit marschierenden Spartanern, wie sie im Film gezeigt wurden, überblendet wird, Resümee gezogen: “ But it was more than a victory for Greece, it was a stirring example for free people throughout the world ” (cf. Timecode 01: 48: 25 - 01: 48: 32). Gerade die Figuration von Leonidas und das dadurch implizierte Konzept eines Führers wie die textinterne Anbindung an die Gegenwart und die dadurch gegebene Funktionalisierung des Vorgeführten als historische Geschichte, die aber explizit auf die eigene Zeit bezogen wird und die Relevanz für ‘ uns ’ hat, quasi als Vermächtnis, zeigen, dass sich dieser Text von den Versionen sowohl von Miller als auch von Snyder grundsätzlich unterscheidet und gerade bezüglich seiner Normaussagen und seines ideologischen Gehalts ganz anders konzipiert ist. Letztlich, trotz aller konfigurativen Aneignungen im Text, wird 30 Auch wenn auch hier Familie als Paradigma relevant ist, so unterscheidet sich dies doch grundlegend von der Semantik dieses Paradigmas, wie sie in Snyders 300 konzipiert ist. Während hier, 1962, im Prinzip jeder, auch Xerxes, in familiäre Beziehungen eingebunden ist und dies als Selbstverständlichkeit die nicht thematisierte Norm der Weltvorstellung ist (umso markierter ist Ephialtes ’ Status), ist Familie in 300 ein Wert, über den nur diejenigen verfügen, die sich diesen Wert durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Denken verdient haben. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 143 durch den Rahmen und die Voice over-Stimme deutlich, dass Leonidas hier, ganz im Sinne Albertz ’ , als Leonidas-Exempel fungiert: Vorbild zu sein “ for free people ” . 4.2 ‘ Dann werden wir im Schatten kämpfen ’ - Cineasten unter sich Wie aus dem bisher Ausgeführten hervorgegangen sein sollte, ist eine Sichtweise, die jeden ideologischen Gehalt des Films und dessen Relevanz leugnet, wissenschaftlich betrachtet nicht haltbar und in gewisser Weise nur als naiv zu bezeichnen. Eine solche Sichtweise entspricht allerdings einer Vorgehensweise, die vehement verteidigt wird, üblich zu sein scheint und eine breite Anhängerschaft um sich zu scharen versteht. Insofern ist sie selbst als dieses Phänomen im Kontext von Wissen zu situieren und aus diesem Grunde ist es gerechtfertigt, etwas genauer auf dieses sich hier artikulierende Allgemeinwissen über ästhetische (Medien-)Produkte einzugehen. Argumentiert wird dabei, so lässt sich zusammenfassen, vor der Folie einer überholten, 31 aber immer noch virulenten Vorstellung, derer sich in populären und halbwissenschaftlichen Diskursen bedient wird: Ästhetik (wie immer diese gefasst wird) und Ideologie schließen sich aus (wobei auch der jeweilige Ideologiebegriff wenig reflektiert wird und sich maximal nur auf eine Oberflächenebene bezieht). Basierend auf dieser fundamentalen Negation resultieren dann Ausschlusslogiken, die der Exkulpierung eines als positiv deklarierten Textes dienen, wobei die Frage, warum es eine solche Exkulpierung überhaupt braucht, eher sozialpsychologischer Art wäre und hier nicht gestellt werden soll. Neben dem Rekurs auf die Intention Snyders, die als Absicht einer getreuen Comicverfilmung postuliert wird, 32 bezieht man sich auf den Text, wobei als Rechtfertigung vor allem zwei Faktoren herangezogen werden: der Status als Adaption und der Status als Fiktion (siehe hierzu noch unter 4.3). Hinzu kommt, in etwas elaborierteren Kontexten, ein dritter Faktor, der Status als Text. Zur ‘ Logik der Intention ’ soll nur kurz angemerkt werden, dass Intention, also Absicht, und Realisierung einer solchen Absicht, also das konkret vorliegende Medienprodukt, zwei völlig unterschiedliche Gegenstände darstellen und verschiedene Ebenen betreffen; dies sollte sich seit Ed Wood auch bei Cineasten herumgesprochen haben. Wenn also dennoch 31 Überholt auch deshalb, da dieses Denken schon den Umgang mit Veit Harlan prägte, cf. hierzu Krah 2009, wo diese Problematik auf zehn Punkte pointiert wird (ibid.: 69 - 73), die im Einzelnen auch hier wieder greifen. Zu einer ästhetischen Texten gerecht werdenden Differenzierung bezüglich des Ideologiebegriffs cf. zusammenfassend Krah 2017 d. 32 So insbesondere cf. DiLullu 2007, die hierzu auf die Intention Snyders zurückgreift. Dies korreliert zudem mit den digitalen Besonderheiten des Films, auf die auch insgesamt als Qualitätskriterium abgehoben wird. Aufgrund der medientechnischen Innovation bei der Produktion wird der Film als “ Meilenstein der digitalen Filmkunst ” (cf. Cinema.de 2007) gefeiert. Dass solche technischen Neuerungen schnell zur Gewohnheit werden und durch die Gewöhnung schnell ihren Effekt verlieren, mag im konkreten Fall erst aus der Distanz heraus erkennbar sein, gilt grundsätzlich aber für alle solchen Errungenschaften im Laufe der Filmgeschichte und wäre vorhersehbar gewesen. 144 Hans Krah (Passau) darauf kapriziert wird, 33 dann liegen andere Beweggründe vor als es Erkenntnisgewinn wäre, Marketingaspekte etwa. Solche mögen ihre Rechtfertigung in der Filmindustrie haben, dürfen dann aber nicht unreflektiert als Argumente für textbasierte Fragestellungen herhalten. Der Status als Adaption meint die Logik: Da der Film auf dem Comic beruht, muss auch die Ideologie (also insbesondere die Gewalt) auf der Vorlage beruhen - und damit spielt diese im Film und für den Film keine Rolle mehr. Das eigene Medienprodukt ist über das Original automatisch exkulpiert. Dass dem definitiv nicht so ist, sollten die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, zumal sich die Frage der Relevanz nicht dadurch erübrigt, wenn ein Element übernommen ist. Denn auch dann ist dies keine Notwendigkeit, sondern beruht auf eigener Wahl und Entscheidung. Die Freiheit, in der Adaption ein Ideologem zu übernehmen oder nicht, ist immer gegeben, sodass Kritik in einem solchen Fall zwar zu spezifizieren und zu modifizieren, nicht aber davon ausgenommen wäre. Um sich vor Ideologie zu exkulpieren, werden Veränderungen angeführt, die der Film vorgenommen hat und die die durch den Comic gegebenen Sachverhalte relativieren würden. 34 Der Film sei also weniger ideologisch negativ behaftet als der Comic, so lässt sich dann konstatieren. Dabei operieren diese ‘ Logiken ’ mit Befunden, die nicht tatsächlich Ausgangspunkt einer Interpretation werden, sondern nur dazu dienen, die bereits vorgefasste Meinung zu bestätigen. Oberflächlich wird also am Text und mit ihm argumentiert, eigentlich werden Einzelbefunde nur als rhetorisches Material funktionalisiert. So wird erkannt, dass die Erzählsituation insofern verändert ist, 35 als das Vorgeführte von Dilios erzählt wird. Weil das Vorgeführte seine Geschichte ist, sei damit eine rein subjektive Sicht gegeben und wären sämtliche Ideologeme relativiert, da sie sich nur der subjektiven Einstellung von Dilios verdanken. Diese Folgerung lässt sich aus den Textbefunden aber nicht ziehen. Denn Dilios wird nicht als unzuverlässiger Erzähler oder gar als psycho- 33 Wobei zudem anzumerken wäre, dass Snyder diese Absicht dann wohl offensichtlich nicht erreicht hat. 34 So etwa cf. Gennari 2013. Dass diese Argumentation dann etwas in Konflikt gerät mit der zumeist gleichzeitig bemühten Intention und Werktreue, wird nicht bemerkt oder geflissentlich verschwiegen. 35 Cf. Gennari 2013, der ebenso die Veränderung der Informationsvergabe bezüglich der eugenischen Ausrichtung Spartas anführt. Im Comic wird diese, die Selektion der Neugeborenen und Tötung bei Abweichung, in einigen Panels vermittelt, die im Kontext von Ephialtes ’ Gespräch mit Leonidas um Aufnahme unter die 300 situiert sind. Im Film werden diese Informationen in die Exposition vorangestellt. Ob und wie dies zu einer Relativierung der Spartaner beitragen könnte, sei hier nicht ausdiskutiert. Durch das Voranstellen wird jedenfalls fokussiert, dass die spartanische Ordnung so aufgebaut ist. Der Aspekt, dass dies eine generelle Regel ist, wird dadurch expliziter. Wer sich auf die Spartaner einlässt, muss sich auch auf diese Regel einlassen. Durch die vorgeführte Handlung bleibt aber auch deren Plausibilisierung erhalten: Diese Maßnahme mag zwar eine drastische Maßnahme sein, sie rechtfertigt sich aber durch das Gemeinwohl, denn anhand von Ephialtes sieht man, was passiert, wenn von dieser Regel abgewichen wird (und Eltern ihre individuellen Interessen über das Gemeinwohl stellen). An Ephialtes, der durch seine hyperbolische Behinderung als Buckliger nicht nur körperlich ausgegrenzt ist, sondern dieses Außensein zudem symbolisiert, zeigt sich in evidenter Weise die Berechtigung der Eugenik Spartas: Wird ein solches Kind nicht bei der Geburt ausgesondert, wird es zum Verräter, so der abduktive Kurzschluss. Der Schutz der Heimat hat Vorrang vor Individualität, so abstrahiert erscheint diese Regel weniger grausam und verdeutlicht nur, dass der Staat Maßnahmen ergreifen muss, die unverständlich und unmenschlich erscheinen, es von einer höheren Warte aber nicht sind, sondern ihren Sinn und ihre Berechtigung haben (dass sich hierin NS-Ideologeme spiegeln, muss wohl nicht eigens hervorgehoben werden). Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 145 pathologischer inszeniert oder als Figur, die gerne erzählt, so dass es um Geschichten um ihrer selbst willen gehen würde. Stattdessen geht diese Veränderung mit anderen einher, wobei die Figur Dilios insgesamt aufgewertet, durch Sympathielenkung zum positiven Bezugspunkt und in ihrer Funktion verändert wird. Ein auffälliger Unterschied bezüglich des Erzählens ist etwa, dass im Film innerhalb der Diegese keine Geschichten erzählt werden, wie dies im Comic Dilios tut. 36 Der Akt des Geschichtenerzählens und die Bewertung von Geschichten sind im Comic durchaus Thema, was eine selbstreflexive Betrachtung des Comics ermöglicht: So, wie im Comic erzählt wird, so ist auch der Comic eine weitere Erzählung. Im Film dagegen gibt es nur eine Geschichte und im Film ist alles integriert in diese eine, in sich geschlossene Geschichte. Dieser Erzählakt (und damit der Film an sich) ist zudem in einen spezifischen Kontext gesetzt, den vor der Schlacht von Plataiai, in die Dilios in der Nachfolge von Leonidas die Spartaner führt. Das Erzählen selbst hat also die ideologische Funktion die Kampfbereitschaft zu steigern. Doch auch dies relativiert das Erzählte nicht. Denn ob Dilios etwas berichtet, was eventuell nicht stimmt, da er es nicht kennen kann, 37 oder er es nur ausschmückt zum Zweck der Kampfesmotivation, ist irrelevant, da es nicht im Text thematisch ist: An keiner Stelle wird diese Art des Geschichtenerzählens als Geschichtsfälschung oder als rein subjektive Fantasie gesetzt. 38 Im Gegenteil: So, wie durch die Veränderung der Erzählsituation die Geschichte nicht als subjektiv ausgewiesen, sondern gerade durch diese Subjektivität autorisiert wird, so ist auch ihr Status als Geschichte nicht abhängig von einem Bezug zu einer vorgelagerten Realität. Die Geschichte wird zum Mythos und ist in dieser Funktion wichtiger als eine Realität, die der Geschichte vorausgegangen sein könnte, da sie erst durch die Geschichte (zur hierarchisch wichtigeren) medialen und symbolischen Realität wird. Gerade ihr Status als identitätsstiftender Mythos ist relevant, was als Konstruktion durchaus zu hinterfragen wäre, was der Film selbst aber gerade nicht macht: Dilios wird vom professionellen Geschichtenerzähler zum Ausnahmeerzähler der einen, kollektive Identität stiftenden Geschichte. Der Mythos wird im Film zelebriert, aber nicht thematisiert oder gar dekonstruiert. Letztlich relativiert sich durch die neue Erzählsituation nicht nur nicht das Vorgeführte, sondern damit wird zudem eine Homologie zur eigenen Medialität aufgebaut: Auch der Film 300 erzählt eine Geschichte, für die er für sich in Anspruch 36 Eingeführt wird dieses Geschichtenerzählen immer explizit durch eine eigene Sprechblase ( “ Dilios spins his stories ” ), der dann jeweils eine mit dem Thema und eine mit der Bewertung folgt: Zunächst “ The one about the boy ” , mit der Bewertung “ Our favourite story ” , dann “ His story about the olympics ” , kommentiert mit “ not his best ” und “ The story of Marathon ” , “ A perfect choice ” . Am Ende wird dies wieder aufgegriffen mit “ Captain Dilios spins his stories ” , “ The one about the hot gates ” . Diese wird zwar als “ His best story ” tituliert, aber damit wird auch deutlich, dass die Thermopylen eine von mehreren Geschichten aus einem Repertoire ist. 37 So etwa der abschließende Heldentod der Spartaner und die diesen einleitende Sequenz, wenn Leonidas nur scheinbar vor Xerxes kniet, um dadurch eine bessere Position für seinen Speerwurf zu arrangieren, denn zu diesem Zeitpunkt ist Dilios schon zurückgeschickt. Aber auch bei anderen gezeigten Episoden, Ephialtes und Xerxes betreffend oder die Heimatepisoden, kann Dilios nicht Augenzeuge gewesen sein. 38 Stattdessen bestätigt es sich in Teilen. Wenn Dilios etwa von solchen hyperbolischen Kämpfern erzählt und sie imaginiert, dann unterscheiden sich diese in ihrer Körperlichkeit nicht wesentlich von denen, die der Geschichte lauschen. Durch die Akteure auf der Rahmenebene bestätigt und beglaubigt sich also das Mitgeteilte. 146 Hans Krah (Passau) nehmen kann, dass sie, gerade in derArt der Erzählung durch den Film, diesen Status ebenso hat. So sehr es im Einzelnen zutreffen mag, dass der Comic 300 in Teilen reaktionärer ist als der Film 300, so sehr ist dies im Rahmen des Dispositivs zu sehen, wodurch der kulturelle Stellenwert solcher Ideologeme und von Gewalt entscheidend anders zu werten ist. Im Comic kann Gewalt aufgrund seines anderen Dispositivcharakters eben auch Gewalt sein, zumal dem Comic als rein visuellem Medium der Zeichenstatus seiner Zeichen und damit eine zu erbringende Dekodierungsleistung in stärkerem Maße eingeschrieben ist als anderen Medien, und er durch das Fehlen rhetorischer insinuatio als Medium bezüglich seiner vermittelten Botschaften per se distanzierter ist. Film hebt diese Distanzierung auf, etwa wenn er um Erklärungen bemüht ist (etwa bezüglich Leonidas und Ephialtes und warum Ephialtes nicht mitkämpfen kann). 39 Damit werden die inkorporierten Inhalte aber nicht grundsätzlich relativiert, sondern nur normalisiert. Zudem sind durch die audiovisuellen Möglichkeiten des Bewegtbildes (cf. 3.1) und die dramaturgischen Strategien des Hollywoodfilms Involvierungsmöglichkeiten gegeben, durch die die Rezipierenden argumentativ wie suggestiv vereinnahmt werden und Botschaften als eigene angeeignet werden können. 40 4.3 Paratextuelle Aneignung vs. textuell gestütztes Wissen - ein Fazit Die bisherigen Befunde seien abschließend einem Resümee unterzogen und auf den aufgeworfenen Fragenkomplex um die Bewertung des ideologischen Inhalts bezogen. Deutlich geworden sein sollte, dass die stoffliche Vorgabe nicht verantwortlich für die textuelle Semantik und die darin transportierte Ideologie im Sinne einer Wert- und Normenvermittlung ist. 41 Wenn in neueren Texten etwas als einfach strukturiert, konservativ und archaisch daher kommt, dann ist dies nicht aufgrund einer Tradition zu begründen. Auch wenn beiden 300-Texten die Referenz auf Leonidas zu Grunde liegt, sagt diese epistemische Bezugnahme nichts über die Semantik eines konkreten Textes aus, der sich dieses Wissens bedient, da diese von den Faktoren Kulturalität, Medialität und Textualität abhängt. 42 Über diese Parameter kann aus dem verwendeten Material konfigurativ neues ‘ Wissen ’ geschaffen werden - wie an der Fülle der Leonidas-Adaptionen in den verschiedenen Kulturen und Medien zu zeigen ist. Dies gilt dann im Speziellen auch für das Verhältnis von Comic und Verfilmung, für das die unterschiedliche Medialität von Comic und Film die Grundlage einer unterschiedlichen Textausprägung liefert und die zudem durch den modellbildenden Charakter eines jeden Textes eine eigene semantischideologische Ausrichtung erhalten kann. 39 Begründet wird derAusschluss Ephialtes nicht damit, dass er kein Kämpfer wäre, sondern damit, dass er durch seine Behinderung nicht im Kollektiv kämpfen kann. Dass dieser Schutz des Kollektivs als oberste Norm nur als Erklärung fungiert und in der Dramaturgie des Films gerade nicht eingelöst wird, diese sich also nach anderen Paradigmen ausrichtet, wird deutlich, wenn man die konkreten Kampfszenen betrachtet: Überwiegend gezeigt und gerade hervorgehoben werden solche Kampfszenen, bei denen nicht das spartanische Kollektiv kämpft, sondern sich exzeptionelle Einzelkämpfer durch geradezu exzeptionelle Kampfschritte hervortun. 40 Cf. hierzu Wagner 2014, die solche Strategien am Beispiel der Arenadramaturgie aufzeigt. 41 Cf. Anm. 41. 42 Cf. hierzu grundlegend Krah 2017 a. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 147 Zudem sind Aussagen über die in Texten transportierten Semantiken von konkreten Rezeptionsakten und den dort vorgenommenen Deutungen und Bewertungen zu unterscheiden. Solche Rezeptionsakte können durchaus auf Daten beruhen, die auf textuellen Wirkfaktoren basieren, die also durch den Text gestützt und forciert sind oder zumindest von diesem veranlasst werden. Hierbei spielt auch der jeweilige Wissenshorizont, mit dem die Textstrukturen abgeglichen werden, eine Rolle. Für die Beziehung von Film 300 zu Comic 300 ist zu konstatieren, dass (i) dieser Bezug im Film selbst aktualisiert ist und aufgerufen wird - und damit das Wissen um diesen Bezug selbst zu einem in die Interpretation einzubeziehenden Wissenselement gehört. Gerade die meisten ‘ Verteidiger ’ des Films 300 argumentieren mit solchen Wissensmengen, über die in der Rezeption verfügt werden und vor deren Folie das Gezeigte sich selbst relativieren würde, so dass sich eine Diskussion darüber hinaus erübrigt. Argumentiert wird, dass, auch wenn etwa die Interpretationsmöglichkeit faschistischen Gedankenguts einzuräumen ist, gleichzeitig dies aber als unrealistische Interpretation zu dekodieren sei, da es im Lichte eines “ völlig überzogenen Heldentrash im Comicstil ” (cf. Stagge 2007) daherkomme. Damit wird eine durchaus relevante und zu diskutierende Fragestellung bezüglich der ermittelten Textsemantiken aufgerufen: Sind diese überhaupt ernst zu nehmen oder nicht selbst bereits in ihrer Ideologie gebrochen, da erkennbarer Weise übertrieben oder per se übertrieben, da eben in einem bestimmten Genre, dem Comic, verfasst? So werden auch Analogien bemüht, wie etwa 300 müsse wie eine Oper, “ wie Kabuki oder ein griechisches Drama ” gesehen werden, die diese Argumentation stützen sollen. 43 Dem ist in diesem konkreten Fall (ii) entgegenzuhalten, dass dieses Verhältnis und der Bezug zum Comic gerade durch dem Dispositiv Film geschuldete Realitätseffekte gekennzeichnet ist und durch diese überlagert wird. Denn trotz der Stilisierung auf der Discoursebene versucht der Film dennoch, solche Realitätseffekte zu erzeugen. Dies lässt sich insgesamt anhand der Dramaturgie aufzeigen, im Speziellen daran, auf Sprechblasen, Soundwords oder die ebenso comicspezifischen ‘ Grapheme ’ als Zeichenverweise auf akustische, olfaktorische oder kinesische Dimensionen zu verzichten. Auch für die auf der Darstellungsebene figurierten Konzepte von Körperbildern und Körperinszenierungen trifft dies zu. Seien diese noch so sehr ans Hyperbolische grenzende perfekte Idealkörper, sie sind als solche über Models und Werbung im Allgemeinwissen verankerte Wissensbestandteile der ‘ Realität ’ und weniger von Comicanimation und Cartoon. Ein Bruch mit Realitätsvorstellungen ist dadurch nicht indiziert. Die Comicreferenz dient (iii) also gerade nicht dazu, Distanz und Künstlichkeit zu signalisieren und darüber als wahrnehmungsleitendes Paradigma Selbstreflexivität den eigenen Strukturen und Semantiken gegenüber zu initialisieren. Schon eher lässt sich der Bezug zum Comic (iv) stattdessen selbst innerhalb des skizzierten Kontextes des filmischen Dispositivs situieren und hier funktional integrieren: Rechtfertigungen für das Dargestellte lassen sich nicht nur durch hinzugefügte Motivationen auf der Histoireebene generieren, sondern auch dadurch, dass das Dargestellte als 43 Cf. von Törne 2007. Die Aussage stammt vom interviewten Snyder selbst. Wem dieser Wissenshorizont dann allerdings unterstellt werden darf, und ob er nicht Spezialwissen einer kleinen elitären Gruppe von Kritiker- Cineasten darstellt, sei hier dahingestellt. 148 Hans Krah (Passau) eigentlich nicht filmisch, sondern ‘ nur ’ übernommen postuliert wird. Wenn der Film sich als Comic setzt, versucht er also weniger, an den medialen Möglichkeiten des Comics zu partizipieren, sondern er tarnt und immunisiert sich und seine Ideologeme damit. Das epistemische Wissen um Leonidas wie um die Verfilmung eines Comics fungieren also als Träger, um konfiguratives Wissen zu generieren, und zugleich dazu, diesen Prozess selbst wieder zu kaschieren, da die dabei erzeugten Wissenselemente als bereits tradierte ausgegeben werden (können). Der Comic fungiert als Ideologiekaschierung. Auch wenn also die Beobachtung selbstverständlich richtig ist, dass es nicht um Geschichtswirklichkeit geht, um Realität, sondern um Fiktion, sei es als opulente Oper oder pathetischer Actionfilm, heißt dies nicht, dass sich diese Formen nicht per se einer Analyse ihrer Semantik entziehen. Unbestritten ist, dass diese Formen als ästhetische Kommunikation einer anderen Pragmatik der Rezeption unterworfen sind als Formen, die einen Anspruch auf Adäquatheit erheben. Nur: Auch für diese Formen (wie für Fantasy, Horror oder hybride Spielarten des Fantastischen, denen man 300 wohl zuordnen darf ) gilt, dass ‘ Realität ’ in den Medien grundsätzlich nie identisch mit unserer (Alltags-)Realität, sondern stets eine mediale Konstruktion mit einem eigenen Realitätsstatus ist. Solche Wirklichkeitskonstruktionen machen abstrakte ‘ Realität ’ erst sozial wahrnehmbar und kommunizierbar. Sie prägen das für wahr gehaltene Wissen und regeln die Speicherung und Verbreitung solchen Wissens - sei es WissenschaftsoderAlltagswissen, seien es Wert- und Normvorstellungen oder auch latente Deutungsmuster von ‘ Welt ’ . Solche Weltentwürfe finden sich gleichermaßen in auf Authentizität und Historizität angelegten Formaten des Dokumentarischen wie in Leonidas-Konfigurationen jeglicher Provenienz - wie sich auch beide gleichermaßen potenziell auf reale Denk- und Handlungsmuster einer Gesellschaft auswirken können. 5 Ausblick: Wissensfortschreibungen Für Snyders 300 lässt sich festhalten, dass das dort konfigurierte Wissen selbst wieder zum epistemischen Wissen geworden ist, auf das auf die eine oder andere Weise Bezug genommen wird. Snyders 300 ist als Text zum Zeichen und Wissenselement geworden und hat Zeichen ausgebildet und ist zu solchen Ikonen komprimiert worden (neben zentralen Episoden wie der ‘ Das ist Sparta ’ -Episode fungieren als solche etwa die Spezifik der Abb. 6: “ Caution - This is Sparta ” Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 149 Erzählstimme und der slow motion-Bewegungsabläufe oder die Spartanerkörper), so dass andere Texte diese für ihre Bedeutungspotentiale konfigurativ nutzen können. So rekurriert das in Abb. 6 dargestellte Schild auf die ‘ Das ist Sparta ’ -Episode, wobei zum einen der Bezug über einen kondensierten Text hergestellt ist, dessen Status als Zeichen deutlich ist und herausgestellt wird, zumal er auf das bereits existierende Zeichensystem Piktogramm übertragen und projiziert wird. Durch die inhaltliche Parallelisierung zu Gebäudereinigung und Rutschgefahr wird das Merkmal Banalität erzeugt. Zudem wird bereits durch die Medialität als Warnzeichen auf einen habitualisierten Kontext verwiesen und dem Ereignis ‘ Sparta ’ durch die evozierte Alltäglichkeit und mögliche Wiederholbarkeit seine Außergewöhnlichkeit abgesprochen. Da dieser Text als Text insofern ‘ funktionslos ’ ist, als er nicht in gegebene mediale Kontexte eingebunden ist, lässt er sich als Paratext und Reaktion auf den Film beschreiben. Solche Fortschreibungen lassen sich als Eigen- und als Fremdreferenzen bestimmen. Als Eigenreferenz ist die filmische Fortsetzung 300: Rise of an Empire (2014) zu sehen, die Parodie Meet the Spartans von 2008 44 ist an der Schnittstelle von Selbst- und Fremdreferenz zu situieren, da durch die Persiflage zwar fremde Semantiken enthalten sind (und die eigenen dominieren), dennoch aber durch das Genre der referentielle Textbezug aufrechterhalten bleibt. Zwei Beispiele von Texten, die sich den Film 300 als Fremdreferenz zu eigen machen, sind die South Park Folge Les Bos (Staffel 11/ 6, 11. 4. 2007) und der Kurzfilm United 300 (2007, Andy Signore). United 300 kann als kondensierte Parodie charakterisiert werden, 45 insofern das Geschehen übersetzt und mit einem anderen amalgamiert wird und dabei auf einen Teil des Geschehens fokussiert, auf den räumlichen ‘ Engpass ’ . Dieser Raumbezug ist nur auf abstrakter Ebene gegeben, konkretisiert im Gang in einem Flugzeug, und wird durch die dort anachronistischen Spartaner in ihren originalgetreuen Kostümen und ihre imitierte Körperlichkeit und Gestik wieder direkt an die Ikone 300 rückgebunden. Die Verbindung der Leonidas-Geschichte mit einer Flugzeugentführung, die durch den Titel auf den Film United 93 und damit auf die mediale Verarbeitung historischen Geschehens (9/ 11) verweist, verdeutlicht in dieser hyperbolischen Inszenierung von patriotischem Heldenmut die ideologische Stoßrichtung des Textes: In United 300 wird letztlich die zitierte Semantik im neuen Kontext wieder rückgebunden an die sie hervorbringenden kulturellen Diskurskonstituenten. In South Park wird das Leonidas-Geschehen als Modell genutzt, als Folie eines aussichtslos scheinenden Kampfes gegen eine Übermacht. Eigentlich geht es um den Versuch der Übernahme der titelgebenden Lesbenbar “ Les Bos ” durch den Inhaber eines Kneipenimperiums, wodurch sich Mrs. Garrison als transsexuelle Lesbe veranlasst sieht, den Lesben diese Bar als ihre Heimat zu erhalten und die Übernahme zu verhindern, etwa dadurch, dass die Lesben die anrückenden Handlanger vom (als Engpass fungierendem) Eingang der Bar zurückdrängen. Diese abstrakte Ebene ist (wie bei United 300) explizit 44 Der Titel nimmt, sowohl im Original als auch in der deutschen Übersetzung, Bezug auf den Film Meet the Parents/ Meine Braut, ihr Vater und ich, womit das martialische Kampfgeschehen auf die (nicht weniger ideologische) ‘ romantische Komödie ’ rückgebunden und die patriarchale Hardcore-Struktur beider Genres offensichtlich wird. 45 Der Film wurde beim MTV Movie Award 2007 Gewinner in der Kategorie ‘ Beste Parodie ’ . 150 Hans Krah (Passau) rückgebunden an das 300-Wissen. So macht der Titel der Folge “ Les Bos ” bereits deutlich, dass auf Griechenland rekurriert wird. Zudem geht es um ein persisches Kneipenimperium, dessen Inhaber nicht nur Xerxes heißt, sondern in seiner Erscheinung vollständig dem 300- Xerxes nachgeahmt ist. Demgegenüber agiert Mrs. Garisson als Leonidas, wobei nicht nur ihre Führerschaft und die dabei praktizierte ideologische Einstellung sich unbedingt für die Sache der Bar einzusetzen diesen Vergleich evoziert, sondern dies insgesamt auch durch die Umsetzung von Bewegungsabläufen und auditiv durch Erzählerstimme und Soundeffekte imitiert wird. Auch hier wird also das Geschehen persifliert (nicht nur durch die Vermengung der Konflikte, sondern letztlich auch dadurch, dass sich das Ende von der Vorlage löst und ein Happy End dadurch erreicht wird, dass sich Xerxes als Frau entpuppt, die sich in der persischen Männerwelt eben nur als Geschäftsfrau behaupten kann, wenn sie sich als Mann tarnt), allerdings weniger als Kritik an Medienprodukten oder Diskussion von deren ideologisch-kulturellen Grundlagen, sondern im Kontext des South Park eigenen Konzepts, kulturelle Diskurse aufzugreifen und South Park-spezifisch zu vereinnahmen. Der Mehrwert gilt hier also dem eigenen Image. Solche Fortschreibungen als Reaktionen auf den ideologischen Gehalt und dessen Objekt-Prägnanz, also die Markiertheit auf der Oberflächenebene, die den Zeichenstatus erst konstituiert, müssen also nicht notwendig als Kritik fungieren. Motivation solcher Referenz innerhalb ästhetischer Kommunikation kann sicher auch Kritik sein, eine solche ist aber immer funktional bezüglich der Textsorte zu sehen. Eine solche Fortschreibung erlaubt eine eigene Aneignung des in 300 konfigurierten Leonidas-Wissen, die auch darauf abzielen kann, im medialen Kontext die Deutungshoheit zu übernehmen und am Diskurs um dieses Wissen zu partizipieren und damit etwa auch Aufmerksamkeit für den eigenen Text zu erzeugen, solange jedenfalls dieses Wissen virulent ist. 46 Durch solche Bezugnahmen wird jedenfalls weniger Leonidas als Leonidas-Exempel fortgeschrieben, als dieser in populärkulturelle Diskurse integriert. Wie es sich mit der Halbwertszeit dieses Wissens verhält, bleibt abzuwarten. 47 Bibliographie Abel, Julia und Christian Klein 2016: “ Leitfaden zur Comicanalyse ” , in: Abel und Klein (eds.) 2016: 77 - 106 Abel, Julia und Christian Klein (eds.) 2016: Comics und Graphic Novels. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler Albertz, Anuschka 2006: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München: Oldenbourg Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 - 171 46 Zu konstatieren ist, dass der Film durch regelmäßige Wiederholungen in Fernsehprogrammen präsent bleibt (wobei eine paratextuelle Auseinandersetzung an den zeitlichen Horizont der Erstausstrahlung gebunden gewesen zu sein scheint und nicht wieder aufgegriffen wird). 47 Randnotiz: Im Finale von Masters of Dance am 10. 1. 2019 performte der Tänzer Sergey aus dem Team Julien im 3. Duell mit dem Thema Kampf innerhalb der Choreographie ‘ Gladiator ’ einen “ move aus 300 ” ; dies wurde in der Besprechung nach dem Showakt explizit erwähnt und der “ move ” (ein Ausfallschritt) dort wiederholt. Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 151 Decker, Jan-Oliver 2017: “ Medienwandel ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 423 - 446 DiLullu, Tara (2007): 300. The Art of the Film, Ludwigsburg: Cross Cult Dittmar, Jakob F. 2008: Comic-Analyse, Konstanz: UVK Gennari, Joshua 2013: Zack Snyders 300 - Kampf der Kulturen, unveröff. Seminararbeit, Passau Gräf, Dennis et al. 2 2017: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Gutzkow, Karl 2009: Dramatische Werke, Band 1, hrsg. von Anne Friedrich und Susanne Schütz. Münster: Oktober Verlag Hammer, Erika & Edina Sándorfi (eds.) 2006: Der Rest ist - Staunen. Literatur und Performativität, Wien: Praesens Hennig, Martin und Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Hülsbusch Herwig, Jana 2010: “ Mann oder Maus, Mensch oder Maschine? Körpersemantik in Zack Snyders 300 ” , in: Hoffmann (ed.) 2010: 59 - 75 Hoffmann, Dagmar (ed.) 2010: Körperästhetiken. Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit, Bielefeld: transcript Kainz, Diana und Hans Krah 2009: “ Die frühen Dramen Gutzkows (Teil 1: 1834 - 1839). Mit einer Skizze relevanter goethezeitlicher Parameter ” , in: Gutzkow 2009: 291 - 319 Krah, Hans 1996: Gelöste Bindungen - bedingte Lösungen. Untersuchungen zum Drama im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Passau: Rothe Krah, Hans 2006: “ Performativität und Literaturverfilmung. Aspekte des Medienwechsels am Beispiel von Franz Kafkas Der Prozeß (1925), Orson Welles ’ Der Prozeß (1962) und Steven Soderberghs Kafka (1991) ” , in: Hammer und Sándorfi (eds.) 2006: 144 - 187 Krah, Hans 2009: “ Nachkriegskarrieren I: Der Fall Harlan ” , in: Segeberg (ed.) 2009: 63 - 90 Krah, Hans 2017 a: “ Textuelle Grundlagen/ Semantische Verfahren ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 35 - 56 Krah, Hans 2017 b: “ Mediale Grundlagen ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 57 - 80 Krah, Hans 2017 c: “ Leitmedium Film - av-Medien ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 309 - 330 Krah, Hans 2017 d: “ Medienwirklichkeiten ” , in Krah und Titzmann (eds.) 2017: 399 - 422 Krah, Hans und Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Schuster McCloud, Scott 2001: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg: Carlsen Schüwer, Martin 2008: Wie Comics erzählen. 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Martinson) Masters of Dance (ProSieben 2018/ 19) Meet the Parents (Meine Braut, ihr Vater und ich, USA 2000, Jay Roach) Meet the Spartans (Meine Frau, die Spartaner und ich, USA 2008, Jason Friedberg, Aaron Seltzer) South Park: Les Bos (USA 2007, Staffel 11/ 6, Trey Parker, Matt Stone) The 13th Warrior (Der 13te Krieger, USA 1999, John McTieman, Michael Crichton) The 300 Spartans (Der Löwe von Sparta, USA 1962, Rudoph Maté; Twentieth Century Fox Home Entertainment LLC) United 93 (Flug 93, USA 2006, Paul Greengrass) United 300 (USA 2007, Andy Signore) Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung: das Beispiel Leonidas 153 K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Autorinnen und Autoren / Authors Dr. Vera Bachmann, Akademische Rätin am Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur an der Universität Regensburg, Forschungsschwerpunkte: Ästhetik der Oberfläche, Medium Ausstellung/ Medien der Ausstellung, Medien- und Kultursemiotik, Literatur und Medien, inter- und transmediales Erzählen, Siegfried Kracauer. PD Dr. Stephan Brössel ist seit 2018 Akademischer Rat a. Z. am Germanistischen Institut, Abteilung Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur und Medien an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Film-, Kultur- und Zeitsemiotik, Narratologie, literarische Anthropologie des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die Intermedialität zwischen Literatur und Film. Jüngste Publikationen: Die Zukunft der Zwischenphase. Zeitreflexion in der Novellistik 1820 - 1850 (in Vorb.), Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin/ Boston: De Gruyter 2014 u. 2017 (= Narratologia 40). Prof. Dr. Jan-Oliver Decker ist seit 2011 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik an der Universität Passau. Seit 2005 ist er Beirat in der Sektion Literatur der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V., von 2011 − 2017 war er im Vorstand und von 2014 − 2017 Präsident der DGS e.V. Seine Forschungsschwerpunkte sind Semiotik, transmediale Narratologie, Literatur vom 18. − 21. Jahrhundert, Film, Fernsehen und neue Medien in kultur- und mediensemiotischer und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive. Sebastian Feil ist am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen der Universität Augsburg als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. M. A. 2014 in Vergleichender Literaturwissenschaft, Englischer und Amerikanischer Literatur und Philosophie mit einer Magisterarbeit zum Problem der kontextuellen Interpretation. Zu seinen besonderen Interessen zählen die allgemeine Semiotik, die allgemeine Hermeneutik und die Begriffs- und Ideengeschichte. Miriam Frank, M. A., ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik an der Universität Passau. Davor arbeitete Sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg 1681/ 2 Privatheit und Digitalisierung. Sie ist Mitgründerin der AG Mediensemiotik innerhalb der Gesellschaft für Medienwissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung, Erinnerungskulturen, Privatheits- und Überwachungsdiskurse, Dokumentarische Genres und Authentizitätsforschung. PD Dr. Dennis Gräf, Akademischer Rat am Inst. f. Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau, Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Medien- und Kultursemiotik, deutsche Literatur- und Mediengeschichte, insbesondere Tatort, Film der 1960er Jahre, Literatur und Film der DDR. Jüngste Publikationen: Ordnung und Angriff. Anthropologie und Ideologie in Film und Literatur der 1960er-Jahre (in Vorb.); Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren 2 2017 (zusammen Stephanie Großmann, Peter Klimczak, Hans Krah und Marietheres Wagner). Dr. Stephanie Großmann ist seit 2015 Akademische Rätin a. Z. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Nach einem Diplomstudium der “ Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien ” an den Universitäten Passau und Verona wurde sie 2012 mit einer medienwissenschaftlichen Arbeit zum Thema “ Inszenierungsanalyse von Opern. Eine interdisziplinäre Methodik ” promoviert, für die sie 2013 mit dem Karl-Heinz- Pollok-Gedächtnispreis ausgezeichnet wurde. Neben dem Musiktheater liegen ihre Forschungsschwerpunkte in Literatur und audiovisuellen Medien im Bereich medialer Wirklichkeitskonstruktionen, der Intermedialität und Selbstreflexivität, der Filmmusik und der Narratologie. Dr. Martin Hennig ist aktuell Vertreter des Lehrstuhls für Medienkulturwissenschaft an der Universität Passau. Studium der Neueren Deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, Psychologie und Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Promotion an der Universität Passau 2016 mit der Arbeit “ Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels ” (Schüren 2017). Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaftl. Medialitätsforschung, Digitale Kulturen, Game Studies, Medien- und Kultursemiotik, Raum- und Subjekttheorie. Jüngste Publikationen: (mit Hans Krah, Kilian Hauptmann) Narrative der Überwachung. Frankfurt/ M: Peter Lang 2020; (mit Hans Krah) Spielzeichen III. Kulturen im Computerspiel / Kulturen des Computerspiels. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2020; (mit Christian Aldenhoff u. a.) Digitalität und Privatheit. Bielefeld: transcript 2019. Prof. Dr. Hans Krah, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: Semiotik, Narratologie, Kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung, Privatheit, Populärkultur. Jüngste Publikationen: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren 2 2017 (zusammen mit Dennis Gräf, Stephanie Großmann, Peter Klimczak und Marietheres Wagner); Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse. Kiel: Ludwig 2 2015 (unter Mitwirkung von Dennis Gräf, Stephanie Großmann und Stefan Halft); Die Nibelungen. Passauer Beiträge zu Rezeption und Verarbeitung eines produktiven Narrativs. Passau: Schuster 2015 (Hrsg.); Heile Welt und Heimat - Skandal und Tabubruch. Bilder von Bayern in Literatur, Film und anderen Künsten. Passau: Stutz 2014 (Hrsg. mit Jan-Oliver Decker). Amelie Zimmermann, M. A., ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik der Universität Passau im Lehrprojekt “ Information and Media Literacy ” (Gesamtprojekt SKILL.de - Strategien zur Kompetenzentwicklung: Innovative Lehr- und Beratungskonzepte in der Lehrerbildung, digitally enhanced). Nach ihrer Mitarbeit von 2014 - 2016 am Projekt Autorinnen und Autoren / Authors 155 “ Digitale Narrationen als innovativer didaktischer Ansatz für eine ökonomische Bildung im Handel ” an der Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart am Institut für Angewandte Narrationsforschung untersucht sie jetzt in ihrem Promotionsprojekt transmediale Bedeutungskonstruktionen im medienübergreifenden Textverbund. 156 Autorinnen und Autoren / Authors K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of authors Dr. Vera Bachmann Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur (I: IMSK) Universität Regensburg Universitätsstraße 31 D-93053 Regensburg Vera.Bachmann@ur.de PD Dr. Stephan Brössel Westfälische Wilhelms-Universität Germanistisches Institut Abteilung Neuere deutsche Literatur - Literatur und Medien - Stein-Haus, Schlossplatz 34 D-48143 Münster s.broessel@uni-muenster.de Prof. Dr. Jan-Oliver Decker Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik Universität Passau Leopoldstraße 4 D-94032 Passau Jan-Oliver.Decker@uni-passau.de Sebastian Feil, M. A. c/ o Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft Philologisch-Historische Fakultät Universität Augsburg Universitätsstraße 10 D-86159 Augsburg sebastian.johann.feil@gmail.com Miriam Frank, M. A. c/ o Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik Universität Passau Leopoldstraße 4 D-94032 Passau Miriam.Frank@uni-passau.de PD Dr. Dennis Gräf c/ o Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstraße 25 D-94032 Passau Dennis.Graef@uni-passau.de Dr. Stephanie Großmann c/ o Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstraße 25 D-94032 Passau Stephanie.Grossmann@uni-passau.de Dr. Martin Hennig Vtrg. Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft Universität Passau Nikolastraße 12 D-94032 Passau Martin.Hennig@uni-passau.de Prof. Dr. Hans Krah Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstraße 25 D-94032 Passau Hans.Krah@uni-passau.de Amelie Zimmermann, M. A. SKILL.de/ Information and Media Literacy Universität Passau Gottfried-Schäffer-Str. 20 D-94032 Passau Amelie.Zimmermann@uni-passau.de Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift KODIKAS/ CODE (ca. 10 - 30 S. à 2.500 Zeichen [25.000 - 75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2 - 3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word-Datei) einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3 - 5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für KODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht ( “…” ). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im SPIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “ normalen ” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “ [ … ] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen ” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “ f. ” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [ … ], Hinzufügungen durch Initialen des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “ (Hervorh. im Original) ” oder “ (Hervorh. nicht im Original) ” bzw. “ (Hervorh. v. mir, Initial) ” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “ [sic] ” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt ( “… ‘…’ …” ). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “ Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet. ” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “ Fähe bedeutet ‘ Füchsin ’ . ” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “ *Rettet dem Dativ! ” oder “ *der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. ” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [ … ] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “ Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben ” , in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1 - 2 (1999): 27 - 41 Duck, Donald 2000: “ Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag ” , in: Duck (ed.) 4 2000: 251 - 265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “ und ” oder “ & ” (bei mehr als drei Namen genügt ein “ et al. ” [für et alii ] oder “ u. a. ” nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “ etc. ” ): Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 159 Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘ graue ’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck ( “ Zürich: Diss. phil. ” ), vervielfältigte Handreichungen ( “ London: Mimeo ” ), Manuskripte ( “ Radevormwald: unveröff. Ms. ” ), Briefe ( “ pers. Mitteilung ” ) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “ Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis ” , in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47 - 67 Duck, Daisy 2001 b: “ Zum Rollenverständnis des modernen Erpels ” , in: Ente und Gesellschaft 19.1 - 2 (2001): 27 - 43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “ Schon wieder keinen Bock ” , in: Franz Gans ’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15. 01. 2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15. 01. 2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15. 01. 2009] 160 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Instructions to Authors Articles (approx. 10 - 30 pp. à 2'500 signs [25.000 - 75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor in electronic form (word-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3 - 5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotation marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn ’ t make sense; one is taken out of context; one isn ’ t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘ normal ’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [ … ], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “… ‘…’ …” . Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘ Enlightenment ’ ); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘ I learn English since ten years ’ : The Global English Debate and the German University Classroom ” , in: English Today 18.2 (2002): 9 - 13 Modiano, Marko 1998: “ The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union ” , in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241 - 248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “ Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe ” , Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5 - 7 October 2001, http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15. 01. 09]. 162 Instructions to Authors