Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
92
2024
431-2
An International Journal of Semiotics Vol. 43 · January/ June 2020 · No. 1-2 Editors: Achim Eschbach (†) · Ernest W. B. Hess-Lüttich · Jürgen Trabant Review Editor: Daniel H. Rellstab KODIKAS / CODE is an International Journal of Semiotics and one of the leading European scholarly journals in this field of research. It was founded by Achim Eschbach, Ernest Hess-Lüttich and Jürgen Trabant in order to promote multidisciplinary approaches to the study of sociocultural semiosis in 1979, and has been publishing high quality articles, in-depth reviews, and reports on all aspects of sign processes from historical, theoretical, and empirical perspectives since then. On a regular basis, KODIKAS / CODE also publishes special issues, collections of refereed articles on timely topics, solicited by guest editors. Languages of publication are German, English, and French; all contributions handed in to the editorial board are subject to a peer review process. Please send manuscripts electronically to either of these addresses: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich (Prof. em. University of Berne, Hon. Prof. Tech. Univ. Berlin, Hon. Prof. Univ. of Cape Town) / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin / luettich@campus.tu-berlin.de / hess-luettich@t-online.de Prof. Dr. Jürgen Trabant / Krampasplatz 4b / 14199 Berlin / Deutschland / trabant@zedat.fu-berlin.de Please send books for review to: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin Prof. Dr. Daniel Hugo Rellstab / Germanistik und Interkulturalität / PH Schwäbisch Gmünd / University of Education / Oberbettringer Straße 200 / D-73525 Schwäbisch Gmünd / daniel.rellstab@ph-gmuend.de Manuscripts should be written according to the Instructions to Authors (see last pages of this issue). Books will be reviewed as circumstances permit. No publication can be returned. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 / 72070 Tübingen / Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 / info@narr.de / www.narr.de / narr.digital KODIKAS/ CODE An International Journal of Semiotics Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Themenheft / Special Issue Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate: Aneignung, Literacy, Protest Beiträge der Sektion Jugend- & Subkulturen und Literatur des 16. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e. V. in Chemnitz/ online, 28. September - 02. Oktober 2021 Herausgegeben von / edited by Jan-Oliver Decker und Eva Kimminich Articles Jan-Oliver Decker / Eva Kimminich Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate. Aneignung, Literacy, Protest - Eine Einführung in den Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Texte und Aneignungskulturen. Ein semiotischer Ansatz am Beispiel Little Britain 7 Kathrin Fahlenbrach Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Franziska Trapp Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus. Objekte und Apparaturen im Zirkus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Maren Conrad Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen . . . . . . . . . . . . . . . 83 Dennis Gräf Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen. Bilder (aus) der DDR in Instagramposts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Marco Krause Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene. Produkt- und Konsum-Differenzierungen als Ausdruck und Mittel einer szeneinternen Pluralisierungstendenz . . . . . . . . . . . . . . 124 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen . 141 Julia Wustmann / Angelika Poferl Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? Mediale Kodierungen einer neuen Sozialfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Die Autorinnen und Autoren / Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of the authors . . . . . . . . . . . . . 190 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . 193 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 138, - (special price for private persons € 104, - ) plus postage. Single copy (double issue) € 85, - plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. The articles of this issue are available separately on www.narr.digital © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0171-0834 ISBN: 978-3-381-12501-2 (Print) ISBN: 978-3-381-12502-9 (ePDF) K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate Aneignung, Literacy, Protest - Eine Einführung in den Band Jan-Oliver Decker (Passau) & Eva Kimminich (Potsdam) Abstract: This issue brings together a selection of the contributions at the section “ Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate: Aneignung, Literacy, Protest ” of the 16th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Transformationen - Zeichen und ihre Objekte im Wandel ” (Universität Chemnitz/ online, 28.09. - 02.10.2021). In addition, a basic article on the semiotic analysis of cultural appropriations is added as an introduction. The section ʼ s central question was to what extent (i) medial-technological transformation is interrelated to (ii) new forms of narratives (and rhetorical figures as well as patterns of argumentation) and (iii) to new dimensions of sign-meaning coupling (and thus semiosis). The contributions provide (i) semiotic descriptions, explanations, and theoretical modeling of the changing media dispositifs and their effects on sign systems, sign inventories, and sign usages. (ii) Semiotically informed analyses of new narrative forms and rhetorics in cross-media alliances . (iii) In larger cultural contexts, we have also been interested in different uses of media and their signs, e. g., as countercultural, youth cultural, as well as subcultural uses, and in the establishment of resistant codes at the center of cultural programs. - This essay introduces the volume and the contributions and outlines the basic questions of the essays collected here. Keywords: media transformation, changing narratives, cross media alliances, cultural programs, (sub-)cultural change 1 Mediale Transformationen als Innovation narrativer Formate Im wissenschaftlichen Fokus der Sektionen Literatur (Jan-Oliver Decker) und Jugend- und Subkulturen (Eva Kimminich) der Deutschen Gesellschaft für Semiotik DGS e. V. standen bisher stets die Erforschung textanalytischer Semantik und kulturwissenschaftlicher Pragmatik semiotischer Phänomene. Durch das übergeordnete Kongressthema des 16. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e. V. “ Transformationen. Zeichen und ihre Objekte im Wandel ” in Chemnitz/ online, 28. September - 02. Oktober 2021 lag es nahe, die Expertisen unserer beiden Sektionen zu vereinen und Semiose, Kodes, Zeichensysteme im medialen, textuellen und kulturellen Gebrauch gemeinsam zu untersuchen. Aus ihrem dynamischen Verbund gehen Zielsetzungen, Umdeutungen und Denkfiguren hervor, mit denen am symbolischen Universum gearbeitet und so auf die gesellschaftliche Wirklichkeitsgestaltung Einfluss genommen wird (cf. Kimminich 2023). Ein Kerngedanke dabei war, dass sich beide Sektionen unter anderem jeweils (i) sowohl mit dem fluiden medialen und kulturellen Wandel als auch (ii) mit der Referenz auf kulturelle Wirklichkeit beschäftigen. Ein weiterer Kerngedanke ist, (iii) dass sich beide Sektionen mit der Frage beschäftigen, wie in vielfältigen Semiosen Sinn in Form der Vernetzung konkreter medialer Bedeutung mit materieller Kultur hergestellt wird. Ein Motor der Sinnstiftung ist dabei für uns das Erzählen, das vorgefundene Zeichensysteme aufgreift, neu kombiniert und in jeder Erzählung ganz eigene Weltentwürfe entwickelt, die als sekundäre modellbildende semiotische Systeme (cf. Lotman 1993) Zeichensysteme in Beziehung zur soziokulturellen Wirklichkeit setzen. Wir sind darüber hinaus von der Prämisse ausgegangen, dass die Digitalisierung den kulturellen Wandel beschleunigt (cf. Decker, Hennig & Krah 2023). Eine Vielzahl traditioneller Sinngebungsmuster wird aktuell in den neuen Medien dekonstruiert und in Frage gestellt. Quer zu den etablierten kulturellen Werten und Normen etablieren sich sowohl massenmedial manifeste neue Ordnungen im Mainstream wie sich auch subkulturelle Nischen in neuer medialer Vielfalt ausbreiten. Eine der zentralen Fragen, die uns dabei beschäftigt hat, ist die Frage, ob tradierte subkulturelle und massenkulturelle Sinngebungsmuster wie bspw. Privatheit erodiert werden oder in transformierter Form verändert zurückkommen oder erhalten bleiben. Wir glauben, dass bestimmte mediale Muster und Zeichenkomplexe eine zentrale Rolle dabei spielen, neuen und alten Sinn in einem ständigen Transformationsprozess miteinander zu verbinden. Auch wenn der Begriff Narrativ nicht befriedigend definiert ist, haben wir ihn in diesem Zusammenhang für die Bezeichnung solcher medialer Muster und Zeichenkomplexe der Fragestellung unseres Panels und der hier versammelten Beiträge vorangestellt: Wir verstehen unter einem Narrativ eine in den medialen Zeichen manifeste Struktur, die mittels rhetorischer und narrativer Verfahren ein (potenzielles) Erzählmodell entwirft, das als sinngebendes Muster ein mediales Kommunikat und seine Produktionskultur miteinander verbindet. Dieses Narrativ kann dabei in einem konkreten Kommunikat implizit oder explizit realisiert oder als Potenzial installiert werden und auch erst in spezifischen Kontexten eine narrative Funktion erfüllen oder aber umkodiert, vereindeutigt oder polysem werden. Ziel unseres Panels war es auf dieser Basis dann, mediale Narrative in einem dreigliedrigen Transformationsprozess zu verstehen: Die Beiträge dieses Bandes fragen, inwiefern (i) medial-technologische Transformation in einem Wechselverhältnis zu (ii) neuen Formen von Narrativen (und rhetorischen Figuren sowie Argumentationsmustern) und (iii) zu neuen Dimensionen der Zeichen-Bedeutungs-Kopplung (und damit Semiose) steht. Wir sind dabei von der Grundannahme ausgegangen, dass diese Wechselverhältnisse besonders an den Grenzen medialen Handelns - also in den Bereichen der Aneignung und Individualisierung, des Erlernens von Medien- und Zeichenkompetenz (Literacy) sowie in 2 Jan-Oliver Decker / Eva Kimminich den Aushandlungsprozessen zwischen Zeichenkulturen (bspw. Jugendmedien, Subkulturen, Protest) deutlich werden. In der Sektion standen deshalb Aspekte des Wandels in historischen und theoretischen Perspektiven in folgenden Schwerpunkten: (i) Semiotische Beschreibungen, Erläuterungen und theoretische Modellierungen der geänderten medialen Dispositive und ihrer Auswirkungen auf Zeichensysteme, Zeicheninventare und Zeichengebräuche (mit besonderem Schwerpunkt auf neue und digitale Medienumgebungen). (ii) Semiotisch fundierte Analysen neuer Erzählformen und Rhetoriken in medienübergreifenden Verbünden (in trans- und intermedialen Kontexten sowie Textumgebungen und Erzählwelten, z. B. paratextuelles Erzählen). Dies umfasste sowohl theoretische Überlegungen als auch Analysen konkreter Einzeltexte sowie Textkorpora in ihren medienübergreifenden Bezügen (semiotische Narratologie). (iii) In größeren kulturellen Zusammenhängen haben wir uns auch für unterschiedliche Gebrauchsformen von Medien und ihren Zeichen z. B. als gegenkultureller, jugendkultureller sowie subkultureller Gebrauch und für die Etablierung widerständiger Codes im Zentrum kultureller Programme (Mainstreamisierung) interessiert. Insbesondere haben wir hier die Ausprägung neuer mediengestützter Formen der Gemeinschaftsbildung im Auge gehabt. Besonders in Zeiten von Phänomenen wie Informationsflut, Fake News und Filterblasen war ein Ziel der Sektion auch, den heute notwendigen, reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit Informationen und Zeicheneinheiten zu befördern, indem unsere Beiträge die Funktionsweisen multimodaler Narrative in Zeiten des digitalen Wandels beschreiben und erklären (cf. zur Multimodalität aus semiotischer Perspektive Krah 2023). Eine zentrale Perspektive der hier ausgewählten Beiträge ist auf diesem Fundament die Verdichtung abstrakter und komplexer Bedeutungen in Bildern und Images, die mittels rhetorischer Strategien Emotionen modulieren sollen und auf diese Weise gegenkulturelle Bedeutungen in den öffentlichen Diskurs einspeisen. Durch die Kommentierung, Überarbeitung und Anreicherung solcher Bilder werden diese einerseits stark referenzialisiert und kontextualisiert, also auf Lebenswirklichkeiten bezogen. Andererseits werden sie palimpsestartig überschrieben, verarbeitet, ins Gegenteil verkehrt und können auf diese Weise mit ganz unterschiedlichen kontextabhängigen Bedeutungen angefüllt werden. 2 Zu den Beiträgen des Bandes Der Band wird mit einem Grundlagenbeitrag von Jan-Oliver Decker und Hans Krah eröffnet, der am Beispiel des Comedy-Formats Little Britain (BBC 2003 - 2006) systematisch kulturelle Aneignungsphänomene beschreibt und eine Methode ihrer Analyse ausdifferenziert. Ausgangspunkt des Beitrags ist die Überlegung, dass zum eigenen Selbst wesentlich eine Distanzierung von sich selbst dazugehört, die den Raum für die Aneignung eines Anderen und durch ein Anderes ermöglicht. Davon ausgehend wird gezeigt, wie am Beispiel von Little Britain solche Aneignungsphänomene semiotisch zu fassen und zu beschreiben sind. Um die Bezüge in und um Little Britain und seine Aneignungen textwissenschaftlich exakt zu beschreiben, die kulturellen Referenzen zu erklären und auch die Kritik an Little Britain zu reflektieren, werden dabei am Beispiel Grundlagen kultur- und mediensemiotischer Analyse erläutert, Aneignungsvarianten und relevante Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate 3 Kategorisierungen vorgestellt, und am Fallbeispiel einer wissenschaftlichen Aneignung schließlich innerhalb der Kulturwissenschaften eine eigene Bewertung von Little Britain im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs vorgenommen. Die Entfernung der Staffeln von Little Britain von BBC iPlayer, Netflix and BritBox wird dabei kulturkritisch als Beispiel einer Cancel Culture verstanden. Der nächste Aufsatz von Kathrin Fahlenbrach stößt inhaltlich zu den zentralen Fragengkomplexen der Sektion vor, indem er sich mit Phasen der Ikonisierung und mit Resemiotisierungsprozessen von Bildern zu Netzikonen beschäftigt. Der Artikel untersucht Protestbilder im semiotischen Wechselspiel von Protest und Netzkommunikation. Konkret werden zwei Ausdrucksformen untersucht, die digitale Protestdiskurse in sozialen Online- Medien besonders prägen: Internet-Memes und Netz-Ikonen des Protests. In einer Fallstudie wird analysiert, wie ikonische Bildmuster und Netzikonen des Protests im Zusammenspiel von memetischen Bildpraktiken im Web 2.0 und Protestaktionen im physischen Raum entstehen können. Der anschließende Aufsatz von Franziska Trapp erweitert die Perspektive der Transformation des Narrativen in die Bereiche Performativität und Materialität. Sie fokussiert in der Geschichte des Zirkus die materielle Wende vom Anthropozentrismus hin zu neuen Materialismen, in denen der Materie Handlungsfähigkeit zugesprochen wird. Während der traditionelle Zirkus als ein Symbol des westlichen Anthropozentrismus gelten kann, weist der zeitgenössische Zirkus neue materialistische Züge auf. Ziel des Beitrags ist es, die Entwicklung der Subjekt-Objekt-Beziehungen in Zirkusaufführungen nachzuzeichnen und sie in ihren jeweiligen kulturgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Anhand von drei exemplarischen Performance-Analysen, nämlich einer traditionellen Zirkusnummer der Flying Tunizianis, der neuen Zirkusshow The Elephant in the Room des Cirque le Roux und der zeitgenössischen Zirkusperformance CHINA SERIES #5 von Julian Vogel, wird diskutiert, inwieweit die technologischen Transformationen von Objekten und Apparaten im Zirkus mit neuen Formen von Erzählungen und neuen Dimensionen semiotischer Strukturen zusammenhängen. Der folgende Beitrag von Maren Conrad wendet sich im Anschluss Beispielen aus der Kinder- und Jugendliteratur zu, in denen eine multimodale Diversifizierung des Erzählmediums über die Grenzen eines einzelnen Buches hinaus Anwendung findet. In solchen crossmedialen Phänomenen auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt wird zunehmend eine neue Qualität erreicht, weil das Narrative und Fiktionale sowie das fiktive Faktische durch Momente des Performativen und Interaktiven bis hin zum Ludischen ergänzt werden. Dies schafft in bestimmten Fällen auch das Potenzial, Kinderliteratur zunehmend zugänglich zu machen. Der Aufsatz zeigt in diesem Zusammenhang, wie es der Begriff der Multimodalität als weit gefasster Oberbegriff erlaubt, Formen der modalen und materiellen Komplexitätssteigerung moderner literarischer Formate, insbesondere aber der Kinder- und Jugendliteratur zu erfassen. Gerade der Bereich der Kinder- und Jugendliteratur experimentiert seit seinen Anfängen mit spezifischen Medien, Modalitäten und ungewöhnlichen Formen und Formaten, die für Kinderliteratur typisch sind, und bedient sich dabei vielfältiger und komplex kombinierter semiotischer Ressourcen sowie anspruchsvoller literarisch-ästhetischer Gestaltungsmittel. Elemente einer zunehmend expliziten Multimodalität sind immer ein Mittel der Interaktion als Strategie der Einbindung, bei der die Rezipienten spielerisch in 4 Jan-Oliver Decker / Eva Kimminich die Gestaltung der Erzählung einbezogen werden. Ziel dieses Beitrags ist es, einen ersten Einblick in eine mögliche Typologie und einen Überblick über die Breite des Spektrums multimodal arbeitender zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteratur zu geben. Der nächste Beitrag von Dennis Gräf beschäftigt sich mit Instagram-Posts, die (i) aus der Vergangenheit der analogen Fotografie sowie (ii) aus der DDR stammen und schlägt anhand dieser Beispiele (iii) ein heuristisches Verfahren zur Analyse von Instagram-Posts vor, das sich grundsätzlich an einem semiotischen Ansatz orientiert. Auf dieser Grundlage wird (iv) die Funktion alter DDR-Bilder innerhalb von Erinnerungsdiskursen untersucht und (v) die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen zum Verhältnis von analogen Medienprodukten zu digitalen Netzwerken und von Zeichen der Vergangenheit zu Medienkanälen der Gegenwart geklärt. Der folgende Beitrag von Marco Krause öffnet den Blick für sub- und teilkulturelle Aneignungsformen von Narrativen der Hip-Hop-Szene. Er widmet sich dem Thema des szenespezifischen Produktkonsums. Kern ist die strukturelle Charakterisierung des szenespezifischen Produktkonsums im Kontext der Hip-Hop-Szene, die auf einer durchgeführten ethnographischen Studie basiert. Dabei wird der Zusammenhang zwischen dem Konsum szenespezifischer Produkte und der Herausbildung interner Strukturen der Hip- Hop-Szene aufgezeigt. Einen vergleichbaren Ausgangspunkt nimmt auch der anschließende Beitrag von Paul Eisewicht, Pao Nowodworski und Pauline Kortmann. Die Grundthese des Beitrags ist, dass in modernen Gesellschaften Zugehörigkeit weniger eine gegebene soziale Entität ist, sondern vielmehr permanent performativ konstruiert und kontinuierlich gemanagt werden muss. In der verwirrenden Vielfalt moderner Zugehörigkeitsangebote, die je nach individuellen Vorlieben, Relevanzen und Interessen gesucht, angeeignet und auch wieder verändert werden und die sich nicht per se am Körper ablesen lassen, ist es typischerweise notwendig, mentalen Zugehörigkeiten materiellen Ausdruck zu verleihen. In der modernen Konsum- und Mediengesellschaft geschieht dies durch den Erwerb und die Nutzung entsprechender Konsumgüter sowie deren mediale Dokumentation und Präsentation. In ihrem Beitrag konzentrieren sich Paul Eisewicht, Pao Nowodworski und Pauline Kortmann auf ein bislang wenig beachtetes, aber szenetypisches Narrativ im Skateboarding, nämlich die misslungenen Tricks. Anhand eines Fallbeispiels rekonstruieren sie die Bedeutung der medialen Darstellung des Scheiterns im Skateboarding und ordnen dieses als Zeichen freiwilliger individualisierter Risikoarbeit in der Streetart-Sportart Skateboarding ein. Der Band wird mit dem Beitrag von Julia Wustmann und Angelika Poferl beschlossen, der mit seiner Untersuchung des Frauenbildes der Fridays For Future-Bewegung einen Bogen zurück zum Artikel von Kathrin Fahlenbrach schlägt. Der Artikel konzentriert sich auf die zentralen weiblichen Demonstranten der Fridays For Future-Bewegung, die als Frauen an vorderster Front untersucht werden. Aufgrund ihrer Effektivität nehmen sie eine Scharnierposition zwischen Organisation und medialer Kommunikation ein. Daher ist es notwendig zu untersuchen, wie sich das Phänomen der Frontfrauen der Fridays For Future-Bewegung aktuell behauptet und welche symbolische Rahmungen mit ihm verbunden sind. Um das Phänomen der Frontfrauen historisch einordnen zu können, wird ein historischer Rückblick auf das Engagement von Frauen im Umwelt- und Naturschutz gegeben. Im Anschluss daran werden die sozialwissenschaftlichen Debatten zu Gender, Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate 5 Klima und sozialen Bewegungen zusammengefasst, um die Untersuchung zu begründen. Nach einer exemplarischen Analyse, die sich auf eine spezifische Repräsentationsweise von Greta Thunberg und ihrer Kontextualisierung in Twitter-Postings bezieht, wird schließlich diskutiert, warum die Frontfrauen der Fridays For Future-Bewegung für die Etablierung einer neuen Art von sozialer Figur stehen. Dieser Beitrag verdeutlicht darüber hinaus, dass wir die Beiträge dieses Bandes auch als Bausteine einer Semiotik verstehen, die Media Literacy und/ oder Medienkompetenz fokussiert und dazu beiträgt, methodische und didaktische Konzepte des Empowerments, der informationellen Selbstbestimmung, des informellen und formellen Lernens und der Aneignung von Welt durch Medien zu reflektieren und damit zu ermöglichen. References Decker, Jan-Oliver, Martin Hennig & Hans Krah 2023: “ Digitalität - Dispositiv / Methoden / Analyse. Bestandsaufnahme aus mediensemiotischer Perspektive ” , in Krah & Seefried (eds.) 2023, 167 - 201 Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink Kimminich, Eva. 2023: Symbolische (Ver)formungen. Einführung in eine kultursemiotische Beobachtung gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Baden Baden: Ergon Krah, Hans 2023: “ Multimodalitäten - Differenzierungen / Konturierungen / Kontexte Bestandsaufnahme aus textsemiotischer Perspektive ” , in: Krah & Seefried (eds.) 2023, S. 21 - 92 Krah, Hans & Romina Seefried 2023 (eds.): Multimodalität als ‘ Medialität zweiter Ordnung ’ . Lesarten eines text-bild-medienübergreifenden Dispositivs (= Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik, hrsg. v. Martin Nies), SKMS | Online - Open Access Journal 12 (2023) 6 Jan-Oliver Decker / Eva Kimminich K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Texte und Aneignungskulturen Ein semiotischer Ansatz am Beispiel Little Britain Jan-Oliver Decker (Passau) & Hans Krah (Passau) Abstract: An essential part of one ’ s own self is a distancing from oneself, which enables the space for the appropriation of another and by another. Based on this thesis, we want to show in the following how such appropriation phenomena can be fundamentally grasped and described using the example of Little Britain (BBC 2003 - 2006). In order to accurately describe the references in and around Little Britain and its appropriations in terms of textual science, to explain the cultural references, and also to reflect on the critique of Little Britain, in the following we will (i) first explain the basics of cultural and media semiotic analysis, (ii) concomitantly refer to Little Britain, (iii) present variants of appropriation and relevant categorizations and outline a case study, and finally (vi) undertake our own evaluation of Little Britain within cultural studies in the current scholarly discourse and derive and focus on aspects that seem relevant to us in this context. The removal of the seasons of Little Britain from BBC iPlayer, Netflix and BritBox seems to us as part of a culturally critically initiated protest culture of ‘ cancel culture ’ in essential points inappropriate and itself an object phenomenon of a cultural discourse, which should be considered analytically. Overall, our contribution would like to provide an introduction to semiotic procedures, approaches, and research interests in cultural studies of mediality, and to sensitize us to the relevance of the diversity of media appropriations in contemporary cultures through the analysis of Little Britain. Keywords: text semiotics, cultural semiotics, (cultural) appropriation, media analysis, cultural studies, semiosphere, materiality, self and external reference, Little Britain, ‘ cancel culture ’ , 1 Texte und ihre kulturellen Fortschreibungen - zum Einstieg Das Komiker-Duo Matt Lucas und David Walliams ist bis heute vor allem durch seine Performance in der Sketch-Serie Little Britain (BBC 2003 - 2006) bekannt, die als eigenständige mediale Konstruktion einen Blick auf das United Kingdom wirft, der abseits imperialer Größe und Macht das Abseitige und das Abweichende, das Aparte und das Absonderliche fokussiert. Erkennbar formt Little Britain auf diese Weise einen eigenen medialen Weltentwurf, eine rein mediale Konstruktion, die einerseits unzweifelhaft Bezüge zur britischen Gegenwartskultur, ihren Motiven, Narrativen und Topoi aufweist, die hier satirisch verarbeitet werden. Andererseits formt der Erfolg der Sketch-Serie ein eigenes Paradigma Little Britain aus, das bis heute mit den verkörpernden Schauspielenden, ihren Persönlichkeiten und Images verknüpft wird und als eigener medialer Kosmos Little Britain sowie als eigenständiger, schräger Blick auf die britische Kultur im kulturellen Wissen nicht nur Großbritanniens gespeichert ist. Schon hier zeigen sich die vielfältigen Bezüge und Bezugnahmen, die sowohl im medialen Kosmos von Little Britain verarbeitet werden als auch umgekehrt der unterschiedlichen kulturellen und zeittypischen Kontexte, in denen der Weltentwurf von Little Britain vielfältige Bedeutungen erlangen kann. Mit den folgenden Ausführungen möchten wir deshalb versuchen, aus einer medien- und kultursemiotischen Perspektive Kategorien und Strukturen zu identifizieren, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Verarbeitungen sowohl von Kultur in der Serie als auch der Serie in Kultur(en) differenzieren und analysieren lassen. Dabei wollen wir an ausgewählten Beispielen ein textkritisches Close-Reading durchführen, das zunächst einmal genaue Befunde an konkreten medialen Strukturen erhebt, um diese dann auf größere Korpora und kulturelle (Teil-)Systeme zu beziehen. Insofern wenden wir zunächst einen engen Textbegriff an, der sich dem konkreten Medienprodukt annähert, um dann in einem weiten Textbegriff die einzelnen Beispiele in systemischen Zusammenhängen zusammenzudenken und die Verallgemeinerbarkeit unserer Ergebnisse zu skizzieren. Dabei leiten uns primär Fragen nach den Formen und den Referenzen der verarbeiteten Selbst- und Fremdbilder, mit deren Hilfe wir die Leistungen des mediensemiotischen Ansatzes für die Analyse kulturwissenschaftlich relevanter medialer Artefakte aufzeigen möchten. Im Folgenden werden wir uns dabei nicht nur mit der Aneignung von kulturellen Referenzen in Little Britain auseinandersetzen, sondern auch einen Blick auf die Aneignung von Little Britain in der kulturwissenschaftlichen Forschung werfen. Die Frage der Referenz ist für uns nicht nur eng mit der Frage der Textgrenze und der prinzipiellen Hypertextualität und Simultaneität unterschiedlichster medialer Formate und Verarbeitungen von Kultur in Little Britain, sondern auch mit der Aneignung von Little Britain selbst in der Kultur verknüpft. Zur Modellierung dieser systemischen Zusammenhänge werden wir dabei Jurij M. Lotmans Modell der Semiosphäre aufgreifen und anwenden (cf. Lotman 1990). Dabei bildet der mediale Weltentwurf in Little Britain einen Bedeutungskern aus, der an der Peripherie von anderen Texten verarbeitet wird. 1.1 I ’ m with Stupid (2006) - Little Britain featuring Pet Shop Boys Eine Verarbeitung des medialen Weltentwurfs der Sketch-Serie Little Britain findet sich beispielsweise im Musikvideo I ’ m with Stupid (UK 2006, Rob Leggatt) zum gleichnamigen Song der Pet Shop Boys. Das Video behandelt die spezielle Beziehung zu einem Dummen, die als Beziehung zwischen dem damaligen Premier Tony Blair und dem US-Präsidenten George W. Bush in diversen Diskursen über das Video kolportiert wird. Matt Lucas und David Walliams wenden im Video ein Verfahren an, wie es typisch für den Erzählstil der Serie Little Britain ist. Mit Hilfe scheinbar einfacher Lowtechverkleidungen und Requisiten wird ein ausgefeiltes ästhetisches Konzept vermittelt, bei dem ein Spiel zwischen Selbst- und Fremdreferenz, Aneignung und Tribut, Medialität und Materialität auf die Spitze getrieben wird: Lucas und Walliams verkörpern Neil Tennant und Chris Lowe von den Pet Shop Boys und simulieren computergenerierte digitale Ästhetiken aus deren Videos Go 8 Jan-Oliver Decker / Hans Krah West und Can You Forgive Her (beide UK 1993, Howard Greenhalgh). Sie führen diesen Tribut in einer Art Casting auf einer Bühne vor den Pet Shop Boys auf, die gefesselt im Parkett sitzen, die Show also über sich ergehen lassen müssen. Die handgemachte Simulation betont dabei den materialen Aspekt als Element der eigenen Künstlerhandschrift von Lucas und Walliams, die sich die fremde Ästhetik der Pet Shop Boys auf ihre individuelle Weise meisterhaft aneignen. Lucas und Walliams treten hier gerade nicht in einer ihrer Rollen aus Little Britain auf, die hier fortgeschrieben werden würden, sie inkorporieren diese aber (i) selbst als Ikonen. Einbezogen werden hier als ‘ Text ’ zunächst also die Akteure und das mit ihnen aufgerufene Wissen über ihr textuelles ‘ Starimage ’ (Cf. zur Starimageanalyse einführend Decker 2005). Dies korreliert (ii) damit, dass sie auch hier das machen, wofür sie bekannt sind: in Rollen zu schlüpfen, wobei diese Rollen bereits durch den Liedtext als irgendwie ‘ anders ’ , eine spezifische Semantik von “ stupid ” , ausgewiesen werden. Ebenfalls wird (iii) deutlich gemacht, dass es sich um Rollen handelt, dass hier also explizit (auf einer Bühne) performt wird, wobei diese Rollen zudem auf der Ebene der Akteure mit Tennant und Lowe identifiziert werden können - diese sind es, die eigentlich als Interpreten in ihren Musikvideo zu erwarten wären. Die beiden Pet Shop Boys werden nun zu Zuschauern und in dieser Rolle wird ihnen ein Bild ihrer selbst vorgehalten, dessen sie sich (iv) nicht erwehren können. Auch wenn sie körperlich gefesselt sind, scheinen sie nicht von dieser Performance gefesselt zu sein. Das Spiel muss nicht jedem gefallen, zumindest übt es auch Gewalt aus, bedarf also einer spezifischen Rezeption. 1.2 The Big Night In (2020) - Little Britain goes Covid-19 Ein weiteres Beispiel einer spezifischen Aneignung des Weltentwurfs von Little Britain findet sich anlässlich der Entwicklungen der Covid-19-Pandemie 2020. BBC 1 hat am 23.04.2020 einen “ Telethon ” genannten Spendenmarathon mit dem Titel The Big Night In für Comic Relief im Internet veranstaltet, 1 bei dem auch ein ca. fünfminütiges Video von Lucas und Walliams gesendet wurde, das bis heute abrufbar ist (cf. https: / / www.youtube.com/ watch? v=c-OwVBuYNLM). In 17 Einstellungen, die meisten davon im Splitscreen, werden zentrale Figuren aus den bisherigen Staffeln von Matt Lucas und David Walliams in 13 kurzen Sketchen wieder in Szene gesetzt. Der Splitscreen zeigt Matt Lucas und David 1 Mitte April 2020 waren die Folgen der Covid-19-Pandemie gerade auch in Großbritannien bereits dramatisch: Am 23.04.2020 wurden offiziell nach den Daten der WHO 4.583 neue Fälle und 843 neue Todesfälle gemeldet. Faktisch gab es im Vereinigten Königreich wohl zwischen Mitte März und Mitte Mai eine Übersterblichkeit von ca. 62.000 Menschen, von denen ca. 48.000 Covid-19 zugeschrieben werden (cf. BBC, https: / / www.bbc. com/ news/ health-52890515). Am 5. April hielt Elizabeth II. ihre bisher vierte Rede an die Nation und rief die Bevölkerung dazu auf, die Ausgangsbeschränkungen einzuhalten; am selben Tag wurde Boris Johnson mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert. Der Telethon am 23.04.2021 wurde von Comic Relief durchgeführt, einer Wohltätigkeitsorganisation, die auf Initiative von Jane Tewson 1985 angesichts der Hungerkatastrophe in Äthiopien gegründet wurde und besonders seit 1986 am alle zwei Jahre durchgeführten “ Red Nose Day ” Spendengelder durch einen Fernsehmarathon einsammelt. Dabei wird das Prinzip der Stilfigur ‘ comic relief ’ aufgegriffen, einen ernsten und tragischen Zusammenhang durch eine humoristische Szene zu durchbrechen und damit durch zahlreiche Sketche mit Prominenten und Künstler*innen die Zuschauenden zum Spenden zu motivieren. Seit 1986 haben in Großbritannien zahlreiche Stars in vielfältigen humoristischen Szenen bisher über eine Milliarde britische Pfund Spendengelder eingesammelt. Hervorzuheben ist, dass jedes gespendete Pfund in Projekte fließt und die Kosten der Organisation von Sponsoren und Zinserträgen noch nicht verwendeter Spendengelder getragen werden. Texte und Aneignungskulturen 9 Walliams dabei je isoliert in einer Hälfte des Splitscreens vor neutral weißem Hintergrund. Der Splitscreen zeigt einerseits die Notwendigkeit an, sich im Lockdown isoliert voneinander in (s)einem Zuhause aufzuhalten. Andererseits ermöglicht die durch den Splitscreen im Bild inszenierte Grenze zwischen den beiden Teilbildern im Filmbild auch, diese Grenze durch die Inszenierung vor der Kamera in der Mise en Scène und durch die Montage zu überschreiten. Vorgeführt werden Austauschbeziehungen zwischen den beiden Teilbildern durch Requisiten-Transfer und eine scheinbar direkte Kommunikation zwischen den beiden Personen durch ihre Körperhaltung(en), Gestik(en) und Mimik(en). Die Bedeutung dieser selbstreflexiven Inszenierung ist klar: Das Medium inszeniert einen Kontakt zwischen den eigentlich getrennten Personen und diese Bedeutung lässt sich auch auf das Medium des Videos selbst übertragen, das erstens erneut die ikonischen Figuren der Sketche wieder auf die Bildschirme und in Kontakt mit den Zuschauenden bringt und damit zweitens durch die ausgelösten Emotionen und guten Gefühle die Zuschauenden dazu bewegt, Geld an Comic Relief zu spenden. Die Möglichkeiten der medialen Inszenierung sollen also Interaktionen zwischen Medium und Zuschauenden ermöglichen. In der vorletzten Einstellung erfolgt dann auch direkt durch die Kamera hindurch folgender, an die Zuschauenden adressierter Appell durch eine männliche Person: “ This was created as a part of The Big Night In and we hope you like the videos and we also hope that you click the link below and make a donation! ” Als Gegenpart einer erfolgreichen und direkten Kommunikation sollen die Zuschauenden per Maus-Click Geld spenden. Auch die Kommentare unter dem Video bei YouTube sollen hier Raum für eine direkte Kommunikation zwischen den Zuschauenden geben. In der Mise en Scène sind nun vor allem Requisiten und Kostüme zu sehen, die als ‘ do it yourself ’ erscheinen: Unter anderem werden Haare aus Klopapierpapprollen oder aus ausgeschnittenen, bemalten und an die Stirn geklebten Pappen oder bemalten Damenstrümpfen gebildet, Brillen werden aus Draht geformt oder auch aus Pappe ausgeschnitten und ebenfalls bemalt und Kleider werden durch vor den Körper bis zum Hals gehaltene Pappen mit darauf skizzierten Kleidungen dargestellt. Diese Inszenierung suggeriert auf den ersten Blick eine mit einfachsten Mitteln selbst durch die im Bild abgebildeten Personen hergestellte Verkleidung. Sie zeigt dabei aber durch die Erkennbarkeit der jeweils verkörperten Figuren - die Reduktion der Requisiten auf wesentliche Schemata der Person (Haare, Gesicht, Kleidung) basiert auf kondensierenden Reduktionen komplexerer Figurenmerkmale, die auf das Little Britain-Universum referieren und es als bekannt im kulturellen Wissen voraussetzen - den ikonischen Status an, den zahlreiche Figuren des Little Britain-Universums bekommen haben: Andy Pipkin im Rollstuhl und sein Betreuer Lou Todd, die abgehalfterte Oberschichtsfrau Bubbles, die ‘ Ladys ’ Florence Rose und Emily Howard, der Premierminister (Anthony Head) und Sebastian Love, der Hypnotiseur Kenny Craig, Mr. Mann und der Ladenbesitzer Roy, Ray McCooney mit seiner Flöte (hier ein zerbrechender Grissino), Marjorie Dawes von den Fat Fighters, der schwule Daffyd und die Wirtin Myfanwy (Ruth Jones), Carol Beer vor ihrem Computer, Vicky Pollard und ein Constable, der kleine Dennis Waterman, Judy Pike und die sich übergebende xeno- und homophobe Maggie Blackmoor. Die scheinbar einfachen Kostüme und Requisiten stehen zudem in Kontrast zur doch filmtechnisch guten Qualität der Videoproduktion: Unterlegt wird ein durchlaufender musikalischer Soundtrack, die Sketche wechseln durch auf- 10 Jan-Oliver Decker / Hans Krah wändige Wischblenden in alle Richtungen des Bildes. Ganz zu Beginn des Videos imitiert das filmische Material auch die Zeilen und Störungen eines gesendeten und empfangenen Fernsehbildes, verweist also vom eigentlichen Distributionsmedium Internet auf das ursprüngliche TV-Format und markiert sich zugleich auch als medial gemachtes Produkt. 2 Die Bedeutung ist auch hier offenkundig: Die Erkennbarkeit der prototypischen Figuren, die gekonnte Reduktion auf diese Figuren mit einfachsten Materialien und die gleichzeitig komplexen Austauschbeziehungen zwischen den Darstellenden und Figuren im Splitscreen zeigen den Zuschauenden die Wertigkeit des Inszenierungskonzepts an und signalisieren, dass die dem Video zugrundeliegende, vorausgehende, komplexe gedankliche Arbeit wichtiger ist als die konkrete Ausführung der Requisiten und Kostüme in Zeiten des Lockdowns. Semiotisch gesprochen könnte man sagen, dass die Requisite hier chiffre-artig ein Universum anzeigt und indiziert, das sowohl die realen Bedingungen des Lockdowns als auch sich selbst als mediales Universum reflektiert. So sagt beispielsweise Emily (Lucas) im dritten Sketch als Reaktion auf Florences (Walliams) Eröffnung “ I ’ m a lady ” (ab 1: 26): “ I ’ m also a lady and I ’ m not sure we should be doing this sketch anymore ” , nimmt damit also auf die Kritik Bezug, die einige Figuren als misogyn und transsowie homophob wahrgenommen hat. Das Spannungsfeld, das sich hier auf den ersten Blick umreißen lässt, kann man also auf der Ebene der Gemachtheit des medialen Artefakts Video zwischen den Polen Materialität und Medialität bestimmen. Auf der Ebene der Kommunikation mit den Zuschauenden und der Rezeption bewegt sich das Spannungsfeld des Videos zwischen den Polen Fremd- und Selbstreferenz und indiziert dadurch kulturellen Wandel, der sich in der Bewertung der Gegenwart des Lockdowns durch die Figuren in den Sketchen des Videos und der Bewertung der Figuren des Little Britain-Universums durch die Diskurse der Gegenwart niederschlägt. 1.3 Auswertung: Erkenntnisinteressen Wie das Musikvideo zu ‘ I ’ m With Stupid ’ zeigt, existiert das im Video zu The Big Night In zugrunde gelegte ästhetische Konzept als ein ausgearbeiteter, eigener Erzählstil auch jenseits der Serie Little Britain schon länger. Im Unterschied zum Video der Pet Shop Boys eignen sich aber Lucas und Walliams im Video zu The Big Night In allerdings nicht die fremde Ästhetik der Pet Shop Boys, sondern ihre eigene mediale Vergangenheit in Little Britain selbstreflexiv an. Beide Beispiele zeigen damit deutlich, dass Little Britain selbst ein Paradigma auf der Ebene der Inszenierung und des Inszenierten darstellt. Auf beiden Ebenen wird dabei durch die Aneignung des eigenen Selbst gezeigt, dass der kohärent ins Paradigma ‘ Abweichung ’ integrierte Bruch mit der eigenen ästhetischen und ideologischen Ordnung wesentlich für das Paradigma ‘ Little Britain ’ ist. Zum eigenen Selbst gehört wesentlich eine Distanzierung von sich selbst dazu, die den Raum für die Aneignung eines Anderen und durch ein Anderes ermöglicht. Ausgehend von dieser These wollen wir im Folgenden zeigen, wie am Beispiel 2 Die Gemachtheit zeigt sich gerade auch in den Austauschbeziehungen zwischen den Bildteilen im Splitscreen. Hier wird im Bild ein Prinzip verdeutlicht, das sonst in konventionellen a/ v-Formaten verschleiert wird, nämlich die Zusammensetzung des filmischen Syntagmas aus einzelnen bewegten Bildern, die als zusammenmontierte Versatzstücke eine übergeordnete Bedeutung produzieren, die den einzelnen Bildfolgen allein so nicht zukommt. Texte und Aneignungskulturen 11 von Little Britain solche Aneignungsphänomene grundsätzlich zu fassen und zu beschreiben sind. Um die Bezüge in und um Little Britain und seine Aneignungen textwissenschaftlich exakt zu beschreiben, die kulturellen Referenzen zu erklären und auch die Kritik an Little Britain zu reflektieren, wollen wir im Folgenden (i) zunächst Grundlagen kultur- und mediensemiotischer Analyse erläutern, wie sie bei der Skizzierung der beiden Eingangsbeispiele bereits zum Einsatz kamen, (ii) darauf begleitend Little Britain beziehen, (iii) Aneignungsvarianten und relevante Kategorisierungen vorstellen und ein Fallbeispiel skizzieren und schließlich (vi) innerhalb der Kulturwissenschaften eine eigene Bewertung von Little Britain im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs vornehmen und uns hierbei als relevant erscheinende Aspekte ableiten und fokussieren. Das Entfernen 3 der Staffeln von Little Britain von BBC iPlayer, Netflix and BritBox scheint uns als Teil einer kulturkritisch initiierten Protestkultur ‘ Cancel Culture ’ - dies sei vorweggenommen - in wesentlichen Punkten unangemessen und selbst ein Gegenstandsphänomen eines kulturellen Diskurses zu sein, den es analytisch zu betrachten gälte. Unser Beitrag möchte damit insgesamt den Einstieg in semiotische Verfahren, Zugänge und Forschungsinteressen der kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung ermöglichen und durch die Analyse von Little Britain für die Relevanz der Vielfalt medialer Aneignungen in den Kulturen der Gegenwart sensibilisieren. 2 Kulturelle Aneignungspraktiken und Semiotik - Grundlagen Aus einer semiotischen Perspektive im Allgemeinen lässt sich bekanntermaßen jede Kommunikation als epochen- und kulturspezifischer Austausch von Zeichen beschreiben, die eine Ausdrucksseite (Signifikant) und eine Inhaltsseite (Signifikat) mit einem Objekt in der Realität (Referent) kombinieren (triadisches Zeichenmodell) und sich in den Dimensionen Kode (Syntax), Bedeutung (Semantik) und Verwendung (Pragmatik) erklären lassen (cf. Krah 2017a). Ausgangspunkt jeder kultursemiotischen Betrachtung kultureller Phänomene sind darauf aufbauend im Besonderen konkrete Texte. Mit Texten sind im mediensemiotischen Verständnis alle bedeutungstragenden Medienprodukte gemeint, unabhängig von der konkreten medialen Ausprägung. Sie lassen sich in ihren wesentlichen Qualitäten und Parametern basierend auf der Differenz von Signifikat und Signifikant in den Dimensionen Textualität (2.2), Medialität (2.3) und Kulturalität (2.4) beschreiben und hinsichtlich spezifischer Formen ihrer Aneignung (3.1) bestimmen. 2.1 ‘ Text ’ als Grundeinheit Text ist als strukturelles Gebilde zu verstehen, das sich aus der Grundbestimmung des Wortes ‘ Weben ’ , ‘ Gewebe ’ , ‘ Zusammenhang ’ ergibt. Jeder Text ist als konkrete Manifestation zu verstehen, bei der zwei zentrale, grundlegende Operationen durchgeführt werden: Zeichen werden (i) selegiert; aus den möglichen Alternativen werden aus dem jeweiligen Paradigma nur einige ausgewählt. Zeichen werden (ii) kombiniert - Produkt dieser Kombination ist ein Syntagma. Hinsichtlich der syntagmatischen Achse lassen sich 3 Cf. Erklärung der BBC vom 9. Juni 2020 unter https: / / www.bbc.com/ news/ entertainment-arts-52983319. 12 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Texte segmentieren, hinsichtlich der paradigmatischen Achse die Segmente klassifizieren, um so die Ordnung zu erkennen, die seiner Struktur zugrunde liegt. 2.1.1 Oberflächen- und Tiefenstruktur Zunächst sei die Unterscheidung von Discours und Histoire in Erinnerung gerufen. Sie ist die zentrale, da elementare Unterscheidungsdimension bei der Betrachtung von Texten. Die Ebene des Discours bezieht sich auf die medial bedingte Oberflächenebene und meint die konkret materiell vorliegende Abfolge beziehungsweise Anordnung der Signifikanten. Mit dem Begriff Discours wird also die an die Informationskanäle des Mediums gebundene, medienspezifische Präsentation bezeichnet. Der Discours differiert von Medium zu Medium: Jedes Medium bringt aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationskanäle Texte hervor, die sich auf der medial bedingten Oberflächenebene des Discours unterscheiden. Die Ebene der Histoire ist ganz generell als die vom Discours abstrahierbare semantische Tiefenstruktur zu verstehen. Der Begriff ‘ abstrahierbar ’ bezieht sich auf den Zeichenstatus der Oberflächenebene, der es erlaubt, diese Oberfläche als Oberfläche, also als komplexen Signifikanten eines Signifikats aufzufassen. Als Tiefenstruktur beschreibt die Histoire, was vermittelt wird. Bei der Analyse von Texten ist der Discours deshalb zunächst entscheidend, da sich nur über ihn als primär und empirisch Vorliegendes Bedeutung konstituiert: Auszugehen ist vom konkreten Zeichenmaterial und der konkreten Anordnung dieses Materials im Discours. Erst auf dieser Basis lässt sich in Abhängigkeit vom Discours die Histoire und damit die Bedeutung eines Textes rekonstruieren. 2.1.2 Textgrenzen Ein Text ist ein ‘ Ganzes ’ im Sinne eines Systems, nicht im Sinne einer (unteilbaren) ‘ Ganzheit ’ . Die Grenze eines Textes kann hinsichtlich verschiedener Dimensionen bestimmt werden: (i) Die pragmatisch-formale Textgrenze bezieht sich darauf, dass bei jedem Text auf der Discours-Ebene Anfang und Ende vorhanden sind oder in der Regel immer gesetzt werden können - unabhängig von der konkreten Textstruktur; auch ein Fragment ist in diesem Sinne ein in sich abgeschlossener Betrachtungsgegenstand ebenso wie einzelne Folgen einer Serie. 4 Während sich die pragmatisch-formale Grenze eher als äußere Textgrenze bestimmt, ergibt sich (ii) die textuell-semantische Grenze textintern aus der Kohärenz und Kohäsion der Textbefunde selbst. Sie bezieht sich also auf die semantische Geschlossenheit eines medialen Textes in genau dem Sinne, dass der Text als System von untereinander kohärent korrelierten Elementen und Strukturen zu verstehen ist, deren Funktion auf das jeweilige semantische System bezogen und für dieses zu bestimmen ist. (iii) Die kulturell-narrative Textgrenze impliziert die kulturellen Vorstellungen und Erwartungen, wie ein Textende (in einer bestimmten Textsorte) auszusehen hat. (iv) Die semantisch-ideologische Textgrenze verweist auf eine Abgeschlossenheit und ideologische Schließung, die durch die Textstrukturen selbst inszeniert ist, sodass der Text als genau diese Einheit erscheint und als ‘ Ganzheit ’ wahrgenommen wird. Werden hier die 4 Wo die Grenzen liegen oder zu setzen sind, wie also Anfang und Ende eines Textes zu bestimmen sind, kann unter Umständen durchaus zu diskutieren sein (Textformen im Internet wären hier etwa zu nennen, cf. Decker 2017a), oder ist eben nur heuristisch, also analytisch gerechtfertigt (cf. im Überblick Krah 2017d). Texte und Aneignungskulturen 13 Kategorien Anfang und Ende als textuelle Konstrukte kaschiert, lässt sich (v) eine metasprachlich-programmatische Textgrenze dann bestimmen, wenn die Kategorien Anfang und/ oder Ende im Text thematisch werden, wenn also selbst ein Diskurs über sie geführt wird. Grenzen können sich zudem im Text spiegeln und in textinternen Grenzen und Segmentierungsprinzipien abbilden. 2.1.3 Textkorpora Ausgangspunkt der semiotischen Beschäftigung mit medialer Kommunikation sind zwar zumeist Einzeltexte (im Sinne von ‘ autorisierten Einheiten ’ ), je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse geht es aber auch darum, Zusammenhänge über Textgrenzen hinweg zu erkennen. Bei der Analyse eines Textes kann es notwendig sein, die Grenzen des Textes zu verlassen und weitere Texte einzubeziehen, etwa wenn diese anderen Texte in einer explizit-markierten Beziehung zu ihm stehen oder wenn Zusammenhänge textuell indiziert sind. Solche transtextuellen Konzepte können vielfältiger Art sein. An der Schnittstelle von Text zu Umgebung sind zunächst seine paratextuellen Beziehungen situiert. 5 Transtextuelle Zusammenhänge können auf der Objektebene pragmatisch-semantisch bestimmt sein, 6 sie können heuristisch auf der Metaebene motiviert sein, wenn es um Textkorpora geht, die für eine bestimmte Fragestellung und ein bestimmtes Erkenntnisinteresse in ihren Grenzen definiert werden, sie können sich aus vielfältigen, auf verschiedenen Ebenen situierten Faktoren ergeben. 7 Für Little Britain umfasst das Textkorpus im Kern die von 2003 bis 2006 produzierten vier TV-Staffeln, deren ersten drei sich jeweils aus sechs bis acht Folgen zusammensetzen, die selbst wieder aus 13 bis 21 einzelnen Sketchen bestehen, und deren letzte als Special Little Britain Abroad aus zwei Folgen besteht. 8 Als Text lässt sich dieses Universum insgesamt sehen, ebenso können aber auch die einzelnen Staffeln, einzelne Folgen oder die sich durch die Figuren konstituierenden einzelnen Sketche innerhalb einer Folge als Einheiten im Sinne von 2.1.2 i) und ii) zugrunde gelegt werden. Zu differenzieren ist generell, ob eine paradigmatische oder eine syntagmatische Vorgehensweise, welche die Abfolge der einzelnen Staffeln, der einzelnen Folgen oder einzelner Sketche berücksichtigt, zugrunde 5 Als solche Paratexte gelten textinterne Teile wie Titel, Untertitel, Motti, Vorworte, Nachworte, Einleitungen und Ähnliches, die den Haupttext in seinem Verhältnis zu seiner kommunikativen und textstrukturierenden Einbettung betreffen, wozu auch die durch die jeweilige mediale Materialität bedingten Möglichkeiten wie Umschlag, Klappentext, Plattencover, DVD-Booklet zu zählen sind. Ebenso sind damit die außerhalb des Textes an “ privilegierten Orten pragmatischer Dimension ” (Genette 1993: 12) situierten Texte gemeint, die in direkter und expliziter Weise Bezug nehmen wie etwa Filmplakate oder Filmtrailer zu Film und als Leseanleitungen bzw. -strukturierungen fungieren. Schließlich kann hierunter auch die Beziehung eines Textes zu Vorstufen, Skizzen, Fassungen subsumiert werden. 6 So etwa im Bereich des Werbespots, wenn ein einzelner Spot Teil einer Kampagne ist und damit in den Kontext eines zusammenhängenden Rahmens gestellt wird, in dem seine Struktur zu situieren ist und aus dem heraus sich (zusätzliche) Bedeutungen erschließen können; so wenn (Werbe-)Texte Medienkonvergenzen bilden, also in andere Medien diffundieren (das Zusammenspiel von Werbespot und Printanzeige ist hier zu nennen oder Interaktionen solcher klassischen Medien mit dem Internet) und dieses Zusammenspiel und die jeweilige Funktion füreinander zu interpretieren sind. 7 So etwa Starimage, transmediales Erzählen, Genres, serielle Formate. 8 Um diesen Kern herum ließe sich das Korpus erweitern; so gibt es etwa bereits 2001 eine Radiosendung bei BBC Radio 4, 2008 wird Little Britain USA geschaltet. 14 Jan-Oliver Decker / Hans Krah gelegt wird. Für Little Britain lässt sich insgesamt konstatieren, dass die paradigmatische Dimension dominiert. Die konkrete Abfolge ist weniger relevant, ist aber dennoch auch partiell funktionalisiert. So etabliert sich in jeder Folge ein Rahmen, werden also Anfang und Ende als Anfang und Ende markiert. 9 So entwickeln sich die Geschichten, die über die einzelnen Staffeln beibehalten werden, wobei allerdings keine Entwicklung der Figuren in ihren personalen Merkmalen zu verzeichnen ist, sondern eine inszenatorische Veränderung im Sinne einer Steigerungs- und Überbietungsdramaturgie. Diese kann sich auch innerhalb einzelner Folgen bei Wiederaufnahmen der Charaktere finden. 10 Für einzelne Charaktere wird eine fortlaufende Geschichte im Sinne eines rekonstruierbaren chronologischen Bezugs der Sketche unterlegt. 11 So ergeben die fünf Sketche, in denen Ting Tong Macadangdang in der dritten Staffel in Folge eins, zwei, drei, vier und sechs erscheint, in dieser Reihenfolge eine fortlaufend zu denkende, die einzelnen Sketche rahmende Geschichte mit einem Endpunkt. 12 Auch da, wo es nicht um eine konkrete Reihenfolge einzelner Sketche geht, funktionalisieren manche Texte/ Sketche eine solche sekundär, indem sie mit dem Vorwissen und den Erwartungshaltungen operieren, die sich aus der Kenntnis der Vorgänger-Sketche kumulativ ergeben. 13 So relevant diese syntagmatisch orientierten Aspekte im Einzelnen sind, gerade auch, wenn es um die dramaturgische und inkorporierende Ebene der Sketche, um deren Modus des Humors, geht, so spielen diese auf ideologisch-semantischer Ebene eine untergeordnete Rolle; diese zentriert sich um eine statische Welt, die paradigmatisch organisiert ist. 2.2 Textualität Textualität meint die Möglichkeit von Texten, eigene Vorstellungen zu konstruieren. Entscheidend ist, was ein konkreter Text macht, und dies kann, abhängig von der jeweiligen Textsorte, durchaus etwas Anderes sein, als vom Sprachsystem oder generell von tradierten 9 In der ersten Staffel ist dieser zusätzlich durch einen jeweils ähnlichen Schlusssketch, auf den sich der Titel der Folge bezieht, besonders markiert. 10 So als Beispiel in Staffel zwei, Folge sechs, mit den drei Sketchen um Rachel und Nicola. Der dritte Sketch überbietet die bisherige Pointe, die darin besteht, dass auf dem Bild, das die eine der Freundinnen der anderen zeigt und das für eine neue Männerbekanntschaft werben soll, statt des zu erwartenden Porträts (angekündigt mit: “ Warte, ich habe ein Foto von ihm ” ) eine Detailaufnahme eines Penis zu sehen ist - der dann ganz im Sinne des zu erwartenden Porträts kommentiert wird. Beim dritten Mal wird die neue Person Tom als Bruder von Simon eingeführt. Das Bild zeigt demgemäß einen Ausschnitt mit zwei Penissen, wobei der Kommentar nun auf die Familienähnlichkeit abzielt ( “ man sieht gleich, dass sie Brüder sind ” ). In Staffel drei, Folge sechs, bilden die fünf Sketche mit Andy eine in sich chronologisch geordnete Reihe (Lou muss verreisen, Mrs. Mead kommt als Ersatz, Mrs. Mead und Andy, Andy sorgt dafür, dass Mrs. Mead verschwindet, Lou kommt zurück). 11 So beim gerontophilen Jason, der zuerst Garys Großmutter und dann sie zusammen mit ihrer älteren Schwester als Lustobjekt imaginiert, aber vor allem bei Ting Tong; in Little Britain Abroad wird dies das generelle Prinzip. 12 Ting Tong kommt als gekaufte Braut zu Mr. Dudley (und ist nicht das, was dieser erwartet hat, eine attraktive Frau), Ting Tong entpuppt sich als “ Ladyboy ” , ist also auch keine Frau, Ting Tong kommt nicht aus Thailand, sondern ist längst heimisch in Great Britain und hat Wissen, das sie sonst nicht haben könnte, wie sich beim Trivial Pursuit-Spielen zeigt. Ting Tong, selbst etabliert, holt ihre Mutter nach. Mr. Dudley findet sein Heim in ein Thairestaurant umgewandelt, das Ting Tong mit ihrer/ seiner Familie führt, und nach den neuen Gepflogenheiten als öffentlicher Raum verlässt Mr. Dudley als Gast sein früheres Zuhause. 13 Etwa “ Computer sagt ja ” , Staffel drei, Folge sechs, Carol Beer; bei Mr. Mann auch diegetisch. Texte und Aneignungskulturen 15 Zeichensystemen präfiguriert. 14 Mediensemiotisch wird dabei keine qualitativ-evaluative Grenze zwischen sogenannten Höhenkammtexten und populären Medien gezogen, insofern die Prinzipien des Bedeutungsaufbaus, also der Textualität, gleichermaßen zum Tragen kommen können (Cf. Krah 2017b); Unterschiede mögen sich dann in den konkreten Textstrukturen und insbesondere bezüglich Dispositiv und Diskursivität (siehe unten) finden. 2.2.1 Wirklichkeitskonstruktion Texte zeichnen sich generell durch ihren Konstruktions- und Modellcharakter aus, sie generieren eigene Welten: Aufgrund der konstitutiven Medialität eines jeden Textes kann kein Text unmittelbare Abbildung von Wirklichkeit sein, sondern nur ein Modell von Wirklichkeit erzeugen (So Jurij Lotman, cf. Krah 2017e). Korreliert ist dies mit dem Aspekt der Grenze eines Textes. Relevant ist, dass für jeden Text eine Grenze nach außen bestimmbar ist (auch wenn dies in einigen Fällen nur pragmatisch und heuristisch motiviert ist). Zur Beschreibung hat sich der Begriff der Diegese bewährt. Über dieses Konzept lässt sich sowohl die Semantik der dargestellten Welt und des vor diesem Hintergrund dargestellten diegetischen Geschehens fassen und beschreiben als auch der Zugang zu dieser Welt und Aspekte ihrer Vermittlung als extradiegetische kommunikative Ein- und Anbindung dieser Welt. In Little Britain artikuliert sich der Konstrukt- und Modellcharakter seiner Diegese ganz explizit, ist die vorgeführte Welt doch ein dezidiert eigenes Universum, das genau als dieses vorgeführt werden soll. Auch wenn die Welt als “ Britain ” benannt wird, so wird schnell deutlich, dass hier ein ganz eigenes Bild gezeichnet und keine referenzielle Beschreibung geliefert wird. Der Text geriert sich durch den Erzählrahmen dennoch und gerade als Dokumentation dieser Welt und ihrer sie bewohnenden Personen. 2.2.2 Textsemantik Die Leistung, eigene Welten zu entwerfen, wird durch Verfahren der textuellen Bedeutungsgenerierung ermöglicht, aufgrund der den Texten zur Verfügung stehenden Prinzipien des Bedeutungsaufbaus (Cf. Krah 2017b: 45ff). Grundlegend für diese Möglichkeiten ist der Systemcharakter von Texten: Die Bedeutung eines Textes regelt sich auch aus den strukturellen Verhältnissen, die sich durch die Bezüge der einzelnen Zeichen innerhalb seiner selbst ergeben. 15 Neben rhetorischen Strategien, derer sich Little Britain bedient (Wiederholungen, Klimax, Hyperbolik), wird vor allem mit Paradigmenbildung operiert. Die einzelnen Sketche sind als Episoden aufzufassen, die nicht nur in sich auf ihre Äquivalenzen und Muster rückverweisen, sondern auch untereinander auf einen vergleichbaren Rahmen fokussieren. Gegensätzliches auf der Oberflächenebene wird in der Tiefenstruktur harmo- 14 Die Produktion solcher zusätzlichen, auf primären Zeichensystemen aufbauenden Bedeutungen liegt augenscheinlich vor allem in den Kommunikationsformen vor, in denen der Text als zentraler Teil und Maßstab der Kommunikation gilt, wie dies etwa in ästhetischer, künstlerischer Kommunikation der Fall ist. 15 Dies schließt ausdrücklich auch die sich aus dem Text ergebenden und durch ihn indizierten kulturellen Propositionen ein, die in die Bedeutung eines Textes einfließen, wie im Konzept des kulturellen Wissens durch Michael Titzmann modelliert (cf. Titzmann 2017a). 16 Jan-Oliver Decker / Hans Krah nisiert. Vorgeführt werden die Bewohnenden einer räumlichen Einheit, die sich bei paradigmatischer Betrachtung über die Abstraktion dessen, was als Gemeinsames extrahiert werden kann, als semantischer Raum ausbildet. 2.2.3 Paradigmenvermittlung Texte transportieren und archivieren Wissen, produzieren solches aber auch, 16 wobei im hier verstandenen weiten Wissensbegriff Wissen nicht nur und nicht ausschließlich in den Textsorten verhandelt wird, die den kulturellen Anspruch und Auftrag haben, Wissen als Wissen zu deklarieren und zu speichern. Gerade populäres Allgemeinwissen findet sich auch in ästhetischen Texten unterschiedlicher Provenienz. Die Produktion von Wissen ist generell als Paradigmenvermittlung zu verstehen: Jeder Text etabliert Ordnungen, jeder Text strukturiert seine Welt durch Grenzziehungen/ Paradigmenbildungen; jedem Text liegt ein Wert- und Normensystem zugrunde. 17 Dies kann mehr oder weniger als textuelle Konstruktion bewusst gemacht sein oder aber in der und durch die textuelle Argumentation verschleiert werden. Was in einem Text als jeweils zugrundeliegende Werte und Normen erscheint, kann als natürlich, als nicht durch den Text konstruiert und damit als gültige Wahrheit ausgewiesen werden. Wenn in diesem Kontext im (kultur-)semiotischen Sinne von Ideologie oder von der ideologischen Schicht eines Textes gesprochen wird, dann ist damit also nicht eine spezifische inhaltliche Auffüllung wie etwa die Ideologie des Kommunismus, Kapitalismus, Nationalsozialismus, Islamismus gemeint. Ideologie wird dagegen mit Lowry (1991) als ein operationaler Prozess verstanden, bei dem Normen und Verhaltensregulationen aufgestellt werden, die verhindern, dass im gegebenen Kontext unliebsame Bedeutungen entstehen und artikuliert werden. Dadurch kann Sinn erzeugt und Konsens geschaffen werden. Ideologie, wie sie hier verstanden wird, ist gerade nicht an die Textoberfläche gebunden. Durch eine spezifische dramaturgische Textoberfläche wird sie nicht unterbunden, sondern nur kaschiert, indem die Wahrnehmbarkeit solcher Strukturen verhindert wird. 16 Cf. hierzu und einer Unterscheidung von epistemologischer Referenz und konfigurativem Wissen Krah 2020. 17 Ein etabliertes narratologisches Instrumentarium, um medienübergreifend solche textinternen Werte- und Normensysteme zu analysieren, ist das von Jurij Lotman begründete und von Michael Titzmann und Hans Krah weiterentwickelte Analysemodell semantischer Räume in der Histoire; (cf. Lotman 1972, Krah 2006 und Titzmann 2017b). Der Grundgedanke ist dabei, dass der textinterne Weltentwurf differenzlogisch strukturierte Merkmalsbündel in der dargestellten Welt etabliert, die sich oftmals in der Topographie niederschlagen, dies aber nicht notwendigerweise müssen. Diesen Merkmalsbündeln lassen sich regelgerecht Figuren(-gruppen) zuordnen, sodass zum Beispiel in einem Text der Ordnungssatz gilt, dass auf dem Land tugendhafte Bauern und Bäuerinnen und in der Stadt lasterhafte Bürger*innen angesiedelt sind. Sobald nun das Verhalten einer Figur im Verlauf der Handlung gegen diese individuelle Raumsemantik im Text verstößt, entsteht im Lotmanschen Sinne ein Ereignis. Die Figur überschreitet - metaphorisch und ggf. auch topographisch - die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen, so bspw. wenn sich ein tugendhafter Bauer in den lasterhaften Stadtraum begibt (oder bspw. ein Bauer sich als nicht tugendhaft erweist). Der sujetlose, durch semantische Räume und paradigmatische Ordnungssätze geordnete Weltentwurf (= die Diegese in ihrer semantischen Abstraktion), wird durch die Handlung, also die Grenzüberschreitung einer Figur zwischen zwei semantischen Räumen und damit den Verstoß gegen eine Regel der Diegese, ereignishaft. Die Leistungsfähigkeit der narratologischen Raumanalyse nach Lotman zeigt sich unter anderem darin, die Diegesen und die auf ihr basierenden Handlungen auch komplexer und langer Texte ganz unterschiedlicher Textsorten und medialer Provenienz präzise modellhaft beschreiben und zusammenfassen zu können. Texte und Aneignungskulturen 17 Little Britain konstruiert nun eine Welt, deren Ordnung - gemessen an einem Vergleich mit außertextuellen Referenzpunkten, siehe 2.4.2 - aus einer gewissen Unordnung besteht, insofern Verhalten als sujetlos vorgeführt wird, das ansonsten ereignishaft wäre; die ideologische Schicht kann als textuelle Normalisierung von (kultureller) Devianz zusammengefasst werden. Einerseits finden sich Figuren, die den sozialen und kulturellen Rändern entstammen und bereits dadurch (kulturell) stigmatisiert sind, andererseits Figuren, die scheinbar der (wohlsituierten) Mittelschicht entstammen. Aber nicht diese Zugehörigkeit definiert die Bewohnenden von Little Britain, sondern dies wird überlagert von einem Paradigma, das sich in etwa dadurch definiert, dass mentale Einstellung und soziale Praxis koinzidieren: Die oberflächlich bürgerlichen Figuren integrieren sich in diese Ordnung des Anderen, indem für sie ebenfalls ein Ausleben und Ausstellen dessen, was sonst bürgerlich tabu wäre, konstitutiv ist. 18 Statt eines Gegensatzes von ‘ bürgerlicher Mitte ’ und Außenseitern verschiedenster Provenienz (aufgrund Alter, sexueller Orientierung, Geschlecht, sozialer Schicht, Herkunft, Aussehen, Ability) sind solche Unterschiede nivelliert. Maggie, Linda, Marjorie, Carol, Mr. Mann, Harvey, auch wenn sie sozialen Schichten angehören, die mit Mainstream assoziiert sind, weichen genauso von der (kulturellen) Normalität ab, wie es Daffyd, Sebastian, Emily, Andy, Anne oder Ting Tong aus Sicht dieses Mainstreams tun. Der Text setzt diese Abweichungen (i) gleich und (ii) nicht als Abweichungen; sie bilden die neue, eigene (textuelle) Normalität, die den Raum semantisch definiert. 2.3 Medialität Medien lassen sich hinsichtlich ihrer kommunikativen Leistungen und sozialen Funktionen durch Vermittlung von Bedeutung einerseits, also durch Verbreitung und Reproduktion als distributiver Aspekt, und durch Speicherung und Archivierung als Aspekt der Tradierung andererseits bestimmen. Medialität bezieht sich primär auf die semiotischen Dimensionen 18 So sehr etwa ein alltäglicher Rassismus im Denken verhaftet ist, so wenig darf er sich bürgerlich im Verhalten artikulieren oder dieses Verhalten öffentlich determinieren. Die innere Einstellung darf sich nicht äußerlich artikulieren, wie dies mit Maggies ‘ Magenausgießungen ’ geradezu plastisch konterkariert und vor Augen geführt wird (analog Linda, die als Dekanin am Telefon ihre Studierenden in deren Anwesenheit diskriminiert). Die Figuren, die gesellschaftlich etabliert sind, zeigen oftmals eine soziale Devianz, die sich mit Annahmen darüber, was normal, erwünscht und erlaubt ist, nicht vereinbaren lässt: So etwa die Kundenunfreundlichkeit von Carol, die eigenverantwortlich durch sie zu treffende Entscheidungen an ihren Computer delegiert, um damit die Handlungsmöglichkeit ihrer Kund*innen massiv einzuschränken. Auch die Infantilisierung von Harvey Pincher gehört hierher, der als erwachsener Mann in (halb)öffentlichen Kontexten von seiner Mutter immer noch gestillt wird. Sein Infantilismus wird im syntagmatischen Verlauf der Folgen dann übersteigert, wenn das Muttermilchtrinken nach seiner Heirat in Little Britain USA (HBO 2008) zudem vor dem US-amerikanischen Vater seiner Frau ausgeführt wird und Harveys Mutter seinem Schwiegervater Milch aus ihrer Brust quer über den Tisch für seine Cornflakes in den Teller spritzt. Das Stillen des infantilen erwachsenen Mannes und der Topos der die ganze Familie ernährenden Mutter wird hier so übertrieben, dass dieses Verhalten innerhalb von Harveys Familie nicht nur toleriert, sondern geradezu soziale Bestätigung einfordernd zelebriert wird. Die über diesen Intimitätsbruch geschockten Amerikaner sanktionieren dieses Verhalten nicht. Der komische Effekt liegt dabei darin begründet, dass aus USamerikanischer Perspektive unklar bleibt, ob das Stillen des erwachsenen Mannes vielleicht eine spezifisch britische kulturelle Eigenheit ist, die man aus Höflichkeit nicht kritisiert, ob also nur im eigenen USamerikanischen Kontext der übersteigerte Infantilismus von Harvey als verstörend empfunden wird. Die Zuschauenden lachen hier also eher über die verstörten Amerikaner*innen, die Harveys Verhalten und das seiner Mutter hinnehmen. 18 Jan-Oliver Decker / Hans Krah von Medien, auch wenn diese mit institutionellen und technischen Gegebenheiten zusammenspielen (Cf. Krah 2017c). So sehr die Rolle der jeweiligen Medialität eines Textes je nach Fragestellung changiert, ist Medialität an sich aber bereits dadurch essentiell, dass sie als die materiale Grundlage, anhand der sich Semantik in Semioseprozessen manifestiert, Basis von Texten ist und sie die Möglichkeiten organisiert und reguliert, welche Zeichen überhaupt zur Verfügung stehen. Medialität in diesem semiotischen Sinne beschränkt sich nicht auf Distanzmedien, sondern bezieht Präsenzmedien mit ein. Ihre materialen Grundlagen bilden der Raum als Bedeutungsrahmen und der Körper als Bedeutungsträger; ihre Signifikationsprozesse sind durch Performativität gekennzeichnet (Cf. Großmann 2017). 2.3.1 Zeichenorganisation Medialität regelt die Möglichkeiten der Zeichenorganisation und beeinflusst und rahmt damit Textualität in ihrer semantischen Verfasstheit. Medialität ist die Grundlage, wie sich Zeichen überhaupt konstituieren können. Dies wird zunächst durch die beteiligten Informationskanäle und die sich durch die Informationskanäle konstituierenden Zeichensysteme geleistet. Zu beachten ist, dass das gleiche Material (etwa das Visuelle) unterschiedlich (syntaktisch) organisiert sein kann und sich auch unterschiedliche Zeichensysteme bei gleichem Informationskanal ergeben können. Im Fokus ist hier der Aspekt des Signifikats, wie es sich im Prozess der medialen Semiose ergibt; der Prozess selbst wird dabei zugunsten der Ergebnisse außenvorgelassen. Setzt sich der Text eines Mediums wie beim Hybridmedium Spielfilm aus verschiedenen Zeichensystemen wie bewegtes Bild, Ton, Sprache, Musik zusammen, 19 ist also Multimodalität gegeben, 20 lassen sich als deren Konstituenten die Prinzipien Integration, Interaktion und Kooperation unterscheiden: Integration bezieht sich auf den Aspekt, dass ein mediales Bezugssystem, ein Trägermedium, den Rahmen bildet und damit dessen materiale Bedingungen insgesamt gültig sind. 21 Interaktion und Kooperation beziehen sich 19 Die Bedeutungsproduktion im Spielfilm als dem paradigmatischen audiovisuellen Format des 20. Jahrhunderts prägt auch die Bedeutungsproduktion im Video als dem paradigmatischen audiovisuellen Format des 21. Jahrhunderts, gerade auch in seiner multimodalen Rahmung im Internet. 20 Ein engerer Multimodalitätsbegriff, linguistisch geprägt, bezieht sich primär auf das Verhältnis von Sprache und nonverbalen Informationen (Gesten), (cf. Fricke 2012). 21 Beispielsweise gilt für das Zeichensystem Schrift ein Unterschied, ob diese im Medium Buch oder im Medium Film vorkommt. Im Buch ist die Lesegeschwindigkeit den individuellen Rezipient*innen überlassen. Das Buch erlaubt ein Vor ‐ oder Zurückblättern und damit eine wiederholte Rezeption oder auch Selektivität durch Überspringen. Außerdem ermöglicht es Pausen. Im Film ist Schrift dagegen an die Rahmenbedingungen der Audiovisualität gebunden, insbesondere an die dem Medium inhärente Sukzessivität. Das heißt, dass Schrift eben nur so lange zu lesen ist, wie die jeweilige Einstellung dauert oder, wenn die Schrift selbst bewegt ist, solange die jeweiligen Schriftteile im On visualisiert sind. Die Rezeptionsgeschwindigkeit muss sich hier der textuell ‐ medial vorgegebenen Geschwindigkeit anpassen. Vergleichbar kann Film zwar einen Raumeindruck erzeugen, dieser bleibt aber immer an die Zweidimensionalität des Mediums gebunden und ist damit ein sekundärer Effekt. Dahingegen ist im Medium Theater der Raum selbst eine autonome Dimension des Mediums und unterliegt damit anderen Bedingungen. Während etwa im Theater jede*r Zuschauende dahin schauen kann, wohin er/ sie will, er/ sie dabei aber immer über den Überblick über den Gesamtraum und die Möglichkeit hierzu verfügt, wird der Blick im Film durch die Gestaltung des Films gelenkt. Hier kann zwar ebenso ein Raumüberblick geboten werden, es kann beispielsweise ein Detail fokussiert sein, immer ist dieser Blick aber an den konkreten Discours gebunden und richtet sich nach den Einstellungsgrößen. Texte und Aneignungskulturen 19 dann innerhalb dieses Rahmens darauf, dass die jeweilige Information, die durch ein Zeichensystem gegeben wird, ihre Semantik nicht mehr absolut entfaltet, sondern nun in Relation zu anderen Semantiken. Interaktion fokussiert dabei (in diesem spezifischen Verständnis) darauf, dass bereits die prinzipielle Möglichkeit eines Mediums, verschiedene Kanäle zu realisieren, bedeutungstragend ist. Der Verzicht auf einen möglichen Teil ist semantisch anders zu sehen als die prinzipielle Unmöglichkeit aufgrund des Mediums selbst. 22 Interaktion fokussiert also darauf, innerhalb welchen Spektrums an prinzipiellen Möglichkeiten eine konkrete Kooperation angesiedelt ist. Diese Kooperation formt dann im Speziellen die sich aus der Beziehung mehrerer Informationskanäle ergebende Bedeutung. Sie ergibt sich aus der jeweiligen Semantik und dem Bedeutungspotential der einzelnen Informationskanäle durch die verschiedenen Formen der Kohärenzbildung. 2.3.2 Materialität Auch, wenn die wesentliche Funktion des Discours zumeist ist, funktional auf die Histoire ausgerichtet zu sein, so können auch alle Ebenen des Discours spezifisch zur Semantik beitragen, auch das, was üblicherweise keine Relevanz hat oder zugunsten der Zeichenhaftigkeit als eigenständiges Phänomen ausgeblendet ist. Während es bei 2.3.1 um die materielle Grundlage geht, damit Zeichen überhaupt gegeben sein können und sich Zeichen und Zeichensysteme konstituieren können, kann sich der Fokus (i) auch auf die Materialität der Signifikanten richten. Diese werden dann also weniger als Signifikanten wahrgenommen, sondern zudem auch selbst als Phänomene, Objekte, Gegenstände gesehen (und können hinsichtlich der jeweiligen medial möglichen Parameter beschrieben werden). Die materielle Ebene kann also selbst bedeutungstragend sein. Anteil an der Bedeutungskonstituierung können (ii) darüber hinaus die Parameter haben, die die materialen Gegebenheiten des jeweiligen Mediums (im Sinne des Träger- und Verbreitungsmediums) ausmachen. Solche Parameter sind neben Materialität Größe/ Format, die Umgebung (in einen Kontext eingebunden/ integriert oder isoliert/ disjunkt; innerhalb einer festen oder variablen Umgebung) und die Oberflächentextur. In einem erweiterten Sinne kann sich die Materialität des Mediums (iii) auf die räumliche Verortung beziehen, die vom Medium bedingt und potenziell für eine Bestimmung der Semantik einzubeziehen ist. 23 Schließlich gehören (iv) auch Faktoren der Rezeption zur Medialität, insofern sie durch das Medium selbst bestimmt oder vorgegeben sind (Und sich nicht einer individuellen, konkreten Rezeption verdanken.). Auch sie können für die Generierung spezifischer Semantiken eingesetzt sein. 24 Allgemein lassen sich als Parameter erstens Dauer und Richtung der Rezeption (Ob diese jeweils vorgegeben oder frei bestimmbar sind.), zweitens Standort/ Ort, 22 Für die Gesamtbedeutung ist es etwas anderes, ein Musikstück im Radio zu hören, das nur über den auditiven Kanal verfügt, als das gleiche Stück im Film zu hören, auch wenn visuell vielleicht nichts zu sehen ist und während des Hörens nur ein Schwarzbild erscheint. Auch ein solches Ausblenden ist bedeutungstragend, da es als Fokussierungsstrategie zu deuten ist und der Aufmerksamkeitslenkung, eben auf die Musik, dient. 23 Visuelle Medien etwa können durch ihren Standort in architektonisch organisierten Gesamtstrukturen (Burgen, Schlösser, Kirchen, Kapellen) ein Bildprogramm etablieren oder mit umgebenden Artefakten in semiotischem Kontakt stehen. 24 Traditionell kann hier zwischen Push- oder Pull-Medien unterschieden werden, ob also der Zugang zum Text senderseitig vorbestimmt ist oder ob der Empfänger durch eigene Entscheidungen und Aktionen dazu beitragen kann/ muss, zum kommunizierten Text zu gelangen. 20 Jan-Oliver Decker / Hans Krah drittens Steuerung der Aufmerksamkeitslenkung, viertens Interaktion (Möglich oder nicht, da einseitig gerichtet.) und fünftens Zugangsbeschränkungen bestimmen (Etwa durch soziale Faktoren wie freier Zugang oder ökonomisch oder kulturell begrenzt. Für einen Theaterbesuch dürfte sowohl eine ökonomische Barriere als auch eine des kulturellen Kapitals gegeben sein.). Wie eingangs gezeigt, dient die im Video für The Big Night In vorgeführte Materialität dazu, selbstreferenziell auf den Inszenierungscharakter, die Gemachtheit, des Videos zu verweisen. In diesem Sinne referieren die gemalten und aus Pappe ausgeschnittenen Frisuren, Augenbrauen, Brillen erstens auf die von Matt Lucas und David Walliams verkörperten Figuren in Litte Britain. Die Low-Tech-Verkleidungen weisen damit über ihren materiellen Charakter hinaus auf eine konkrete Figur aus dem Little Britain- Universum. Sie lassen ihre Materialität durch den Verweis sozusagen hinter sich. Zweitens verweisen die Low-Tech-Kostümierungen auf die die Figuren verkörpernden Schauspieler selbst. Die Schauspieler zeigen gerade durch die Low-Tech-Kostümierungen, dass sie mit minimalen Mitteln eine fiktionale Person lebendig werden lassen können. Sie zeigen ihre Wandlungsfähigkeit und ihr Können als Schauspieler, indem sie mit Hilfe erkennbarer Requisiten individuelle Figuren verkörpern. Drittens kann man die selbstreflexive Verwendung des Materials im Video als Hervorhebung eines generellen Mechanismus von Comedy-Formaten wie Little Britain lesen - in diesem Zusammenhang/ Rahmen spielt Materialität bei Little Britain im Sinne der Ausstellung und des Arbeitens mit dem Körper eine wesentliche Rolle: Die Relevanz von Materialität als auf sich selbst verweisendes Zeichen (statt als Zeichenträger) zeigt sich etwa in Little Britain, wenn Roman DeVere seinen Vorzug von Desiree gegenüber Bubbles mit “ There is so much more I can love ” begründet. Dieses “ so much more ” bezieht sich eben nicht auf innere Werte der geliebten Frau, sondern ganz konkret materiell auf die körperliche Fülle von Desiree (und ex negativo auch auf Bubbles, die angeblich abgenommen hat, weswegen Roman sie für Desiree verlassen hat) und erhält erst über diese Konkretheit (s)einen weiteren Zeichencharakter (als Fetisch). 2.3.3 Dispositivstruktur Medialität regelt durch den Dispositivcharakter Wahrnehmungssemantiken und die Stellung von Texten in ihrer Kultur und der Gesellschaft. Ein Dispositiv lässt sich in Anlehnung an Foucault als ein Netz aus mehreren Aspekten verstehen, das der Konstitution von kulturspezifischer Wirklichkeit dient. Das Dispositiv schafft einen Zusammenhang von Wissen, Handeln, Diskursen, Lehrmeinungen, Institutionen, Normen und Regeln. Die dispositive Struktur bestimmt, wie kulturelle Wahrnehmung gelenkt und textuelle Semantiken kulturell bewertet werden. Im Dispositiv geht es um den Zusammenhang und den Status von Medien (auch in ihren apparativen Dimensionen) in ihrer Ursprungskultur und die damit ermöglichten Bedeutungen in ihren historischen Rezeptionskontexten. 25 In der Dispositivstruktur bündeln sich dabei die verschiedenen angeführten Discours-Aspekte und verschmelzen mit technischen und institutionellen Komponenten, die die kulturelle Bedeutungsproduktion beeinflussen. 25 Der Dispositivbegriff wird unterschiedlich gebraucht und ist in verschiedenen Theorien unterschiedlich konzeptioniert (cf. zum Einstieg Decker 2017b). Texte und Aneignungskulturen 21 Insbesondere geht es um die Nobilität eines Mediums und seine kulturelle Sichtbarkeit und die sich daraus ergebenden Implikationen für die Ideologie, die sich in Texten finden lässt. Durch das Konzept einer dispositiven Struktur können insbesondere diejenigen Aspekte bei der Bedeutungsrekonstruktion einbezogen werden, die sich erstens auf den kulturellen Stellenwert beziehen, der einem Text eines bestimmten Mediums aufgrund seiner dispositiven Struktur zukommen kann, und zweitens diejenigen Aspekte funktional eingebunden werden, die die soziale Reichweite der im Medienprodukt verhandelten und propagierten Verhaltensweisen bestimmen. Hier geht es also auch um Textsorten und Medienformate und den Status, der ihnen in einer Gesellschaft zukommt. Ob sie eher im Zentrum oder in der Peripherie zu situieren sind; ob sie insgesamt oder bezüglich ihrer Sphäre Leitmedien sind und welches Verhältnis zur sozialen Praxis und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ihnen kulturell zugewiesen wird. Für Little Britain ist hier zunächst das Datum anzusiedeln, dass es sich um ein Comedy- Format handelt. Ohne dies hier ausführen zu wollen, 26 sei stellvertretend auf das Video zu The Big Night In eingegangen. Dieses zeigt für Little Britain, dass das dort verkörperte Universum im Zentrum britischen Humors angesiedelt ist: Immerhin wird Little Britain hier neu und als sich selbst inszeniert, um hohe Spendengelder in Corona-Zeiten zu sammeln. Das kulturelle Kapital von Little Britain scheint also in Großbritannien noch hoch zu sein. Interessanterweise geschieht die Neu-Inszenierung dabei nicht in einer großen TV- Spendengala, sondern im Internet, also eigentlich in einem Format der neuen Medien, das sich nicht an das traditionelle Fernsehpublikum und seine Sehgewohnheiten richtet. Die Wahrnehmungsmodi werden also verändert. So werden dann eben auch die vorgeführten Figuren nur reduziert und als selbstreflexiv markiert inszeniert. Diese selbstreflexive Markierung der eigenen medialen Vergangenheit durch die Schauspielenden mag dabei darüber hinaus auch ein Mittel der Distanzierung von Figur und Schauspieler*in im Videobild sein und damit auch ein im Video manifestes Ironiesignal: Vielleicht gehört es ja zum Zentrum des eigenen Selbstverständnisses der Schauspielenden, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen in dem, was man da voller Ernst betreibt und tut. Für uns aus unserer kulturellen Außenperspektive steht das Video damit exemplarisch zugleich an der Peripherie audiovisuell vollkommen entworfener Wirklichkeiten und Sehgewohnheiten einer Comedy-Serie im Fernsehen, auf die das Video verweist, die es aber nicht erfüllt, und gleichzeitig im Zentrum eines ‘ keep calm and carry on ’ , wie man eben in Zeiten des Lockdowns trotzdem gute Comedy weitermachen kann. Für uns markiert das selbstreflexive Video damit auch etwas, was man aus einer deutschen Perspektive als Kennzeichen britischen Humors betrachten könnte. Interessant ist nun mit diesem Blick geworden, wie erstens durch den Wechsel der dispositiven Strukturen vom Fernsehen zum Video die Strukturen von Comedy im Video transparent gemacht werden. Zweitens wird hier bedeutsam, wie die Rezeptionen von Little Britain in anderen Ländern durch die 26 Auch die Frage nach der spezifischen Art des Humors oder den Mitteln, wie Komik evoziert wird, ließe sich hier anschließen und weiter ausführen, wobei dies bereits eine Schnittstelle zur Text-Aneignung ist, da es um textindizierte Wirkfaktoren geht. Dies dürfte ein eigenes Feld darstellen, das wohl noch nicht hinreichend bearbeitet ist und außerdem auch nur interdisziplinär bearbeitet werden kann. 22 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Übersetzungen und aus der jeweiligen Außenperspektive vor sich gehen können, wie also das in Großbritannien erzeugte Selbstbild in Little Britain vom Rand alteritärer Figuren her seinerseits als ein zentrales Fremdbild von Great Britain in anderen Kulturen interpretiert wird. 2.4 Kulturalität Texte sind immer kulturell und historisch situiert: Es braucht Akteure, die sich der je möglichen Artikulationsformen bedienen. Jeder Text existiert als materiell-fixierte Form nicht unabhängig und losgelöst von seinem raumzeitlichen Entstehungskontext und den soziokulturellen Faktoren seiner Kommunikationssituation. Wie genau dabei das jeweils textuell Dargestellte mit der Kultur interagiert, ist im Einzelfall zu bestimmen und hängt von der Textsorte ab. Aber generell gilt, dass jeder Text den Wissenshorizont seiner Kultur transportiert und zumindest diesen als Argumentationsgrundlage implizit einbezieht. Kultur geht in Texte ein und Texte sagen etwas über ihre Kultur aus. Kultursemiotik versucht diesen Vernetzungen nachzugehen. 27 2.4.1 Historizität Jeder Text konstituiert sich im Rahmen der Faktoren einer spezifischen, historischen Kommunikationssituation und ist zunächst Dokument seiner Zeit, also der Entstehungszeit, der er entstammt. Weil Kommunikation immer in einer spezifischen kulturellen Situation historisch stattfindet, ist sie auch unter den Rahmenbedingungen dieser kulturellen Situation zu betrachten. Hierzu gehört auch ihre kulturraumspezifische Abhängigkeit und damit eine etwaige Bindung von Texten an diese. Jeder mediale Text ist Teil einer realen Kommunikationssituation und damit in einen wandelbaren historischen, kulturellen Kontext eingebunden. Die Semantik eines Textes ergibt sich in Abhängigkeit der Faktoren, die zur Zeit der Textproduktion Gültigkeit haben. Etwa welche Zeichensysteme (in welcher Ausprägung), welche Medien und Textsorten, welche Themen überhaupt zur Verfügung stehen und wie diese kulturraumspezifisch ausgeprägt sind (welche Hierarchien von Diskursen es gibt, welche spezifischen Ausformungen - Stichwort ‘ britischer Humor ’ - , welche Tabubereiche und -zonen). Die kulturraumspezifische Abhängigkeit von Little Britain artikuliert sich zunächst durch ihren Produktionsort als ‘ Britcom ’ ; eine genuin britische Rezeptionssituation und ein daraus resultierender Rezeptionsmodus wären dann für bestimmte Fragestellungen zu 27 Cf. allgemein Nies 2017 und zum synchronen und diachronen Wandel von Medien und Kultur Decker 2017b. In der Kulturalität von Medien/ Texten liegt zudem die Schnittstelle für anschlussfähige Fragestellungen kommunikationssoziologischer und handlungspragmatischer Art. Hierher gehören einerseits Fragen nach der Herstellung von Öffentlichkeit durch Medien, nach den Funktionen von Institutionen wie Kino und Fernsehen, nach dem Zuschnitt diverser Publika und ihrem jeweiligen Rezeptionsverhalten, nach der Vermittlung gesellschaftlicher und kultureller Erfahrung, nach der Produktion gesellschaftlicher Ideologie und der Verarbeitung kultureller Diskurse. Andererseits können hier Fragen nach den allgemeinen und historisch-kulturellen Grundlagen von Texten, Fragen nach den Bedingungen und Bedingtheiten von Zeichentypen und Zeichensystemen, Fragen nach Strukturkonventionen in Genres oder bei der Kodierung von Authentizität und Fiktionalität, Fragen nach der Kodierung von Wahrnehmungskonventionen und Erwartungshaltungen und nicht zuletzt Fragen nach Formen und Ausprägungen des Medienwandels angeschlossen werden. Texte und Aneignungskulturen 23 berücksichtigen. 28 Allerdings ist und war Little Britain nicht auf den britischen Raum beschränkt, sondern als Exportschlager auch außerhalb äußerst erfolgreich und populär, wie bereits die Existenz verschiedener Synchronfassungen zeigt. Nicht nur durch die Übersetzung an sich, auch durch die Stimmen können sich dabei textuelle Nuancen ergeben, also Bedeutungen changieren. So verleihen in der deutschen Übersetzung Oliver Kalkofe und Oliver Welke als prominente Medienvertreter den Figuren ihre Stimme. Wiedererkennen wie Charakteristik der Figuren lagert sich an diese prosodische Dimension an. 2.4.2 Referenzialität Kulturalität gibt insbesondere durch die Vorstellungen, die über die Wirklichkeit in einer Kultur vorherrschen, Rahmen für Texte vor, die als gültig erachtet werden. Michael Titzmann (1989) hat dies im Begriff ‘ Denksystem ’ zu subsumieren versucht. Unter dieser gedachten Welt sind alle Vorstellungen zu verstehen, die eine Kultur für wahr und gültig hält. Sie umfasst insbesondere auch die Vorstellung über die Realität selbst, wie diese aussieht, wie sie strukturiert ist, wie und in welche Bereiche sie sich unterteilen lässt, was als wichtig erscheint, was als Grundlage der Welt gilt und welche anthropologischen Annahmen akzeptiert sind. Das Denksystem umfasst nicht nur Wissen über konkrete Sachverhalte, sondern auch Wissen über die jeweils gültigen Denkkategorien, Denkregeln, Argumentationsschemata und Formulierungsmöglichkeiten, wie also und in welchen Formen gedacht und über die Realität etwas gewusst werden kann (beispielsweise aus der Autorität heiliger Bücher oder Schriften, durch den Verstand, Empirie und Erfahrung, Experiment, Demoskopie etc.). Das Denksystem umfasst auch die möglichen Diskurse, also worüber in einer Kultur überhaupt geredet werden kann und wie geredet werden darf, wie man sich über die Realität und die Kultur überhaupt verständigen kann, wie etwas kommuniziert - oder auch nicht - werden kann oder darf (etwa wissenschaftlich, nur auf Latein etc.). Das Denksystem, die gedachte Welt, ist von der sozialen und kulturellen Praxis, von der gelebten Welt zu unterscheiden, davon also, wie es historisch und aktuell empirisch tatsächlich zugeht. Dies ist eine zentrale Unterscheidung, da beide Bereiche nicht kongruent sein müssen. Wissen muss sich nicht zwangsläufig und direkt in Verhalten oder gar Verhaltensänderung niederschlagen. Ebenso ist die gedachte Welt von den in Medienprodukten dargestellten Welten zu unterscheiden, genauso wie diese ihrerseits auch von gelebten Welten zu differenzieren sind. So sehr Medien in ihrer apparativen und institutionell-sozialen Dimension Teil unserer sozialen Wirklichkeit sind, ermöglichen sie in ihrer semiotischen Dimension die Darstellung von Welten, die zunächst einmal nur semiotisch und in ihrer Wahrnehmung durch ein Publikum semantisch in einer Kultur präsent sind. Sosehr textuelle Semantiken eine Referenz auf die außertextuelle Wirklichkeit aufweisen können, so wenig müssen diese in einem kongruenten Verhältnis zueinanderstehen. Texte können in dem, was sie darstellen, sowohl vom Denken als auch von der sozialen Praxis abweichen. Sie bilden nicht notwendig das jeweilige Denken und Wissen oder die normalen Verhaltensweisen 28 Etwa im Kontext von Selbstbild/ Fremdbild, vor der Folie nationaler Diskurse, Stereotype und sich darauf beziehende kulturelle Argumentationen (etwa bezüglich Chav, siehe noch unten), hinsichtlich der Situierung im Spektrum britischer Comedy. 24 Jan-Oliver Decker / Hans Krah einer Kultur ab. Ob dies durch Textformate und Genres gerahmt ist - und damit plausibilisiert oder relativiert ist - oder nicht: Immer können Textformate und Genres in ihrer Bedeutung abgeglichen und in Relation zur gedachten Welt und zum kulturellen Wissen gesehen werden. Sie werden auch direkt in Diskursen über sie in einer Kultur daran gemessen, was eben auch Relationen von Subversion oder Provokation und sich daran anschließende soziale Reaktionen einschließt, Stichwort Skandal. 29 Little Britain erhält seine Bedeutung ganz wesentlich durch diesen Parameter, insofern das Format ganz zentral die Referenz auf Great Britain installiert. 30 Das textinterne Universum soll England sein; es wird geradezu dazu aufgerufen, die textuellen Semantiken damit abzugleichen. Der eigenen Realität wird also ein Spiegel vorgehalten. Bereits der Name indiziert dies, wobei im evozierten Unterschied von ‘ Little ’ vs. ‘ Great ’ auch ideologische Komponenten (Stichwort Nationalstolz und das Klischee eines solchen) mitschwingen, die verhandelt werden. Auch das eingangs besprochene Video aus The Big Night In ist ein schöner Beleg für dieses sich In-Beziehung-Setzen von Medien zur Welt: Etwa ein Drittel der Sketche greift den Lockdown auf und integriert ihn in die bekannte Welt der Figuren von Little Britain. Marjorie Dawes (Matt Lucas) empfiehlt direkt durch die Kamera hindurch den/ die im Lockdown dicker gewordene/ n, direkt adressierte/ n Zuschauende/ n bei Hungergefühlen “ Why not try a little bit of dust ” , was eine typische Empfehlung für die Figur ist. Sebastian Love (David Walliams) sagt per Videoschalte zum Premierminister (Anthony Head): “ I missed you so much during lockdown Prime Minister. I got through hundred of boxes of tissues! ” und impliziert damit Tränen und sexuelle Handlungen an sich selbst. Beide Figuren setzen sich hier in ihrem So-Sein als bekannte Figur aus dem Little Britain-Universum damit in Bezug zur videoexternen Wirklichkeit. Sie referieren im Video auf soziale und kulturelle Realität, eignen sie sich aber fiktionsspezifisch gemäß der in der Serie Little Britain medial vorgestellten Welt an. Ähnlich gilt das auch für den Sketch mit Daffyd (Matt Lucas) und Myfanwy (Ruth Jones). Während Daffyd mit seiner initialen Catch-Phrase eine Bacardi Cola (eine Variante des Cuba Libre) bestellt, erinnert ihn Myfanwy selbstreferenziell daran, dass sie gerade telefonieren, sie ihm also nichts servieren könne. Die Pointe ist dann schließlich, dass Myfanwy Daffyds Klage, während des Lockdowns keinen Mann geliebt zu haben, mit den Worten “ No change then ” quittiert. Zunächst wird als selbstreflexiv eine Ebene zur 29 So ist etwa in der Serie Popetown der Raum als Vatikan zu identifizieren und die raummächtige Figur mit dem Papst, dennoch ergibt sich im Abgleich mit dieser Realität gerade die Spezifik der textuellen Semantik. Diese konstituiert sich zum einen daraus, dass Einblick in einen Raum gewährt wird, der ein eigentlich kulturell abgeschlossener, für Außenstehende unzugänglicher Raum ist: Der Text zeigt also etwas, was man sonst nicht sieht; Rezipienten wird gewissermaßen die Rolle eines Voyeurs zugewiesen. Zum anderen ergibt sich, dass dieser Raum, trotz des Wiedererkennens, textuell ‘ etwas ’ andere Strukturen und Merkmale aufweist als die, die man dem Vatikan kulturell im Allgemeinwissen zusprechen würde. Das betrifft etwa die Semantisierung der Kardinäle; das betrifft zentral die Figur des Papstes: Als nicht erwachsen, sondern kindlich, geradezu infantil, der eine Art Nanny braucht, und der nicht als sakrale Figur, sondern ganz dezidiert profaniert erscheint (wenn das Kreuz sich als Pogo Hüpfstange erweist). 30 Diese Referenz findet sich räumlich, wenn etwa Downing Street 10 oder das britische Unterhaus visualisiert sind. Auch die Ortsnamen, obgleich fiktiv, sind in ihrer Komposition an englische Namen angelehnt und verweisen darauf. So konnotiert das fiktive walisische Bergarbeiterdorf Llanfairbrewy das reale walisische Dorf mit dem längsten Dorfnamen Europas Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch, abgekürzt Llanfair. Texte und Aneignungskulturen 25 eigenen medialen Verfasstheit zusammen mit der ersten, für Daffyd typischen Catch- Phrase installiert. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass die zweite, eigentlich für Daffyd wichtigere, Catch-Phrase “ I ’ m the only gay in the village ” hier fehlt. 31 Das Video setzt einen Diskurs über die Serie Little Britain in der kulturellen Realität voraus, der direkt Auswirkungen auf die Gestaltung des Videos hat. 2.4.3 Diskursivität Texte entwerfen Weltmodelle, die als Vorstellungen eines Wünschenswerten gelten können, ohne dass dies weiter zu begründen wäre. Sie etablieren als wünschenswert ausgegebene Werte- und Normensysteme, die zur Verhaltensorientierung angeboten werden. In dem Sinne sind sie Medien der kulturellen Selbstverständigung. Sie leisten für ihre Kultur, dass Ideologeme eingeübt und bestätigt, aber auch in Frage gestellt, kritisiert und verworfen werden. Solche Wirklichkeitskonstruktionen haben also eine wichtige Funktion für die Gesellschaft. Sie machen Realität erst sozial wahrnehmbar und kommunizierbar. Sie prägen das Bild der Gesellschaft und das Bild des Individuums von sich selbst und von der Welt und kommunizieren und archivieren das für wahr gehaltene Wissen hierüber. Textkonstruktionen können als kulturelles Wissen ins Denksystem und damit als für wahr gehaltene Vorstellungen beispielsweise über das Konzept der Person und ihrer Psyche in die gedachte Welt eingehen. Auf diese Weise können in Medien entwickelte und ins Denksystem übernommene Vorstellungen Einstellungen und Haltungen provozieren oder stabilisieren. Medien können also Mentalitäten als einfach mögliche und anerkannte kulturelle Wirklichkeit setzen. Damit können Medien umgekehrt auch Denkmuster, Wissensbausteine und Diskurse als Bestandteile der gedachten Welt einüben, die dann wiederum Grundlage von realem Handeln und sozialen Verhaltensweisen oder auch von Argumentationsmustern und einer spezifischen Rhetorik sein können. Solche in Medien manifesten Rhetoriken erweisen sich bezüglich der sozialen Praxis und der konkret gelebten Welt als die Schnittstelle zu Mentalitäten und Einstellungen. Sie können in Narrative eingehen, die zu Stereotypen verdichtet werden können und so etwa rassistische und diskriminierende Vorstellungen prägen. 32 Da sich solche Narrative nicht auf spezifische Textformate reduzieren, sondern viele Textsorten übergreifen, sind Texte nicht harmlos oder gesellschaftlich irrelevant, egal, welcher Provenienz sie entstammen (Ob sie also der Comedy oder der Hochkultur zugeordnet werden.). Textuelle Konstruktionen, Repräsentationen und Konfigurationen können also als Wissen gehandelt werden und durchaus Auswirkungen auf kulturelle Vorstellungen haben und Kulturalität beeinflussen. Hier sind 31 Als These ließe sich formulieren, dass die fehlende identifizierende Catch-Phrase, gerade in Verbindung mit dem Verweis auf die mediale Gemachtheit, als Distanzierungsmittel implizit auf die Vorwürfe Bezug nimmt, mit der Figur Daffyd würden schwule Männer homophob karikiert (Cf. Abschnitt 3.2). 32 Zu denken wäre hier beispielsweise an das nationalsozialistische Stereotyp des Juden, der nicht verachtenswert ist, weil er die jüdische Religion ausübt, sondern für dessen Stereotyp ein Narrativ entworfen wird, in dem er unrechtmäßig Ressourcen verbraucht, die die deutsche Volksgemeinschaft schädigen (wie die arische Frau, das Kapital etc.), er also im nationalsozialistischen Denken ein zu erkennender und zu vernichtender Parasit ist. 26 Jan-Oliver Decker / Hans Krah dann zumeist nicht mehr der Einzeltext, sondern Textkorpora und/ oder paratextuelle Vernetzungen und Verflechtungen relevant. So provozierte Little Britain Aufmerksamkeit und diskursive Auseinandersetzungen bereits aufgrund des Textformats Comedy und der allein dadurch resultierenden Nähe zu Grenzen und Grenzüberschreitungen bezüglich kulturell tabuisierter Themen (etwa im Feld von Körperlichkeit). Neben der eingangs erwähnten, etwa 2020 virulenten Debatte um diskriminierende Inhalte im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung gab es bereits 2008 mit der Arbeit von Finding den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit, Homophobie und des Rassismus, der sich vor allem an der Little Britain unterstellten Verbreitung von Stereotypen ausrichtet (siehe hierzu 3.2 und 3.3). 3 Aneignungskulturen - Überblick und Fallbeispiel Da Texte in Kommunikationskontexte eingebunden sind, können die in ihnen vermittelten Semantiken auf vielfältige Weise selbst wieder Rückkoppelungseffekte evozieren und an weiteren Vorstellungen beteiligt sein. Dies gilt paratextuell an der Schnittstelle zum Text an der einen Grenze, dies gilt metasprachlich für den wissenschaftlich-epistemologischen Umgang an der anderen Grenze. 33 Dazwischen dürfte ein breites Feld liegen (Cf. Krah 2017d). Ausgehend von den obigen Ausführungen wollen wir zunächst einige systematische Überlegungen voranstellen, um dann an einem Beispiel aus dem Little Britain-Umfeld diese zu illustrieren und davon ausgehend einige Folgerungen zu resümieren. 3.1 Zeicheninteraktion und Aneignungspraxen Textkorpora sind nicht notwendig homogen, insbesondere nicht hinsichtlich des Status einzelner Texte und ihres kulturellen Kapitals. Abhängig etwa von Leitmedien oder anderen Faktoren können sie eine unterschiedliche Agency aufweisen und sich am Rande oder im Zentrum eines Diskurses und je nach Diskurs im Zentrum oder am Rande kultureller Reflexion/ Selbstvergewisserung befinden und damit unterschiedlich quantitative wie qualitative Aneignungspraktiken evozieren. Hierbei liegt kein statisches System zugrunde, sondern dies ist durch Dynamiken sowohl innerhalb als auch durch Interaktionen nach außen bestimmt. 3.1.1 Semiosphärenmodell Um solche Austauschprozesse für größere Textkorpora zu modellieren, hat Lotman das Konzept der Semiosphäre eingeführt (Cf. grundlegend Lotman 1990 und zur Relevanz des Konzepts in der gegenwärtigen Mediensemiotik Decker 2017c.). Eine Semiosphäre grenzt sich durch ihre spezifischen Kodes von anderen Semiosphären mit anderen Kodes ab. Dabei ist die Semiosphäre in sich nicht homogen strukturiert. Sie bildet durch fortlaufende 33 Textkorpora sind damit auch Material für kultursemiotische Fragestellungen, (cf. Nies 2017): Mediale Texte dienen ebenso der Archivierung wie Generierung von kulturellem Wissen und haben damit kulturelle Relevanz bei der Produktion von Werten und Normen, Einstellungen, Haltungen und Mentalitäten und Ideologien. Texte und Aneignungskulturen 27 Integration ein semantisches Zentrum aus. In diesem etablieren sich stabile Kodes, für alle Teilnehmenden verständliche Texte, etablierte mediale Formate mit spezifischen Wahrnehmungskonventionen und Leitsemantiken sowie paradigmatische Werte und Normen. Diese Prozesse der fortlaufenden Integration gehen mit kontinuierlichen Prozessen der Desintegration und der Entsemiotisierung einher. Einige Texte werden aus dem semantischen Zentrum an ihre Peripherie gedrängt. Kodes werden nicht mehr dominant angewendet und Werte und Normen nur noch von Randgruppen geteilt. An der Peripherie kann es zu Kontaktphänomenen mit anderen Semiosphären kommen. Durch den Kontakt zweier Semiosphären kann durch Übersetzung von einem Kode in einen anderen zum einen ein Austausch, ein wechselseitiger In- und Output, zwischen den Semantiken eigentlich einander fremder Semiosphären stattfinden. Zum anderen kann es, weil die Semiosphären einander fremd sind und sich in Bezug auf ihr semantisches Zentrum und ihre Eigendynamik voneinander stabil und dauerhaft abgrenzen, auch zu einer fundamentalen Ab- und Ausgrenzung von anderen Semiosphären, Werten und Normen, Kodes und medialen Formaten kommen. In Bezug auf Little Britain stellt das Universum, das die Serie entwirft, unzweifelhaft den Kern der Semiosphäre dar. Der Auftritt von Walliams und Lucas bei The Big Night In und auch das Video I ’ m With Stupid der Pet Shop Boys sind dagegen Adaptionen dieser Welt, die an der Peripherie des Universums von Little Britain Merkmale, Kodes und Semantiken der Diegese der Serie verarbeiten und in andere mediale Formate und Zusammenhänge übersetzen. Während das Musikvideo noch eine Aneignung der Welt der Pet Shop Boys durch Little Britain zeigt, unterwerfen sich Walliams und Lucas als Schauspieler bei The Big Night In dem Universum, das sie selbst mit Little Britain verkörpert und mitgeschaffen haben. Sie unterwerfen sich aber auch dem Wandel der zunehmend kritischen Wahrnehmung der Serienwelt und damit in The Big Night In einem komplexen Spiel aus Selbst- und Fremdreferenzen. 3.1.2 Selbst-/ Fremdreferenz Ausgehend von der Klassifikation von Lotman, dass fiktionale Texte einen eigenen Weltentwurf konstruieren und in diesem Sinne sekundäre modellbildende semiotische Systeme sind, die zunächst nur für sie gültige Wirklichkeiten konstruieren, lassen sich Fremd- und Selbstreferenz differenzieren. Insofern sekundäre modellbildende semiotische Systeme sich auf Wissensmengen außerhalb ihrer selbst beziehen können, sind in ihnen fremdreferenzielle Bezüge, nämlich primär vor den Medienprodukten existierende Kodes und Zeichensysteme, erkennbar. So verweisen beispielsweise in Little Britain Downing Street Nr. 10, die Existenz eines Premierministers, Linksverkehr und rote Telefonzellen mit Krönchen auf Großbritannien als real existierenden topographischen und kulturellen Raum. Auch auf subkulturelle Wissensmengen referiert Little Britain, wenn Daffyd den Kleidungsstil und die Frisur einer schwulen Club Culture trägt, die im Londoner Club Heaven so unter anderem auch getragen werden können, in Myfanwys Pub allerdings als semiotische Merkmale der eigenen Identitätsbildung als “ only gay in the village ” dienen. Die Kleidung dient Daffyd hierbei der bewussten und markierten Selbstexklusion aus der Normalität. Er möchte gerade einzigartig sein und nicht wie alle anderen. Wenn dann im 28 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Dorf Llanfairbrewy niemand ein Problem mit seiner und überhaupt mit Homosexualität zu haben scheint, wird sein Kleidungsstil als subkulturelles Brauchtum markiert, das auch in die dörfliche Mainstreamkultur integriert ist. Little Britain verschmilzt sogar Mainstream- und subkulturelle Fremdreferenzen, wenn die Transvestiten Emily und Florence viktorianische Ladys verkörpern. Einerseits wird ihr Transvestismus als individueller Ausdruck der eigenen Persönlichkeit in der modernen Gesellschaft akzeptiert und integriert. Andererseits ist ihr Ziel gar nicht, als Frauen, sondern als viktorianische Ladys, also in einem Stil und einer Frauenrolle einer vergangenen Zeit wahrgenommen und integriert zu werden. Mit Bezug auf Lotman lassen sich nicht nur die fremdreferenziellen, sondern auch selbstreferenzielle Bezüge semiotisch kategorisieren. Als sekundäre modellbildende semiotische Systeme weisen alle medialen Weltentwürfe eine typologische Selbstreferenz auf: Da es sich erkennbar um mediale Wirklichkeiten und nicht um die Realität handelt, ist die Gemachtheit und Artifizialität der dargestellten Welt strukturell jedem Medienprodukt zu eigen. Diese strukturelle Selbstreferenz kann in Little Britain bspw. durch den paratextuellen Laugh Track bewusst gemacht und verstärkt werden, der das Gelächter eines imaginären Publikums einspielt und damit die Gattung des Sketches als Text der Textsorte Comedy markiert. Neben der obligatorischen strukturellen Selbstreferenz, die jedem Medienprodukt zu eigen ist, kann es noch fakultativ eine sekundäre, im Medienprodukt inszenierte Selbstreferenz geben (Cf. allgemein Krah 2005, Krah 2021, Decker/ Blödorn/ Zimmermann 2018 und Decker 2018). Dies ist bspw. in Little Britain dann der Fall, wenn Matt Lucas in The Big Night In als Emily auf die Catchphrase “ I ’ m a lady ” von Florence antwortet “ I ’ m also a lady and I ’ m not sure we should be doing this sketch anymore ” . Hier liegt erstens eine Selbstreferenz vor, da sich der Erzählvorgang, dass Schauspielende fiktionale Rollen verkörpern, hier im Erzählten widerspiegelt. Darüber hinaus wird zweitens selbstreflexiv auf eine eigene Erzähltradition verwiesen, die mit Little Britain verknüpft wird. Drittens wird auf die Rezeption und die Kritik an der Serie verwiesen, indem Lucas aus seiner Rolle heraustritt und der Sketch abgebrochen wird. Hier zeigt sich also ein Wandel der Schauspieler in der Einstellung zu ihrer eigenen fiktional verkörperten und medial manifesten Vergangenheit. Die Spiegelung des Erzählvorganges im Erzählen selbst lässt sich mit Harald Fricke (2003) als gestufte Iteration begreifen. Semiotisch gesprochen ist unter einer gestuften Iteration nach Harald Fricke die Reproduktion von textuell manifesten Zeichen einer Textebene auf einer anderen Ebene des Textes durch Ableitung oder Variation zu verstehen. Das heißt: Wenn sich die Erzählsituation im Erzählvorgang selbst und damit als Gegenstand des Erzählens im Erzählten spiegelt, dann wird ein Aspekt der Präsentation einer Geschichte durch Selbstreferenz selbst zum Inhalt und Thema der Geschichte. Selbstreflexives Erzählen bedeutet also, dass die Sprechsituation eines Textes von ihm selbst zu seiner besprochenen Situation gemacht wird. Dies ist in den Künsten immer wieder auch ein Mittel, das der Reflexion über die Strategien der eigenen Vertextung und damit einer innertextuellen Reflexion über Textstrategien, also einer textimmanenten Poetologie dient. In The Big Night In dient dies auch dazu, innerhalb der Semiosphäre Little Britain Deutungshoheit über das eigene Selbst zu beanspruchen. Texte und Aneignungskulturen 29 3.1.3 Materiale Aneignung Unter dem Begriff ‘ materiale Aneignung ’ kann zusammengefasst werden, wenn Texte selbst wieder Texte bedingen, denen der Status einer eigenständigen Fortschreibung zugesprochen werden kann; das ganze Spektrum von Referenzbeziehungen, Adaptionen, Intermedialität, Transmedialität und Medienbezügen ist hier also zu subsumieren. 34 So unterschiedlich dies sein kann, ist dabei bestimmend, dass der gegebene Text als Zeichenmaterial dient, das für die eigene Textualität funktionalisiert wird. Materiale Aneignung ist also immer im Bedeutungskontext eines neuen Textes zu sehen, der sich als dieser neue Text nicht paratextuell auf den alten bezieht, sondern trotz Referenz einen eigenständigen Zeichenraum, eine eigene Semiosphäre, ausbildet. Die beiden eingangs skizzierten Medienprodukte sind Beispiele einer solchen Aneignungskultur von Little Britain. Gleichwohl sie sich hinsichtlich eines Aspekts von Fremd- oder Selbstreferenz unterscheiden, einmal Bezug auf die eigene Vergangenheit, einmal selbst einbezogen in einem fremden Text, sind sie beide auf einer höheren Ebene jeweils als Selbstreferenz anzusehen (der neue Bezug geht von Little Britain aus / Little Britain partizipiert daran). Selbstreferenzielle wie fremdreferenzielle Strukturen sind bei dieser Aneignung immer auf den neuen Text als Zentrum bezogen, wie dies das Video aus The Big Night In paradigmatisch zeigt. Indem eben die Inszenierung ‘ do it yourself ’ und die Trennung der Personen durch Splitscreen zunächst den Umständen des Lockdowns geschuldet zu sein scheinen, werden diese ästhetisch in einem Konzept genutzt, um einerseits Distanzierung durch Transparenz der Inszenierung und andererseits Aneignung und Überwindung der durch den Lockdown gegebenen Einschränkungen zu vermitteln. Damit ergibt sich ein Wechselspiel von Selbst- und Fremdreferenz, das mittels einer im verwendeten Material erkennbaren Aneignung der verkörperten Figuren durch sich selbst und gleichzeitig einer Aneignung der kulturellen Realität auch eine Aneignung der gedachten, diskursiven Realität ermöglicht. Wenn im Sketch mit den Ladys Florence und Emily am Ende Emily aus der Rolle fällt und als Matt Lucas sagt: “ I ’ m not sure we should be doing this sketch anymore ” , dann verweist diese Selbstreferenz eben auch als Fremdreferenz auf die Wahrnehmung der Serie Little Britain außerhalb des Videos. 3.1.4 Mentale Aneignung Die materiale Aneignung ist von einer mentalen Aneignung zu unterscheiden, die zunächst als herkömmliche, paratextuelle Anschlusskommunikation - Textwirkung - zu sehen ist und sich in der hier gewählten Modellierung dadurch auszeichnet, dass die neuen, folgenden Texte auf den vorhergehenden, älteren Text als Zentrum ausgerichtet sind (gleichwohl sie sich dann verselbständigen können). Als mental lässt sich diese Form der Aneignung insofern benennen, als durch sie weniger eine materiell-textuelle Fortschreibung forciert wird, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Vorhergehenden, die dazu beiträgt, Wissen und Denken (im oben skizzierten Sinne) zu generieren und die damit Vorstellungen, Einstellungen und Mentalitäten prägen kann. 34 Hier greifen Aspekte transmedialen Erzählens, die Narrative und ein erzähltes Universum über einzelne Medienprodukte und Textsorten hinaus umfassen (cf. Decker 2016). 30 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Während die materiale Aneignung die Faktoren der Textualität neu justiert und von hier aus ausgeht, setzen die Formen mentaler Aneignung beim Referieren und Diskutieren der ursprünglichen Textualität an und kommentieren und bewerten sie im Rahmen ihrer kulturellen Wirksamkeit. Dementsprechend lassen sich die Formen mentaler Aneignung bezüglich zweier Facetten ausdifferenzieren: Zum einen (i) die Rezeption und Deutung auf der Ebene des Verstehens und zum anderen (ii) die Verarbeitung und Rückbindung der erkannten Propositionen an kulturelle Diskurse. Für die rezeptive Aneignung eines Textes spielen insbesondere die Dispositivstruktur und Kulturalität in all ihren Aspekten eine Rolle. Inwieweit Textsemantik und Paradigmenvermittlung, also Textualität, hierfür die Basis bilden, ist durchaus variabel. Grundsätzlich gilt es dabei festzuhalten, dass aus semiotischer Perspektive Textsemantiken von ihren Rezeptionen zu unterscheiden sind. Semantik und Rezeption sind zwar aufeinander bezogene Phänomene, aber nicht miteinander identisch und deshalb zunächst getrennt zu betrachtende Untersuchungsbereiche (Textpropositionen vs. erkannte Propositionen). Nur durch die Textstruktur kann ermittelt werden, ob eine spezifische Wirkung oder Reaktion im kulturellen Gefüge als plausibel oder gerechtfertigt zu bewerten ist oder welche textuellen Wirkfaktoren Anlass zu einer bestimmten Art der Aneignung geben könnten. Hier sind zudem Faktoren zu berücksichtigen, die nicht von der konkreten Semantik abhängen, sondern vom Agens der Rezeption: Status, Bildung, Wissensstand, Geschlecht, Alter, Beruf, momentane emotionale und kognitive, psychische Verfasstheit sind zu berücksichtigen. Die Textbedeutung in ihrer diachron synchronen Kulturalität als Dokument historischer Zeit ist dabei analytisch von Textdeutungen in späteren kulturellen Kontexten zu unterscheiden (cf. hierzu Krah (2006: 66-67) zum geradezu dogmatisch gewordenen Status der einen Textbedeutung und Krah (2010) zur Form der Bedeutungsprojektion). 35 Zu beachten ist bei der mentalen Aneignung also, ob beispielsweise ein Text wissenschaftlich als Dokument seiner Zeit betrachtet wird (üblicherweise die Perspektive in der Mediengeschichte) oder ob seine Aneignung in anderen Zeiten und aus Perspektive ihrer Kulturalität stattfindet. 3.2 Ein Beispiel: Aneignung als Vorwurf Im Folgenden soll diese zuletzt skizzierte Form von Aneignung an einem Beispiel bezüglich Little Britain illustriert und reflektiert werden. Im klassischen Sinne handelt es sich um eine Diskussion eines Forschungsbeitrags, wobei dies in unserem Kontext relevant ist, da dieser Beitrag nicht im wissenschaftlichen Diskurs verhaftet bleibt, sondern gerade durch die dort vertretenen Thesen kulturell ausstrahlt. Auch die Rekonstruktion solcher textevozierten Wissensbausteine stellt ein zentrales Anliegen eines kultursemiotischen Zugangs dar. Im Folgenden soll die Argumentation nachgezeichnet und unter Anwendung oben eingeführter Dimensionen hinsichtlich ihrer Validität überprüft werden. Gegenstand ist der Beitrag Findings 2008, der oben schon erwähnt wurde. Ob dieser Beitrag selbst im Zentrum oder in der Peripherie der Forschungslage zu situieren ist, welchen Status er also einnimmt (und ob 35 Für die Diskussion um Little Britain ist zu konstatieren, dass den von 2003-6 produzierten Texten ‘ neue ’ Erkenntnisse und andere Brennpunkte oktroyiert werden, die aber eher dem Denken und den Diskursen von 2020 entstammen. Wie und in welchen Kontexten dies legitim sein kann, ist nicht pauschal zu klären, sondern im Einzelfall zu reflektieren. Texte und Aneignungskulturen 31 und inwieweit sein Status rein historisch zu werten ist oder er aktuell referenzialisiert und wiederverwertet wird), sei dabei zunächst hintangestellt. 36 Zumindest ist Findings Arbeit im Netz zugänglich und verfügbar, auf sie wird verwiesen und sie wird in populären Kontexten als Referenz aufgegriffen. 37 Zudem werden die dort artikulierten Positionen in folgender Sekundärliteratur nicht notwendig diskutiert oder ad acta gelegt, sondern eher konsensual übernommen (etwa Lindner 2016). 38 3.2.1 Grundthese Ironie-Verdikt Findings Auseinandersetzung mit Little Britain basiert zunächst auf der Erkenntnis, dass durch das Label ‘ Ironie ’ gerne eine substanzielle Auseinandersetzung mit der ideologischen Schicht eines Textes von vornherein verhindert wird: “ irony has become the ‘ get out of jail free ʼ card that acts to close down the possibility of critique. ” (Finding 2008: 11) Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Nur das Deklarieren eines Sachverhalts als “ ironisch gemeint ” macht die Textstruktur nicht ironisch. Dass dies eine beliebte Argumentationsstrategie ist, wenn es um das Kaschieren zugrundeliegender Ideologeme geht, ist ebenso richtig und selbstverständlich kritisch zu hinterfragen. Allerdings scheint Finding daraus abzuleiten, dass Ironie per se nicht existent sein kann - und dies geht an der Realität vorbei, wie bereits die antike Rhetorik lehrt. Dass Ironie ein textuelles Verfahren ist (das sich insbesondere durch den Bruch von Erwartungshaltungen ergibt, die entweder textuell konstruiert sind oder sich auf kulturelle Wissensbestände beziehen), das sich dann als solches in den Textstrukturen spiegeln und darüber belegen lassen muss, wird ignoriert. 3.2.2 Beschreibungsgenauigkeit Zu konstatieren ist, dass der Text Little Britain wenig solide beschrieben wird und damit die Ergebnisse auf einer wenig validen Grundlage stehen. Eine einigermaßen fundierte semantische Analyse fehlt, die Arbeit enthält Fehler: So wird behauptet, dass Maggie und Judy rassistisch konzipiert wären (Finding 2008: 23 - 24), was für die Figur der Judy nicht stimmt. Auch wird auf eine Abfolge und entsprechende Bezugnahmen nicht geachtet und von falschen Reihenfolgen ausgegangen. So wird bei Ting Tong die entsprechende Sketchfolge aus Little Britain Abroad einbezogen, die aber zunächst als eigener Text zu betrachten ist, zumal sie eine eigene Geschichte aufweist. Sie konstruiert mit dem Raum des belgischen Campingplatzes nicht nur die für diese Staffel an sich relevante Differenz von eigen und fremd (und damit die Verhandlung, wie relevant diese Differenz ist), sondern 36 Worauf im Folgenden nicht eingegangen wird, ist Findings Kapitel 7: “ MATT LUCAS AND DAVID WALLIAMS AS FIGURES ” (2008: 22-23). Mit “ as figures ” ist nicht gemeint, dass die beiden als Ikonen untersucht werden würden, deren Starimage den Bedeutungsprozess beeinflusst, sondern in diesem Kapitel werden die Künstler biografistisch einer trivialpsychoanalytischen Ferndiagnose unterzogen. Dies lässt Zweifel am Wissenschaftsverständnis aufkommen und entzieht sich einer seriösen Diskussion. 37 So in einem Beitrag vom 10. Juni 2020 auf https: / / www.queer.de/ detail.php? article_id=36307, der im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung unter Rekurs auf Finding vor allem das Blackfacing von Desiree DeVere (Walliams) als Grund dafür anführt, dass die Serie von der BBC aus den Streaming-Diensten entfernt worden ist. Am 30. August 2008 titelte https: / / www.queer.de/ detail.php? article_id=9555 zu Finding: “ Forscherin: Little Britain erzeugt HomoHass ” . 38 Inwieweit Finding in ihrer Argumentationslogik ein Einzelfall ist oder eher repräsentativ für Vorgehensweisen der Cultural Studies steht, wollen wir hier offenlassen. 32 Jan-Oliver Decker / Hans Krah etabliert mit den Paaren Ting Tong und Mr. Dudley sowie Dudleys Bruder und Ivanka eine neue Figurenkonstellation, die gerade bezüglich eines Stereotyps ‘ Braut aus dem Katalog ’ neue Aspekte eröffnet: Ivanka fungiert als ehemalige russische Pornodarstellerin (Snow White Does the Seven Dwarfs) als Gegenmodell zu Ting Tong, die mittels einer List Mr. Dudleys Interesse von Ivanka zu sich zurückholen und ihn dominieren kann, während Dudleys Bruder Ivanka verlässt. Wird diese Differenz zwischen Ting Tong und Ivanka aber nicht einbezogen, ist bereits die Grundlage der Argumentation ungenau. Wie können dann aber solide Thesen gebildet werden? 3.2.3 Selektive Additivität Insgesamt wird an sich wenig Augenmerk auf den Text, das Little Britain-Universum, gelegt. Wenn auf den Text Bezug genommen wird, wird dies nicht im Sinne von Textualität (siehe oben) getan. Der Text als Gesamtsystem bleibt unberücksichtigt. Nur einzelne, ausgewählte Figuren werden betrachtet, ohne aber deren Stellung und Beziehungen im Gesamtgefüge einzubeziehen. Nun ist es durchaus legitim, sich auf einzelne Figuren zu konzentrieren, doch dann können diese Befunde nur valide sein, wenn sie zumindest vor der Folie des jeweiligen Gesamtsystems gesehen und mit diesem abgeglichen werden (wie oben bei 2.2 kurz skizziert), allein schon um zu erkennen, ob der Befund als Einzelfall oder Standard zu werten, als Abweichung oder als Normalität gesetzt ist. Dies ist bei Little Britain entscheidend, da es gerade um Paradigmenbildung geht und diese zudem an die nationale Identität rückgebunden ist, wie durch den Titel markiert ist und durch den Erzähler expliziert wird. Auch bleibt bei Finding unberücksichtigt, dass einzelne Sketche häufig in einer seriellen Beziehung zu nachfolgenden stehen und damit eine gewisse Geschichte mit Ergebnissen oder zumindest Fortsetzungen präsentiert wird, wodurch sich ein narrativer Rahmen für die Figuren ergibt. 3.2.4 Theorie-Überlagerung Statt von Textbeobachtungen auszugehen, werden Frames von außen auf den Text und vor allem auf die Figuren gestülpt - “ The chav mum ” , “ the gay man ” , “ the mail order bride ” (ibid.: 13). Diese Frames sind als Modelle an sich eher etwas undifferenziert, unspezifisch und allgemein - und dienen vor allem als Prokrustes-Bett, für das der Text und die Figuren passend gemacht werden (cf. Krah 2006: 70). Man findet im Text, was man finden will - und man kann gar nichts anderes finden, da dies der Zugang einer Projektion von außertextuellen Stereotypen auch nicht zulässt. Diese Stereotypenframes, derer sich Finding bedient, wären (i) an sich hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit zu hinterfragen. Zudem werden sie (ii) nicht weiter interpretiert, es wird also nicht gefragt, welche Funktion sie im Text und für diesen eigentlich haben. Ihre Setzung als gegeben ist Selbstzweck. Ob damit die eigenen Thesen belegt sind, wird nicht weiter reflektiert. 3.2.5 Rezeptionsaffinität Finding argumentiert zumeist über die Rezeption, nicht über den Text - dennoch werden die sich aus (perfiden, einfach nur dummen oder autoritär gesetzten) Nutzungen (und nicht Aneignungen, siehe unten) ergebenden ideologischen Implikationen am Ende dem Text selbst angelastet. Dem Sketch wird in der Nutzung eine homophobe Struktur unterstellt und Texte und Aneignungskulturen 33 diesem wird die Verantwortung für eine solche Nutzung zugewiesen. So zitiert auch Lindner (2016: 337) Finding, ohne deren Grundlagen zu explizieren, geschweige denn, zu reflektieren oder zu diskutieren. Hier heißt es: “ Moreover, what sticks with the viewer is primary the humour-generating stereotype and not its more subtle subversion within the sketch or any comments outside the filmic text. ” (Lindner 2016: 338) So sehr dem letzten Teil zuzustimmen ist, denn Kommentare über den Text, von wem auch immer, können nicht die Textbedeutung bestimmen, so wenig ist der Exkludierung des Textes an sich zuzustimmen. 3.3 Little Britains Umgang mit Stereotypen - kultursemiotische Lektüre Der Text Little Britain stützt eine solche Nutzung weder, noch lässt er sie zu. In Little Britain liegt keine subtile Subversion vor, sondern durch die textuellen Mittel wird selbst durchaus deutlich und markiert bewusst gemacht, dass hier gerade keine gängigen, textextern vorgefertigten Stereotypen gezeichnet und transportiert werden. Die folgenden Argumente, die sich auf die Befunde einer analytischen Betrachtung des Textes beziehen und auf den skizzierten Grundlagen aufbauen, sind dem entgegenzuhalten. 3.3.1 Funktionalität und Bedeutungsautonomie Dass mit kulturellem Wissen und populären Vorstellungen über ‘ Außenseiter ’ in Little Britain operiert wird, ist unbestritten. Doch entscheidend ist, wie im Text damit umgegangen wird, wie er solche Wissensmengen funktional für seine eigene Bedeutungsgenerierung einsetzt, welches textuelle Bild darauf aufbauend also konstruiert wird (cf. 2.2). Wenn Sebastian etwa das Merkmal des effeminierten, hochemotionalen Mannes hat, dann mag das auf Vorurteile gegenüber Schwulen verweisen und solche Wissensmengen aufrufen. Aber die Sketche zeigen, dass die Figur darin gerade nicht aufgeht und diese Merkmale nicht in konkomitante Negativzusammenhängen verortet sind (Cf. zu solchen Zusammenhängen grundlegend Krah 1997). 3.3.2 Paradigmenbildung Zudem und entscheidend ist es nicht eine Figur, an der eine solche Stereotypisierung vorgeführt und verbreitet werden würde. Es geht in Little Britain dezidiert um Paradigmenbildung. Einzelne Stereotype, so sie zu finden sind, nivellieren sich damit gegenseitig. Ein Stereotyp funktioniert nur durch seine Selbstverständlichkeit, die ihm in einem Text zukommt. Werden Stereotype zur Reihe, wird das einzelne Stereotyp durch diese Relationierung thematisch. Wenn zudem nur noch Stereotype vorhanden sind, wird der Diskurs selbstreferenziell auf Stereotype an sich gelenkt. In der Gesamtschau erhält dann jedes Stereotyp ‘ sein Recht ’ , da diese aber paradigmatisch ein breites Spektrum abbilden, relativiert sich das einzelne. Indem eine nationale Identität konzipiert wird, die sich aus einem breiten Fundus an devianten Erscheinungsformen zusammensetzt und diese Identität sich gerade daraus ergibt (cf. oben), stellt sich weder die Frage nach normal oder nicht normal, noch die von Abweichung überhaupt: Denn jede dieser Abweichungen wird letztlich toleriert - auch wenn sie registriert wird: Jeder hat seinen ‘ Spleen ’ , gerade das zeichnet das dargestellte Universum aus. 34 Jan-Oliver Decker / Hans Krah 3.3.3 Aktantenstruktur Die dargestellten Figuren sind die Protagonist*innen der vorgeführten Geschichten und werden bereits dadurch narrativ in die Rolle von Sympathieträger*innen gedrängt. 39 Sie dominieren den Discours, sie dominieren zumeist auch ihren narrativen Kontext. Sie werden durch die Sketche und in den jeweiligen Geschichten weder diegetisch abgewertet oder in ihrem Verhalten sanktioniert oder aufgrund eines Stereotyps lächerlich gemacht. Dies wird deutlich bei der xenophoben, sich bei allem ‘ Fremden ’ übergebenden Maggie, die diegetisch nie zur Verantwortung gezogen wird - und sich erst in Little Britain Abroad selbst sanktioniert, indem sie ihre Phobie gegenüber dem Fremden konsequent rekursiv auf sich selbst anwendet. Wenn Sebastian Love äußerlich einem Klischee entspricht, geht er, wie die Narration zeigt, in diesem Klischee gerade nicht auf - und ist immer wieder im Geschehenszusammenhang auch erfolgreich. 40 Für Daffyd sei der Umgang mit dem Klischee und die textuell zugrundeliegende Argumentation nachgezeichnet: Wenn Daffyd Objekt des Humors ist, es also ein Lachen über ihn gibt, dann kann dies nicht getrennt sein von der Aussage, über die er sich definiert, also “ the only gay in the village ” zu sein. Diese Aussage im Kontext ihres inszenierten Umfeldes ist es (wozu seine Camp-Performance und die ostentative Körperlichkeit dazugehören), die ihn lächerlich macht. Wenn aber diese Aussage als Zuschauer*in ebenfalls nicht akzeptiert wird, dann teilt er/ sie damit die Einstellung aller anderen der Diegese. Und diese ist: Jede/ r toleriert Schwulsein oder hat keine Probleme mit irgendeiner Form von Sexualität oder sexuellen Orientierungen oder ist, ohne dass dies auf den ersten Blick zu erkennen wäre, selbst schwul oder lesbisch. Wer Daffyd auslacht, muss diese Einstellung der Toleranz als ihre/ seine eigene erkennen oder zumindest als mit ihrer/ seiner eigenen konform gehend akzeptieren. Daffyd auszulachen heißt, seine eigene restriktive Sicht als das zu verstehen, was sie ist: reaktionär. Wem aber diese durch die Diegese vermittelte Einstellung - und damit Normalität - als inakzeptabel erscheint, wer also homophob ist, die/ der sieht sich mit Daffyd vereint, der sich ja regelmäßig über diese liberale Sicht der Gesellschaft mokiert und ihr diskriminierend ablehnend gegenübersteht. Das Publikum ist dann wie Daffyd, müsste also sich selbst auslachen. Lacht es ihn nicht aus, dann ist aber Daffyd in seiner ganzen schwulen Eigenart ernst zu nehmen und ist diese zu reflektieren. Die Textstruktur erzwingt also solche Rückbindungen des Sich-selbst-den-Spiegel-Vorhaltens, wobei dies, auch durch die Wiederholungen, so subtil nun gerade nicht ist. 39 Das gilt zunächst durchaus auch für Maggie oder Majorie, also Figuren mit rassistischen Merkmalen. Denn auch diese werden einem als Figuren nahegebracht. Zur Relativierung wird hier mit Gegenpolen operiert, die die jeweiligen rassistischen Exzesse rahmen und deutlich machen, dass die jeweilige Reaktion nicht von jedem so gesehen wird und gesehen werden muss (etwa wenn Judy zumeist peinlich berührt erscheint; die Fatfighter-Gruppe etabliert geradezu ein kollektives Gegengewicht zu ihrer Gruppenleiterin). 40 Etwa in Staffel drei, Folge zwei, wenn Sebastian im Unterhaus mit einer gesanglichen Einlage ( “ You are beautiful. Words don ’ t bring you down ” ) den Premierminister unterstützt, dem vorgeworfen wird, dass er schlecht aussehe; eine Aktion, die auch die Bewunderung der Opposition erhält ( “ Warum arbeitet der Mann nicht für uns? ” ). Texte und Aneignungskulturen 35 3.3.4 Figurenzeichnung Die Protagonist*innen sind durch ihre Geschichten, insbesondere aber durch die konkrete, materiale Figurenzeichnung, Charaktere. Dies indizieren schon ihre Namen, aber auch ansonsten sind die Figuren - auch gerade in ihren Überzeichnungen und durch diese - individuell: Spleen macht einzigartig. Daffyd ist kein Exempel, er vertritt nicht exemplarisch das Stereotyp des Gay Man und geht darin auf, sondern er ist eine Singularität, 41 die in ihrer Borniertheit der Welt gegenüber tragikomische Züge aufweist, dabei aber liebenswert bleibt. Vicky steht nicht stellvertretend für die Chav Mum, sondern maximal für eine ganz eigene Ausprägung. 42 Ting Tong ist bereits rein körperlich keine Thai-Braut aus dem Katalog, sondern, wie in dieser Sketchfolge gerade Thema ist, ein ganz eigener Geselle. 43 3.3.5 Verkörperungen Dass die Figuren individuelle Charaktere sind und in sich eine stringente, stimmige, einzigartige Konzeption der Person aufweisen und nicht als Karikatur erscheinen, resultiert auch daraus, dass Lucas und Walliams ihnen durch ihr Spiel Individualität verleihen. Dabei bleibt die Figur aber immer als verkörperte Rolle markiert und nie wird die Grenze überschritten, die Figuren tatsächlich als irgendwie authentisch zu begreifen. Es sind in der Performanz erschaffene Kunstfiguren. Dass performt wird, ist ein entscheidendes Merkmal und Kennzeichen. Die Figuren von Little Britain sind Verkörperungen, was auch dadurch 41 Diese Singularität wird gerade dann deutlich, wenn er oberflächlich über die Kleidung anderen angenähert scheint. Diese Äquivalentsetzung dient aber nur einer Kontrastierung, die seine Besonderheit und Andersartigkeit hervorhebt. 42 Finding referiert hier auf Imogen Tyler und deren Aufsatz “ Chav Mum, Chav Scum ” (2008), ohne allerdings zu reflektieren, inwieweit dieser Beitrag als Grundlage einer analytischen Auseinandersetzung mit Little Britain dienen kann. Bei Tyler geht es aus einer soziologischen Perspektive um das konstatierte Phänomen, dass sich etwa ab den 2000er Jahren in den öffentlichen Medien in Großbritannien eine klassenspezifische Ab- und Ausgrenzungsrhetorik artikuliert und dort transportiert wird. Chav ist die (von der weißen, männlichen Mittelschicht getragene und von dort positionierte) Konstruktion einer Vorstellung über die (vor allem weiblichen) Angehörigen der Unterschicht, die in ihrem Merkmalsbündel dazu dient, Abscheu hervorzurufen. Artikulation wie Verbreitung dieses Abscheus werden dann gerade in den neuen Medien/ Internetforen zelebriert (eine frühe Form des Hasskommentars). Tyler zeigt, dass zur Beglaubigung und Autorisierung dieser Konstruktion auch auf die Figur Vicky Pollard aus Little Britain zurückgegriffen, diese in der Nutzung also hierfür funktionalisiert wird. Diese Beobachtungen sind sicher richtig, und auch die Stoßrichtung des Beitrags, der solche Positionen reflektiert und kritisiert, ist begrüßenswert. Nur bedeutet dieser soziale Befund noch nicht, dass er sich tatsächlich durch den Charakter Vicky Pollard und Little Britain an sich stützen ließe. Wenn sich Tyler auf den Artikel von James Delingpole in The Times vom 13. April 2006 bezieht, in dem Vicky als solches Exempel instrumentalisiert wird, dann ist damit noch nichts darüber ausgesagt, ob Delingpoles Argumentation/ Rhetorik auf textuell gestützten Grundlagen basiert (wenn etwa für die Chav Schwangerschaft als Karriereoption behauptet wird, trifft dieses Merkmal auf Vicky eindeutig nicht zu). Tyler muss es als Soziologin auch nicht um diese Zusammenhänge gehen, ihr Gegenstand ist die Bilanzierung eines kulturellen Phänomens, das mit einem gesellschaftlichen Wandel zu korrelieren scheint, und dessen soziale Auswirkungen Virulenz in der britischen Gesellschaft, im Sinne von 2.4.1 und 2.4.2 haben. Nur kann die Textfigur auch unabhängig davon gesehen werden und sollte und müsste dies auch, wenn wie nun bei Finding der Text selbst Gegenstand ist. Dass dann das zentrale Merkmal, dass die “ figure ” Chav Abscheu evoziert, textuell mit der Semantisierung von Vicky gerade nicht gegeben ist, übersieht auch bereits Tyler. 43 Wo diese individuelle Konzeption bei Little Britain nicht greift, so in den beiden kurzen Auftritten der Blackface-Minstrels (Staffel 1, Folge 1 und 3), wäre dann tatsächlich der Ausgangspunkt einer kritischen Diskussion gegeben. 36 Jan-Oliver Decker / Hans Krah deutlich wird, dass beide in viele und unterschiedliche Rollen schlüpfen. Gerade das hyperbolische Ausstellen des Körpers in seiner Materialität macht ihn zum Zeichen, das eben nicht als Eigentliches, sondern als Ergebnis einer künstlerischen Leistung zu sehen ist. 3.3.6 Selbstreferenzialität Die Figuren verweisen letztlich primär auf sich selbst. Auch wenn Vicky in der kulturellen Nutzung und der (darauf bezugnehmenden) Sekundärliteratur als Repräsentation der nicht arbeitenden Unterschicht gesetzt wird, ist sie in der Diegese (also bei Betrachtung des Textzusammenhangs) doch nur ein Teil davon. Die anderen aus diesem Milieu sind aber deutlich anders gezeichnet, wie ihre Gang zeigt. Vicky steht diegetisch nicht exemplarisch für ihre Schicht, sie stellt dort selbst eher die Ausnahme dar; eine Ausnahme, die akzeptiert, gefürchtet, aber für normal genommen wird. Ebenso wenig ist Daffyd “ the representation of a gay sexual identity ” (Lindner 2016: 335). So sehr bei der Figurenzeichnung mit Zeichen operiert wird, die aus dem Fundus des ‘ Populärwissens ’ stammen: Die Figuren Vicky und Daffyd werden stereotype Repräsentationen erst durch eine entsprechende Festlegung und Reduzierung in der kulturellen Aneignung/ Nutzung, so eben auch von zumindest Teilen der Sekundärliteratur, die sich dabei zum einen auf eher wenig differenzierte Frames bezieht (so dass die Frage aufkommt, welchen Erkenntniswert eine Zuordnung überhaupt noch hat), zum anderen die textuellen Spezifika ausblendet. Mit Emily Howard wird weniger Transvestismus, sondern Fetischismus vorgeführt, und er/ sie ist keinesfalls im Kontext von Transsexualität zu sehen. Primär geht es darum, eine in der Gegenwart anachronistische, elitäre viktorianische Lady zu sein (wie Kleidung, Settings und Gebaren indizieren), jedenfalls nicht eine in der Gegenwart sozial und kulturell integrierte transsexuelle Frau. In Little Britain geht es generell darum, den Körper herauszustellen und mit dem Körper semiotisch zu spielen. Dies zeigt sich beispielhaft am Umgang mit abweichenden Körpermaßen und abweichenden Körperfunktionen. Abweichende Körpermaße werden eher seltener als ein ‘ Zuwenig ’ (der sehr kleine Dennis Waterman, der seinen Agenten aufsucht), sondern dominant eher als ein ‘ Zuviel ’ an Masse in Little Britain inszeniert: Die selbst übergewichtige Marjorie Dawes und ihre Fat Fighters ( “ Hello Fatties! ” ), Daffyd, Ting Tong Macadangdang, Bubbles und Desiree DeVere in ihren Fat Suits. Marjorie verhält sich rassistisch gegenüber Meera und beleidigt ihre Klient*innen wiederholt als extrem fett und übergewichtig. Ihre eigene Körperlichkeit zeigt dabei ihre verlogene Doppelmoral und ihre eigene Willensschwäche an ( “ Oh man, I love the cake! ” ). Ihr Übergewicht wird aber nicht an sich lächerlich gemacht oder problematisiert. Daffyds Körperlichkeit wird durch seine engen Lackkostüme und Netzeinsätze betont, die mit schwuler Clubkultur konnotiert sind. Sein Übergewicht wird zwar in Szene gesetzt, nicht aber thematisiert, sondern ignoriert und als selbstverständlich gesetzt. Auch mögliche Sexualpartner stören sich nicht an seiner Körperlichkeit. Ting Tong weicht nicht nur durch ihr Übergewicht von der Fotovorlage ab, nach der sich Mr. Dudley seine Frau bestellt hat, sondern sie uriniert im Stehen und outet sich als “ Ladyboy ” namens Tong Ting. Trotzdem ist sie in der Lage, wie am Ende jeden Sketches deutlich wird, durch inszenierte Devotheit Mr. Dudley erotisch an sich zu binden und so zu dominieren, dass sie ihn am Ende aus seinem Haus vertreibt, das sie mit Hilfe ihrer Verwandten in ein Thai-Restaurant Texte und Aneignungskulturen 37 verwandelt hat. Diese latente Fetischisierung des weiblichen Übergewichts in der Serie wird durch Bubbles und Desiree DeVere auf die Spitze getrieben, die sich zu allen Gelegenheiten entblößen, miteinander nackt ringen, was Bubbles Ex-Mann und Desirees aktuellen Ehemann Roman ergötzt. Bubbles selbst hält sich für eine schöne und attraktive Frau, die versucht Mr. Hutton, den Chef des Spas, in dem sie lebt, durch körperliche Gefälligkeiten davon abzuhalten, eine finanzielle Gegenleistung von ihr für ihren Aufenthalt zu fordern. Andys männliches Übergewicht wird durch sein Unterhemd ebenfalls inszeniert, in den Sketchen mit Lou dient aber vor allem seine nur vorgebliche Behinderung, seine scheinbare körperliche Einschränkung, als Basis der Sketche. Lou versucht immer, Andy einen Wunsch zu erfüllen, den dieser dann am Ende immer ins Gegenteil verkehrt. Insbesondere durch Andys situationsmächtigen Körpereinsatz hinter Lous Rücken entsteht dann die Komik, weil Andy eigentlich Lous fast zärtliche Fürsorge körperlich gar nicht, wohl aber essenziell emotional benötigt. Insbesondere die enge Bindung von Lou und Andy zeigt eine für Comedy-Formate so ungewöhnlich enge Männerfreundschaft und ein wechselseitiges aufeinander-angewiesen-Sein an, die beide durch nichts zu erschüttern sind. Im Bereich der Körperfunktionen werden dominant aber in Little Britain, anders als bei Andy und seiner besonderen Körperkontrolle (vergleichbar wäre Anne, die als Behinderte künstlerisch Performen, Singen und Tanzen oder in eine Bibliothek Teilzeitarbeiten kann), eher die sozial unangemessenen Körperfunktionen inszeniert. Dies zeigt sich schon im halböffentlichen Stillen des erwachsenen Harvey Pincher, insbesondere aber in Maggies xenophobem Erbrechen und in Mrs. Emerys Inkontinenz als Comedy-spezifischem Fäkalhumor. Gerade hier zeigt sich, dass einzelne kulturelle Grenzen dabei in Little Britain kaum eine Rolle spielen. Es geht weniger um die konkreten Grenzüberschreitungen, sondern vielmehr um eine Transgression von kulturellen Grenzen als solchen und an sich. 44 Dies zeigt sich sehr deutlich anhand von Sebastian Love. Die jeweils kulturell zu erwartenden Reaktionen auf ein offensives homoerotisches Begehren treten diegetisch nicht auf. Eher spielt die Serie mit solchen Erwartungen der Zuschauenden, zeigt aber keine Strafe für Sebastians homoerotisches Verlangen. Vielmehr zeigt Little Britain anhand der homosexuellen Handlungen des Prime Minister, dass ein homoerotisches Begehren durchaus auch bei ihm vorkommen kann. Der Witz entsteht dadurch, dass Sebastians Begehren nicht erfolgreich ist, nicht, dass es ein an sich lächerliches homoerotisches Begehren ist. Diese Bewertung von Homoerotik ist im Vergleich mit der serienextern kulturellen Realität sicher ein utopisches Moment. Aber seit wann darf Kunst nicht mehr utopisch sein (zumal, wenn sie sich in einem Textformat wie der Comedy konkretisiert)? 4 Text und Text-Nutzung - einige Folgerungen Abschließend möchten wir unsere Ergebnisse in einem Plädoyer für eine semiotische Medienanalyse in den Kulturwissenschaften zusammenfassen, das sich auf die hier erhobenen Befunde und die Methoden der Befunderhebung stützt. 44 Dies zeigt auch das Video zu The Big Night In permanent durch die Überwindung des Splitscreens an, das sich so auch als selbstreflexives Selbstbild der Schauspieler verstehen lässt (s. o.). 38 Jan-Oliver Decker / Hans Krah 4.1 Text-Nutzung Eine wesentliche Leistung der Cultural Studies ist in dem Umstand zu sehen, dass sie durch eine Öffnung des Untersuchungsrahmens den Blick für kulturelle Reproduktionsprozesse symbolischer Ordnungen gerade innerhalb der Populärkultur geschärft und diese entlang zentraler identitätsrelevanter Kategorien - Ethnie, soziale Klasse, Gender etc. - ausdifferenziert haben (cf. Hennig & Krah 2017: 459 f.). Wenn in dieser Folge aber Beobachtungen in ihrer Generalität zum Teil die Rückbindung an die Untersuchungsbeispiele vermissen lassen wie bei Finding, ist dies kritisch zu beurteilen. In der Regel bleibt hier gerade der Zusammenhang zwischen dem Text als solchem und seinen möglichen Rezeptionsmodi ungeklärt. Rainer Leschke verweist in diesem Zusammenhang mit Umberto Eco auf einen zentralen Unterschied zwischen der Interpretation und dem Benutzen von Texten: Während sich die Nutzung nur sehr bedingt durch die Textstruktur vorhersagen lässt, kann die Interpretationsbandbreite des Materials sehr wohl durch eine Analyse seiner Tiefenstruktur bestimmt werden (cf. Leschke 2003: 205). Auch die an kultureller Bedeutungsbildung interessierte Untersuchung bleibt damit auf die Textanalyse als ihr zentrales Handwerkszeug angewiesen. 4.2 Methodenproblematik Textgestützte Befunde und Argumente werden dann irrelevant und marginal, wenn die textuelle Ebene per se nicht zählt, sondern nur das Nutzer*innenverhalten interessiert. Auch dies ist ein legitimes Forschungsinteresse, doch stellt sich die Frage, ob es dann hierfür nicht eigene und geeignete Forschungsdesigns bräuchte und der Fokus dann nicht auf der Nutzung als Gegenstand selbst liegen müsste. Wenn mit Rezeption und Zuschauer*in argumentiert wird, so ist dies qualitativ und quantitativ empirisch methodisch sauber nachzuweisen. Häufig bleibt es aber bei aus einzelnen Aussagen extrahierten Beobachtungen und Behauptungen, die dann als Beweismittel fungieren. Wie bei Finding zu sehen ist, bleibt die Argumentation an der Oberfläche von Texten verhaftet und es werden nur (mehr oder weniger beliebige, maximal heuristisch relevante) Einzeläußerungen herangezogen, so dass fundierte und systematische Aussagen über solche Nutzungen nicht gezogen werden (können). 4.3 Referenz-Problematik Wenn es bei Finding (2008) um die Rezeption geht und argumentiert wird, dass dort der Textkontext zugunsten der verabsolutierten, in Erinnerung gebliebenen Figur zu vernachlässigen ist, es also um Vicky, Ting Tong oder Daffyd an sich geht, die bei den Rezipienten*innen hängen bleiben (so auch Lindner 2016), dann bleibt die Frage offen oder wird gar nicht gestellt, auf was sie dann als Repräsentationen eigentlich verweisen? Wird Vicky tatsächlich als Index für das Stereotyp der Chav Mum wahrgenommen und Daffyd als der Schwule und Ting Tong als Braut als dem Katalog? 45 Werden Stereotype exzerpiert - und wird damit eine Referenz auf die Realität erstellt? 45 Bei Ting Tong ist durch die Körperlichkeit offensichtlich, dass diese keine Thai-Braut aus dem Katalog ist. Diesbezügliche Einstellungen werden ja gerade mit Mr. Dudley in den Sketchen persifliert (und in Little Britain Abroad mit dessen Bruder und Ivanka explizit auf die Spitze getrieben). Aber auch gegen solche Offensichtlichkeiten immunisiert sich Finding (2008: 18), indem sie dies einfach als Bestätigung des nächsten Texte und Aneignungskulturen 39 Dies wird bei Finding und ihren unkritischen Wiederaufnahmen unterstellt, belegt wird dies nicht. Aus den obigen Ausführungen könnte deutlich sein, dass der Zeichenstatus doch eher selbstreferenziell auf sich selbst als individuelle Kunstfiguren zurückverweist und auf Little Britain als dem Medienformat, dem sie entstammen. Wer die Figuren aufgreift, argumentiert nicht mit der Repräsentation eines Vorurteils, sondern der Repräsentation einer Comedyserie - dies ernst zu nehmen und sich nicht selbst lächerlich zu machen, kann erst in Zeiten ernsthaft in Erwägung gezogen werden, in denen (wie in und durch Trump- Zeiten) die Negierung diesbezüglicher Unterschiede (bezüglich der Grundlage von Informationen) systematisch und institutionell hoffähig geworden ist. Zu Zeiten von Little Britain, Anfang der 2000er, dürften derartige Grenzziehungen im Denken durchaus noch manifest gewesen sein. 4.4 Medienkompetenz Dass Little Britain und seine Ikonen für diskriminierende Diskurse instrumentalisiert werden, wird stimmen. Solche Nutzungspraktiken können aber nicht notwendigerweise einem Text angelastet werden. Jeder Text kann in der Nutzung durch Selektion und Attribuierung so angeeignet und ausgelegt werden, dass er zur eigenen Einstellung passt. Nicht Vorhandenes kann ihm zugesprochen oder unliebsam Vorhandenes abgesprochen werden (cf. zu solchen Verteidigungen von Texten und den diesbezüglichen argumentativen Strategien Krah (2009: 69 - 73) und (2020: 141 - 149)). 46 Nutzungen ersetzen allerdings nicht die Textsemantiken, sondern sie können maximal im Vergleich mit solchen gesehen und interpretiert werden - etwa, bezüglich dessen, was bei der jeweiligen Wahrnehmung stattfindet. Die jeweiligen (textuellen) Mechanismen und Prozeduren solcher Aneignungen zu rekonstruieren und offen zu legen ist es, was text-, medien- und kulturwissenschaftlich interessieren sollte. Textbezogene Wissenschaften sollten, gerade in Zeiten von Fake-News, einem aufklärerischen Impetus folgen und für Medienkompetenz sorgen. Medienkompetenz meint hier zu erläutern, wie welche manifesten medialen Bedeutungen in welcher kulturellen und historischen Polyvalenz in welchen Kontexten zusätzliche Bedeutungspotenziale entfalten. 4.5 Text-Hoheit Die Irrelevantsetzung des Textes, die bei Finding und anderen praktiziert und sogar hofiert wird, impliziert, die Diskurshoheit über kulturelle Phänomene an (irgend)eine beliebige Nutzung abzugeben. So sehr der Unterschied von Höhenkamm und populärkulturellen Texten aufgegeben worden ist, so sehr scheint er dann doch unterschwellig wieder hereinzukommen, wenn gerade bei populären Texten deren textuelles Bedeutungspotential nivelliert und als irrelevant gesetzt wird und hier die Nutzung zur Dominante wird. Dies ist Vorurteils perpetuiert: Die Angst des weißen (Unterschichts-)Mannes davor, dass ausländische Frauen Macht über ihn ausüben und ihn aus seinem angestammten Heim Vertreiben könnten. Wer sich aber wirklich dergestalt mit Mr. Dudley identifiziert, wenn er in der letzten Folge ohne Murren sein Haus verlässt, müsste dann aber auch sowohl den ‘ Kauf ’ der Braut Ting Tong als auch die daran gekoppelten sexuellen Vorlieben Mr. Dudleys als für sich angemessen akzeptieren. 46 Zu solchen Verteidigungen von Texten und den diesbezüglichen argumentativen Strategien siehe Krah (2009: 69 - 73) und (2020: 141 - 149). 40 Jan-Oliver Decker / Hans Krah gerade nicht kultursemiotischer Usus. Alle Texte haben das gleiche Recht, als Texte ernst genommen zu werden - zumal sich Grenzen diesbezüglich semantisch nicht bestimmen lassen. Sieht man sich zum Schluss vor diesem Hintergrund noch mal das Video zu The Big Night In an, dann erstaunt der Höhepunkt, auf den das Video am Ende zusteuert: Im letzten Sketch sehen wir Judy Pike (Matt Lucas) links im Splitscreen und Maggie Blackmoor (David Walliams) rechts. Nach dem Sketch kommt zunächst ein Bild im Splitscreen, in dem David Walliams links und Matt Lucas rechts Schilder mit den Aufschriften “ End ” und “ The ” halten und diese scheinbar austauschen, so dass man von links nach rechts über die mittige Splitscreengrenze hinweg richtig “ The End ” in der Kombination beider Bilder lesen kann. Danach wird der letzte Sketch mit Judy und Maggie im zentralen Effekt noch einmal aufgegriffen, der Sketch als Höhepunkt sozusagen reloaded. Diese Wiederaufnahme am Ende des selbstreflexiven Videos deutet daraufhin, hier noch einmal genauer hinzuschauen: Wird hier nur der Höhepunkt noch mal wiederholt, um einen nachhaltigen Effekt beim Publikum und damit Spenden zu erzeugen? Vorgeführt wird, wie Maggie rechts im Splitscreen einen für sie leckeren Kuchen probiert, von dem Judy links im Splitscreen sagt, dass er von einer Mrs. Gupta gebacken sei, woraufhin Maggie würgen muss, sich nach links wendet und den Mund aufreißt. Im linken Bild des Splitscreens ist zu sehen, wie von rechts außerhalb des Bildes eine Karotten- oder Kürbissuppe auf Judy geschüttet wird. Es wird also das Erbrechen auf Judy simuliert und dieser Effekt wird nach dem Endtitel noch einmal wiederholt. Erkennbar wird also, dass das Erbrechen nur ein Inszenierungseffekt ist, der nicht einmal in der Diegese real ist. Matt Lucas wird mit Suppe überschüttet, aber nicht Judy von Maggies Erbrochenem. Der Effekt durch die Simulation wird aber als so stark bewertet, dass er als letzter Lacher und Schockeffekt, der im Gedächtnis bleiben soll, wiederholt wird. Dieser Sketch lässt sich damit auch als Rezeptionslenkung lesen, der (i) in seiner selbstreflexiven, die Inszenierung durch die Schauspielenden transparent machenden, Lesart und (ii) in seiner diegetischen, auf Little Britain fremdreferierenden, Lesart die Inszenierung von Maggies Xenophobie, aber gerade nicht ihre Xenophobie als solche zum Herzstück des ästhetischen Konzepts des Videos stilisiert. In der Wiederholung des Effektes liegt darüber hinaus auch die Möglichkeit beim zweiten Mal genauer hinzuschauen und die Machart des Effekts zu erkennen. Die Dispositivstruktur des YouTube-Videos ermöglicht es darüber hinaus, ähnlich wie bei einem Buch die Rezeptionsrichtung umzukehren, die Bilderfolge beliebig zu wiederholen, Standbilder zu machen und insgesamt genau hinzuschauen. Die Wiederaufnahme des Effektes im Video kann dann als selbstreflexives Selbstbild zu Little Britain auch implizieren, sich die Inszenierungen der Serie Little Britain noch einmal genauer analytisch anzuschauen. Aus unserer Perspektive verdient es Little Britain jedenfalls nicht, einer ‘ Cancel Culture ’ zum Opfer zu fallen und die Originale aus dem kulturellen Gedächtnis durch ihre Nicht- Verfügbarkeit zu streichen. Dies bedeutet dann wirklich, all denen das Feld in der Deutung zu überlassen, die sich die Charaktere der Serie für ihre Zwecke aneignen, seien dies nun die zahlreichen Fandoms im Netz oder auch die diskriminierenden Kommentare, die den Figuren fremde Stereotype oktroyieren. Diese Stereotype lassen sich gerade nicht mehr relativieren, wenn die Serie nicht mehr verfügbar ist. Texte und Aneignungskulturen 41 References Decker, Jan-Oliver (ed.) 2018: Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien. Formen und Funktionen in medien- und kulturhistorischen Kontexten, Tübingen: Narr/ Francke/ Attempto (=KODIKAS/ Code. 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Keywords: Netzikonen, Memes, Protestbilder, Image Events, Online-Aktivismus 1 Vorbemerkungen Protest ist heute eine omnipräsente gesellschaftliche Kommunikationsform. Über Nachrichtenmedien und soziale Plattformen werden global täglich Texte, Bilder und Videos von Protesten verbreitet - aus demokratischen ebenso wie aus autokratischen Ländern. Es scheint, als sei Protest mehr als je zuvor eine elementare Form politischer und gesellschaftlicher Partizipation. Es ist v. a. das Zusammenspiel von physischen Protestaktionen im öffentlichen Raum und ihrer Repräsentation in den verschiedenen Medien, die den Menschen offenbar ein Gefühl von direkter und aktiver politischer Ermächtigung gibt: Momente lokaler, überregionaler, und zum Teil gar globaler Sichtbarkeit ihrer im Protest artikulierten Interessen und Ziele können in Mediengesellschaften politischen Druck auf Entscheidungsträger ausüben und damit als eine unmittelbarere Form der politischen oder gesellschaftlichen Partizipation empfunden werden, als demokratische Wahlen. Spätestens seit dem Aufkommen der elektronischen Massenmedien haben sich nicht nur die Reichweiten und damit die potenzielle Sichtbarkeit von Protest stetig ausgeweitet, auch die Formen der Protestkommunikation sind seitdem durchdrungen von den Gesetzmäßigkeiten und Kodes der jeweils herrschenden Medien - seien dies die journalistischen Massenmedien der Zeitung und des Fernsehens oder die sozialen Online-Medien. Eine Semiotik des Protestes muss daher das Zusammenwirken unterschiedlicher Zeichensysteme berücksichtigen: Das Zeichenarsenal einzelner Bewegungen und aktivistischer Gruppierungen in synchronen und diachronen Protestpraktiken sowie die spezifischen Regeln und Konventionen der Medienumgebungen, die sie adressieren und die sie zur Repräsentation nutzen. Der Beitrag wird vor diesem Hintergrund Protestbilder im semiotischen Zusammenspiel von Protest- und Netzkommunikation näher betrachten. Mit Blick auf die aktuell vorherrschende Bedeutung der Netzmedien werden dabei zwei Ausdrucksformen genauer untersucht, welche die digitalen Protestdiskurse in den sozialen Online-Medien besonders prägen: Internet-Memes und Netzikonen des Protestes. Ihre Genese ist charakteristisch für die spezifischen diskursiven Dynamiken in den sozialen Online-Medien. Im Unterschied zu den hierarchisch geprägten Diskursen der linearen Massenmedien manifestiert sich in den sozialen Online-Medien die partizipative Dynamik von Diskurssphären, die von ganz unterschiedlichen Akteuren mitgestaltet werden. Mit anderen Worten: Während die bildliche Repräsentation von Protest lange von den massenmedialen Kodes dominiert wurde, manifestiert sich in Memes und Netzikonen des Protestes eine offene und enthierarchisierte Diskurssphäre, in der die Repräsentationen von Protest kollektiv und öffentlich immer wieder neu verhandelt werden können. Damit geht eine beachtliche Steigerung an Komplexität semiotischer Prozesse und Referenzen einher, die sich mit Iedema (2003) als fortlaufende Prozesse der Resemiotisierung bezeichnen lassen. Wie es Iedema formuliert hat, leisten gerade die Netzmedien damit einer Entdifferenzierung von Diskurssphären Vorschub (Iedema 2003: 33). Im Falle von Protestdiskursen kann das bedeuten, dass die öffentliche Repräsentation einer Bewegung oder Gruppierung nicht mehr nur durch die journalistischen Massenmedien geprägt wird. Sie können ebenso beeinflusst werden durch verwandte oder antagonistische Gruppierungen, sowie durch persönlich auftretende Nutzer*innen, die mit ihren oft affektiv gefärbten Beiträgen große Reichweiten erzielen können. Sie alle können Bildmaterial, Slogans, Symbole und sogar die artikulierten Ziele einer Bewegung aufgreifen und vor dem Hintergrund eigener Interessen und Motive resemiotisieren. 1 Internet-Memes und Netzikonen, so meine These, stellen dabei die dichtesten Formen der Resemiotisierung von Protestbildern im Netz dar. 2 Memetische Praktiken und Memes in digitalen Protestdiskursen Im allgemeinen Verständnis von Memes und ikonischen Bildern im Netz verschwimmen häufig die Grenzen zwischen diesen beiden Formen. Tatsächlich handelt es sich bei beiden um memetische Artefakte, die auf gemeinsamen Voraussetzungen in der Netzkultur beruhen: Nämlich ihrer partizipativen Grunddisposition, die sich durch das kollektive Teilen, Aneignen und Verbreiten von digitalen Artefakten auszeichnet. Wie Varis/ Blommaert (2014) schlüssig argumentieren, liegt eine wesentliche Funktion memetischer Praktiken im Herstellen und Verstärken von Gemeinschaftsgefühlen und geteilten Identitäten. Vor allem das schnelle Bekunden von Zustimmung oder Ablehnung eines Bildes bzw. bebilderten Online-Posts betrachten sie als reflexhaften Ausdruck des 1 Cf. hierzu auch Oostendorp (2018), die am Beispiel der bildmemetischen Proteste gegen die kontrafaktischen Äußerungen des ehemaligen südamerikanischen Präsidenten Jacob Zuma zu HIV-Erkrankungen einen systematischen Beitrag zur Anwendung von Iedemas Konzept der Resemiotisierung auf bildkommunikative Proteste bietet. Einen weiteren Beitrag leistet u. a. Urribarrí (2020), die resemiotisierende Prozesse memetischer Bildaneignungen propagandistischen Bildsymboliken des ehemaligen venezulanischen Präsidenten Hugo Chávez untersucht und hierbei verschiedene “ Pfade der Resemiotisierung ” unterscheidet. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 45 Wunsches, sich einer Gemeinschaft durch Zustimmung oder Ablehnung angehörig zu fühlen: What happens here is “ communion ” [ … ]: identity statements expressing, pragmatically and metapragmatically, membership of some group. Such groups are not held together by high levels of awareness and knowledge of deeply shared values and functions [ … ] but by loose bonds of shared, even if superficial interest or “ ambient affiliation ” [ … ], enabled by technological features of social media affording forms of searchability and findability of “ like ” -minded people. (Varis/ Blommaert 2014: 6 f.) Dies erklärt auch die hervorgehobene Bedeutung sozialer Dynamiken in der Verbreitung und Genese memetischer Artefakte. Während sich die linear und hierarchisch strukturierte Medienkommunikation weitgehend durch institutionalisierte Kriterien die Selektion und Verbreitung von Bildern, Texten oder Videos auszeichnet, sind diese in der Netzsphäre tendenziell unvorhersehbar, fluide und dynamisch. Entscheidend für die Reichweite medialer Artefakte im Netz ist v. a. das psychosoziale Ansteckungspotential für die Nutzer*innen und Nutzer. Für Varis/ Blommaert (2014) liegt der kreativen Aneignung und Verbreitung memetischer Artefakte daher auch eine - im Sinne Roman Jakobsons - primär phatische Funktion zugrunde, die auf das Herstellen und Aufrechterhalten von Kommunikation zwischen Gleichgesinnten ausgerichtet ist. Mit Blick auf die ihnen zugrundeliegenden kommunikativen Praktiken und Funktionen handelt es sich sowohl bei Netzmemes als auch bei Netzikonen folglich um kollektiv generierte memetische Artefakte. Betrachtet man jedoch ihre ästhetische und semiotische Struktur, weisen sie - so meine These - durchaus kategoriale Unterschiede auf. Diese Unterschiede prägen auf spezifische Weise auch die digitalen Protestsphären, in denen die Artefakte genutzt werden. 2.1 Netz-Memes In ihrer einschlägigen Definition umreißt Limor Shifman Internetmemes allgemein als “ [ … ] (a) a group of digital items sharing common characteristics of content, form, and/ or stance, which (b) were created with awareness of each other, and (c) were circulated, imitated, and/ or transformed via the Internet by many users ” (Shifman 2014: 41). Hartmuth Stöckl verweist daneben auf die besondere semiotische Bedeutung ihrer multimodalen Struktur: die “ [ … ] Kopräsenz und wechselseitige Verknüpfung mehrerer Zeichenmodalitäten auf verschiedenen Ebenen (z. B. Semantik, Handlungsfunktion etc.) in einem Gesamttext ” (Stöckl 2010: 47). Bezeichnend für Netz-Memes im engeren Sinne ist damit zum einen, dass jegliches semiotisches Material zu ihrem Gegenstand werden kann, das auf geteiltes Wissen in einer Gemeinschaft zurückgreift: Slogans, Sprachzitate, Melodien, Filmausschnitte, fotografische, gemalte, gezeichnete, filmische Bilder usw. Bezeichnend ist zum anderen, dass sie in ihrer vertrauten Form aufgegriffen, wiederholt, aber kreativ bearbeitet, angeeignet und rekontextualisiert werden (cf. auch Marcus/ Singer 2017). Dabei erhalten sie in der Regel eine multimodale Gestalt, meist durch die Kombination von Bild und Text. Diese Kombination führt zu einer neuen semantischen, aber auch pragmatischen Rahmung vertrauten Materials. Dies geschieht, indem neue intertextuelle Bezüge hergestellt werden (z. B. zwischen Film- und Computerspielwelten) oder das Material diskursiv, wie etwa im 46 Kathrin Fahlenbrach Transfer vom politischen in den popkulturellen Bereich, ent- und rekontextualisiert wird. Beispielhaft sei auf das “ Bernie-Sanders-Meme ” verwiesen (Abb. 1 - 2). Das Foto entstand bei der Vereidigung von Joe Biden als neuem US-Präsidenten und zeigt den Politiker Bernie Sanders informell gekleidet mit Outdoor-Jacke, selbstgestrickten Handschuhen und Maske, grimmig in sich gekehrt. Abb. 1 Abb. 2 Die Aufnahme wurde noch während der Live-Übertragung der präsidialen Vereidigung im Netz mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Slogans und bildlichen Collagen versehen und erzeugte einen viralen “ Bilderschwarm ” (Schankweiler 2019: 63). 2 In der auch nach dem Ereignis monatelang fortlaufenden ‘ Memefizierung ’ des Fotos gehörten neben politischen Rahmungen auch popkulturelle Resemiotisierungen. Pragmatisch betrachtet wird das Bildmaterial in solchen kollektiven Aneignungs- und Verbreitungsprozessen den potentiellen Interessen und habituellen Bedürfnissen unterschiedlicher Netzgemeinschaften, wie etwa der kollektiven Selbstvergewisserung über bestimmte popkulturelle Kodes, angepasst. In diesem Prozess der fortlaufenden Resemiotisierung überlagern sich die referenziellen Bezüge und Kontextualisierungen, vor allem, wenn die neu geschaffenen Memes aufeinander Bezug nehmen. Dies zeigt etwa das schon ältere Distracted-Boyfriend-Meme, das in zahllosen Varianten als Inbegriff des Meme- Prinzips zitiert und mit anderen Memes überlagert wird (Abb. 3 - 5). 2 In kürzester Zeit entstand sogar ein eigener Twitter-Kanal zu dem Meme unter dem Namen Bernie Sander ’ s Mittens@mittens.bernie. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 47 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Auch das Bild von Bernie Sanders wird mit der Distracted Boyfriend-Aufnahme kombiniert und so in den größeren Kontext von dessen Meme-Geschichte eingebunden. Mit Varis/ Blommaert (2014: 5) gesprochen, entstehen komplexe “ layers of contextualizations ” , deren semantische Bezüge häufig nur noch mit gruppenspezifischem Insiderwissen dekodiert werden können. In den digitalen Protestdiskursen bieten Memes die Möglichkeit, die politischen, gesellschaftlichen und identitätspolitischen Ziele einer Bewegung nicht nur unterhaltsam und humoristisch zu propagieren, sondern gleichzeitig die Chance zu eröffnen, potentielle Sympathisanten und aktive Unterstützer*innen auf habituell expressive Weise zu adressieren und zu binden (cf. auch Marcus/ Singer 2017 und Kiziltunali 2020). Aufgrund des dynamischen Charakters von Memes kann ihre Verbreitung und memetische Dynamik allerdings nur begrenzt lanciert und kontrolliert werden. Allerdings machen sich einzelne Gruppierungen und Bewegungen auch manipulative Techniken wie Astroturfing 3 via Social Bots u. ä. zunutze, um virale Dynamiken aktiv in Gang zu setzen. Besonders ausgeprägt ist diese Tendenz bei rechtspopulistischen und anti-liberalen Gruppierungen, die Memes als Formen der Netzpropaganda einsetzen. Bezeichnend für deren ‘ memetische Kriegsführung ’ ist auch, dass sie das gemeinschaftsstiftende Symbolarsenal gegnerischer Gruppierungen aufgreifen und auf satirische, oft auch diskriminierend parodierende Weise 3 Als Astroturfing werden Strategien der Netzverbreitung (etwa in politischer PR) bezeichnet, die eine breite Unterstützung innerhalb sozialer Netzwerke simulieren. 48 Kathrin Fahlenbrach resemiotisieren und rekontextualisieren, wie dies etwa mit Greta Thunberg geschieht. 4 Dasselbe gilt für das Aufgreifen popkultureller Zeichenarsenale (cf. Bogerts/ Fielitz 2018). Ästhetisch zeichnet Netz-Memes im engeren Sinne also eine hohe gestalterische und semantische Offenheit aus, die gerade auch durch ihren typischerweise multimodalen Charakter geprägt ist. Zeichenmaterial unterschiedlichster Herkunft kann frei ausgewählt und semantisch neu gerahmt und angeeignet werden. Ihre semiotische Qualität wird damit vom Akt der Resemiotisierung eines vorgefundenen Artefaktes durch eine neue sprachliche Rahmung oder durch die Rekombination von Sprache und Bild (etwa im Mash Up-Video) bestimmt. Im Sinne von Barthes (1990) wird Sprache dabei eingesetzt, um die Polysemie des Bildmaterials semantisch neu zu verankern. 2.2 Netzikonen des Protestes: Ästhetische und semiotische Aspekte Netzikonen sind ästhetisch wesentlich spezifischer determiniert und damit auch semantisch weniger offen in ihrer Rekontextualisierung als das in Memes verwendete Zeichenmaterial. Ausgangsmaterial von Netzikonen sind immer konkrete Einzelbilder, genauer: ikonische Bilder als ein spezifischer Bildtypus. Diese meist fotografischen Einzelbilder unterscheiden sich von anderen, vergleichbaren Aufnahmen durch ihre verdichtete visuelle Symbolfähigkeit (cf. Fahlenbrach 2013). Prägnanter als andere Bilder machen sie z. B. gesellschaftliche Konfliktkonstellationen oder moralische Werte und Ideologeme sinnfällig, welche symbolisch über die abgebildete Situation oder Person hinausweisen. In ihrer Bildstruktur weisen ikonische Bilder dabei meist kulturell tradierte visuelle Schemata auf, die Konzepte wie ‘ gut ’ vs. ‘ böse ’ , ‘ reich ’ vs. ‘ arm ’ , ‘ mächtig ’ vs. ‘ schwach ’ formelhaft verdichten. Das ermöglicht die diachrone Aktualisierung dieser Bilder mit unterschiedlichen Meta-Erzählungen in unterschiedlichen Diskursen. In ihrer ikonografischen Struktur greifen ikonische Bilder auf kollektives Bildwissen zurück, weshalb sich ihre symbolfähige Semantik auch ohne sprachliche Rahmung in breiten Publika vermittelt (cf. Perlmutter 1998; Hariman/ Lucaites 2007; Fahlenbrach 2013). Im Laufe memetischer Praktiken der Ent- und Rekontextualisierung in den Netzsphären sind es v. a. die symbolfähigen ikonografischen Bildstrukturen, die zum Gegenstand von Resemiotisierungen werden. Boudana et al. (2017) haben dieses Verfahren treffend beschrieben. Dabei gehen sie von einer “ emblematischen Indexikalität ” ikonischer Bilder - also der Gleichzeitigkeit von symbolischen und indexikalischen Qualitäten - aus. 5 Demnach weisen v. a. fotografische Ikonen indexikalische Ankerelemente auf, die unmittelbar auf die dokumentierte Situation verweisen: konkrete Personen oder situative Bildindexe. Eben diese indexikalischen Elemente werden im diachronen Verlauf der Ent- und Rekontextualisierung solcher Bilder variiert und z. T. ausgetauscht, wobei die symboltragende ikonografische Grundstruktur erhalten bleibt. 4 Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung von Thunberg als “ Jungmädel ” der Nazis, womit sowohl im Hinblick auf die Klimaaktivistin als auch auf die postende Person und Gruppierung eine semantische Umkehrung stattfindet, cf. https: / / twitter.com/ watcher1207/ status/ 1530976442904760320 [letzter Zugriff: 01.07.2022]. 5 “ The fit of iconic photographs for public salience and extensive replication hinges on a crucial semiotic duality: they are at once particular and universal, concrete and abstract. Frosh (2012) calls this duality ‘ emblematic indexicality ’ . ” Boudana et al. (2017): 1215. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 49 Wie Boudana et al. (2017) zeigen, können allerdings auch ikonische Bilder durch memetische Aneignungspraktiken komplett entkontextualisiert und in gänzlich andere, gar konträre Netzdiskurse eingebunden werden. Dies kann mit einer radikalen Resemiotisierung ikonischer Bilder einhergehen, die im Extremfall gar eine symbolische Umkehrung und Negation ihrer ursprünglichen Bedeutung mit sich bringt. Dies tritt vor allem dann ein, wenn die situativ-indexikalischen Bildelemente entfernt und die symboltragenden ikonografischen Bildelemente genuin verändert werden. Gerade in aktivistischen Netzdiskursen werden ikonische Bilder des gegnerischen Lagers auf diese Weise gerne zum Gegenstand symbolischer Umkehrung, wie dies an einigen rechtsextremen Che-Guevara-Memes deutlich wird. In einem wird die rechtsextreme Leitfigur Götz Kubitschek etwa in den monochrom roten Grundton der Che-Ikone eingefügt und durch die Entfernung der Graustufen des schwarz-weiß-Fotos der ikonischen Ästhetik des Che-Portraits angepasst. 6 Falls sich solche Neuformationen im memetischen Diskurs durchsetzen, kann dies den symbolischen ‘ Tod ’ einer Ikone bedeuten. Die Bilder verlieren dabei tendenziell ihre ikonische Macht und werden als Netzmemes zu Objekten kollektiver Bildpraktiken, in denen sie ihre symbolische Prägnanz verlieren. Boudana/ Frosh spitzen dies folgendermaßen zu: For iconic photographs, recycling is thus a definitional condition and a potential death threat. In a way, iconic photos are victims of their own success, as the diminution of their original reference is a condition for reaching iconic status: when a photograph becomes iconic, it is ‘ revised, circulated, and reissued in various venues until whatever reality its subject first possessed has been drained away ’ (Rabinowitz, 1994: 87). (Boudana/ Frosh/ Cohen 2017: 1215) 2.3 Ikonische Bilder vs. Ikonische Bildmuster im Netz Angesichts der erheblichen Intensivierung und Beschleunigung in der Verbreitung und partizipativen Aneignung von Bildern im Web 2.0 kann mit Kerstin Schankweiler (2019) gefragt werden, ob das Zeitalter der ikonischen Bilder nicht an ein Ende gelangt ist 7 und in den memetischen Bildernetzwerken bestenfalls ikonische Bildmuster übrig bleiben. Damit sind formelhafte Ikonografien gemeint, die sich als memetische Schemata verselbstständigt haben und von den situativ verankerten Bildindices losgelöst sind. Offenbar entsprechen die memetischen Eigenschaften ikonischer Bilder eben jener Tendenz zur Wiederholung und Resemiotisierung von ikonischen Bildmustern, wie sie für die viralen Dynamiken der Bildverbreitung im Web 2.0 typisch sind. So haben wir es bei den ikonischen Bildern im Web 2.0, wie Kerstin Schankweiler es (2019: 63ff) treffend beschreibt, eher mit den Bildmustern kollektiv generierter Bilderschwärme und Bildnetzwerke zu tun. Diese entstehen durch die Adaption und Wiederholung bereits vorhandener ikonischer und generischer Bildmuster, um möglichst breite Aufmerksamkeit und Mobilisierung zu erzielen. 6 Die Collage erschien zuerst in dem rechtsextremen Online-Blog PI-News und ist aktuell noch in dem ebenfalls weit rechtsstehenden Online-Magazin Tichys Einblick zu sehen: https: / / www.tichyseinblick.de/ kolumnen/ alexander-wallasch-heute/ kubitschek-er-waer-so-gern-revolutionaer/ [letzter Zugriff: 01.07.2022]. 7 “ Die digitalen Bildnetzwerke läuten das Ende der singulären Medienikonen ein, wie man sie aus dem Zeitalter des Fotojournalismus kannte. Bezogen auf Bildproteste bedeutet dies, dass auch immer seltener singuläre Protestikonen entstehen. ” (Schankweiler 2019: 61). 50 Kathrin Fahlenbrach Mit der Disposition zu memetischen Dynamiken motiviert das Web 2.0 aber Aktivist*nnen und ihre Sympathisant*innen auch - so meine These - regelmäßig, gewissermaßen anachronistisch, die Kanonisierung einzelner Bilder zu Netzikonen selbst zu evozieren und zu gestalten. Auf diese Weise sollen sie sich von den herkömmlichen und schnelllebigen Protest-Memes abheben. Mehr als mit den breit variierbaren und gar austauschbaren Memes zielen User*innen mittels der symbolhaltigen ikonischen Bilder des Protestes auf das ab, was Boudana et al. (2017: 1213) “ ikonische Macht ” nennen: die Einflussnahme auf Sichtweisen, Meinungen und Affekte in den digitalen Diskurssphären über eine prägnante “ emblematische Indexikalität ” . 3 Ikonische Bildmuster & Netzikonen des Protestes: Eine Fallstudie Die strategische Gestaltung und Verbreitung ikonischer Bilder hat bereits eine lange Geschichte in der Protestkultur (cf. Fahlenbrach 2013b, Mortensen 2017). In der folgenden Fallstudie möchte ich zeigen, wie im Zusammenwirken von memetischen Bildpraktiken im Web 2.0 und Protestaktionen im physischen Raum ikonische Bildmuster und Netzikonen des Protestes entstehen können, denn im Feld der Protestkommunikation sind memetische Bildpraktiken eng, gar rekursiv mit körperlichen Protestperformances auf der Straße verbunden. Die von Beistehenden oder Journalist*innen aufgenommenen Protestgesten und -handlungen werden als Bilder im Netz verbreitet, kommentiert und dort im Zweifel als hervorgehobene Symbolbilder weiterverarbeitet (cf. Schankweiler 2019). Als ikonische Einzelbilder oder Bildmuster des Protestes können sie wiederum Vorlage für Protestperformances auf der Straße werden. So können sie strategisch zur Inszenierung von “ image events ” (cf. Delicath/ DeLuca 2003) eingesetzt werden: Performativen Körperbildern des Protestes, die auf breite Symbolwirkung abzielen. Hiermit wird die ikonische Macht symbolträchtiger Bilder und Bildmuster auf der Straße und im Netz eingesetzt, um politische oder gesellschaftliche Diskurse zu beeinflussen oder gar zu verändern. Gegenstand der Fallstudie ist einerseits ein ikonisches Bildmuster, das sich zuletzt in den Protesten gegen das belarussische Regime besonders eindrucksvoll manifestierte, das aber eine weit darüber hinausreichende historische und politische Tradition hat: Frauenkörper im Protest. Zu sehen ist typischerweise eine einzelne protestierende Frau in direkter physischer Konfrontation mit einer angriffsbereiten männlichen - meist polizeilichen - Übermacht. Bei näherer Betrachtung entsprechender Bilder fällt auf, dass es ein recht variantenreiches Spektrum an Gesten, Posen und Bildmotiven innerhalb dieses Bildmusters gibt. Sie alle eint die Manifestation von wiederkehrenden Dichotomien: (i) ‘ Kollektiv ’ vs. ‘ Individuum ’ , (ii) ‘ Mann ’ vs. ‘ Frau ’ , (iii) ‘ physische Stärke ’ vs. ‘ physische Schwäche ’ / ‘ Verletzbarkeit ’ , (iv) ‘ geschützter Kollektivkörper ’ vs. ‘ ungeschützter Einzelkörper ’ , (v) ‘ gesellschaftliche ’ / ‘ politische Macht ’ vs. ‘ gesellschaftliche ’ / ‘ politische Schwäche ’ und (vi) ‘ Aggression ’ vs. ‘ Friedfertigkeit ’ . Ikonografisch greift dieses Bildmuster auf ein kulturell tradiertes Bildschema zurück: das biblische David gegen Goliath-Motiv. Dieses dichotome, archetypisch v. a. in westlichen Kulturen verankerte, Bildmuster kann gewissermaßen als Matrix der generischen Verbreitung von entsprechenden image events und Netzbildern betrachtet werden. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 51 In der breiten Menge an Bildern und Bildereignissen wird dasselbe Schema in zahlreichen Varianten, Verkörperungen und unterschiedlichen Protestkontexten realisiert. Es handelt sich also mit der Wiederholung dieses Bildschemas um die Manifestation einer generalisierbaren Protestgeste, die sich in unterschiedlichen Kontexten als ereignishafter und symbolträchtiger Akt des Protestes - sowohl physisch, als auch häufig als medialer Bildakt im Netz - manifestiert. 3.1 Ikonische Einzelbilder ‘ Frau vs. Polizei ’ Bei den geschilderten generischen Bildern steht die wiederholte Manifestation eines Bild- und Protestschemas im Mittelpunkt. Daneben greifen die memetischen Bildpraktiken im Netz einzelne Bilder explizit als ikonische Einzelbilder auf, die in ihrer besonderen Komposition und Erscheinung zitiert und reinszeniert werden. Sie unterscheiden sich von den anderen durch ein weiteres spezifisches Bildmuster, das die protestierende Frau in einer dezidiert pazifistischen Pose zeigt. In der Reihe ikonischer Einzelbilder gibt es ein historisches Protestbild von 1967, das bereits um 2016 in den digitalen Netzwerken wiederentdeckt, verbreitet, kommentiert und reinszeniert wurde: das 1967 vom Pressefotografen Marc Riboud aufgenommene Foto Ultimate Confrontation. 8 Es zeigt die Studentin Jan Rose Kasmir bei einem Protest gegen den Vietnam- Krieg vor dem Pentagon in Washington. Das Schwarz-Weiß-Foto von Riboud zeigt sie im Profil nah vor einer Reihe starr nach vorne schauender Soldaten, die ihre spitzen Bajonette frontal in ihre Richtung halten. In der Hand und nah am Gesicht hält sie eine einzelne Blume. Die oben aufgezählten Dichotomien werden hier durch die direkte physische Konfrontation von aggressiven Waffen einer militarisierten, entindividualisierten Soldatengruppe und dem defensiven Vorzeigen einer Blume durch eine einzelne, flehend blickende und körperlich ungeschützte Frau prägnant verdichtet. Das Bild wurde in seiner Entstehungszeit bereits zu einem symbolischen Schlüsselbild für den Protest gegen den Vietnam-Krieg und darüber hinaus schließlich zu einem ikonischen Sinnbild des Pazifismus. Allerdings blieb es in seiner diachronen Rezeption diesem semantischen Feld eng verhaftet, wurde also nicht - wie etwa die Che-Ikone - in andere Felder wie Popkultur oder Werbung übertragen. 3.2 Ikonische Einzelbilder: ‘ Frau ’ vs. ‘ Polizei ’ , die Netzikonen Ieshia Evans (2016) & Tess Asplund (2016) Einen neuen Kanonisierungsschub erfuhr das Foto von Riboud über seine Wiederentdeckung und memetische Aneignung in den Netzmedien im Umfeld der Black Lives Matter- Bewegung. Bezeichnenderweise wurde es 2016 in zwei anderen, aktuellen Fotos aufgegriffen, um deren Symbolwirkung als ikonische Protestbilder zu evozieren. 9 Eines dieser Protestbilder ist die Fotografie von Ieshia Evans, die der Pressefotograf Jonathan Bachmann im Juli 2016 während der Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in der US-Stadt Baton Rouge machte. Das Foto zeigt die Frau in einem dünnem Sommerkleid allein gegenüber einer Front von maskierten und bewaffneten Polizisten, von denen zwei 8 Cf. https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ The_Ultimate_Confrontation#/ media/ File: Jan_Rose_Kasmir.jpg [letzter Zugriff am 01.07.2022]. 9 Der folgende Abschnitt zu den Bildern um Ieshia Evans basiert auf Fahlenbrach 2019. 52 Kathrin Fahlenbrach direkt auf sie zustürmen. Mit ruhigem Blick verharrt sie vor ihren Angreifern, die Hände vor dem aufrechten Körper haltend, was ihr eine geradezu religiöse Anmutung verleiht. Das Foto wurde innerhalb kurzer Zeit tausendfach über Twitter und andere soziale Online-Medien verbreitet und mit Kommentaren versehen, die Ieshia Evans als märtyrergleiche Heldin feierten, die sich mutig der Polizeigewalt entgegenstellt (cf. hierzu auch Mina/ Drainville 2016). Die starke emotionale und expressive Wirkung des Bildes in den Online- Sphären beruht dabei auf dem bereits vertrauten ikonischen Bildmuster: die Gegenüberstellung von ‘ militarisierter Staatsmacht ’ und ‘ individuellem Widerstand ’ , von ‘ stark ’ und ‘ schwach ’ , von ‘ Mann ’ und ‘ Frau ’ , von ‘ weißer Mehrheit ’ und ‘ schwarzer Minderheit ’ . In kürzester Zeit erfolgt in den aktivistischen Netzsphären eine Rekontextualisierung des Pressefotos in einer Reihe historischer Bild- und Medienikonen. Diese kanonisierenden Bildakte sind geeignet, die weitere Wahrnehmung des Fotos als Netzikone zu prägen. Abb. 6 Abb. 7 Die bildnerischen Reinszenierungen des Fotos, Foto-Collagen, Zeichnungen oder digitale Bearbeitungen überhöhten dabei das symbolische Potential des Ursprungsbildes und verbanden es expressiv mit dem Appell an Werte wie Solidarität und Kampf gegen Rassismus. Eine Foto-Collage (Abb. 7) etwa zeigt Evans todesmutig vor einem Bär mit aufgerissenem Maul stehend, der hier als Metapher für die aggressive und gefährliche Staatsmacht gezeigt wird. Eine digitale Foto-Bearbeitung gestaltet die Szene als eine düstere Kriegssituation vor schwarzen Rauchwolken. Evans wird metaphorisch als eine Naturgewalt überhöht: Der Polizeigriff nach ihrer Hand erzeugt Blitze und ein symbolischer Riss im Asphalt zwischen ihr und den Polizisten versinnbildlicht das Aufeinanderprallen zweier antagonistischer Naturkräfte. Es ist ein Prozess der Resemiotisierung, bei dem die bildnerische Neugestaltung im Zeichen aktivistischer Ideale, Werte, Appelle und Ziele steht. So entstehen visuell verdichtete symbolische Bildbotschaften, die, gerahmt durch persönliche und häufig emotionale Kommentare in den sozialen Online-Medien, viral verbreitet werden können. In diesem Fall führte das dazu, dass die journalistischen Massenmedien auf die Fotografie als Netzikone und den damit verbunden Protest im Netz aufmerksam wurden. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 53 Das Pressefoto von Bachmann wurde damit zunächst in den sozialen Online-Sphären aufgegriffen, emotional personalisiert und symbolisch als Netzikone überhöht. Von dort wanderte es dann zurück in die journalistischen Massenmedien und verschaffte der USamerikanischen Black Lives Matter-Bewegung internationale Sichtbarkeit. Das zweite Foto stammt ebenfalls aus dem Jahr 2016 und weist ein sehr ähnliches Bildmuster auf. Es zeigt Tess Asplund, die sich im Mai 2016 mutig einem Aufmarsch von 300 Neo-Nazis entgegenstellte. Auch hier ist es das antagonistische David gegen Goliath-Motiv, das als ikonisches Bildschema eine übergeordnete Protestsymbolik aufweist. Gestus und Mimik verbinden es zusätzlich mit einer typischen Pathosformel für Empörung und Widerstand. Auch dieses Foto stammt ursprünglich von einem Pressefotografen: David Lagerlöf. Nachdem er es auf Facebook gepostet hatte, verbreitete es sich innerhalb weniger Stunden über alle einschlägigen Social-Media-Plattformen. Dazu trug offenbar nicht nur die digitale Vernetzung des Pressefotografen selbst bei, sondern auch die Online-Verbreitung über prominente Autoren wie Joanne K. Rowling und Roberto Saviano. Auch die internationale Tagespresse griff das Foto auf und nahm es zum Anlass, über die Nazi-Demonstration in Schweden und die Gegendemonstration zu berichten. Bereits im Verlauf der folgenden Wochen und Monate fand eine synchrone und dann auch durch Aktivist*innen eine diachrone Kanonisierung des Protestbildes zur Netzikone statt, bei denen auch typische Schritte der Kanonisierung von klassischen Medienikonen ‘ memefiziert ’ werden. Abb. 8 Abb. 9 Bezeichnend hierfür sind die Reinszenierungen und Reenactments in Form von Zeichnungen, Street-Art-Gemälden und Bildcollagen, in denen das Foto mit anderen, bereits ikonisierten Bildern in einen direkten Zusammenhang gestellt wird: Etwa mit dem Protestbild von Jan Rose Kasmir; und auch von Ieshia Evans, deren Bildprotest zwar einige Monate später stattfand - aber mit den ersten Postings bereits als “ Netzikone ” bezeichnet und zitiert wurde. Offensichtlich hat der Bildprotest von Evans jenen von Asplund in der viralen Sichtbarkeit des Netzes überholt, was auch mit der stärkeren internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Geschehnissen in den USA verbunden sein dürfte. Während die Street-Art-Bilder und Zeichnungen die künstlerische Kanonisierung zur Netzikone vorantreiben, werden auch typische Kanonisierungsschritte von klassischen Medienikonen in der Populär- und Alltagskultur aufgegriffen. So kam es z. B. zu einem kanonischen Reenactment der Protest-Szene mit Playmobil-Figuren, das nun nicht mehr 54 Kathrin Fahlenbrach auf das kanonisierende Zitat des Unternehmens selbst warten muss, sondern von Usern mittels Bildsoftware selbst generiert werden kann. Auf ähnliche Art wurde Asplunds kämpferische Pose in einem Modeblog reinszeniert und auf Instagram veröffentlicht. 10 3.3 Memetische Aneignungen und Resemiotisierung der historischen Medienikone Ultimate Confrontation Die historische Bildikone von Rose Kasmir erfuhr gerade im Kontext der evozierten Ikonisierung der geschilderten Pressefotos von Evans und Asplund eine erneute Phase der memetischen Aneignung, in der das Foto vielseitig resemiotisierend aufgegriffen wurde. Das ikonische Protestbild diente in dieser Phase der Online-Rezeption vor allem dazu, die politisch aktuellen Symbolfotos aus der US-amerikanischen Black Lives Matter-Bewegung und der schwedischen Antifa-Bewegung in ihrer ikonischen Macht zu stärken und damit Einfluss auf die politische Meinungsbildung in der Netzsphäre zu nehmen. Indem sie die historische Medienikone in ihrer tradierten symbolischen Bedeutung und als prägendes Bildereignis des Protests gegen Krieg in einen direkten Zusammenhang mit den aktuellen Protestbildern stellen, schrieben sie diesen dasselbe ikonische Wirkungspotential zu. Ab etwa 2018 folgt eine weitere bis heute anhaltende Phase der memetischen Netzrezeption von Kasmirs Foto. Auf Facebook, Twitter und Instagram lassen sich hierzu v. a. zwei markante Diskurssphären beobachten. Zum einen findet umfangreiches memoriales Zitieren und Reinszenieren des Bildes über private oder sich künstlerisch präsentierende Nutzer*innen - also dezidiert außerhalb politischer oder aktivistischer Diskurse agierend - statt. Meistens wird das Foto hier unverändert unter dem Hashtag “ #janrosekasmir ” o. ä. geposted. Begleitet wird es meist mit kurzen Texten, die an die historische Protestsituation erinnern und den Mut von Kasmir würdigen. In diesem memorialen Diskurs, der, mit Boudana et al. (2017) gesprochen, die indexikalische Verankerung der Bildikone aufrechterhält und keine dezidierte Rekontextualisierung vornimmt, findet daneben eine visuell kreative Aneignung des Fotos statt: Indem es nachgezeichnet, in dreidimensionalen Plastiken nachgebaut und abfotografiert, oder in der bereits ritualisierten Reinszenierung ikonischer Bilder durch LEGO-Bausteine darstellt wird. Abb. 10 10 Cf. https: / / www.instagram.com/ emeliewood/ , Post vom 25.09.2018. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 55 Daneben gibt es freiere Aneignungen innerhalb des memorialen Diskurses, welche die ursprüngliche kompositorische Gegenüberstellung auflösen. Oft sind es Fotos der Nutzer*innen selbst, die sich in der Pose von Kasmir, mit oder ohne Waffe und frontal zur Kamera, fotografieren. Abb. 11 Hier zeichnet sich ab, dass das Foto von Kasmir in den sozialen Netzmedien zwar als ikonisches Einzelbild zum Gegenstand memetischer Bildpraktiken geworden ist, welches die zuvor geschilderten ikonischen Bildmuster spezifisch geprägt hat. Gleichzeitig hat jedoch eine weitere schematische Reduktion stattgefunden, in der die indexikalischen Bildanker zum historischen Ursprungskontext aufgelöst werden. In dieser Resemiotisierung findet eine weitergehende symbolische Generalisierung statt: vom ikonischen Bildschema zur ikonischen Protestpose des Pazifismus. Dies machen sowohl die begleitenden Kommentare als auch die rahmenden Hashtags deutlich (u. a. “ #peacefulprotest ” ; “ #womanpower ” ; “ #pacifist ” ; “ #antiwar ” ). 3.4 Aktivistische Resemiotisierung der historischen Medienikone in der belarussischen Demokratiebewegung Die mit der memetischen Aneignung und Resemiotisierung der historischen Medienikone einhergehende Ausweitung auf ein ikonisches Bildschema wird in den Protestdiskursen um die performative Aneignung auf der Straße noch verstärkt. Dies findet besonders ausgeprägt in der politisch aktivistischen Aneignung des ikonischen Bildes in der belarussischen Demokratiebewegung statt. Die historische Protestikone wird hier direkt oder indirekt aufgegriffen und vor aktuellem politischen Hintergrund rekontextualisiert und resemiotisiert. Die Protestikone wird dabei v. a. in Form von körperlichen Reenactments in strategischen image events (cf. Delicath/ De Luca 2003) auf der Straße in Szene gesetzt, die wiederum auf die mediale und virale Verbreitung von Bildern der Protest- Performance abzielen. Wie kaum eine andere politische Bewegung ist die belarussische Demokratiebewegung in ihrer öffentlichen Wahrnehmung von protestierenden Frauen geprägt. Die Frauen setzen dabei ihren Körper gezielt als Medium wirkungsvoller image events - auf der Straße und vor den Kameras - in Szene. Dabei greifen sie auf das historisch tradierte ikonische Bildschema 56 Kathrin Fahlenbrach ‘ Frauenkörper im Protest ’ in seinen verschiedenen Ausprägungen ebenso zurück wie auf einzelne Bildelemente der Bild- und Netzikone von Jan Rose Kasmir. Abb. 12 Abb. 13 Ihre Gesten, Posen und Handlungen manifestieren also prototypische Merkmale des ikonischen Bildmusters, z. B. ‘ verletzbarer Frauenkörper ’ vs. ‘ bewaffneter Männerkörper ’ , ‘ weiblicher Pazifismus ’ vs. ‘ männliche Militanz ’ . Weitere signifikante ikonografische Elemente der historischen Bild- und Netzikone um Rose Kasmir sind zum einen die den Soldaten entgegengestreckten Blumen als Symbole des Pazifismus und Humanismus im Kontrast zu den Waffen der Männer als Symbole von Krieg und Unterdrückung. Zum anderen ist es ihr nahes Zugehen auf Polizei und Soldaten, womit sie den aggressiven Gestus männlicher Militanz und Staatsmacht mit emotionalen Ausdrücken und Posen der Zärtlichkeit, Empathie und Friedfertigkeit konfrontieren - wie dies auch das Bild von Kasmir manifestiert. Im Unterschied zu Kasmir treiben die belarussischen Demonstrantinnen diesen Kontrast noch weiter, wenn sie die Soldaten emphatisch umarmen. Memes und Netzikonen in digitalen Protestdiskursen des Web 2.0 57 Diese emotionalen Protestinszenierungen zielen offensichtlich auf breite mediale Aufmerksamkeit ab. Als strategische image events greifen sie hierzu - bewusst oder unbewusst - die prägnanten ikonischen Bildelemente des ikonischen Protestbildes von Kasmir auf und modifizieren sie. Dabei findet eine performative Resemiotisierung dieser ikonischen Elemente in der Übertragung der bildlichen Pose in körperliche Bewegung statt und wird in die konkreten situativen und lokalen Protestkontexte in Belarus eingebunden. Semiotisch nimmt hierbei vor allem die Farbsymbolik eine neue, kontextspezifische Bedeutung an: Die Frauen kleiden sich häufig in Weiß und Rot. Weiß wird hier nicht nur als Farbsymbol des Friedens eingesetzt, sondern symbolisiert in der Kombination mit Rot die Bestandteile der historischen Flagge Weißrusslands zur Zeit seiner Unabhängigkeit vor der Einbindung des Landes in den sowjetischen Verbund. Beide Farben sind damit in diesem Kontext zu einem starken Symbol des Protestes gegen das russlandnahe diktatorische Regime von Lukaschenko geworden. 11 Angesichts der symbolischen Dichte und visuellen Attraktivität der belarussischen Protestinszenierungen ist es erstaunlich, dass die Bilder in den globalisierten aktivistischen Netzsphären kaum aufgegriffen werden, obwohl sie selbst das Potential zu ikonischen Bildern und Netzikonen hätten. Vielmehr sind es v. a. journalistische Massenmedien westlicher Länder (wie die Aufnahmen von Associated Press in Abb. 13), die die Bilder der belarussischen ‘ Frauenkörper im Protest ’ in die breitere Öffentlichkeit tragen. Es wäre eine weitere Untersuchung, die Ursachen hierzu zu erkunden - wobei die diktatorische Unterdrückung des Protestes durch das Regime freilich die zentrale Ursache sein dürfte. So fällt auf, dass selbst unter Hashtags wie “ #freebelarus ” nur wenige dieser Bilder von den Aktivist*innen selbst verbreitet werden. 4 Konklusion Das diachrone Wandern ikonischer Bildmuster und ikonischer Einzelbilder durch die Öffentlichkeiten von Massenmedien, Netzmedien und lokalen öffentlichen Protesträumen zeigt auf eindrückliche Weise eine durchaus paradoxe Situation: Im Wesentlichen ist Kerstin Schankweiler (2019) zuzustimmen, dass die ikonischen Protestbilder im Web 2.0 immer stärker generische Muster ausbilden und im Streben von Aktivist*innen nach viralen Verbreitungsdynamiken auf vertraute Muster zurückgreifen, die sich häufig auch schwarmartig zu kollektiven Bildakten formieren. Der Bezug auf bereits bekannte Bilder und Bildmuster findet seine resemiotisierende Materialisierung auch im performativen Straßenprotest - im körperlichen Re-Enactment von ikonischen Bildschemata des Protests und Medienikonen auf der Straße. Die virale Genese von Protestbildern, die sogar die Ästhetik physischer Protestaktionen außerhalb des Netzes affiziert, macht die anhaltende Präsenz von singulären Protestikonen immer unwahrscheinlicher. Denn die Singularität symbolträchtiger Einzelbilder wird durch fortlaufende Reinszenierung und Vernetzung mit vorgängigen und nachfolgenden Bildern nivelliert. Schankweiler (2019: 64) spricht daher vom “ Ende des Zeitalters der Bildikonen ” . 11 Das Tragen weißer Kleidung mit roten Elementen wird vom Lukaschenko-Regime inzwischen als Aufforderung zum Staatssturz betrachtet und damit als legitimer Verhaftungsgrund. 58 Kathrin Fahlenbrach Paradoxer Weise generiert aber gerade das Web 2.0 in hoher Frequenz Netzikonen, die gerade die Aura einzelner Protestbilder zelebrieren und ihre Kanonisierung zu Netzikonen in kürzester Zeit evozieren - wie die Beispiele um Ieshia Evans und Tess Asplund zeigen. Als weitere Paradoxie kann dabei betrachtet werden, dass es in der Regel die professionell komponierten Fotos von Fotojournalisten sind, die in ihrer Symbolkraft aus den digitalen Schwärmen der Protestbilder und generischen Bildmuster herausragen und als ikonische Bilder zu symbolisch aufgeladenen Netzikonen werden - nicht die nutzergenerierten Bilder im Netz. Dies kann auch oft auf die multiplikatorischen Netzwerke eben dieser Journalist*innen zurückgeführt werden, die Protestbildern eine erste breite Sichtbarkeit verschaffen - sowohl im Web 2.0 als auch in den linearen Massenmedien. Offenbar also gilt nach wie vor, dass Aktivist*innen nicht nur die dezentralen Netzwerkdynamiken sozialer Plattformen berücksichtigen, sondern auch weiterhin die journalistische Öffentlichkeit adressieren müssen, um effektiv sichtbar zu werden. References Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. 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The aim of the paper is to trace the development of subject-object relations within circus performances and to situate them in their respective cultural-historical contexts. Based on three exemplary performance analysis, namely a traditional circus act of the Flying Tunizianis, the new circus show The Elephant in the Room by Cirque le Roux and the contemporary circus performance CHINA SERIES #5 by Julian Vogel, it will be discussed to what extent the technological transformations of objects and apparatuses in circus are interrelated to new forms of narratives and to new dimensions of semiotic structures. Keywords: Zirkus, Non-human Turn, Dramaturgie, Objekte und Apparaturen, Aufführungsanalyse, Spektakularität, Performativität, Narrativität 1 Vorbemerkungen Veränderungen der Bio- und Ökosphäre, die mit drängenden ethischen und politischen Fragen verbunden sind, erfordern im 21. Jahrhundert eine Neubewertung der Relation zwischen dem Menschen und seiner materiellen Umgebung. Materie wird nicht länger im Sinne eines passiven Kanals für menschliche Aktionen, Affekte und Wünsche verstanden. Entitäten, die im anthropozentrischen Weltbild als passive Objekte angesehen werden, wird in den sogenannten New Materialism(s) agency zugeschrieben. In der Zirkushistorie, so lautet die Kernthese dieses Artikels 1 , lässt sich der nonhumanturn, der “ als neue[s] Paradigma abendländischen Denkens ” (Folkers 2013: 17) verhandelt 1 Dieser Artikel basiert auf den Kernthesen von Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. Ein text-kontextorientiertes Modell zur Aufführungsanalyse (Trapp 2020) und auf dem von der DFG geförderten Forschungsprojekt Vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus. Objekte und Apparaturen im Zirkus (446040934). wird, eindrücklich nachverfolgen. Er markiert die Zäsuren zwischen dem Traditionellen, Neuen und Zeitgenössischen Zirkus, die in der Zirkusforschung bisher in Rekurs auf strukturelle und administrative Veränderungen, wie beispielsweise die Abwesenheit von Tieren, eine neue Generation von künstlerisch ausgebildeten Artist*innen oder die Nutzung von Aufführungsorten außerhalb des emblematischen Zeltes gesetzt werden. Während der Traditionelle Zirkus als Symbol des westlichen Anthropozentrismus gelten kann, weist der Zeitgenössische Zirkus neu-materialistische Züge auf. Ziel dieses Artikels ist es, die Entwicklung der human-non-human-Beziehungen in Zirkusperformances herauszuarbeiten und diese in ihren kulturhistorischen Kontext zu stellen. Dabei soll im Sinne des Sammelbandes hinterfragt werden, inwiefern die technologischen Transformationen der Objekte und Apparaturen im Zirkus in einem Wechselverhältnis zu neuen Formen von Narrativen und zu neuen Dimensionen der Zeichen- Bedeutungs-Kopplung stehen. 2 Ein kurzer Einblick in die Zirkushistorie: Traditioneller, Neuer und Zeitgenössischer Zirkus In Analogie zu Neil MacGregors enorm erfolgreicher populärwissenschaftlicher BBC 4- Reihe A History of the World in 100 Objects (2010) ließe sich auch die Zirkusgeschichte mithilfe der Objekte schreiben, die in Abhängigkeit von den kulturellen, technischen und politischen Errungenschaften der Gesellschaft Einzug in das Genre hielten. Mit der Gründung des (institutionalisierten) Zirkus, die in der Forschung auf das Jahr 1768 datiert wird, in dem Philipp Astley seine Kunstreitschule etablierte, wird aus pragmatischen Gründen bei der Longe-Arbeit mit Pferden die runde Manege als Bühnenform genutzt. Das Zelt als Ort der Aufführung wird unter der Regie des Amerikaners Joshuah Purdy Brown im Jahr 1825 zum ersten Mal eingesetzt (cf. Jacob 2001: 28). Mit dem elektrischen Licht erscheinen systematisch Pailletten auf den Kostümen. Der Kolonialismus führt zur Einfuhr exotischer Gegenstände und Lebewesen. Bis heute gehören die runde Manege, das Zelt, eine von Gefunkel gesättigte Ästhetik, das (wilde) Tier sowie eine große Zahl an Gegenständen wie beispielsweise die rote Nase, die alten Clownsschuhe des Augusts und der Elefantenschemel mit Sternen zu den Emblemen des Traditionellen Zirkus. Im Traditionellen Zirkus dienen die Apparaturen und Objekte vor allem der spektakulären Inszenierung außergewöhnlicher menschlicher Fähigkeiten: They could perhaps best be defined as a piece of equipment that enables the performer to demonstrate their own bodily prowess, their mastery over the object, and in addition their mastery over forces such as gravity. (Lavers, Leroux, Burtt 2019: 7) So erhält beispielsweise der Erfinder des fliegenden Trapezes in den 70iger Jahren des 19. Jahrhunderts den Status eines “ unmöglichen Körpers ” (Norman 1996: 12; Übersetzung der Autorin), denn das Gerät ermöglicht es Jules Léotard, sich im Luftraum zu bewegen - “ un mode de déplacement normalement impossible ” (Norman 1996: 12). Im Traditionellen Zirkus dominiert der Mensch die Objekte (Apparaturen, Tiere, andere Körper) in der Manege. 62 Franziska Trapp Mitte der 1960er Jahre führen gesellschaftliche und politische Veränderungen (u. a. Tierschutzbewegungen und der Einzug des Fernsehers ins heimische Wohnzimmer) zu einem Verschwinden einer großen Anzahl von Zirkussen. Gleichzeitig provozieren diese Entwicklungen einen Wandel des Kunstbegriffs und Umbrüche in Theater, Performance und Zirkus (cf. Barré 2001: 38). Mit der Gründung der ersten Zirkusschulen im Jahr 1974 von Annie Fratellini und James Grüss (cf. Barré 2001: 40) entsteht ein neues Genre, das sich von seinem traditionellen Vorgänger radikal unterscheidet. Neben dem Verzicht auf Tiernummern und einer neuen Generation von Artist*innen, die nicht länger aus Zirkusfamilien stammt, gilt die Narrativität als divergierendes Merkmal von Traditionellem und Neuem Zirkus. Mit dem Fokus auf narrative/ theatrale Gesamtzusammenhänge, die in Kurzdefinitionen wie “ circus - in its contemporary narrative-driven, animal-free form ” (Leroux 2016: 560) zum Ausdruck kommt, ändert sich auch der Einsatz der Apparaturen und Objekte. Sie sind nicht länger zentraler Teil der spektakulären Zurschaustellung der außergewöhnlichen Leistungen, sondern gestalten “ durch ihre Lage bzw. Position im Raum, ihre Ausdehnung und Form [ … ] den [dargestellten, fiktionalen] Raum mit, [ … ] eröffnen Möglichkeiten für Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen ” (Fischer-Lichte 2014a: 73) und “ geben dem Akteur eine spezifische Gestalt und - im Falle, dass er eine dramatische Figur spielt - situieren diese in einer bestimmten Zeit und einem spezifischen Milieu ” (Fischer-Lichte 2014a: 74). Im Unterschied zum Theater aber werden die Objekte im Zirkus nicht hinsichtlich ihrer “ praktischen, performativen und semiotischen Funktionen ” (Fischer-Lichte 2014a: 74) ausgewählt, sondern existieren bereits vor der Ausgestaltung des jeweiligen Stückes und müssen sich dementsprechend in den jeweiligen narrativen Gesamtzusammenhang einfügen. Dies führt im Neuen Zirkus einerseits zu einem zunehmend metaphorischen Einsatz von Apparaturen (z. B. Cyr Wheel als metaphorisches ‘ Rad in der Maschinerie ’ in Cirque Eloize ’ s Cirkropolis), andererseits werden die Objekte in ihrer Erscheinung den jeweiligen fiktionalen Räumen angepasst (z. B. Kronleuchter statt Trapez in Cirque du Soleil ’ s Corteo) und die Zirkustechniken dementsprechend weiterentwickelt. Im Zeitgenössischen Zirkus, dessen Beginn in der Forschung auf das Jahr 1996 datiert wird, verändert sich die Subjekt-Objekt-Beziehung erneut: So ist es nicht länger der menschliche Körper, der das Objekt dominiert. Dieser Paradigmenwechsel zeichnet sich bereits im Proben- und Kreationsprozess ab. Ziel ist nicht mehr die Perfektionierung der Zirkustechnik, sondern vielmehr die künstlerische Forschung rund um das Objekt in Abhängigkeit vom jeweils gewählten Kontext. Dies führt zu einem Fokuswechsel vom performenden Körper zur Beziehung zwischen Körper und Material. Darüber hinaus werden “ klassische ” Apparaturen zunehmend durch (Alltags-)Dinge (z. B. Wes Peden: Water on Mars, Instromento de ver: 23 Fragmentos desses Últimos dias), Naturmaterialien (z. B. Amer I africa circ cia: Enva; Cie Libertivore: Fractales), Müll (z. B. Phia Menard: L ’ après midi d ’ un foehn) und formbare/ veränderbare Materialien (z. B. Jimmy Gonzalez: Clay; Les Filles du Renard Pâle: Resiste) ersetzt und Apparaturen mit neuen Funktionen kreiert, die die Erwartungen, die Rezipient*innen an konventionelle Zirkusapparaturen stellen, hinterfragen (z. B. Ockham ’ s Razor: Tipping Point; Alexander Vanthournout: Screws). Diese Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 63 Veränderungen sind Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses: Zirkus wird nicht länger durch den Einsatz zirkusspezifischer Apparaturen wie beispielsweise das Trapez, das Hochseil oder die Jonglage-Keulen definiert, sondern auch durch den spezifischen, zirzensischen Umgang mit (Alltags-)Dingen. Grundkräfte wie beispielsweise die Schwerkraft werden nicht länger als etwas inszeniert, das es zu überwinden gilt. Vielmehr wird unterstrichen, dass Bewegung nur in der Interaktion mit den Naturkräften möglich ist. Die Performances des Zeitgenössischen Zirkus erhalten damit eine politische Dimension, die u. a. aktuelle Diskurse zur Ökopolitik und zum Posthumanismus umfassen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Zirkus als metakultureller Diskurs (cf. Bouissac 1976: 7 f.) seit seinem Bestehen technische und gesellschaftliche Entwicklungen hyperbolisch aufgreift. Parallelen zwischen der Hochphase des Anthropozentrismus und der des Traditionellen Zirkus zu Zeiten der Industriellen Revolution sowie Analogien zwischen dem Interesse an Neuen Materialismen und der zunehmenden Etablierung von Zeitgenössischem Zirkus in der internationalen Kunst-, Kultur- und Theaterszene des beginnenden 21. Jahrhunderts lassen auf eine starke Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Norm und Zirkus schließen. Die Entwicklungen der human-non-human- Beziehungen muss also in ihrer Interdependenz mit gesellschaftlichen Transformationen und neuen Formen von Narrativen betrachtet werden. Dennoch koexistieren heute alle drei Zirkusformen. 3 Zirkusperformances: Struktur-Funktions-Einheiten und Zeichen- Bedeutungs-Kopplungen Wie aber lassen sich diese Entwicklungen mit Blick auf die Zeichen-Bedeutungs-Kopplung innerhalb der Zirkusperformances beschreiben? Inwiefern stehen die technologischen Transformationen der Objekte und Apparaturen im Zirkus in einem Wechselverhältnis zu neuen Formen von Narrativen und zu neuen Dimensionen der Zeichen-Bedeutungs- Kopplung? Diese Fragen sollen im Folgenden anhand von drei exemplarischen Aufführungsanalysen erörtert werden. Als theoretische Grundlage wird dafür ein Beschreibungsmodell genutzt, das Starzak und Gutjahr in ihrem Band Das Literarische Zeichen (2018) in der Tradition von Lotman und Barthes für literarischer Texte entworfen haben. Dieses wird im Rahmen des Artikels mit Blick auf die Charakteristika des Zirkus angepasst und weiterentwickelt. Starzak und Gutjahr verstehen literarische Texte als Struktur-Funktions-Einheiten und verabschieden sich damit von den geläufigen Inhalt-Form-Modellen. Damit ein solches [Text]modell als Beschreibungsmodell funktionieren kann, muss nun geklärt werden, aus welchen Einheiten oder Elementen [Texte, oder in unserem Fall Zirkusperformances, Anmerkung der Verfasserin] bestehen und welche grundsätzlichen Beziehungen diese Einheiten untereinander eingehen können. (Starzak und Gutjahr 2018: 42) Im Falle von Zirkusstücken nehmen wir im Folgenden vier verschiedene Elemente an. 64 Franziska Trapp Performative Ebene (P) Diegetische Ebene (D) Bedeutungsebene (B) Spektakuläre Ebene (S) Abb. 1: Die Ebenen des zirzensischen Textes 2 Performative Ebene: Struktur zirzensischer Zeichen, Phänomenaler Leib der Artist*innen und nicht-menschlichen Entitäten Die erste konstituierende Einheit der Struktur-Funktions-Einheit in Zirkusperformances ist wie in allen Performances die Ebene der syntagmatischen Zeichen. Zu dieser Ebene zählen neben linguistischen Zeichen paralinguistische, mimische, gestische und proxemische Zeichen, Geräusche, Musik, Maske, Frisur, Kostüm, Raumkonzeption, Dekoration, Beleuchtung 3 und Zeichen der Bewegung. Hinzu kommt in zirzensischen Texten auf dieser Ebene das Merkmal der leiblichen Präsenz von Akteur*innen, Zuschauer*innen und nichtmenschlichen Entitäten, das jeglicher Aufführungssituation inhärent ist: For it is always real spaces where performances take place, it is always real time that the performance consumes, and there are always real bodies which move in and through the real spaces. (Fischer-Lichte 2008: 84) Für Aufführungen gilt nach Fischer-Lichte, dass “ der ‘ produzierende ’ Künstler nicht von seinem Material abgelöst werden kann. Er bringt sein ‘ Werk ’ [ … ] in und mit einem höchst eigenartigen, ja eigenwilligen Material hervor: mit seinem Körper ” (Fischer-Lichte 2004: 129). Wir bezeichnen diese Ebene als Performative Ebene. Spektakuläre Ebene: Struktur technischer Konfigurationen (attraktive Zeichen) Darüber hinaus wird in Zirkusstücken eine Spektakuläre Ebene etabliert. Die Zeichen auf der Performativen Ebene führen in ihrer Kombination dazu, dass sie die Attraktivität und Spektakularität der Darbietung unterstreichen. Eine Besonderheit der Spektakulären Ebene im Zirkus besteht darin, dass sie stets auf die Performative Ebene zurückverweist, oder genauer: auf die Phänomenalität der Performance und die leibliche Präsenz der Artist*innen und nicht-menschlichen Entitäten. Dies liegt darin begründet, dass Zirkusdarbietungen einen besonders hohen Grad an Emergenz, d. h. eine “ Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen ” (Fischer-Lichte 2014: 90) aufweisen. Das Vorkommen emergierender 2 Die graphischen Modellierungen entstammen Trapp (2020). 3 Zu den theatralischen Zeichen siehe Fischer-Lichte (2007: 28). Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 65 Elemente unterstreicht Fischer-Lichte zufolge stets die Phänomenalität der Aufführung. Diegetische Ebene: Struktur künstlerischer Konfigurationen (künstlerische Zeichen) Die Zeichen der Performativen Ebene können “ auf Inhaltsebene die Darstellung einer Welt (Diegese) mit Raum, Zeit, bestimmten Gesetzen, topographischen Gegebenheiten und Figuren, die bestimmte Handlungen ausführen ” (Fischer-Lichte 2004: 19) ergeben. Diese Ebene wird im Folgenden Diegetische Ebene genannt. Bedeutungsebene: Feld möglicher Bedeutungen (Bedeutungspotential) Eine weitere Ebene von Zirkusperformances nennen wir die Bedeutungsebene. In Anlehnung an Lotman (1993) gehen wir hier von einem Verständnis von Kunst und auch Zirkus als sekundärem modellbildendem semiotischen System aus. 4 Transformationen Nun gilt es anhand eines close readings von konkreten Beispielen zu hinterfragen, welche grundsätzlichen Beziehungen diese Einheiten im Traditionellen, Neuen und Zeitgenössischen Zirkus untereinander eingehen, um diese vor dem Hintergrund von technologischen Transformationen und neuen Formen von Narrativen zu beleuchten. Für dieses Anliegen wurden bewusst drei aktuelle Zirkusdarbietungen gewählt, um zu unterstreichen, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Traditionellem, Neuem und Zeitgenössischem Zirkus nicht um historische Unterteilungen handelt, sondern um Klassifizierungen auf Basis der spezifischen semiotischen Struktur der Darbietungen. 4.1 Spektakularität im Traditionellen Zirkus: Die Flying Tunizianis Als Beispiel für die Analyse der Zeichen-Bedeutungs-Kopplung im Traditionellen Zirkus dient die Darbietung der südamerikanischen Cie. Flying Tuniziani am fliegenden Trapez, die beim 44. Zirkusfestival (2020) von Monte Carlo mit dem Goldenen Clown ausgezeichnet wurde. An zwei langen Flugbahnen zeigen vier Frauen und fünf Männer spektakuläre Tricks: u. a. zwei dreifache Saltos, eine doppelte Passage, den zweifachen gestreckten Salto mit zweifacher Pirouette an Füßen gefangen und einen vierfachen Salto. Die Frauen sind in pinken Hotpants und enganliegenden Achselshirt-Blusen mit weißem, mit Pailletten bestücktem, Kragen gekleidet. Auf den Blusen wurden schwarze Hosenträgerapplikationen angenäht. Die Haare sind geschmückt mit Federschmuck. Die männlichen Flyer tragen blaue, körperbetonte Leggins und weiße Achselshirts mit schwarzer Knopfleiste, Hosenträgern und Perlenapplikationen am Kragen. Die Fänger sind mit lilafarbenen Leggins ausgestattet. Die beiden Trapeze der Flyer sind an den Seiten mit Pailletten verziert. Die Darbietung startet mit der Animation des Publikums zum Klatschen. Musik (dominante Trompeten) erklingt. Der Schlag auf das Becken markiert das Gelingen eines Tricks. Trommelwirbel und bittende Blicke in den Himmel (wie z. B. vor dem vierfachen Salto) verweisen auf die Schwierigkeit des darauffolgenden Tricks. Die gesamte Darbietung ist babylonisch (cf. Guy 2001: 17), d. h. nach Schwierigkeitsgrad gestaffelt. Damit liegt der Fokus in der Darbietung der Flying Tunizianis auf der Etablierung der Spektakulären Ebene. 66 Franziska Trapp Die Zeichen auf der Performativen Ebene führen in ihrer Kombination dazu, dass sie die Attraktivität und Spektakularität der Darbietung unterstreichen. Diese besteht Bouissac zufolge in Zirkusdarbietungen darin, dass die Außergewöhnlichkeit der Leistung hervorgehoben wird: An acrobat ’ s survival demonstrates biological superiority. [ … ] An acrobat increases and accentuates the difference between his behavior and the norm by the name he chooses, the costume he wears, and the smile of ease with which he ends his exercises. [ … ] The spectator grasps these ‘ values ’ so well that he spontaneously considers the acrobat ‘ another sort ’ of being. (Bouissac 1976: 45) Unterstrichen wird die Spektakularität jeglicher Aktion. Diese Art von Inszenierung sorgt dafür, dass Zirkus als risikoreich wahrgenommen wird: The public perception of circus is that performers take risks - an impression heightened for audiences by the promotion, staging, music, ring person ’ s delivery, and costumed identities of performers. These cumulative elements, and action that fakes failure on occasion, theatrically generate an impression of danger in performance and confirm the possibility of failure which enhances the contradictory tension for audiences between holding the expectation of an accident and wishing to avoid witnessing one. (Tait 2016: 529) Relevant ist in diesem Zusammenhang die inszenierte Ästhetik des Risikos, 4 nicht das tatsächliche Risiko in Form von realer Gefahr oder als mögliches Misslingen von Tricks. 5 Im Abb. 2: Die Flying Tunizianis beim 44. Zirkusfestival von Monte Carlo, Foto: Stefan Nolte 4 Zur Ästhetik des Risikos siehe Trapp (2020: 56 f.). 5 Zur Vertiefung der verschiedenen Ausprägungen von Risiko im Zirkus siehe Goudard 2005 und 2010. Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 67 Zirkus ist jede Aktion auf die sichere Durchführung von Tricks ausgelegt. Erst durch spezifische dramaturgische Strategien wird die Kategorie von Gelingen oder Misslingen in traditionellen Zirkusdarbietungen zum Schlüssel der Rezeption. Dieses Verfahren unterstreicht nicht nur die außergewöhnliche Leistung der Artist*innen, sondern legt auch die Entstehungsbedingungen der Zeichen offen, d. h., es wird auf die Performative Ebene zurückverwiesen oder genauer: auf die Phänomenalität der Performance und die leibliche Präsenz der Artist*innen und nicht-menschlichen Entitäten. Die Rezipient*in verfolgt nicht nur die Ausführung des Tricks, sondern sorgt sich gleichzeitig auch um die Artist*innen selbst (hier spielt die Sorge um das Leben und die Sorge um das Scheitern eine gleichermaßen wichtige Rolle). In der Nummer der Flying Tuniziani wird keine Diegetische Ebene etabliert. Die Zeichen der Performativen Ebene ergeben keine Darstellung einer Welt mit Grenzen, Topographien und Figuren als Handlungsträgern. Die Zeichen auf der Performativen Ebene werden nicht hinsichtlich ihrer Bedeutung ausgewählt, sondern aufgrund ihrer Attraktivität. So dienen beispielsweise die körperbetonten, glitzernden und schillernden Kostüme der Flying Tuniziani nicht der Etablierung von Figuren, sondern der Inszenierung von Spektakularität. Mit dieser spezifischen Zeichen-Bedeutungs-Kopplung traditioneller Zirkusdarbietungen, die im Wechselverhältnis mit dem Narrativ von menschlicher Überlegenheit steht, ist ein spezifischer Einsatz von Objekten und Apparaturen verbunden: Obwohl die Trapeze der Flyer mit Pailletten geschmückt sind, bleiben sie weitestgehend im Hintergrund. Sie dienen einzig der Ermöglichung der Fortbewegung in der Luft. Das Netz wird zum Abschluss der Nummer zwar fokussiert, auch hier ist es aber ausschließlich Mittel, um weitere Sprünge und Flüge ausführen zu können. Die Apparaturen unterliegen dem Primat der Performativen und Spektakulären Ebene. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die traditionelle Zirkusshow wie die der Flying Tuniziani nicht dazu dient, einen (kritischen) Diskurs zur Überlegenheit und Dominanz der Menschheit über Tiere und Naturgewalten anzuregen. Sie ist Attraktion um ihrer selbst willen. Traditionelle Zirkusdarbietungen erfüllen keine denotative Funktion, sie verweisen nicht auf eine Bedeutungsebene. Diese ist nur post hoc zu entschlüsseln. Sie wird von außen an das Genre herangetragen. Performative Ebene (P) Spektakuläre Ebene (S) Bedeutungsebene (B) Abb. 3: Ebenen traditioneller Zirkusdarbietungen 68 Franziska Trapp 4.2 Diegesen im Neuen Zirkus: The Elephant in the Room von Cirque le Roux Wie aber ist die grundsätzliche Beziehung der Struktur-Funktions-Einheiten im Neuen Zirkus aufgebaut? Inwiefern steht diese in Wechselwirkung mit technologischen und narrativen Transformationen? Diese Frage wird im Folgenden anhand des Stücks The Elephant in the Room 6 der französischen Cie Cirque le Roux erörtert. Willkommen auf dem luxuriösen Anwesen von Miss Betty. Gefangen zwischen ihrem verzweifelten Ehemann, einem fröhlichen Trauzeugen, zwei herumstolpernden Butlern und einem lüsternen Verehrer, flieht unsere Gastgeberin von ihrer Hochzeitsfeier in eine abgeschiedene Raucherlounge. Zigarren, Whisky, Slapstick und eindrucksvolle Akrobatik verflechten sich zu einer turbulenten Liebesintrige. Versteckt in dem düster-dekadenten Ambiente, hinter Streitereien und falschen Vorwänden, steht das Ungesagte - der im Englischen sprichwörtliche Elefant im Raum - der immer mehr Platz einnimmt … (Chamäleon Theater 2022) Bereits bei der Vermarktung des Stücks, wie im vorliegenden Fall am Chamäleon Theater in Berlin im Frühjahr 2022, wird der Fokus weniger auf die artistische Leistung als vielmehr auf den narrativen Gesamtzusammenhang gelegt, damit also die Diegetische Ebene fokussiert. Diese Strategie wird im Verlauf des Stücks mithilfe spezifischer Mittel weiter unterstrichen: Erstens wird die Aufführungssituation als Teil der Handlung etabliert, das Publikum fungiert als Hochzeitsgesellschaft, Tischordnung und Service sind Element der Narration: Beim Betreten des Theatersaals des Chamäleons, der an ein klassisches Varietétheater erinnert, werden die Zuschauer*innen eingeladen, an den ihnen zugewiesenen Tischen Platz zu nehmen. Mit Beginn des Stückes schreiten die Artist*innen durch den Saal - der Einzug des Hochzeitspaares. Die Zuschauer*innen werden von der Figur des Trauzeugen, Tony, begrüßt. Der Beginn des Stückes markiert also deutlich die Diegetische Ebene. Dadurch wird der zentrale Schlüssel für die Rezeption von Beginn an offengelegt. Zweitens unterstreichen intermediale Verweise die Narrativität der Darbietung. Hervorzuheben ist dabei insbesondere die Rahmung des Stücks durch einen klassischen Stummfilmvorspann. Aber auch die Nutzung von sich wandelnden Porträts, die die Handlung vorausdeuten oder als Rückblicke fungieren, tragen dazu bei, dass das Stück in einem narrativen Frame rezipiert wird. Drittens verkörpern alle sechs Artist*innen die Kernfiguren der Handlung: Lina Romero spielt Betty Barick, die Braut, Jack McGarr tritt als John Barick, der Bräutigam, auf. Craig Gadd ist Mr. Chance, der Verehrer, Antonio Terrones y Hernandez ist Tony, der Trauzeuge, und Kritonas Anastasopoulos und Nael Jammyl spielen die beiden Butler, Petit Bouchon und Jeune Bouchon. Nicht zuletzt führt das aufwändig gestaltete Bühnenbild, das die Raucherlounge der Hochzeitfeier darstellt und mit einem großen Schreibtisch, einem Sideboard und einem Sofa ausgestattet ist, zu einer starken Präsenz der Diegetischen Ebene. Zahlreiche Details (z. B. Mustertapete) sowie sorgfältig ausgewählte Requisiten (z. B. Lampen, Geschenke, Bücher, Schnapsflaschen) dienen der zusätzlichen Ausgestaltung der Diegese und verorten diese sowohl zeitlich (1937) als auch gesellschaftlich (Bourgeoisie). 6 Das Stück wurde in den letzten vier Jahren mehr als vierhundert Mal in der ganzen Welt gezeigt. Die Show wurde 2015 für die Total Theatre Awards nominiert. 2017 erhielt die Companie den Preis Étoile du Parisien. Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 69 Nun könnte man annehmen, dass in The Elephant in the Room die Verschmelzung von Zeichen und Bezeichneten essenziell sei - eine solche Zeichen-Bedeutungs-Kopplung beschreibt Fischer-Lichte als grundlegend für das Theater des 18. Jahrhunderts, in dem die Schauspieler*innen ihren phänomenalen sinnlichen Leib so weit in einen semiotischen Körper transformieren, dass dieser instandgesetzt würde, für die sprachlich ausgedrückten Bedeutungen des Textes als ein neuer Zeichenträger, als materielles Zeichen zu dienen. (Fischer-Lichte 2004: 132) Nur die Einheit dieser beiden Elemente ermöglicht die im Theater des 19. Jahrhunderts gewünschte ästhetische Illusion (Narration und Diegese). Ich würde dem widersprechen, auch wenn die Regisseurin von The Elephant in the Room in einem Interview mit dem Chamäleon Theater Folgendes verlauten lässt: Ich möchte nicht, dass man denkt, das ist Zirkus. Nein, man hat eher den Eindruck, dass es sich um Theater handelt - und plötzlich sprudelt der Zirkus hervor. (Charlotte Salioux 2022; Übersetzung des Chamäleon Theaters) Denn trotz der deutlichen Präsenz der Diegetischen Ebene wird in The Elephant in the Room gleichzeitig eine Spektakuläre Ebene (zur Erinnerung: Die Spektakuläre Ebene verweist stets auf die Performative Ebene, d. h. die Phänomenalität der Darbietung) etabliert und deutlich markiert: Das Stück besteht aus zahlreichen Zirkussequenzen auf einem hohen technischen Niveau. Dabei sind diverse Zirkusdisziplinen vertreten, nämlich Akrobatik, Hand-to- Hand, Chinese Pole, Equilibristik, Contorsion, Magie und Teterboard. Darüber hinaus erfolgt die Unterstreichung der Zugehörigkeit des Stücks zum Genre ‘ Zirkus ’ über einen starken metazirzensischen Diskurs: Die Figur von Tony fungiert nicht nur als Trauzeuge, sondern erinnert in seiner Ansprache an den Ringmaster des Traditionellen Zirkus. Die akrobatischen Sequenzen verweisen in ihrer Multidisziplinarität auf das Nummernprogramm traditioneller Zirkusdarbietungen, der Aufbau des Stücks und der Nummern ist (traditionell) babylonisch, d. h. nach Schwierigkeitsgrad gestaffelt. Die Kostüme erinnern an die des Traditionellen Zirkus. Zahlreiche animalische Element wie der ausgestopfte Mader im Bühnenbild oder eine Orang- Utan-Sequenz als Teil des akrobati- Abb. 4: Kostüme in The Elephant in the Room von Cirque Le Roux im Chamäleon Theater. Foto: Jean Penninck 70 Franziska Trapp schen Spiels referieren auf traditionelle Tierdarbietungen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Trommelwirbeleffekte (z. B. durch Rufe), die einen spektakulären Trick ankündigen. Der zirzensische Metadiskurs dient dabei nicht als Hommage an den Zirkus, sondern vielmehr der Etablierung des Frames ‘ Zirkus ’ , der für die Bedeutungskonstitution relevant ist. Performative Ebene (P) Spektakuläre Ebene (S) Diegetische Ebene (D) Bedeutungsebene (B) Abb. 5: Ebenen neuer Zirkusdarbietungen Wie aber verhalten sich Spektakuläre und Diegetische Ebene zueinander? Als neues Zirkusstück zeichnet sich The Elephant in the Room durch einen kontinuierlichen Wechsel zwischen Spektakulärer Ebene und Diegetischer Ebene aus: Die zirzensischen Disziplinen fügen sich in die Diegese ein, tragen aber strenggenommen nicht zur Fortführung der Handlung bei. Die Handlung wird über theatrale Elemente etabliert (insbesondere durch Mimik, Gestik und Sprache). In den artistischen Sequenzen aber liegt der Fokus auf der technischen Darbietung. Die Leistungen der Artist*innen werden nicht den phänomenalen Leibern (cf. Fischer-Lichte 2004: 132) der Artist*innen zugeschrieben, sondern in erster Linie als Fähigkeiten der Figuren rezipiert, die sich in die absurde Diegese von The Elephant in the Room problemlos integrieren. Die artistischen Bewegungen der Protagonist*innen sind eine Charakteristik der dargestellten Figuren. Diese Oszillation betrifft auch die Objekte und Apparaturen im Neuen Zirkus. Mit dem Fokus auf den kontinuierlichen Wechsel zwischen Diegetischer und Spektakulärer Ebene sind diese nicht länger zentraler Teil der spektakulären Zurschaustellung von außergewöhnlichen Leistungen, sondern erfüllen praktische, performative und semiotische Funktionen, die abwechselnd dem Primat der Diegetischen Ebene unterworfen sind, oder die Spektakularität der Darbietung markieren. Dieses Verfahren soll im Folgenden anhand der Handstandequilibristik-Nummer im ersten Teil des Stücks genauer erläutert werden. In einer akrobatischen Sequenz buhlt Mr. Chance (Graig Gadd) um Betty (Lina Romero), die Braut, die ihrem Verehrer sichtlich abgeneigt ist, das Spiel jedoch mitspielt. Um seinen Avancen zu entfliehen, verschwindet sie im Sofa und bietet ihm stattdessen Elemente einer Schaufensterpuppe an. Das Sofa ist in der hinteren rechten Bühnenecke platziert. Auf diesem wird der Torso einer weiblichen Schaufensterpuppe platziert. Die Beine der Puppe sind am rechten Rand des Möbelstücks befestigt, ein Arm in seiner Mitte. Mr. Chance beginnt auf dem Mannequin seine Equilibristik der Verführung, an der Betty, um ihren Ehemann, Mr Barick (Jack Mac Garr) zu verärgern, zunehmend Gefallen findet. Durch einen Fokuswechsel mithilfe des Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 71 Spots haben die Rezipientinnen die Möglichkeit, sowohl das Geschehen auf dem Sofa als auch die Reaktionen des eifersüchtigen Ehemanns am Schreibtisch zu verfolgen. Abb. 6: Equilibristik in The Elephant in the Room von Cirque le Roux im Chamäleon Theater. Foto: Jean Penninck Welche Funktionen erfüllen nun die Apparatur und die Zirkusdisziplin im Rahmen von The Elephant in the Room? Erstens ermöglicht sie in ihrer performativen Funktion die Ausführung der zirzensischen Disziplin. Dabei werden Puppe und Sofa als Apparatur genutzt. Somit avanciert das Objekt, das zuvor eher die Rolle als “ background or stage dressing ” (Schweizer, Zerdy 2014: 6) einnahm, zur Zirkusapparatur. Da die Disziplinen und damit auch die Apparaturen aber schon vor der Kreation der Stücke existieren, müssen sie sich in den jeweiligen narrativen Gesamtzusammenhang einfügen: Die klassische Equilibristikapparatur, die normalerweise aus Stahlstangen mit rechteckigem Holzklotz besteht, wurde entsprechend der Diegese und Narration abgewandelt und in die Schaufensterpuppe integriert. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Zirkustechnik trotz Modifikation der Apparatur nicht verändert. Zweitens gestaltet die Apparatur “ durch ihre Lage bzw. Position im Raum, ihre Ausdehnung und Form ” (Fischer-Lichte 2014 a: 73) den graphischen Raum mit und unterstreicht sowohl die Vertikale (als zentrales Element zirzensischer Darbietungen, insbesondere auch der Handstandequilibristik) als auch die Horizontale. Diese graphischen Elemente werden im weiteren Verlauf des Stücks durch diverse Objekte und Apparaturen (Vertikale: z. B. Chinese Pole, Lampen, Zigarette; Horizontale: Teeter-Board, Lampen, Obsttablett, Schreibtisch) unterstrichen. 72 Franziska Trapp Auf ästhetischer Ebene ermöglicht die Schaufensterpuppe damit einen Metadiskurs: Die Körperformen, die bei der Contorsion und Equilibristik entstehen, werden durch das Mannequin reproduziert und durch den Einsatz von High-Heels noch verstärkt (Verlängerung der Extremitäten und damit der horizontalen und vertikalen Strukturen). Auch der Schattenwurf verstärkt diese Impression. Der Metadiskurs unterstreicht die Spektakuläre Ebene, die stets auf die Performative Ebene verweist. Drittens erfüllt die Puppe semiotische Funktionen, die der Diegetischen Ebene zuzuordnen sind. Sie fungiert als Stellvertreterin für die Figur Betty und reproduziert damit (i) Bettys weibliche Körperformen. Durch den Fokus auf die Parallelität zwischen Betty und Puppe wird dabei ein gesellschaftskritischer Diskurs eröffnet, der die Objektifizierung der Frau demonstriert. Figur und Objekt, human und non-human, werden vermischt. Darüber hinaus dient das Mannequin (ii) als Marker der Oszillation von Präsenz und Absenz, die für die Dramaturgie des gesamten Stücks fundamental ist: der sprichwörtliche Elefant im Raum. Abhängig davon, ob die Puppe als Bettys Stellvertreterin oder als zusätzlicher weiblicher Körper im Raum gelesen wird, bleibt offen, ob es tatsächlich zum sexuellen Akt zwischen Betty und Mr. Chance kommt. Weiterhin fungiert die Puppe (iii) als Metapher für Fragmentierung und Ver-Rücktheit, der die gesamte Narration des Stücks unterworfen ist. Schließlich erfüllt die Equilibristik (iv) die Funktion der Vorausdeutung auf die Szene, in der Betty (Lina Romero) tatsächlich nackt auftritt. Abb. 7: Teeterboard in The Elephant in the Room von Cirque le Roux im Chamäleon Theater. Foto: Jean Penninck Die Multifunktionalität der Objekte und Apparaturen wird im weiteren Verlauf des Stücks aufrechterhalten. Auch in der Teeterboard-Nummer - im Anschluss an die Pause - dient die Apparatur, unterstrichen durch strukturgebende Lampen und eine Obstpallette, als Marker der graphischen Horizontale und Vertikale und als Mittel der Fokussierung der Spekta- Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 73 kulären Ebene. Sie ist auf Diegetischer Ebene aber auch eine Metapher für die Imbalance in den dargestellten Beziehungen und Marker der Oszillation zwischen Präsenz und Absenz. Abb. 8: Chinese Pole in The Elephant in the Room von Cirque le Roux im Chamäleon Theater. Foto: Jean Penninck Gleiches gilt für den Chinese Pole, der zum Ende des Stücks nicht nur zur Ermöglichung der artistischen Leistungen eingesetzt wird. Er kann auf Diegetischer Ebene in Kombination mit den darüber hinaus gewählten Zeichensystemen als Phallussymbol gelesen werden: Die Obstkostüme in dieser Nummer markieren die Objektifizierung der Figuren, die zu einem Teil des Bühnenbildes avancieren. Sie sind Symbol der Fruchtbarkeit, das in der Hyperbolität des Stücks so weit ausgedeutet werden kann, dass das Auftrennen von Bettys Rock als Einreißen des Jungfernhäutchens gelesen werden kann. Ohne an dieser Stelle weiter ins Detail gehen zu wollen ist zusammenfassend festzuhalten, dass der Einsatz der Apparaturen und Objekte in The Elephant in the Room fundamental der Zeichen-Bedeutungs-Kopplung neuer Zirkusstücke unterworfen ist. Der 74 Franziska Trapp Wechsel zwischen Spektakulärer und Diegetischer Ebene in der Rezeption ist damit keineswegs auf die Akteur*innen beschränkt, sondern betrifft ebenso die im Stück eingesetzten nicht-menschlichen Entitäten, die abwechselnd in ihrer graphischen, performativen (metazirzensischen) Funktion und ihrer semiotischen (narrativen und diegetischen) Funktion gelesen werden. Beim Ausführen des zirzensischen Tricks dient die Apparatur als Marker des Spektakulären, beim Verfolgen der Narration (mithilfe von theatralen Einschüben) als Metapher oder Symbol. 4.3 Interdependenz im Zeitgenössischen Zirkus. CHINA SERIES #5 von Julian Vogel Wie aber verändert sich die Zeichen-Bedeutungs-Kopplung in Abhängigkeit zu neuen Formen der Narration und zum Einsatz von Apparaturen und Objekten im Zeitgenössischen Zirkus? Für die Bearbeitung dieser Frage soll exemplarisch das Stück CHINA SERIES #5 7 von Julian Vogel herangezogen werden. CHINA SERIES ist eine Serie an künstlerischen Recherchen rund um das Diabolo und das Material ‘ Porzellan ’ , die der Jongleur Julian Vogel seit 2017 durchführt. Es handelt sich bei dieser Arbeit um ein zeitgenössisches Zirkus- Hybrid, das in Form von Performances, Videoaufzeichnungen und Ausstellungen den Rezipient*innen dargeboten wird. CHINA SERIES erforscht und zeigt verschiedene Formen des Diabolos. Im Grunde ein simples Objekt: Zwei Schalen, verbunden durch eine Achse. Es ist ein interdisziplinäres Kunstprojekt zwischen zeitgenössischem Zirkus, Tanz, Performance und Skulptur. Die Schalen - üblicherweise aus Gummi - werden durch Keramik- und Porzellanobjekte ersetzt. Sie rollen, drehen, fliegen und zerbrechen. Im Zentrum stehen die ständige Veränderung und Bewegung von Dingen sowie die Transformation des Objekts. Die Zerbrechlichkeit von Objekten - aber auch des menschlichen Körpers - erinnert uns an die Zeitlichkeit des Seins. (Vogel 2022) So beschreib der Künstler das Projekt auf seiner Homepage. Abb. 9: CHINA SERIES #5 von Julian Vogel. Foto: Philippe Deutsch 7 Julian Vogel: CHINA SERIES, im Internet unter https: / / julianvogel.ch/ de/ [13.7.2022]. Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 75 In #5, dem fünften Teil der Serie, der im Sommer 2021 beim Festival Cirqu ’ Aarau Premiere feierte, rollen auf einer Guckkastenbühne zu Diabolos zusammengeschraubte Teller an langen Fäden von rechts nach links über die mit schwarzem Tanzboden bedeckte Bühne. Zunächst ist ausschließlich der Klang zu hören, den die rollenden Objekte auf dem Boden erzeugen und der durch Lautsprecher verstärkt wird. Im Licht des Spots, der auf dem Boden von vorne die Bühne anstrahlt, sind die Seile, an denen die Objekte gezogen werden, kontinuierlich sichtbar, die Objekte treten aber erst in der Bühnenmitte in Erscheinung. Julian Vogel ist an der linken Bühnenseite platziert. Mit zunehmend ansteigender Helligkeit durch die Multiplizierung von Spots wird er immer sichtbarer. Hinter Vogel ist ein Mischpult aufgebaut. Im Verlauf des Stücks nehmen die Lautstärke, die Helligkeit und die Anzahl an rollenden Objekten zu. Das Ende markiert ein von der Decke fallendes Porzellandiabolo, das am Boden zerbirst. Bereits diese kurze Beschreibung des Stücks zeigt einen Paradigmenwechsel vom performenden Körper zur Beziehung zwischen Körper und Material, der für den Zeitgenössischen Zirkus grundlegend ist. Dieser betrifft nicht nur wie im vorliegenden Fall Jonglage-Darbietungen, sondern ist in allen Disziplinen vorzufinden. Er ermöglicht es, Bedeutung nicht länger (dominant) in Rückgriff auf theatrale (Hilfs-)Mittel wie Kostümierung oder Bühnenbild, sondern durch die Nutzung der systemeigenen Mittel, also der Zirkustechnik selbst, zu konstituieren. Somit liegt der Fokus nicht mehr auf dem Wechsel zwischen Diegetischer und Spektakulärer Ebene, sondern auf der Verschränkung von Performativität, Spektakularität und Narrativität. In CHINA SERIES #5 werden die Performative, die Spektakuläre und die Diegetische Ebene zu einer interdependenten Funktionseinheit zusammengeführt, die Ebenen verschwimmen. Durch die Markierung von Materialität wird der Fokus auf die Performative Ebene der Performance gelegt. Im Zentrum stehen die Qualität der Bewegung, der Sound und die spezifische Oberflächenstruktur der Porzellan-Objekte, die je nach Form und Größe des Geschirrs variieren. Dabei werden alle menschlichen Sinne explizit angesprochen: Durch das Geräusch wird das Aussehen der Objekte (runde Teller, achteckige Teller, ovale Teller, Suppenschüsseln) bereits vor ihrem Erscheinen antizipiert. In Verbindung von Aussehen und Geräusch ist es den Rezipient*innen möglich, das Gefühl beim Ertasten der Oberflächenstruktur zu erahnen. Geruch und Geschmacksinn werden durch die kulturellen Aktivitäten, die mit dem Geschirr verbunden sind, angeregt. Ein Raclette Teller erinnert an gesellige Käseabende, eine antike Suppenschüssel an Großmutters Köstlichkeiten (Es wird nicht der Geschmack und Geruch des Materials antizipiert, sondern der kulturell konventionelle Inhalt.). Die Materialität der Objekte und ihr normalgesellschaftlicher Gebrauch werden also explizit markiert. Die Langsamkeit des Dargebotenen sowie Variationen mit der zeitlichen Distanz zwischen Klang und Erscheinen der Objekte legen das Augenmerk auf die Wahrnehmung von Details, die beim Umgang mit Tellern und Schüsseln im Alltag in der Regel nicht beachtet werden. Gleichzeitig ermöglicht diese dramaturgische Wahl eine Erfahrung der Unendlichkeit und Unbegrenztheit von Raum und Zeit. Auf Diegetischer Ebene steht die Anthropomorphisierung der Objekte im Zentrum. Durch die Diversität der Objekteigenschaften und die Vielfalt des Verhaltens (Bewegung, Sound) der Diabolos in Abhängigkeit zu ihrer Form erhalten die nicht-menschlichen Entitäten anthropomorphe Züge. Anstelle einer stringenten Narration wie in The Elephant 76 Franziska Trapp in the Room werden kurze Erzählsequenzen etabliert: Ein kleines Diabolo “ hüpft ” hinter einer behäbigen großen Diabolo- “ Oma ” hinterher. Ein leises, “ schüchternes ” Objekt verfolgt seine “ elegante ” Vorgängerin etc. “ Gross, klein, rund, oval, mit Henkel, gelb, grün, blau, laut oder leise - das Universum der komischen Objekte. ” (Vogel 2022), auf narrativer Ebene erhält die minimalistisch gehaltene Performance clowneske Züge. Rollend, krachend, berstend - auch die Spektakuläre Ebene ist präsent, wenn auch hier nicht in Form von menschlichem Risiko, sondern als Möglichkeit des Misslingens des Dargebotenen aufgrund der Fragilität des Materials. Diese wird durch das Klirren verstärkt, das die Diabolos beim Aufeinandertreffen mit den vorherigen Objekten auf der linken Bühnenseite erzeugen. Das Risiko des Zerbrechens ist damit kontinuierlich präsent. Durch Sequenzen, in denen Porzellanobjekte in sehr kurzen Abständen hintereinander hergezogen werden, wird die Spannung zum Ende der Performance zunehmend verstärkt. Die Ästhetik des Risikos wird damit zum grundlegenden Prinzip des Verfahrens, sie wird als fundamentales Element der Bedeutungskonstitution genutzt. Man sieht gleichzeitig die Figuren (die verschiedenen anthropomorphen Diabolos) und den phänomenalen Leib (die zusammengeschraubten Teller); man verfolgt gleichzeitig die Handlung auf Diegetischer Ebene und sorgt sich um die Objekte auf Performativer Ebene. Die chiastische Verschränkung von Semiotizität und Performanz etabliert die Bedeutungsebene: Die Performance wirft die Frage nach der Relation zwischen human und nonhuman auf, die in den letzten Jahrzehnten als sogenannter non-human turn (Grusin 2015) in den Geisteswissenschaften und der Kunst omnipräsent ist. Sie umfasst eine Vielzahl an Strömungen wie z. B. den Neuen Materialismus (cf. Barad 2007; Bennett 2010; Coole, Frost 2010), den Spekulativen Realismus (cf. Harman 2018; Bogost 2012; Morton 2013), die Animal Studies (cf. Haraway 2003; Despret 2016) oder den Posthumanismus (c. f. Haraway 2013; Wolfe 2011). Sie alle eint das Interesse, entgegen der Dominanz anthropozentrischer Perspektiven nicht-menschliche Entitäten, Prozesse, Handlungsfähigkeit und Performativität in den Mittelpunkt zu stellen. Performative Ebene (P) Spektakuläre Ebene (S) Diegetische Ebene (D) Bedeutungsebene (B) Abb. 10: Ebenen zeitgenössischer Zirkusdarbietungen CHINA SERIES #5 verfolgt eine Vielzahl an Strategien, um das anthropozentrische telos zu unterlaufen. 8 Die Performance fokussiert im Titel (in der deutschen Übersetzung “ Porzellan Serien ” ) und durch ihre Dramaturgie die nicht-menschlichen Performer. Julian Vogel bleibt 8 Weitere Strategien zur Unterlaufung des anthropozentischen telos werden z. B. in Trapp, F. (2022). (De-) Center: Zum non-human turn im zeitgenössischen Zirkus. Thewis, 9(1), 114 - 126. https: / / doi.org/ 10.21248/ thewis.9.2022.115 beschrieben. Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 77 als menschlicher Artist weitestgehend im Hintergrund. Dennoch agiert er als Puppenspieler, der wortwörtlich die Fäden zieht. Abb. 11: CHINA SERIES #5 von Julian Vogel. Foto: Philippe Deutsch Hier könnte man also einwenden, es handle sich um eine klassisch anthropozentrische Performance, insbesondere auch, da die Objekte anthropomorph inszeniert sind. Wie Posner, Orenstein und Bell in ihrer Einführung zum Routledge Companion to Puppetry and Material Performance erklären, ist eine solche Lesart jedoch zu kurz gegriffen: They [the puppets, Anmerkung der Autorin] emerge as vital artistic elements at times when we question and reconceive longstanding paradigms about human beings and our relationship to the inanimate world, o ffering concrete means of playing with new embodiments of humanity. (Posner, Orenstein, Bell 2014: 3) Die Parallelität, die CHINA SERIES #5 zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Performern etabliert, ermöglicht es, die Fragilität, die nicht nur durch das Material Porzellan, sondern auch durch die Interdependenz der Performativen, der Spektakulären und der Diegetischen Ebene markiert wird, von nicht-menschlichen Entitäten auf die Relation zwischen Menschen und nicht-menschlichen Entitäten auszuweiten. Die veränderte Zeichen-Bedeutungs-Kopplung ist damit auch Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses: Zirkus ist Kunst und hat das Potential zu gesellschaftlichem Umdenken anzuregen. 78 Franziska Trapp 5 Conclusio und Ausblick. Transformationen der Semiotik? Nun gilt es, zuletzt in aller Kürze zum Aspekt des Wandels auch in der theoretischen Perspektive Stellung zu nehmen. Während Pioniere der New Materialism(s) wie Karen Barad (2015) und Sara Ahmed (2008) den Neuen Materialismus als Gegenposition zu der auf Sprache ausgerichtete Semiotik verstehen, ist es Anliegen dieses Artikels vorzuführen, dass der Neue Materialismus die Semiotik keineswegs ablöst. Weder schließt die Semiotik Objekte aus (cf. Loch 2009: 43 f.), noch bleiben die Zeichenfunktion und das diskursive Potential von Objekten im Neuen Materialismus unberücksichtigt. The new materialism commits not only to acknowledging matter as agential but also to acknowledging matter as discursive, though not linguistic, unsettling the precedent prioritizing of “ language ” as the sole or primary means to think about meaning-making. (Schneider 2015: 7) Gerade auch mit Hilfe von semiotischen Beschreibungen und semiotischen Modellierungen ist es möglich, Entwicklungen wie den Paradigmenwechsel vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus aufzuzeigen und das Wechselverhältnis von technologischen Transformationen der Objekte und Apparaturen im Zirkus zu neuen Formen von Narrativen und neuen Dimensionen der Zeichen-Bedeutungs-Kopplung sichtbar zu machen. Traditionelle Zirkusdarbietungen basieren fundamental auf der Etablierung einer Spektakulären Ebene, eine Diegetische Ebene wird nicht geschaffen, die Bedeutungsebene ist ausschließlich post hoc zu entschlüsseln. Der Einsatz von Objekten und Apparaturen ist dieser Zeichen-Bedeutungs-Kopplung unterworfen. Objekte und Apparaturen ermöglichen die Zurschaustellung ungewöhnlicher menschlicher Fähigkeiten. Dahingegen zeichnen sich Stücke des Neuen Zirkus durch den kontinuierlichen Wechsel zwischen Spektakulärer Ebene und Diegetischer Ebene aus. Die Objekte unterliegen abwechselnd dem Primat der Spektakulären Ebene oder der Diegetischen Ebene, was zu einem erhöhten metaphorischen Einsatz von Objekten und zu einer Anpassung der Apparatur an die Diegese führt. Im Zeitgenössischen Zirkus ermöglicht es die Interdependenz der Performativen, Spektakulären und Diegetischen Ebene, Bedeutung nicht länger (dominant) in Rückgriff auf theatrale (Hilfs-)Mittel wie Kostümierung oder Bühnenbild, sondern durch die Nutzung der systemeigenen Mittel, der Zirkustechnik selbst zu konstituieren. Der Fokus liegt hier auf der Relation zwischen dem Menschen und der Apparatur. Mithilfe der semiotischen Beschreibung und Modellierung lässt sich somit aufzeigen, dass sich anhand der Paradigmenwechsel in Zirkusstücken der material oder non-human turn eindrücklich nachverfolgen lässt. Darbietungen des Traditionellen Zirkus können als Symbole des westlichen Anthropozentrismus gelesen werden, während der Zeitgenössische Zirkus die Diskurse rund um die Neubewertung der Relation zwischen dem Menschen und seiner materiellen Umgebung aufgreift. Damit zeigt sich auch, dass die Forschung zum Zirkus keineswegs auf zirkusspezifische Erkenntnisse beschränkt ist. Durch die Charakteristik des Zirkus als metakultureller Diskurs und hyperbolische Kunstform hat die objektorientierte Forschung zum Zirkus das Potential, allgemeine Einblicke in den gesellschaftlichen Umgang mit nicht-menschlichen Entitäten zu geben. Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus 79 References Ahmed, Sara 2008: “ Open Forum Imaginary Prohibitions ” , in: European Journal of Women ’ s Studies 15.1 (2008): 23 - 39 Barad, Karen 2007: Meeting the universe halfway. 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In such cross-media phenomena on the children ’ s and youth book market, a new quality is increasingly achieved, because the narrative and fictional as well as the fictitious factual are supplemented by moments of the performative and interactive up to the ludic. In certain cases, this also creates the potential to make children ’ s literature increasingly accessible. In this context, the essay shows how the concept of multimodality as a broad umbrella term allows us to capture forms of modal and material complexity enhancement of modern literary formats, but of children ’ s and young adult literature in particular. Since its beginnings, the field of children ’ s and young adult literature has experimented with specific media, modalities, and unusual forms and formats, using diverse and complexly combined semiotic resources and sophisticated literary-aesthetic means of design. Elements of an increasingly explicit multimodality in which recipients are playfully involved in the creation of the narrative. The aim of this paper is to give a first insight into a possible typology and an overview of the breadth of the spectrum of innovative multimodal forms of contemporary children ’ s and youth literature. Keywords: Children ’ s Literature, Young Adult Literature, Mutimodality Genre Transformation 1 Einleitung Die Romanreihe Reckless von Cornelia Funke erzählt seit 2010 in mittlerweile vier sehr erfolgreichen Publikationen eine konventionelle Fantasy-Geschichte zweier Brüder, die durch einen Spiegel in eine märchenhafte Fantasy-Steam-Punk Parallelwelt reisen, die sogenannte Spiegelwelt. Diese besteht aus Elementen, intertextuellen Bezügen und Variationen von Motiven und Stereotypen der Märchen der Brüder Grimm und folgt ganz eigenen Regeln moderner ‘ Märchenhaftigkeit ’ . Im Umfeld einer verlagsseitig vorangetriebenen crossmedialen globalen Vermarktung dieser erfolgreichen Spiegelwelt-Romanreihe erscheint 2016 eine Prequel-Erzählung mit dem bereits als interaktiv bis multimodal angelegten Titel Tauche ein in das Lebende Buch (Funke 2016). 1 Dieses “ [l]ebende Buch ” ist als reich illustrierte Publikation in einem Schuber gestaltet und liefert neben den zahlreichen Bildern und neuen Geschichten aus der Spiegelwelt auch ein auf den ersten Blick irritierendes Sammelsurium an fingierten Artefakten aus eben dieser, die die im Roman entworfene Erzählwelt nun multimodal erfahrbar machen. Darin finden sich Visiten-, Post- und Eintrittskarten, blutgetränkte Briefumschläge und vermeintlich offizielle Dokumente der Spiegelwelt-Bürokratie, vergilbte Fotos mit handschriftlichen Notizen auf der Rückseite, Landkarten der Welt, und vieles mehr. Hinzu kommt eine App, die digitales Lexikon und Spiel in einem ist. Was hier stattfindet, ist die multimodal angelegte Diversifikation des Erzählmediums über die Grenzen eines einzelnen Buches hinaus, bei der Elemente der Haptik und des Designs auf crossmediale und unkonventionelle Weise zum Einsatz kommen. Literaturwissenschaftlich lässt sich dieses Phänomen mit den Begriffen der Inter- und Transmedialität durchaus noch fassen, trotzdem erreicht das Überangebot an Semantiken in ihrer Materialität und Medialität bei solchen Phänomenen auf dem (Kinder- und Jugend-) Buchmarkt zunehmend eine darüberhinausgehende Qualität, weil das Narrative und Fiktionale sowie das fingiert Faktuale um Momente des Performativen und Interaktiven bis hin zum Ludischen ergänzt werden. Dabei ist die Kinder- und Jugendliteraturforschung wie auch die Kinder- und Jugendmedienforschung anhaltend darum bemüht, solche Phänomene methodisch und terminologisch zu erfassen. Die verschiedenen Zugriffe aus einer Perspektive von Inter-, Trans-, Cross- oder gar Multimedialität, die oft genug synonym verwendet werden, erschweren dieses Unterfangen aber beständig. Der vorliegende Artikel möchte daher vorschlagen, die zahlreichen Begriffe durch den von Hans Krah als weite Überkategorie etablierten Begriff der ‘ Multimodalität ’ zusammenzubringen, der dann greift, wenn “ sich der Text eines Mediums aus verschiedenen Zeichensystemen ” (Krah 2017: 70) konstituiert, wobei die Definition der Zeichensysteme besonders in der Kinderliteratur über die inhaltliche Ebene hinaus bis auf die Ebene der Materialität und Medialität reichen kann. Dieser bisher im oben genannten Forschungsfeld noch kaum und zumeist nur spezifisch für das Bilderbuch (Staiger 2016) gewählte Zugang stellt die Frage, ob das Phänomen einer Vielfalt von medialen Formen und Zeichensystemen nicht vielleicht besser gefasst werden kann durch einen Blick auf die zum Einsatz kommenden Zeichensysteme, Kodierungen und Modi ganz unterschiedlicher Provenienz als “ intersemiotisches Zusammenspiel ” im Sinne einer modernen Multimodalitätsforschung (Wildfeuer 2020: 50). Denn die multimodale Analyse steht “ immer genau dann im Vordergrund, wenn es um Fragen nach der Kombination von semiotischen Elementen in Kommunikationsformen und um Aspekte der Bedeutungskonstruktion durch diese Kom- 1 Crossmedialität wird hier in Abgrenzung zu Multimodalität und Transmedialität als Phänomen gefasst, das primär die Vermarktung von Artefakten umfasst, die additiv zu einem Ursprungsmedium produziert werden, damit aber die transmediale Erzählwelt dieses Mediums erweitern. Bekannt und erforscht ist dieses Phänomen in extenso am Beispiel der Wizarding World zu Harry Potter und dem Vermarktungs- und Erzähl-Komplex Disney. Der Begriff der Crossmedialität hat dabei den Vorteil, eine Abgrenzung zwischen Phänomenen auf der Makroebene der Produktion und Rezeption, d. h. dem Handlungssystem des kinder- und jugendliterarischen Feldes, und dem Symbolsystem auf der Mikroebene der Narration sowie an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Ebenen zu erlauben, in der das Phänomen der transmedialen Erzählwelt verortet werden kann, das durch eine Transgression zwischen diesen beiden Ebenen/ Systemen erzeugt wird. 84 Maren Conrad munikationsformen geht. ” (Wildfeuer 2020: 50). Sie ist entsprechend zentral für die Kinder- und Jugendliteratur, wie dies auch Michael Staiger in seinem Analysemodell für Bilderbücher bereits konzise dargestellt und auch in Verbindung zum Konzept der multimodal literacy gebracht hat (2016), die im Anschluss an Hartmut Stöckel auch als “ multimodale Kompetenz ” gelesen werden kann, die “ die Integration der verschiedenen Zeichenressourcen zu einem syntaktischen semantischen und funktionalen Ganzen ” leistet (Stöckel 2011: 45) und zunehmend im Rahmen eines multimodal turn an Bedeutung gewinnt (Staiger 2020). 2 Historische Prämissen der kinderliterarischen Multimodalität “ Betrachtet man die semiotischen Artefakte zeitgenössischer Kulturen, dann wächst der Anteil an multimodalen Texten [ … ] rapide an. Zugleich nimmt die semiotische Komplexität dieser Artefakte, die zunehmend auch interaktive Dimensionen gewinnen, immer weiter zu. ” (Siefkes 2015: 113 / cf. Bucher 2010) Dieses rapide Anwachsen gilt dabei sowohl für die Quantität und Qualität als auch für die materielle Komplexität solcher multimodalen Artefakte. Und es betrifft das Feld der Kinder- und Jugendliteratur ganz besonders. Denn die Multimodalität ist für die KJL seit ihren Anfängen konstitutiv. Mit Gina Weinkauff und Gabriele Glasenapp lässt sich hier feststellen: Seit dem 19. Jahrhundert verwendet besonders die Kinderliteratur neben Verbalsprache und Schrift fast gewohnheitsmäßig noch andere Codes [ … ]. Auch mit Blick auf die Modalität sind in besonderem Maße Medienangebote für Kinder traditionell mehrgleisig angelegt. (Weinkauff/ Glasenapp 2014: 193) Diese “ Mehrgleisigkeit ” - oder eben Mehrfachkodierung - ist also historisch konstitutiv für die Kinderliteratur. Und eine “ semiotische[ … ] Komplexität ” (Siefkes 2015: 113) lässt sich dementsprechend schon in den frühen Anfängen und Beispielen des 19. Jahrhunderts leicht entdecken: Die Spanne reicht von piktoralen, lyrisch-musikalischen Elementen und Text- Bild-Kombinationen früher Bilderbücher über museale Inszenierungen, wie diese etwa als Ausstellung auf dem Titelbild des Struwwelpeter bereits passieren, bis hin zu Formen von dreidimensionalen Pop-up-Büchern, die Theater und Bühne als wichtige Medien des 19. Jahrhunderts zitieren und Spielbüchern, die erste Formen der Interaktivität erproben. Die Multimodalität ist dabei nicht nur konstitutiv für die Kinder- und Jugendliteratur, sie ist auch ein diese beständig transformierendes Element, das die eigenen Publikationen immer wieder in einen spezifischen historischen Mediennutzungs-Kontext stellt, mithin also im Einsatz der Multimodalität einen sich zusammen mit dem jeweiligen Leitmedium ändernden Diskurswechsel vollzieht. Exemplarisch lässt sich das an frühen Sachbüchern illustrieren, die im Modus eines Museums oder Guckkastenmodells inszenieren, was sie erzählen, oder auch an Büchern, die als Pop-up-Buch Bühnen und Panoramen als Leitmedien simulieren, bis hin zu aktuellen Bilderbüchern, die mit digitalen Erweiterungen via QR-Code und/ oder App-Angeboten arbeiten. Mit dem Wechsel des Leitmediums vom Buch zum audiovisuellen und zunehmend auch digitalen und interaktiven Medium (cf. Niklas 2012: 193), ist insbesondere das Bilderbuch heute immer mehr “ Teil einer veränderten, vor allem durch audiovisuelle Medien geprägten Kultur. Es ist eingebunden in die Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 85 kulturellen Entwicklungen und Veränderungen durch Film, Fernsehen und Computer, es reagiert auf neue mediale Bildsprachen und offenere Erzählkonzepte ” (Thiele 2003b: 71) und steht damit exemplarisch für die aktuellen Genretransformationen im Feld der Kinder- und Jugendliteratur (cf. Kurwinkel 2017). Dementsprechend kann von einer Emanzipation und damit einhergehenden Mediatisierung der Kinderliteratur gesprochen werden, da moderne digitale Werkzeuge und Gestaltungsmöglichkeiten die traditionelle Buchform zunehmend erweitern (cf. Lieber/ Flügel 2009, 31). Die Kinder- und Jugendliteratur erzählt dabei seit jeher auf vielen verschiedenen Ebenen und nutzt vielfältige semiotische Ressourcen. Neue Erzählformen, wie die des Lebenden Buches bei Cornelia Funke stellen dabei die Frage, wie erzählt wird, neu und verteilen das ‘ Was ’ der Erzählung je nach verlegerischen und (print-)medialen Möglichkeiten über viele, miteinander mal mehr oder weniger verknüpfte, Ebenen, Medien und Zeichenkodes. Zu den klassischen Analysekategorien einer narratologischen Untersuchung solcher Literatur, etwa mit Genettes Blick auf Stimme, Modus und Fokalisierung kommt hier daher immer auch die Frage nach Paratext, Medium, Materialität und Modalität hinzu. Besonders in der Kinderliteratur muss die Analyseperspektive dementsprechend beständig selbst in Frage gestellt werden, da nie sicher ist, ob ein Buch in seinen Zeichensystemen und seinem Modus primär textuell, visuell oder materiell erzählt, ob es vielleicht nur multimodal mit digitalen Erweiterungen, transmedialen Erzählwelten oder anderen Transformationen funktioniert und lesbar wird. 3 Genretransformation und Potenziale der Inklusion Die Menge der semiotischen Ressourcen hat sich in diesem Zusammenhang insbesondere in den letzten zehn bis zwanzig Jahren auf dem Markt der Kinder- und Jugendbücher enorm erweitert und damit entwickelt sich auch das Potenzial für die Ebene der Perzeption konsequent weiter. Dass daher auch Aspekte der Inklusion hier neu gedacht werden können, scheint nur logisch, immerhin sind Baby- und Kleinkinderbücher einer der ersten Orte einer frühen, inklusiven Literatur, die etwa haptisch und materiell angepasst, motorisch gut blätterbar sind, große Schrift und Abbildungen aufweisen (cf. Kümmerling-Meibauer 2011). Diesen medialen Vorteil weisen klassische Kinderbücher zumeist noch nicht auf, sie zeichnen sich oft durch ihre fehlende Inklusion und mangelhafte Barrierefreiheit aus, wenn es etwa keine haptisch und materiell motorisch angepassten, gut blätterbaren Versionen, keine kostenlos additiven Hörbuchversionen mit und ohne Bildbeschreibung, keine Brailleschrift oder Fühlversion oder kontrastreiche Bildgestaltung für sehbehinderte Lesende, sowie keine Version in einfacher Sprache gibt. Eine gegenläufige, wenn auch nur marginal nachweisbare, Tendenz auf dem Kinderbuchmarkt des 21. Jahrhunderts ist die multimodal angelegte inklusive Erweiterung von Bilderbüchern, etwa um olfaktorische oder haptische Elemente, die damit auch multimodal erweitert erzählen. Eine unmittelbare Auswirkung dieser Komplexitätssteigerung auf Zeichensysteme, Zeicheninventare und Zeichengebrauch lässt sich daher insbesondere im Feld der kinder- und jugendkulturellen Formate entdecken, die sich durch die innovative Kombination semiotischer Modi und Zeichensysteme auszeichnen, welche in verschiedenen Rezeptionsformen und damit verschiedenen perzeptuellen und sensorischen Modi 86 Maren Conrad realisiert werden. Es ist daher kein Zufall, dass Multimodalität in aktuellen Formaten der Kinderliteratur unter den Bedingungen eines immer globaler und digitaler werdenden Printmarktes auch zunehmend die Themen Inklusion und Barrierefreiheit aufgreift und neu realisiert. Die Multimodalität stellt dabei die Grenzen primärer Trägermedien in Frage und weitetet diese durch die Verwendung und Kombination zahlreicher semiotischer Ressourcen zunehmend über bekannte Rezeptionsformen hinaus aus. Gesellschaftliche und kulturelle Barrieren werden so potenziell auch ausgestellt und durch die Überwindung qua Multimodalität als neue Form einer transmedialen und barrierefreien Literatur inszeniert. Diese vielfältigen und zum Teil ganz neuen Dimensionen der Literatur sind gar nicht so selten, wie man vielleicht mit Blick auf dieses erste Beispiel annehmen würde. Dies liegt etwa in neusten Publikationen für Kinder und Erwachsene mit Sehbehinderung vor, exemplarisch hier das in Schwarz- und Brailleschrift publizierte Duft- und Tast-Buch Maulwurf Max (Rhyner 2018). Aber auch das innovative, non-sequenzielle und textlose Bilderbuch Was ist denn hier passiert (Penzek 2017) zählt zu diesen explizit multimodalen Formaten. Wie genau das konkret aussehen kann, wird im Folgenden erläutert. Schon an dieser Stelle aber lässt sich festhalten, dass sich in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur nicht nur intermediale Bezugnahmen finden (cf. Kümmerling-Meibauer 2012). Vielmehr fungieren die medialen und multimodal angelegten Erweiterungen eher additiv, also als Ergänzung der semiotischen Komplexität und nicht als eigenständige Bedeutungsträger (cf. Conrad/ Michalak 2020: 5). Artefakte mit hoher semiotischer Komplexität haben dementsprechend im Feld der Kinderliteratur immer auch ein besonderes innovatives und inklusives Potenzial, denn der Akt des Lesens wird durch seine wachsende Vielfalt zunehmend inklusiver indem er nunmehr vielfältig visuell oder akustisch und sogar haptisch und olfaktorisch stattfinden kann. Im Rahmen dieser neuen Formen des Erzählens in der Kinderliteratur werden vielschichtige Dimensionen der Interdependenzen von Potenzialen der Inklusion mit Formen der Multimodalität in kinder- und jugendkulturellen Artefakten sichtbar. Diese markieren zentrale Chancen für die Realisierung von innovativen Perspektiven und zeigen neue Wege einer Kombination von expliziter narrativer Inklusion und formaler Barrierefreiheit auf, die immer auch gesellschaftliche Inklusion mit konstruiert und ermöglicht. Im Folgenden soll exemplarisch für einige neue Tendenzen des Feldes eine erste Typologie für Formen multimodaler Bücher im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Medien in den Blick genommen werden. Diese Bücher inszenieren Multimodalität explizit oder implizit und eröffnen damit oft auch Potenziale der Inklusion, durch die Ausweitung von Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi, die sie zugleich adressieren und selbstreferentiell hinterfragen. Einige Formen dieser Multimodalität aus den letzten zehn Jahren sollen im Folgenden skizziert werden, um einen ersten Überblick zu geben. Dies erfolgt anhand von vier Beispielen, wobei Michael Endes Die unendliche Geschichte als Klassiker einen Einstieg bieten soll, der insbesondere markieren möchte, wie die zunehmende Transgression des Kinder- und Jugendbuchmarktes ab den 1980er Jahren durch technische Möglichkeiten und mit dem Erstürmen der Bestsellerliste auch die Entstehung eines Marktes für solche Bücher wesentlich gefördert wurden. Dabei markiert Endes Bestseller auch einen vielbeschworenen historischen Wendepunkt in der Kinder- Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 87 und Jugendliteratur, da hier Elemente des Crosswriting ebenso integriert werden, wie auch Elemente eines sozialrealistischeren, problemorientierteren Erzählens. Die unendliche Geschichte von Michael Ende ist dabei gleich auf mehreren Ebenen wegweisend, nicht zuletzt als erstes deutsches Kinderbuch, das es auf Platz 1 der deutschsprachigen Beststellerlisten schaffte. 4 Implizite kinderliterarische Multimodalität: Michael Ende: Die unendliche Geschichte Bemerkenswert ist der Roman auch deshalb, weil er frühe Formen der Multimodalität ausbildet - das allerdings für Laienblick wie Forschung bisher unentdeckt leistet. Multimodale kinder- und jugendliterarischen Formate erweitern Formen des Erzählens, indem sie etablierte Elemente innovativ miteinander verknüpfen. Michael Endes Die unendliche Geschichte wurde bereits bei Erscheinen vor über 40 Jahren wegen ihrer formalen Innovationen als spektakuläre Idee gefeiert. Dabei war die große Besonderheit ein Element, das auf den ersten Blick eher unspektakulär klingt: Ein Farbwechsel auf der Ebene der Typografie. Der Fließtext der ersten Printausgabe war abwechselnd rot und grün. Diese gestalterische Entscheidung war kein dekoratives Element, sondern hatte eine Funktion für die Geschichte. Denn der Wechsel der Farbe markiert die zwei diegetischen Ebenen der dargestellten Welt: In der roten Schrift wurden Textpassagen präsentiert, die in der Welt von Bastian Balthasar Bux verortet sind, einer der Leserrealität nahen Alltagswelt, in der der halbwaise Held Bastian sich mit einem gestohlenen Buch - Der unendlichen Geschichte - auf dem Schulspeicher vor den Misshandlungen durch seine Mitschüler verbirgt - und liest. Die grüne Schrift markiert die Handlung in diesem Buch, in dem Bastian liest und damit die fantastische Welt Phantásiens. In dieser wird eingangs vor allem die Geschichte des jugendlichen Helden Atréjus erzählt, der nach einem Retter für seine Welt sucht - einem Menschenkind, das nach Phantásien kommt. Visionär innovativ war Die unendliche Geschichte also vor allem, weil sie jenseits von discours und histoire auf der Ebene der Typografie die zwei-Welten-Struktur ihrer Geschichte abbildete und geschickt mit Mise en abyme und zahlreichen narrativen Metalepsen arbeitete (cf. Klimek 2010). Das ist bis heute auch das zentrale Alleinstellungsmerkmal dieses Romans. Aber es gibt ein weiteres, bis heute wenig beachtetes Detail der multimodalen Gestaltung, das bereits an ganz prominenter Stelle sichtbar wird, nämlich auf der ersten Seite des Buches und das eigentlich sehr viel innovativer - zugleich aber auch weniger augenscheinlich ist - als der Farbwechsel, weshalb es bisher in der Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Gemeint sind hier die kuriosen Schriftzeichen, die das erste Kapitel des Buches einleiten und die den Lesefluss mit einer gestörten Rezeption beginnen lassen, denn die ersten Buchstaben dieses Textes sind im Prinzip nicht lesbar. Der Erzähltext, der an sie angefügt ist, erklärt die Unlesbarkeit: Diese Inschrift stand auf der Glastür eines kleinen Ladens, aber so sah sie natürlich nur aus, wenn man vom Inneren des dämmerigen Raumes durch die Scheibe auf die Straße hinausblickte. Draußen war ein grauer kalter Novembermorgen und es regnete in Strömen. (Ende 1979: 5) 88 Maren Conrad Der Erzähltext liefert damit eine Erklärung für den Effekt der Differenz, das gestörte und auf den ersten Blick irritierende Schriftbild der ersten Worte des Buches: So sieht die Schrift auf der Glastür nur aus, wenn der Blick einer betrachtenden Instanz vom Inneren des Antiquariats durch die Glastür und hinaus auf die Straße gerichtet ist. Die Erzählinstanz markiert mithin die im Moment des Beginns der Geschichte eingenommene Position der Lesenden als Betrachtende mit spezifischem Fokus: Sie blicken gemeinsam mit der Erzählinstanz aus dem trockenen, warmen Inneren des Antiquariats durch die Antiquariatstür von Karl Konrad Koreander nach draußen in den Regen - und erwarten die Ankunft des Helden. Die in Spiegelschrift gedruckten Buchstaben simulieren eine fiktive räumliche Perspektive. Erzeugt wird dadurch eine spezifische Raumsemiotik von ‘ Innen ’ und ‘ Außen ’ , die visuell inszeniert wird. Die Typografie ist hier also kein unsichtbarer Zeichenträger, der lediglich Lesbarkeit gewährleistet, sondern die gespiegelte Schrift erzeugt Räumlichkeit, Plastizität und Dreidimensionalität (cf. Vach 2017). Sie bringt die Perspektive der Lesenden ebenso mit hervor wie die Topografie der Geschichte und greift zusätzlich zu den Mitteln einer filmischen Semiotik - beschrieben wird der Blick durch die vom Regen nasse Tür, die stereotyper nicht beschrieben werden könnte mit “ die Tropfen liefen am Glas herunter ” (Ende 1979: 5). Dieser Blick nach draußen ist ein Topos der Filmnarration, der den Lesenden aller Altersgruppen bekannt sein muss: Er kodiert eine Kameraperspektive, von innen nach außen und eine klassische Schuss-Gegenschuss-Montage zum nahenden Helden. Bei dieser multimodal angelegten Perspektive einer typographisch realisierten filmischen Semiotik bleibt es aber nicht, vielmehr wird die Spielart der Zeichenressourcen und ihrer Kombinationen innerhalb der Typografie noch komplexer, wenn ebendiese ersten Worte in Kapitel 12 zurückkehren als Zitat in der Intradiegese in Phantásien. Dort liest die intradiegetisch-paradox angelegte Erzähler- und Chronistenfigur, der Alte vom Wandernden Berge, der Kindlichen Kaiserin den Anfang von Die unendlichen Geschichte vor - das Buch im Buch (cf. Lötscher 2014) und damit auch das hier eingangs zitierte Kapitel 1 mitsamt der einleitenden Spiegelschrift. Mit der metaleptischen Grenzüberschreitung wird nun aus der einleitenden Störung aber eine neue typographische Variante einer Störung, denn auf Seite 187 steht nun in grüner Schrift über den intradiegetischen Erzähler: “ und während er schrieb, erklang zugleich seine tiefe Stimme ” (Ende 1979: 187). Daran schließt ein Farbwechsel im Buch an, der dann in roter Schrift ausführt: “ Auch Bastian hörte sie ganz deutlich. Dennoch waren ihm die ersten Worte, die der Alte sprach, unverständlich. Sie klangen etwa wie ‘ Tairauqitna rednaerok darnok lrak rebahni ’” (Ende 1979: 187). Die Typografie steht hier nun nicht mehr in Spiegelschrift und erzeugt somit keine raum- oder filmsemiotischen Perspektive mehr, sondern realisiert eine Lautschrift, die vermeintlich von Bastian Gehörtes mit Anführungszeichen zitiert. Das Buch leistet für dieses Zitat auf der extradiegetischen Ebene der roten Schrift eine Transkription der Spiegelschrift und realisiert damit nicht mehr wie zuvor den Blick durch die Glastür und auch nicht die fingiert-filmisch-visuelle Lesendenperspektive wie in Kapitel 1, sondern das, was die Figur Bastian auf der Extradiegese während seines Aktes des Lesens aus der Intradiegese heraus als Stimme des Alten hören kann. Inszeniert wird also mithin die metaleptisch angelegte akustische Wahrnehmung des Protagonisten und damit ein vollständig anderer Modus als in der Eingangsszene und damit auch eine neue Form der Differenz zu dieser. Die Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 89 Erzählperspektive wechselt über die Typografie-Entscheidung innerhalb der Diegese in den inszenierten Modus eines Hörbuchs und markiert diese Transgression durch Farbe und Lautschrift. Bemerkenswert dabei ist, dass die Schrift rot bleibt, also als extradiegetisch markiert ist und nicht zurück auf die intradiegetische Ebene, in der gesprochen wird, zurückwechselt. Das Gehörte wird mithin also durch die spezifische Farbentscheidung explizit als auf der perzeptiven Erzählebene bei Bastian verortet inszeniert. Die hier auf der extradiegetischen Ebene Bastians zitierte Stimme des Alten dringt also offenbar über das ‘ Buch-Portal ’ in seine Alltagswelt und wird dort Teil dieser Welt, was zusätzlich durch die Anführungszeichen markiert wird, die dessen Stimme als wörtliche Rede markieren. Der gleiche Inhalt wird damit zwei Mal innerhalb des Mediums Buch über seine medienspezifische Kombination von Text, Schriftfarbe, Typografie-Element und Narration in verschiedenen Modi realisiert: Zum einen als Spiegelschrift, die räumlich-visuell wahrgenommen wird und das Narrativ in filmischer Semiotik inszeniert - zum anderen als Lautschrift, die sprachlich-akustisch wahrgenommen wird und eher den Effekt eines Hörbuchs realisiert. Multimodale Texte und Artefakte entstehen durch genau solche oft sehr subtilen Kombinationen und Variationen mehrerer semiotischer Modi. Das “ intersemiotische Zusammenspiel ” (Wildfeuer 2020: 50) erscheint hier als kleine typografisch-textuelle Operation, erhöht aber die Komplexität der Geschichte und macht Die unendliche Geschichte im Jahr 1979 zu dem innovativen Gattungsexperiment und schließlich auch zum Moment einer Genretransformation, die bis heute als fest kanonisierter Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur Spuren in zahlreichen anderen Werken hinterlässt (cf. Lötscher 2014). Das vielanalysierte ‘ Buch im Buch ’ -Motiv funktioniert dabei auch deshalb so gut, weil der Roman nicht nur die Geschichte einer paradoxen Grenzüberschreitung in ein Buch hinein erzählt und diese klassisch literarisch mit Hilfe selbstreferenzieller und metaleptischer Verschränkungen der Diegesen realisiert. Vielmehr ist es insbesondere die Tatsache, dass das Buch als Medium die narrative Grenzüberschreitung auch formal mitdenkt und ganz subtil multimodal mit inszeniert, die dem Beststeller ein zentrales, für den deutschen Buchmarkt damalig hochinnovatives und doch wenig beachtetes Alleinstellungsmerkmal einbrachte. Es lässt sich hier auch die Hypothese aufstellen, dass an diesem spezifischen Punkt in der Entwicklung eines kinder- und jugendliterarischen Feldes eine lange Traditionslinie einer Schaffung von performativ und immersiv angelegten, transmedialen Erzählwelten begründet liegt, die über Verfahren der Multimodalität das Involvement seiner Leser*innen auf ein neues Level zu steigern vermag (cf. Klimek 2010). Dabei handelt es sich bei diesem frühen Beispiel noch um eine sehr subtile Form der Multimodalität, die innerhalb des Buches und semiotisch auf der Schriftebene, damit auch auf der Textebene verbleibt, ohne dass hier etwa Erweiterungen wie Bild-Text-Relationen zentral werden. Phänomene dieser Art lassen sich mit dem etablierten literaturwissenschaftlichen Rüstzeug relativ problemlos erfassen, ohne dass dafür ein neues Beschreibungsinventar nötig wäre. Trotzdem bietet es sich hier an, den Begriff der ‘ impliziten Multimodalität ’ zur Beschreibung des oben analysierten Phänomens bereits zu verwenden, insbesondere mit Blick auf die Idee, eine diachron angelegte Genese nachzuverfolgen und zugleich eine Typologie der Multimodalität zu entwickeln. 90 Maren Conrad Als implizit multimodal lassen sich in dieser Lesart also Texte bezeichnen, die ihre Wahrnehmungsgrenzen nur subtil und ‘ nach innen ’ zur Intradiegese hin markieren und keinen tatsächlichen modalen Wechsel realisieren, sondern diesen nur textuell modulieren - oder simulieren, wie eine “ absteigende Metalepse ” (Klimek 2010). Was eine implizit multimodale Inszenierung aber nicht erzeugt, sind extratextuelle, quasi aus dem Medium Buch herausweisende formale Brüche, die man mit Klimek auch als aufsteigende oder textexterne Metalepsen klassifizieren könnte (Klimek 2010). Liegen hingegen Texte vor, die im Sinne einer solchen aufsteigenden Metalepse die Grenzen ihres Mediums ganz explizit adressieren und in Frage stellen oder sogar eine Überschreitung und Interaktion mit der extratextuellen Welt simulieren, lässt sich in Abgrenzung zu der oben beschriebenen frühen Form der impliziten Multimodalität hier eine Form der expliziten Multimodalität annehmen, wie wir diese auch in der kanonischen Literatur kennen. Eines der populärsten Beispiele aus der klassischen Literatur ist hier sicherlich Tristram Shandy und die berühmte leere Seite, in der die Leser*innen aufgefordert sind, sich ein eigenes Bild von der Witwe Wadman zu machen und diese selbst zu zeichnen. 5 Explizite kinderliterarische Multimodalität: Metafiktion und Simulationen in Das Buch über uns Das Buch über uns von Mo Willems ist ein in zahlreiche Sprachen übersetztes Erstlesebuch, das genrekonventionell für einen selbstreferentiellen Text mit einem Illusionsbruch beginnt, wenn die Figuren merken - der Titel kündigt die Metalepse bereits deutlich an - , dass sie Teil eines Buches sind. Die zwei Figuren auf weißem Grund, der blaue Elefant Gerald und das rosa Ferkel Schweinchen halten sich in der ansonsten weißen Bildfläche des Buches auf und müssen plötzlich feststellen, dass sie jemand beobachtet: “ Schweinchen? - Ja, Gerald? - Ich glaube, wir werden beobachtet! ” heißt es da in den ersten Sprechblasen des Buches (Willems 2010: 4 f.). Von dem ersten Eindruck, dass es sich um ein Bilderbuch handelt, müssen geübte wie ungeübte Lesende hier rasch abrücken, denn die Art der Zeichnung - vor allem aber der Einsatz von Sprechblasen sowie unterschiedlicher Schriftgrößen und Typografien zeigen sehr deutlich, dass in dem reizarm gestalteten Buch offenbar Comic-Konventionen herrschen. Diese werden aber schon auf den ersten Seiten formal in Frage gestellt, wenn Schweinchen den Lesenden auf der Suche nach den heimlichen Beobachtern im wahrsten Sinne des Wortes “ auf die Pelle ” rückt. (Willems 2010: 6 f.). Schweinchen tritt nämlich an die Betrachter, sprich an den Buchseitenrand, heran. Unüblich für Bilderbuch oder Comic funktioniert dieses Herantreten optisch, indem Schweinchen im Bildvordergrund größer wird als der ängstliche Gerald im Bildhintergrund. Simuliert wird also - und hier findet sich eine klare Referenz zu den Erzählstrategien zu Textbeginn bei Michael Ende - erneut eine immersiv angelegte filmische Annäherung an das Objektiv einer Film- oder Fotokamera. Betont wird dieser Effekt nicht nur durch die veränderten Größenrelationen, dann wäre das Buch ja auch als reines Fenster lesbar, sondern durch die optische Inszenierung der spezifischen Linsenrundung, die durch Kameras entsteht. Schweinchens Gesicht erscheint mithin verzerrt, das Gesicht wird nicht nur größer, sondern die Nase sitzt nun riesig mitten im Kopf, während Füße und Körper lächerlich klein geschrumpft sind. Damit ist das Buch in seiner Inszenierungsstrategie aus Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 91 den Genrekonventionen des Medium Bilderbuchs und auch aus den Darstellungskonventionen des Comics hinausgetreten und wechselt kurzzeitig in den Kode der Darstellungskonventionen filmisch-visuellen Erzählens. Das bestätigt auch Schweinchen, wenn es feststellt: “ Wir werden wirklich beobachtet ” (Willems 2010: 8 f.). Die Raumbewegung Schweinchens folgt hier nun zusätzlich Modalitäten, die das Theater etabliert hat, tritt es doch an den Bühnenrand heran, worauf dann das Durchbrechen der vierten Wand folgt und die Lesenden nunmehr einen Rollentausch erfahren, sind sie doch nun plötzlich nicht mehr Betrachtende, sondern werden selbst betrachtet - mehr noch: Sie werden als Lesende erkannt und benannt, wenn Schweinchen verkündet, es sei “ ein Kind das liest! Ein Kind das UNS liest! ” (Willems 2010: 12 f., Hervorh. im Original) Dieses Wechselspiel zwischen Subjekt- und Objektebene führt in einer fast schon hierarchisch geordneten Aneinanderreihung von wachsender Komplexität (i) von der intratextuellen Erkenntnis über das eigene, als extratextuell identifizierte, Medium (ii) zum Herantreten an die Grenzen eben dieses Mediums und (iii) dann zur fingierten Interaktion mit einer extratextuellen Leseinstanz (iv) bis hin zur Erkenntnis über Form und Funktion der Interaktion von Medium und Rezeption (v) bis hin zur finalen Selbsterkenntnis der Figuren über ihre eigenen Potenziale ihrer Funktion als Figuren im Medium Buch, wenn sie titelgebend feststellen “ das ist ein Buch über uns ” (Willems 2010: 13 f.). Diese Feststellung führt wiederum zu allerlei Enthusiasmus und Begeisterung darüber, gelesen zu werden, und zu verschiedenen Spielereien. Zwanzig Seiten später aber kommt dann die wahre Selbsterkenntnis über das eigene Medium, nämlich, dass dieses Buch ein Ende hat. An genau diesem Punkt lässt sich klar erkennen, wie die Kinderliteratur die klassischen Funktionsweisen der Metalepse nutzt, um die eigene Endlichkeit zu thematisieren. Der Illusionsbruch dient hier also zum Aufbau einer fingierten Interaktion mit dem Leser und diese leistet die Einleitung einer Selbsterkenntnis, die ein Dilemma aufmacht, das einen akuten Handlungs- und Lösungsbedarf mit sich bringt: “ Dieses Buch geht zu Ende? ? ? ” (Willems 2010: 35 f.). Die Multimodalität geht dabei sogar noch über die visuelle Ebene hinaus, wenn Schweinchen beschließt: “ Ich habe eine Idee! [ … ] Ich kann das Kind etwas sagen lassen! ” (Willems 2010: 26 f.), nämlich: “ *ähem* Banane! ” (Willems 2010: 28 f.). - Kurz darauf folgt die logische Feedbackschleife und beide beginnen zu lachen, denn “ Das Kind hat Banane gesagt! ” (Willems 2010: 30 f.). Damit überträgt sich hier nun, wieder ganz ähnlich zu den Logikketten bei Michael Ende, die akustische Sensation von der extratextuellen auf die intratextuelle Ebene. An diesem kleinen und auf den ersten Blick scheinbar so einfachen Beispiel lässt sich sehr schön erkennen, wie die Komplexitätssteigerung von Multimodalität in der Kinderliteratur funktioniert, denn das Buch inszeniert hier nicht mehr wie bei der Unendlichen Geschichte eine absteigende Metalepse, sondern eine aufsteigende Metalepse, die aus dem Buch heraus eine interaktive Medienpraxis im analogen Medium simuliert und optische, akustische, später auch haptische Input-Output-Schleifen fingiert, wie wir diese von digitalen Kontexten gewohnt sind. Das Medium Buch benimmt sich hier im simulierten spielerisch-kinderliterarischen Kontext also wie ein digitales Artefakt und diese Form der Multimodalität kann im Sinne einer ersten Kategorienbildung entsprechend als explizit markiert werden, weil sie sich selbst und die möglichen Modi eines Rezeptionsvorgangs im 92 Maren Conrad eigenen Medium inszeniert und thematisiert. Auch Selbst- und Metareferenzialität spielen dabei selbstverständlich eine wichtige Rolle - wie dies auch schon aus anderen literaturwissenschaftlichen und dramentheoretischen Kontexten von der romantischen Literatur als ‘ Poesie der Poesie ’ und Ironie bis hin zum ‘ Spiel im Spiel ’ und der Durchbrechungen der vierten Wand zur Genüge bekannt ist und hier von der Kinderliteratur nur spielerisch aufgegriffen wird. 6 Explizite kinderliterarische Multimodalität: digitale Medienwechsel in Was ist denn hier passiert Explizite Multimodalität kann aber auch ohne Metafiktion oder Selbstreferenz auskommen. Dieser Fall liegt etwa in dem textlosen Bilderbuch Was ist denn hier passiert von Julia Neuhaus und Till Penzek vor, das insgesamt als innovative Publikation im Feld der textlosen Bilderbücher (cf. Krichel 2020), auch sogenannter silent books oder wordless picturebooks (cf. Bosch 2014) hervorgehoben werden kann (cf. Conrad/ Michalak 2021). Bei dem “ Bilderbuch mit zwölf Trickfilmen ” (Neuhaus/ Penzek 2017: Titel) ist schon der Titel paradox multimodal, kündigt er doch das audiovisuelle Bewegtmedium Film in dem statisch visuellen Medium Buch an und markiert eine digitale Zugänglichkeit weiterer Inhalte durch das Vorhandensein von QR-Codes. Der größte QR-Code prangt dabei bereits unmittelbar im Zentrum des Covers und führt bei Aktivierung zu einem Werbetrailer zum Buch, stimmt so mithin auf das bestimmende Gestaltungsprinzip des Buches ein. In dieser Publikation liegt sowohl eine spezifische Form expliziter Multimodalität als auch ein innovatives Erzählkonzept vor, denn das Buch sieht vor - so die ebenfalls textlose Gebrauchsanleitung auf der Rückseite des Covers - , dass die 12 Bilder im Buch, bei denen es sich tatsächlich um die Endsituation von kurzen Trickfilmen handelt, betrachtet und enträtselt werden. Es gilt also im Akt der Decodierung verschiedener Codes einer jeweils auf einer Doppelseite abgebildeten Szene, Indizien und Hinweise zu suchen, Figuren zu benennen, eine Geschichte zu erfinden, insgesamt also narrative Detektivarbeit zu leisten. Erst danach soll der neben dem Bild stehende QR-Code aktiviert werden. Dieser QR-Code führt dann online zu einem Video, das die Vorgeschichte zu dem still, d. h. der aus dem Trickfilm entnommenen Abschlussszene, des Films erzählt. Das Bild im Bilderbuch erlaubt es so, ganz ähnlich einer Computerspielstruktur, in der Cut-Scenes oder Level freigespielt werden, die eigene Narration über den vom QR-Code induzierten Medienwechsel freizuschalten. Entsprechend dem Buchtitel können die Lesenden und Rätselnden auf diesem Weg die Antwort auf die titelgebende Frage: “ Was ist denn hier passiert? ” erfahren. Diese Form der textlosen und bildwie filmzentrierten Narration fordert damit qua Aufbau eine multimodal angelegte Meta-Kompetenz der Lesenden, wie sie schon Stöckel definiert und bei der “ die Integration der verschiedenen Zeichenressourcen zu einem syntaktischen semantischen und funktionalen Ganzen ” stattfinden muss (Stöckel 2011: 45). Die Lesenden müssen dafür umfangreiche Einzelschritte begreifen; so gilt es etwa zu verstehen, dass es eine offensichtlich durch die verschiedenen Medien konservierte, zerstückelte narrative Struktur gibt, die es zu rekonstruieren gilt. Denn der Film kodiert primär die erst später offengelegten Momente von Ausgangszustand (Zeitpunkt t1) und Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 93 Transformation (Zeitpunkt t2). Diese sind im textlosen Bilderbuch Leerstellen, die es durch die Informationen zu füllen gilt, die der Endzustand (Zeitpunkt t3) im Bilderbuch als großformatiges Bild preisgibt. Das Buch ist damit non-sequenziell und verstößt gegen die ganz typische lineare Rezeptionserwartung wie das etwa aus konventionellen textlosen linearen Narrativen bekannt ist. Hinzu kommt, dass die Auflösung ebenfalls hochkomplex ist, so lautet die Geschichte zu der Endsituation, in der eine alte Dame in einem rosa Auto zusammen mit ihrem Hund über die Skyline eine Stadt fliegt und nicht sehr begeistert aussieht: Die Dame im rosa Auto wurde zuvor von einer gigantischen Affenhand von der Straße gepflückt und kommt nun als Tennisball für ein Match zwischen Godzilla und KingKong zum Einsatz. Die Vorgeschichte ist maximal phantastisch und unlogisch. Sie zu erraten ist quasi unmöglich, da schon das Verstehen des Trickfilms ein extrem breites kulturelles (Film-) Wissen und intertextuelle Kompetenz notwendig machen würde, um diese ganz erschließen zu können. Das Bilderbuch realisiert in seiner Komplexität und Fragmentarisierung eine mehr als ungewöhnliche Bedeutungsoffenheit. Dies gilt insbesondere für sein Medium und für die angegebene Adressatengruppe. Es arbeitet neben seiner Vielschichtigkeit mit den Elementen Neugier und Überraschung und setzt zentrale Ästhetiken und Kulturtechniken ein, die wir aus unserem digitalen Alltag kennen. Durch diese aus der Erzähltheorie hinlänglich bekannte Erzählschleife des missing opening frame (Wolf 2006: 297), die hier aber über einen Medienwechsel funktioniert, wird nicht zuletzt Neugier und Spannung erzeugt. Die Rezipient*innen füllen dabei die kognitive Dissonanz der fehlenden Information mit eigenem Erzählen, erwarten aber zugleich die Auflösung durch den Medienwechsel. 2 Die Multimodalität des Buches markiert daher gleich auf doppelte Weise die Grenzen beider Medien: Einen Trickfilm kann man im Gegensatz zu einem Bilderbuch nicht von hinten nach vorne lesen. Ein Buch kann keine Bewegtbilder beinhalten. Hier wird plötzlich beides möglich und die Rezeption so potenziert. Was ist denn hier passiert simuliert also Elemente einer digitalen Medienpraxis und geht in seiner ludisch-interaktiven Konstellation wieder explizit über die Grenzen des primären Mediums hinaus. Im Gegensatz zu Das Buch über uns kann hier explizite multimodale Kinderliteratur aber eben auch bedeuten, dass die in ihr angelegte Interaktion mit Elementen der non-linearen und non-sequenziellen Erzählformen in Verbindung mit einem Medienwechsel arbeitet. Sie kann so die Erschließung der Narration an die Leser*innen delegieren, ganz ähnlich, wie das etwa auch frühe Spielbücher schon leisten. Der Medienwechsel wird dann konstitutiver Teil der vollständigen Rezeption, die erst durch die Interaktion mit den Leser*innen möglich wird. In Kombination mit der Textlosigkeit der Publikation ist diese dabei auch bereits als inklusiv zu betrachten, eignet sich dieses Buch doch besonders zum Erwerb sprachlich-literarischer Kompetenzen (cf. Dammann-Thedens/ Michalak 2011) in mehrsprachigen Klassen (Conrad/ Michalak 2020). Und auch das letzte Beispiel bietet erneut eine inklusive Variante von expliziter Multimodalität. 2 Vgl. hierzu auch die Unterrichtsstudie Conrad/ Michalak und unsere Überlegungen zum Potenzial des Buches für weitere Anwendungen Winter/ Conrad/ Michalak 2021. 94 Maren Conrad 7 Explizite inklusive Multimodalität: Inklusion in Maulwurf Max Das multimodale Bilderbuch Maulwurf Max von Roger Rhyner und Illustrator Patrick Mettler ist ein “ Buch zum Fühlen und Riechen für blinde und sehende Kinder ” (Rhyner 2018: Titel). Das Buch wurde in Kooperation mit dem schweizerischen Blindenbund realisiert, ist in seiner Umsetzung einzigartig und stellt zugleich eine Steigerung der bereits erfolgreich etablierten “ Duftbuchreihe ” des Autors zum “ Geißbock Charly ” dar. In seinem Anspruch auf Inklusion ist Maulwurf Max sicherlich wegweisend, setzt diese Publikation doch vorbildhaft eine Barrierefreiheit für (Kinder-)Bücher um, wie sie die Marrakesch-Richtlinie von 2013 und das in Deutschland mit wenig Effekten realisierte “ Gesetz zur Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie ” 3 schon seit einem Jahrzehnt oft vergeblich einfordern. Die Geschichte selbst ist dabei entsprechend ihrer Zielgruppe von Kindern zwischen fünf und sieben Jahren narrativ sehr simpel. Erzählt wird aus einem Tag im Leben des Maulwurfs Max, der zwar schlecht sehen, aber sehr gut riechen und fühlen kann und der die in seiner Nachbarschaft lebenden Hühner vor einem Feuer retten kann, da nur er das Feuer rechtzeitig erschnuppert und dann durch beherztes Eingreifen alle retten kann kann. Die Kernkompetenzen des schlecht sehenden Protagonisten Maulwurf Max sind in dieser narrativ einfachen Geschichte klischeehaft, aber sinnvoll formgebend für das Buch gewählt, denn das Buch besteht nicht nur genrekonventionell aus einer Text-Bild-Kombination, sondern die Illustrationen darin sind vielmehr sowohl Duftals auch Tastbilder. Anzumerken ist hier doch bei allem Lob auch kritisch, dass die qua Tierrasse gegebene Sehbehinderung ein Element ist, das bedenklich oft in der Kinderliteratur verwendet wird, um Behinderung darzustellen, ohne Menschen mit Behinderung darstellen zu müssen. Tiere werden hierfür als qua körperlicher Beschaffenheit ‘ natürlich ’ eingeschränkt inszeniert und so die eigentliche Behinderung durch die Umgebung relativiert und marginalisiert. Die ‘ Behinderungen ’ des Tieres werden gewissermaßen als biologistisch-rassische, in den Körper eingeschriebene Eigenschaften einer spezifischen anthropomorphisierten Tiersorte naturalisiert. Innovativ inklusiv ist hingegen wie schon bei den anderen Beispielen die formale Umsetzung von Multimodalität: Die Blindheit des Maulwurfes wird klischeehaft, aber sinnvoll formgebend für das Buch eingesetzt, wenn die Illustrationen als Duft- und Tastbilder es erlauben, die dargestellte Welt mit mindestens drei Sinnen und damit in bester explizit multimodaler Weise zu erleben. Je ein Geruch pro Seite wird durch das Abfahren mit den Händen über die Seiten aktiviert und auch die Struktur, etwa des Weges, den Max durch ein Labyrinth nimmt, lässt sich haptisch nachvollziehen, während die Hände danach nach dem Rauch riechen, dessen Geruchsspur auch Max folgt. 3 Cf. Gesetz zur Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie über einen verbesserten Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken zugunsten von Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2018 Teil I Nr. 40, ausgegeben zu Bonn am 4. Dezember 2018: “ Die Marrakesch-Richtlinie (EU) 2017/ 1564 geht auf den völkerrechtlichen Vertrag von Marrakesch zurück, der 2013 im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) geschlossen wurde und dessen Ziel es ist, weltweit eine bessere Versorgung mit barrierefreier Literatur sicherzustellen. Eine weitere EU-Verordnung (EU) 2017/ 1563 regelt den Verkehr mit Drittstaaten; sie bedurfte keiner weiteren Umsetzung in deutsches Recht. ” Quelle: https: / / www.bmj.de/ SharedDocs/ Gesetzgebungsverfahren/ DE/ 2018_Marrakesch-Richtlinie.html? nn=17748 [zuletzt abgerufen: 01.08.2022]. Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 95 Die Tendenz zur Interaktivität wird auch explizit thematisiert und didaktisiert - so steht neben der Geschichte immer auch ein Rezeptionsauftrag, wie “ fühle das Labyrinth ” . Man erfühlt dabei nicht nur Raumstrukturen, sondern beispielsweise auch die Oberfläche von Erdbeeren, Zwiebeln oder einem Basketball - und die Hände riechen danach entsprechend. Diese Elemente repräsentieren damit Teile der Diegese in verschiedenen perzeptuellen Modi und einem umfangreichen und vielschichtigen “ intersemiotisches Zusammenspiel ” (Wildfeuer 2020: 50) von Text, Bild, Geruch, Struktur und Narration. Die Inszenierung der Diegese erfährt damit eine neue und vielschichtige Qualität, repräsentieren die verschiedenen Zeichencodes doch verschiedene Teile der dargestellten Welt und lassen so die Leser*innen den perzeptuellen Modus der intradiegetischen Figuren simulieren und dadurch nachvollziehen. Die Multimodalität ist im Fall von Maulwurf Max damit als nicht nur explizit, sondern als nachhaltig und engagiert anzusehen (cf. Danner 2009). Denn das Buch folgt dem Anliegen, ein Leseerlebnis zu ermöglichen, das Teil einer barrierefreien Literatur ist, die so gestaltet wurde, dass sie Lesende mit Sehbehinderung als potenzielle Rezipierende ebenso formal und narrativ inkludiert wie sehende Lesende. Die Erzählung ist zur Verstärkung dieses Effektes selbstverständlich auch als Text sowohl in Schwarzschrift als auch in Brailleschrift kodiert lesbar. Hier lohnt ein Rückblick auf die Anfänge der Multimodalitätsforschung, die in der Wahrnehmungspsychologie liegen und unter anderem von der Annahme ausgehen, dass menschliche Kommunikation niemals nur auf einer einzigen Sinneswahrnehmung oder auf dem Empfang auf nur einem Kanal beruht, sondern dass Wahrnehmung - und damit auch Rezeption und die Dekodierung von Medien und von Literatur - immer multimodal angelegt ist (cf. Bateman/ Sachs-Hombach 2019: 12). Und genau das machen die vielen Dimensionen in diesem Duft- und Tastbuch explizit. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen: Die Multimodalität ist im Fall von Maulwurf Max nicht nur explizit, sie ist auch in einem weiteren Sinne engagiert. Denn das Buch folgt dem Anliegen, barrierefreie Literatur zu gestalten, die Menschen mit Sehbehinderung - egal ob Kinder oder Erwachsene - als potenzielle Lesende sowohl formal als auch narrativ inkludiert und damit auch für Kinder ohne Sehbehinderung eine spezifische Form der alternativen Realitätswahrnehmung - im wahrsten Sinne des Wortes - zunehmend begreiflich macht. 8 Fazit Der vorliegende Aufsatz konnte nur einen kleinen Einblick in eine erste mögliche Typologie und einige wenige und verschiedene Beispiele für einen ersten Überblick bieten, in das, was die Breite des Spektrums von gegenwärtiger Kinderliteratur ausmacht, die multimodal arbeitet. Das einleitende Beispiel lässt zudem erahnen: Auch in der Jugendliteratur finden sich weitere Fälle von Multimodalität, die einer genaueren Beschäftigung bedürfen und die hier sicherlich auch das eigene Genre in den Bereich der digitalen Interaktion transformiert, wie das etwa im Fall des Beststellers Die Schmahamas-Verschwörung von Paluten aus dem Jahr 2018 der Fall ist (cf. Conrad 2021). Multimodalität erlaubt es als breiter Dachbegriff, Formen der modalen und materiellen Komplexitätssteigerung moderner literarischer Formate, insgesamt aber der Kinder- und Jugendliteratur im Speziellen zu erfassen. Besonders das 96 Maren Conrad Feld der Kinder- und Jugendliteratur experimentiert seit ihren Anfängen mit spezifischen kinderliterarisch typischen Medien, Modalitäten und ungewöhnlichen Formen und Formaten und nutzt, wie gezeigt werden konnte, vielfältige und komplex kombinierte semiotische Ressourcen und anspruchsvolle literarästhetische Gestaltungsmittel, um sich an aktuellen Leitmedien ausgerichtet, immer wieder neu zu erfinden. Elemente einer zunehmend expliziter werdenden Multimodalität sind dabei immer auch ein Mittel der Interaktion als Involvierungsstrategie, bei der Rezipierende spielerisch in die Entstehung des Narrativs eingebunden werden. In frühen Beispielen passiert das implizit - etwa über typografische Momente und absteigende Metalepsen. In aktuellen Beispielen hingegen geht es oft über diesen impliziten intratextuellen narrativen Kurzschluss hinaus und wird explizit zum Moment der Involvierung, die mit den wachsenden technischen und printmedialen Möglichkeiten immer mehr auch zu experimentellen ludisch-narrativen Formaten ausgeweitet werden kann. Erzählen wird damit an ein Moment der Kreativität und des Spielens gekoppelt. Das erzeugt dann in bestimmten Fällen auch das Potenzial, Kinderliteratur zunehmend barrierefreier werden zu lassen, was allerdings längst noch nicht ausreichend entdeckt, geschweige denn in der Textproduktion wie auch in ihrer wissenschaftlichen Erforschung ausgeschöpft ist. References Primärliteratur Ende, Michael 1979: Die unendliche Geschichte, Stuttgart: Thienemann-Esslinger Verlag Neuhaus, Julia & Till Penzek 2015: Was ist denn hier passiert? Ein Bilderbuch mit zwölf Trickfilmen, München: Tulipan Verlag Rhyner, Roger 2018: Maulwurf Max: Ein Buch zum Fühlen und Riechen für blinde und sehende Kinder, Lachen: Wörterseh Verlag Willems, Mo 2010: Das Buch über uns, Leipzig: Klett Kinderbuch Sekundärliteraturs Bateman, John A. & Klaus Sachs-Hornbach 2019: “ Multimodalität im Schnittbereich von Medientheorie und Semiotik ” , in: Zeitschrift für Semiotik 41.1-2 (2019): 11 - 36 Bosch, Emma 2014: “ Texts and Peritexts in Wordless and Almost Wordless Picturebooks ” , in: Kümmerling-Meibauer (ed.) 2014: 71 - 90. Conrad, Maren & Magdalena Michalak 2022: “ Innovatives Erzählen im Wechselspiel zwischen Buch und Bildschirm. Chancen und Grenzen multimodaler narrativer textloser Bilderbücher ” , in: MiDU. Medien im Deutschunterricht. Multimodales Erzählen im Deutschunterricht II: Schrift - Bild - Ton 2 (2020): 1 - 19. DOI: 10.18716/ OJS/ MIDU/ 2020.2.7 veröffentlicht am 07.12.2020 Conrad, Maren, Magdalena Michalak & Evelina Winter 2022: “ Textlose multimodale Bilderbücher. Potenziale und Grenzen für deren Einsatz in inklusivem Deutschunterricht ” , in: Krammer, Leichtfried & Pissarek (eds.) 2021: 184 - 202 Dammann-Thedens, Katrin & Magdalena Michalak 2011: “ Bildnarrationen als Fundament zur Vermittlung von sprachlich-literarischen Kompetenzen in mehrsprachigen Klassen ” , in: Jost, Roland & Axel Krommer (eds.) 2011: 84 - 102 Danner, Antje 2009: “ Geschichten sehen und hören. Wie unterschiedliche ästhetische Aufbereitungen von Kinderliteratur nachhaltiges Lernen fördern können ” , in: Lieber, Jahn & Danner (eds.) 2009: 84 - 92 Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 97 Genette, Gérard 2014: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. 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Bilder (aus) der DDR in Instagramposts Dennis Gräf (Passau) Abstract: The paper deals with Instagram posts that (i) originate from the past of analog photography as well as (ii) from the GDR and, using these examples, (iii) proposes a heuristic procedure for the analysis of Instagram posts that is fundamentally oriented towards a semiotic approach. On this basis, (iv) the function of old GDR images within discourses of memory is examined, and (v) the resulting conclusions regarding the relationship of analog media products to digital networks and of signs of the past to media channels of the present are clarified. Keywords: Instagram, Text-Bild-Relationen, Fotographie, DDR-Historiographie, Erinnerungsdiskurse 1 Instagram, die DDR und die Erinnerung Das soziale Netzwerk Instagram, das im Jahr 2010 von Kevin Systrom und Mike Krieger programmiert und von Apple auf den Markt gebracht und 2012 von der Facebook- Unternehmensgruppe gekauft wurde, ermöglicht den Usern Bilder zu posten, diese mit einem Kommentar (Caption) und Hashtags zu versehen und darüber in soziale und kommunikative Interaktionen zu treten. Häufig wird in diesem Zusammenhang das eigene Selbst im Sinne des self impression managements 1 einer globalen Öffentlichkeit präsentiert. Die auf Instagram geposteten Bilder stehen demnach in der Regel nahezu konstitutiv in einem Bezug zur Gegenwart, weil die Aktualität des Bildes als ein Authentizitätsmarker fungiert und die Followergemeinde über räumliche Grenzen hinweg vermeintlich in Echtzeit am Leben der postenden Person teilhaben kann. In meinem Beitrag interessiere ich mich, entgegen dieser ‘ eigentlichen ’ phänotypischen Verwendung des digitalen Dienstes, für gepostete Bilder, die (i) aus der Vergangenheit der analogen Fotografie sowie (ii) aus der DDR stammen. Es existieren zahlreiche Profile auf Instagram, die Bilder aus der Zeit der DDR posten und damit das soziale Netzwerk bzw. seine spezifischen dispositiven Möglichkeiten im Sinne der Kombination von Bild(-netzwerken), Text und Kommentarmöglichkeit als Raum öffentlicher Erinnerungspraktiken funktionalisieren. In diesem Zusammenhang möchte ich (iii) ein heuristisches Vorgehen für 1 Cf. hierzu den Sammelband von Cunningham 2014. die Analyse von Instagramposts vorschlagen, das sich grundlegend an einer semiotischen Herangehensweise orientiert. Auf dieser Grundlage interessiere ich mich darüber hinaus (iv) für die Funktion der alten DDR-Bilder innerhalb von Erinnerungsdiskursen sowie (v) für die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses von analogen medialen Produkten zu digitalen Netzwerken sowie von Zeichen der Vergangenheit zu medialen Kanälen der Gegenwart. Wenn am 26. September 2021, dem Tag der Bundestagswahl, ein Bild 2 von einer DDR- Wahl aus dem Jahr 1988 3 gepostet wird, dann ist augenfällig, dass sowohl das Bild als auch der gesamte Post in ein Verhältnis zu der an diesem Tag stattfindenden Bundestagswahl gestellt werden, die (Erinnerung an die) DDR mithin als ein Vergleichsparameter verstanden wird, der die Gegenwart der BRD, zumindest partiell, ausdeuten kann. Die Analyse der textuellen Strategien der entsprechenden Instagram-Posts ermöglicht demnach auf unterschiedlichen Ebenen Aussagen über Leistung und Funktion dieser Posts: Auf einer institutionell-sozialen Ebene lassen sich die (digitalen) Erinnerungspraktiken in Bezug auf die DDR sowie gesellschaftlich-kulturelle Selbstverständnisse rekonstruieren; auf einer semiotisch-textuellen Ebene lassen sich die medialen Modalitäten und Grundlagen ebendieser Erinnerungspraktiken rekonstruieren. 2 Methodische Annäherung an Instagramposts Die Beschäftigung mit Instagram macht zunächst die Auseinandersetzung mit dem Bild als Medium notwendig. Angesichts der Fülle methodischer und theoretischer Zugänge zum Bild aus den unterschiedlichsten Disziplinen konzentriere ich mich auf die für meine Fragestellung relevanten Zugänge zum Bild. Dabei möchte ich einerseits theoretische und methodische Zugänge für das Verständnis und die Analyse von Bildern aus einer semiotischen Perspektive fruchtbar machen, dabei andererseits die Differenz(en) sprachlicher und bildlicher Zeichen hinsichtlich ihrer (Nicht-)Diskretheit hervorheben. In diesem Zusammenhang geht es mir vor allem um eine praktikable Möglichkeit der semiotischen Bildanalyse, die in vielen eher theoriedominierten Publikationen der Bildwissenschaften 4 meines Erachtens ins Hintertreffen gerät. Die Omnipräsenz und Allgegenwart von Bildern in jeglichen digitalen Kommunikationskontexten macht eben nicht nur eine Theorie des Bildes, sondern darüber hinaus eine praxis- und alltagsbezogene und auf eine allgemeine Medienkompetenz abzielende, reflektierende Bildkompetenz notwendig. Gerade der Instagram-Kontext verdeutlicht die Relevanz einer solchen Kompetenz: Wenn dort Bilder und Posts abgesetzt werden, die gesellschaftspolitische Diskurse öffentlich bedienen, dann müssen - in Anlehnung an Stuart Halls Modell 5 von encoding und decoding - die Produzenten die Implikationen ihrer Äußerungen hinsichtlich Syntax, Semantik und Pragmatik reflektieren können, genauso wie die Rezipienten über Decodierungs- und 2 Cf. den Post unter https: / / www.instagram.com/ p/ CUSclLOozix/ . 3 Nähere Angaben zur Wahl und zur konkreten abgebildeten Stimmenauszählung macht der Post nicht. Sollte die Jahresangabe 1988 stimmen, kann es sich allerdings nicht um eine Volkskammer-Wahl (als Äquivalenz zur Bundestagswahl) handeln, da diese 1986 und 1990 stattgefunden hat. Cf. Benz und Scholz 2009: 540 - 544. 4 Beispielhaft sei hier Sachs-Hombach 2021 genannt. 5 Siehe dazu Hall 1999. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 101 Interpretationsstrategien verfügen müssen, um die Botschaften kontextualisieren und einordnen zu können. Grundsätzlich fasst die Semiotik Bilder generell als (ikonische) Zeichen auf, da “ alle Bilder [ … ] Zeichen [sind], die in Zeichenprozessen auftreten und darin bestimmte Funktionen haben ” (Posner 2003: 18); die Zeichenhaftigkeit entsteht nicht erst durch den Akt des Betrachtens und Interpretierens. Die theoretische Frage nach einem eher phänomenologischen Status des Bildes im Sinne von “ Präsenz und Wirkung des Bildkörpers ” (Frank & Lange 2010: 65) und einem eher semiotischen Status im Sinne von Zuordnungsrelationen soll hier nur insofern am Rande mitreflektiert werden, als ich meine semiotischen Instrumente mit bildwissenschaftlichen Zugangsweisen kombiniere, weil das, was Panofsky als Ikonographie und Ikonologie bezeichnet (cf. Panofsky 1978), gut mit dem in der Medien- und Kultursemiotik existenten Analyseinstrumentarium (Ikonographie) sowie der Praxis der Interpretation (Ikonologie) - zumindest latent - korrespondiert. 6 Es bestehen durchaus Differenzen, da die Medien- und Kultursemiotik die Rekonstruktion von Bedeutung im Zusammenhang mit einem konkreten medialen Produkt (hier: dem Bild) betreibt, während die (Kunstgeschichte und die - oftmals als konkurrierend wahrgenommenen 7 - ) Bildwissenschaften an Wahrnehmung als Bildakte (cf. Belting 2005: 16) interessiert sind. Gleichwohl können sich Medien- und Kultursemiotik und Bildwissenschaften wieder dort kulturwissenschaftlich treffen, wo sie über die Verortung von (konkreten) Bildern und Bildkorpora sowie ihre Funktion und Leistung in gesellschaftlichen Diskursen reflektieren. Michael Titzmann fasst das Bild als semiotische Äußerung folgendermaßen: ‘ Bild ’ soll hier jede Äußerung heißen, die (dominant) aus einer Menge visuell wahrnehmbarer, nonverbaler, räumlich geordneter Elemente besteht, (i) die durch einen selbst visuell wahrnehmbaren ‘ Rahmen ’ (Gemälderahmen, Bildrand bei Foto, Film etc.) begrenzt wird, und (ii) die in dem Sinne zeichenhaft sind, dass sie (iii) etwas im logisch-mathematischen Sinn ‘ abzubilden ’ , und/ oder (iv) etwas im semiotischen Sinn zu ‘ bedeuten ’ scheinen, und (v) die dem Betrachter simultan gegeben sind; und (vi) die invariant sind, das heißt weder sich noch ihren Ort in der räumlichen Anordnung ändern. (Titzmann 2017: 178, Hervorhebungen im Original) Titzmann unterscheidet das Bild von sprachlichen Äußerungen hinsichtlich der Kategorie der Diskretheit: Gemeint sind zum einen “ eindeutig abgrenzbar[e] Zeichen ” (Titzmann 2017: 179) als diskrete Einheiten, also beispielsweise die Wörter einer natürlichen Sprache im Zusammenhang mit sprachlichen Äußerungen. Zum anderen sind “ durch Linien, Umrisse usw. begrenzte oder nicht begrenzte Helligkeits- und Farbunterschiede ” (ibid.) als nicht-diskrete Einheiten gemeint. Für die Bildanalyse gegenüber der Textanalyse bedeutet das: Wo also im Falle des Textes von vornherein die primären Signifikanten gegeben sind, denen Signifikate zugeordnet werden können, sind im Falle des Bildes zunächst - aufgrund wahrnehmungspsychologisch-neurobiologischer Strukturen und aufgrund des sprachlich artikulier- 6 In diesem Zusammenhang sei auf Belting 2001 verwiesen, der ausführt, dass der Begriff der Ikonologie “ noch immer darauf [wartet], in einem zeitgemäßen Sinne eingelöst zu werden ” (Belting 2001: 15), was auch über zwanzig Jahre nach Beltings Aussage noch gültig ist. Siehe dazu auch Belting 2005. 7 Zu einseitigen Fixierungen der jeweiligen Disziplinen in Bezug auf den Bildbegriff siehe Posner 2003: 18. 102 Dennis Gräf baren kulturellen Wissens über die Welt - die Signifikate gegeben, denen Bildelemente als Signifikanten zugeordnet werden. (Titzmann 2017: 181) 8 Das Bild kann im mediensemiotischen Verständnis als Weltmodell gelten: Ein Bild als Weltmodell zu verstehen heißt, sämtliche Elemente des Bildes als Teil einer eigenen, konstruierten Welt zu lesen. Äquivalent zu audiovisuellen Formaten lassen sich Bilder als Kompositionen verstehen, deren Bedeutung sich über das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung ergibt: Welche Elemente sind wie und wo angeordnet und stehen in welchem Verhältnis zu welchen anderen Elementen? Jurij M. Lotman hat in seinem Buch Die Struktur literarischer Texte von Kunstwerken als von einem Rahmen begrenzten Systemen gesprochen: Der Rahmen eines Gemäldes, die Rampe der Bühne, die Grenze der Filmleinwand bilden die Grenzen der künstlerischen Welt, die in ihrer Universalität in sich abgeschlossen ist. Damit hängen bestimmte theoretische Aspekte der Kunst als eines modellbildenden Systems zusammen. Das Kunstwerk, das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar. [ … ] Es ist die Abbildung einer Realität auf eine andere, das heißt immer eine Übersetzung. (Lotman 1993: 301, Hervorhebungen im Original) Der Rahmen sorgt dafür, dass das innerhalb des Rahmens Dargestellte Abbild eines Weltentwurfs wird, der größer als das auf dem Bild Dargestellte ist; er stellt eine eigene Wirklichkeit dar. 9 Der Weltentwurf ergibt sich aus dem semiotischen Verständnis eines abgeschlossenen Systems, dessen Bedeutung auf der Grundlage des Prinzips von Selektion und Kombination von Daten zunächst innerhalb seiner selbst liegt. Wenn Lotman sich vor allem auf literarische Texte bezieht, so sind es doch alle über die Literatur hinausgehenden ‘ gerahmten ’ Kunstwerke, deren semiotischer Status sie zu Repräsentanten eigener Weltmodelle macht. Zwar ist das Phänomen Instagram bereits seit 2010 existent, bislang hat sich in der medienwissenschaftlichen Forschung aber noch kein spezifischer methodischer Zugang entwickelt, der die typische Form des Verhältnisses von Bild, Caption, Hashtags und Kommentaren und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für einen möglichen heuristischen Umgang mit Instagramposts im Sinne der Rekonstruktion eines Bedeutungskonstrukts in den Blick nimmt. 10 Ich möchte im Folgenden fünf analytische Komponenten vorschlagen, die eine Annäherung an die Bedeutungskonstitution eines Instagramposts ermöglichen und prinzipiell auf unterschiedliche Fragestellungen im Zusammenhang mit Instagram angewendet werden können. 11 Die erste Komponente bezieht sich auf das Bild als Weltmodell. Heuristisch steht zu Beginn die Analyse des Bildes als Weltmodell; man fragt (i) danach, was abgebildet ist (Motiv), (ii) wie die einzelnen Motivbestandteile zusammenhängen (semantische Relatio- 8 Zu einer weitergehenderen Ausdifferenzierung von Bild und Text siehe Weingart 2001. 9 Siehe dazu auch Posner 2003, der ausführt: “ Hier spielt in der abendländischen Tradition der Bilderrahmen eine Rolle, denn er ist es, der ein Bild charakterisiert als mit der Absicht erzeugt, dass der Betrachter glaubt, dass es als Abbild intendiert ist ” (Posner 2003: 20). 10 Hier liegen lediglich Untersuchungen vor, die sich auf die technischen Aspekte wie verwendete Software, Filtereffekte und Interfacedesigns beziehen. Siehe dazu beispielsweise Gunkel 2018, die ihre Studie selbst den “ Software Studies ” (cf. Gunkel 2018: 43) rubriziert. 11 Diese Komponenten wurden erstmals vorgestellt in Gräf und Steinbrink 2021. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 103 nen im Bild) und (iii) nach der Darstellungsweise, also den Bildstrukturen (Farbe, räumliche Relationen) und dem Bildausschnitt. Dies ist der Bereich der grundlegenden Instrumente der Mediensemiotik 12 , wozu auch rhetorische Strategien gehören. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Relationen von semantischer Caption und Hashtag-Bild. Über die Caption (Bildunterschrift) und die Hashtags lassen sich interpretationsbedürftige Text-Bild-Relationen 13 erkennen. Für die mediensemiotische Analyse von Bildern im Kontext der Instagram-Kommunikation ist deshalb eine intermediale Betrachtung fruchtbar, die sich auf das semantische Verhältnis zwischen Foto (bildlicher Text) und Bildunterschrift sowie Hashtags (schriftsprachliche Texte) bezieht. Dabei sind grundsätzlich zwei Richtungen denkbar: Erstens kann der Text, indem er die Dekodierung des Bildes steuert, die Bedeutung vorstrukturieren; zweitens kann auch andersherum das Bild die Lesart des Textes beeinflussen. Die dritte Komponente bezieht sich auf die semantischen Hashtag-Netzwerke: Da das Einzelbild auf Instagram über die Setzung von Hashtags zudem mit einer Vielzahl weiterer Bilder in vielfältige Kontexte gebracht wird, kann das Verhältnis von analysiertem Bild und den über die Hashtags verknüpften Bildkorpora untersucht werden. Hierbei kann nach paradigmatischen Ordnungen im Sinne kultureller Selbstverständnisse gesucht werden: Welche Bilder werden unter welchen Hashtags als zusammengehörig gesetzt und was sagt das über kulturelle Selbstdeutungen aus? Die semantischen Felder der Hashtag-Lexik können Aussagen darüber machen, in welche diskursiven Kontexte die Fotografien eingebettet werden. Die vierte Komponente bezieht sich auf das kulturelle Wissen 14 : Es ist danach zu fragen, inwiefern die Markierung kulturellen Wissens die Bedeutungskonstituierung des Instagram-Posts steuert. Sind beispielsweise abgebildete Räume kulturell-referentialisierend oder rufen Bilder ikonographische Traditionen ab? Die fünfte Komponente bezieht sich auf das User-Profil als Kontext des einzelnen Posts: Bilder und Texte sind auf Instagram in User-Profilen organisiert. Dabei können sämtliche Posts (inklusive des Profilbildes) sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit als Botschaften vor dem Hintergrund des Impression Managements im soziologischen Sinne von Profilierung und Selbstdarstellung interpretiert werden. Dieser dem Post übergeordnete Kontext und seine - im Einzelfall zu rekonstruierenden - Interaktion mit den geposteten Bildern kann bei der Analyse instruktiv sein. Die vorgeschlagenen Komponenten verstehen sich als mögliche Beschreibungsdimensionen von Instagramposts, die nicht vollständig oder in einer bestimmten Reihenfolge anzuwenden sind. In Bezug auf das Lotmansche Verständnis von Kunstwerken als Weltmodellen wäre im Falle der Instagramkommunikation auch zu fragen, ob nicht nur das gepostete Bild, sondern vielmehr (i) ein gesamter Post oder sogar (ii) eine vollständige sich innerhalb eines Posts ergebende Anschlusskommunikation heuristisch als Weltmodell aufzufassen sind. 12 Zu den grundlegenden analytischen Instrumenten der Mediensemiotik siehe Gräf 2019. 13 Zu Text-Bild-Relationen siehe ausführlich Titzmann 2017. 14 Zum Konzept des kulturellen Wissens siehe ausführlich Titzmann 1989. 104 Dennis Gräf 3 Fallbeispiel: #ddr_geschichte Als Fallbeispiel dient ein Post aus dem Jahr 2019 mit der Caption “ DDR-Alltag aus dem Jahr 1979. Hier zu sehen in Berlin der Strausberger Platz ” des Profils #ddr_geschichte. Abb. 1 Das Bild zeigt den Ein- und Ausstieg der Berliner U-Bahn-Haltestelle Strausberger Platz, der sich auf der Karl-Marx-Allee befindet. Die Blickrichtung geht, das lässt sich anhand des Turmes in der Bildmitte erkennen, in Richtung Frankfurter Tor und damit nach Osten. Das Bild wird im Mittelgrund und auf der linken Seite von einer Plakatwand dominiert, die etwa viermal so hoch wie der davor gehende Mann ist, und im Vordergrund und auf der rechten Seite von einem fahrenden Trabanten und dem U-Bahn-Schild. Das Bild weist eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der vorhandenen Linien auf: Der Trabi sowie das Plakat sorgen aufgrund ihrer Horizontalität und Vertikalität für Struktur und Ordnung, während die Fluchtlinien der Laternen und der Häuserreihe diagonal angelegt sind und der Ordnung entgegenstehen. Das Plakat mit der Aufschrift “ Unser Staat - DDR ” und einer stilisiert wehenden Fahne der DDR ist als Bild im Bild zu sehen. Dieses Bild im Bild weist auf der Ebene der internen Sprechsituation durch das “ unser ” eine kollektive Sprechinstanz auf, die identisch mit dem Adressaten ist. Auf rhetorischer Ebene ist der Staat metonymisch durch die Flagge der DDR repräsentiert und damit durch ein offizielles, politisches Symbol. Die Flagge, da ihre Bewegung stilisierend angedeutet wird, ist ihrerseits ein Bild im Bild, so dass eine dreifache interne Strukturierung vorliegt: die Flagge als Bild innerhalb des Plakats und dieses wiederum als Bild innerhalb des gesamten Bildes. Damit wird hier auch der Aspekt der medialen Übertragung des Staates relevant. Es lässt sich ein homologes Verhältnis rekonstruieren. Denn genauso, wie in der Gegenwart des Aufnahmemoments der Staat bildlich-medial durch Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 105 den Staat selbst als Sender im öffentlichen Raum präsentiert wird, so zeigt das gesamte Bild diese mediale Übertragung und ist dabei selbst eine mediale Übertragung. Durch die Flagge auf dem Plakat wird der sprachlich präsente Ausdruck “ Staat ” im Sinne einer politischen Ordnung konkretisiert. Diese politische Ordnung ist, wie das stilisierte Wehen der Flagge zeigt, in Bewegung. Was die Gestaltung dieser politischen Ordnung betrifft, lassen sich, indem sie durch das kollektive “ unser ” attribuiert wird, zwei mögliche Lesarten ableiten: Erstens obliegt die Gestaltung der politischen Ordnung nicht nur einem politischen Führungsinventar, sondern, - und das wird durch den Kontext des Bildes, nämlich seine Positionierung im öffentlichen Raum, indiziert, - der gesamten Staatsbevölkerung. Zweitens lässt sich die Text-Bild-Relation auch dahingehend deuten, dass sich das Possessivpronomen “ unser ” eben nur auf die durch das Wappen-Symbol metonymisch repräsentierte politische Macht bezieht, der Staat gehörte dann den Politikern des Staates. Die zweite Repräsentation des Staates neben der Plakatwand ist die am Laternenpfahl wehende DDR-Flagge, die einen anderen medialen Status hat, da sie im öffentlichen Raum nicht noch einmal medial übertragen werden muss wie die Flagge auf dem Plakat. Beide Repräsentationen etablieren eine Kadrierung, indem sie den Raum dazwischen eingrenzen und relevant setzen. Es existiert nur wenig Bildraum, der nicht von dieser Kadrierung eingeschlossen ist. Im Hinblick auf das Bild als Weltmodell ist der Bildraum dadurch von Repräsentationen des Staates quasi eingerahmt. Auffällig ist nun die Größe der beiden Menschen. Sie sind durch den gewählten Bildausschnitt klein und nahezu marginal, wenngleich der gehende Mann, da er der einzige Fußgänger ist und der Autofahrer in seinem Auto etwas verschwindet, doch auch markant ist. Dem Begriff des Staates ist bei allen unterschiedlichen Staatskonzeptionen inhärent, dass er sich aus Subjekten, aus Menschen zusammensetzt. Das Verhältnis von bildlicher Repräsentation des Staates und Mensch ist in diesem Sinne signifikant. Der Mensch ist rein größentechnisch dem Staat untergeordnet, was prinzipiell nicht verwundern mag, weil der Staat realiter stets eine überindividuelle Organisationsform ist. Was aber, da es sich um ein Bild und damit ein interpretierbares Weltmodell handelt, eben doch signifikant ist: Der politische Staat ist dann übergroß, der Mensch verschwindet vor dem Hintergrund des Staates, der Staat ist eine überdimensionale, nicht-lebendige Repräsentation, der Mensch ein lebendes, aber eben auch vorbeigehendes Subjekt. Das Bild entfaltet auf unterschiedlichen Ebenen einen Widerspruch von Bewegung und Statik. Zeichen der Bewegung installiert das Bild (i) durch den gehenden Mann, (ii) durch das fahrende Auto und (iii) durch die durch das U-Bahn-Zeichen indizierte U-Bahn. Selbst der ausgewählte Ort, der Strausberger Platz, ist über kulturelles Wissen auf einer zentralen Bewegungsachse Berlins und der DDR gelegen, der Karl-Marx-Alle als Teilabschnitt der die DDR durchquerenden B1. Es lassen sich im Grunde genommen auch die beiden Staatsrepräsentationen unter den Bewegungsaspekt rubrizieren, denn auch die beiden Flaggen bewegen sich, die eine real, die andere stilisiert. Der zentrale Unterschied liegt allerdings darin, dass die Verkehrsbewegung eine tatsächliche Bewegung von einem Ort zum anderen ist, die Bewegung der realen Flagge ist auf eine Flatterbewegung begrenzt, die stilisierte Flagge auf dem Plakat ist lediglich fiktiv. Statik entsteht dagegen (i) durch die Kadrierung durch die Repräsentationen des Staates sowie (ii) durch die Bewegungslosigkeit des Abgebildeten. Die Zeichen der Bewegung 106 Dennis Gräf lassen keinen Eindruck von Bewegung entstehen. Das Weltmodell ist trotz des gehenden Mannes und des zwar fahrenden, aber stehend wirkenden Autos nahezu statisch, so dass sich aus diesem Spannungsverhältnis ein interpretationsbedürftiges Modell von Welt ergibt. Die Koexistenz von Statik und Bewegung lässt eine Kontingenz entstehen, die als solche dann das Weltmodell charakterisiert. Für die beiden männlichen Figuren lässt sich in diesem Zusammenhang eine Auffälligkeit diagnostizieren. Sie bewegen sich an den Repräsentationen des Staates vorbei. Dies markiert nun ein signifikantes Verhältnis von Figur und Welt. Im Prinzip kommt es auch hier zu einer Koexistenz, allerdings mit dem Unterschied, dass die Zeichen des Staates ignoriert werden. Figur und Staat existieren nebeneinander her, beide bewegen sich, allerdings jeder für sich. Dieses Verhältnis ließe sich über kulturelles Wissen nun durchaus symbolisch lesen, indem hier lediglich ‘ am Staat vorbei ’ gelebt werden kann. Das Bild befindet sich in einem spezifischen Verhältnis zur Caption. Diese lautet: “ DDR- Alltag aus dem Jahr 1979. Hier zu sehen in Berlin der Strausberger Platz ” . Die Caption ist bezogen auf das Bild insofern nicht ganz richtig, als eben nicht der Strausberger Platz zu sehen ist, sondern der U-Bahn-Einstieg, der sich etwas östlich vom Strausberger Platz befindet; zumal die Blickrichtung des Bildes ebenfalls vom Strausberger Platz weggeht. Sprachlich fokussiert wird hier der Alltag und dies etabliert auch ein interpretationsbedürftiges Verhältnis der Caption zum Bild. Gebäude und Architektur lassen sich nur schwerlich unter die Rubrik des Alltags fassen und so lassen sich gerade einmal der gehende und der fahrende Mann sowie der Kleinlaster im Mittelgrund des Bildes dem Alltag rubrizieren. Durch die geringe Anzahl an Menschen an einer an sich recht belebten Gegend Berlins erzeugt das Bild eher den gegenteiligen Eindruck des Nicht-Alltags. Weil Caption und Bild als integrative Bestandteile der für Instagram typischen Text-Bild- Relation fungieren, bleibt die Frage nach der kohärenten Ordnung und Sinnstiftung von Text und Bild. Alltag ist dann eben genau das zuvor rekonstruierte Weltmodell und damit der rahmende Staat, der im Verhältnis zum Staat kleine (untergeordnete) Bürger hat, die sich im Staat oder an ihm vorbei bewegen. Die Ergebnisse der Bild-Analyse lassen sich nun mit den sprachlichen Bestandteilen des Posts verknüpfen, wobei es mir in meinem Beitrag nicht um die exakte Rekonstruktion der den Kommentaren inhärenten ideologischen Positionen geht, sondern um die strukturelle Bezogenheit der Kommentare auf das Bild. Dabei ist zunächst zu diagnostizieren, dass sich kein einziger Kommentar auf das Bild in seiner Gesamtheit bezieht. Der Einstiegskommentar des Users 1100*** 15 bezieht sich konkret auf den im Bild befindlichen Schriftzug “ Unser Staat - DDR ” und lautet folgendermaßen: 16 Doch, doch, ich erinnere mich - die DDR, das war tatsächlich unser Staat! Dieser Staat gehörte nicht nur ein paar Finanzkapitalisten und Multimilliardären. Nein, dieser Staat gehörte wirklich uns, dem Volk. Wenn man die heutigen Eigentumsverhältnisse anschaut, dann glaubt man das kaum. Das gab es wirklich mal, klingt bissl wie im Märchen. In unserem Betrieb klebten auf den 15 Die Usernamen werden aus Datenschutzgründen nicht vollständig angegeben und unter Verwendung von drei Asterisken abgekürzt. Sie sind aber auf Instagram in den entsprechenden Posts im Original verfügbar. 16 Die Rechtschreibung inklusive aller Interpunktions-, Rechtschreib- und Grammatikfehler wird bei allen Kommentaren ohne weitere Kennzeichnung übernommen. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 107 Maschinen und Werkzeugen so kleine Schildchen, darauf stand “ Volkseigentum ” . So auf Anhieb fällt mir heutzutage gar nichts ein, was dem Volk gehört. Komisch! ? Der Kommentar stellt zunächst einen affirmativen Bezug zur Plakat-Aufschrift des Bildes her, indem er auf die staatliche Rhetorik des Kollektivismus rekurriert und dieser einen Wirklichkeitsbezug attestiert. Im Anschluss daran wird ein Bezug zur Gegenwart hergestellt, der sich auf die “ heutigen Eigentumsverhältnisse ” bezieht und die DDR rückblickend in Hinblick auf eben die Eigentumsverhältnisse als “ [m]ärchen ” -haften Zustand rubriziert. Die kleinen Repliken von wern*** und ubahn*** lauten folgendermaßen: “ An Dein Denken muss och mich erst m[a]l dran gewöhnen, lieber 1100*** ” (wern***) und “ @wern*** und ich ebenfalls - sorry - ich kann dem nichts abgewinnen, besonders wenn es um Verfolgung und Meinungsfreiheit geht - wer anderer (System-)Meinung war, wurde weggesperrt oder gar getötet - besonders an dieser “ Mauer ” - nicht so mein Ding! ” (ubahn***). Die affirmative Haltung von 1100*** wird in beiden Repliken abgelehnt. Während wern*** keine Gründe für seine ablehnende Haltung anführt, argumentiert ubahn*** mit dem repressiven und antifreiheitlichen Charakter des DDR-Staates. Nach nur wenigen Zeilen Kommentartext von drei Usern lässt sich ein Erinnerungsdiskurs erkennen, der um die Frage kreist, wie die DDR rückblickend zu bewerten ist und in welchem Verhältnis sie sich zur Gegenwart der BRD befindet. Es ist der Streit zwischen Legitimation und Delegitimation der DDR erkennbar, der sich insgesamt in auf die DDR bezogenen Erinnerungsdiskursen wiederfinden lässt und der hier auf individueller Ebene geführt wird. 1100*** antwortet wiederum auf die Antworten zu seinem Kommentar: Das ist euer gutes Recht, nicht meiner Meinung zu sein. Ihr favorisiert halt unsere heutige ungerechte Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der sich Kinderarmut, Altersarmut, Mietwucher, Beschäftigung in prekären Arbeitsverhältnissen, Niedriglo[h]nsektor, [sic! ] usw. immer mehr ausbreiten. Heute muss man nicht unbedingt eine andere politische Meinung vertreten, um aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Es reicht, seine Arbeit zu verlieren und in Hartz4 zu rutschen. Das kann man natürlich gut finden, man muss es aber nicht. Kein Mensch hat es in der DDR nötig gehabt, sich aus welchen Gründen auch immer wegsperren zu lassen. Jeder hatte jede Menge Möglichkeiten, an der Gestaltung einer sozial gerechten Gesellschaft mitzuwirken. [ … ] Klar, wenn man sein Leben aus niederen Beweggründen organisieren möchte, dann ist man in der heutigen Gesellschaft natürlich besser aufgehoben, keine Frage. Darauf antwortet wiederum ubahn*** mit der folgenden Äußerung: “ @1100*** Entschuldigung, aber ein Unrechtsstaat bleibt für mich ein Unrechtsstaat - egal mit wie viel anderen Dingen versucht wird diesen “ alternativ ” zu glorifizieren! Da gibt es kein [W]enn und [A]ber! ” Auch wenn es hier nicht darum geht, die Aussagen inhaltlich zu bewerten, so ist dem Kommentar von 1100*** doch eine relative Unkenntnis der historischen Sachlage inhärent. 17 Auch die Formulierung “ ein Unrechtsstaat bleibt ein Unrechtsstaat ” ist zwar sachlich richtig, im Rahmen eines solchen Diskurses aber eben doch auch komplexitätsreduzierend, 17 Um nur einen (an sich unverdächtigen und dem kulturellen Leben zu subsumierenden) Aspekt herauszugreifen, sei auf Rauhut 2002 verwiesen, der rekonstruiert, wie Rockmusiker und Anhänger von Rockmusik in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit - unter anderem wegen des Vorwurfs der staatsgefährdenden Hetze - beobachtet, mit Zersetzungsmaßnahmen gegängelt und auch inhaftiert wurden. 108 Dennis Gräf wenngleich ubahn*** immerhin beim Thema des Staates, das ja eigentlich der aus dem Bild hervorgegangene Sprechanlass war, bleibt. Die Unterhaltung zeigt, dass das Bild für 1100*** zu einem Anlass wird, sich über einen konkreten Aspekt der DDR-Geschichte zu äußern. Die Repliken beziehen sich dabei im Prinzip gar nicht mehr auf das Bild und reagieren eher auf den ersten Kommentar von 1100***. Signifikanter Weise stützt sich auch dieser erste Kommentar ausschließlich auf die Schrift innerhalb des Bildes und nicht auf das Bild an sich: weder auf seine restlichen Bestandteile, noch auf seine ästhetischen Aspekte. Der Anlasscharakter, den das Bild hier bekommt, ist repräsentativ für den Umgang mit Bildern der DDR in diesem Instagram-Profil. Einzelne Aspekte der Bilder werden selegiert und quasi aus dem Bild herausgelöst, sodass das Bild nicht als Gesamtkonzept, schon gar nicht als künstlerisches Gesamtkonzept, sondern als Angebotstisch eines Kommunikationsangebots verstanden wird. Einzelne Bestandteile können Erinnerungen triggern. Es muss aber auch konzediert werden, dass es sehr wohl immer wieder Kommentare gibt, die sich auf die Ästhetik des Bildes beziehen. Dabei handelt es sich in der Regel um englischsprachige Kommentare, die den weltanschaulich-ideologischen Trigger, den die Bilder anscheinend zeichenhaft senden, nicht erkennen, weil sie das Bild eben nicht zeichenhaft, sondern primär ästhetisch lesen und eher in dem für Instagram üblichen Verwendungskontext stehen: Ein Bild zu loben, weil es schön oder interessant ist. Die Relationen von Bild und gesetzten Hashtags und Hashtagausdrücken lassen sich folgendermaßen beschreiben: Das Bild ist insgesamt mit 16 Hashtags versehen, die das Bild in kontextuelle Bezüge setzen. 14 Hashtag-Ausdrücke befinden sich in einem definiten Bezug zum Bild, indem der Ort des Motivs in einem engen oder weiten Sinn im Hashtag präsent ist. Eng wäre etwa #berlin; weit wären #ddr, #ostdeutschland. Nicht mehr unbedingt definit sind #platz und #alltag, weil sie sich vom Ort lösen und eher abstrakt und nicht mehr wirklich semantisch auf einzelne Objekte des Dargestellten im Bild beziehen. Völlig offen wird es, wenn das Bildkorpus des Hashtags #platz eben nicht nur aus Plätzen besteht, sondern auch zeigt, wie Hunde ‘ Platz ’ machen oder wie Menschen den ersten Platz in einem Wettbewerb belegen und die Hashtags in diesem Sinne Homonyme darstellen. Je allgemeiner der Hashtag, umso weniger haben das konkrete Bild und seine Semantik noch ein Eigenleben. Die Verortung des Bildes in Hashtags und damit einhergehenden Bildnetzwerken führt, obwohl es sich bei einem Hashtag im Prinzip um so etwas wie ein übergeordnetes Paradigma handelt, zum einen zu einer Kontextualisierung des Bildes, die aber einer De-Semantisierung äquivalent ist. Das Bild wird reduziert auf eine vom Bild selbst unabhängige Rasterfunktion im Sinne der Einpassung in ein Netzwerk. Das Instagram-Profil als instruktiver Aspekt der Untersuchung zeigt in diesem konkreten Fall, dass dem Posten der Bilder nicht nur ein genuin historisches Interesse inhärent ist, sondern dieses darüber hinaus eine ökonomische Funktion hat: Die Profilinhaber betreiben einen Webshop (cf. https: / / michaelczechan.wixsite.com/ ddrgeschichte), der DDR-Fan-Artikel verkauft, so dass die Bilder u. a. als Trigger verstanden werden können, über die durch die Bildbetrachtung evozierten Erinnerungen Kaufreize zu generieren, welche die mentalen Erinnerungen objektifizieren und damit auch (haptisch, visuell etc.) verstetigen können. 18 18 Zur auch ökonomisch funktionalisierten Ostalgie-Welle der 1990er Jahre cf. Ahbe (2005: 54), der von einem “ Geschäft mit der Erinnerung ” spricht. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 109 Darüber hinaus wird die Tatsache, dass die Betreiber ihr Profil mit dem Ausdruck “ unpolitisch ” attribuieren, dann interessant, wenn - und dabei handelt es sich auf diesem Profil um eine Ausnahme - das kanonisierte Bild des Mauertoten Peter Fechter (1944 - 1962) unter all den anderen Bildern zu sehen ist. Dieses Bild kann nicht anders als in einem politischen Kontext verstanden werden. Auch wenn die Betreiber betonen, es gehe um den historischen Aspekt, ist auch dieser nicht von seinem politischen zu lösen. 4 Korpusstrukturen: Bilder aus der DDR in Instagramposts Um das in Bezug auf meine Fragestellung relevante Bildmaterial auf Instagram heuristisch nachvollziehbar systematisieren zu können, muss ich mich beispielhaft auf ein User-Profil beschränken. Mit 788 Beiträgen (Stand 29.06.2022) ist das Profil ddr_geschichte umfangreich, bietet dadurch aber die Möglichkeit, eine grundlegende Systematik bilden zu können, die - das wäre Gegenstand weiterer Forschungen - auf eine mögliche Repräsentativität für alle auf Instagram geposteten DDR-Bilder hin überprüfbar sind. Vorauszuschicken ist noch, dass bis auf sehr wenige Ausnahmen keine genauen Quellenangaben gegeben werden. Eine Reihe von Bildern macht den Eindruck, als handele es sich um offizielle Fotografien der DDR - einige sind durch (abgeschnittene) Schriftzüge als Postkarten erkennbar - , da aber mangels Quellen hier keine exakte Systematisierung möglich ist - was und wie bilden die eher privaten, was und wie die eher öffentlichen Bilder ab? - müssen zunächst alle Bilder gleich, eben als auf Instagram hochgeladene Bilder, behandelt werden. Der Funktionskontext schafft hier die nötige Klammer, unter der eine Systematisierung möglich ist. In diesem Sinne lassen sich die Bilder der DDR des Instagram-Profils ddr_geschichte nach paradigmatischen Aspekten des Abgebildeten und seinen ästhetischen Modalitäten (Darstellungsweise, Ausschnitt etc.) systematisieren. Dabei lassen sich nicht alle Bilder des Korpus abdecken, vielmehr geht es mir um eine prinzipielle Heuristik, die in der vertiefenden Einzelanalyse sicherlich zu differenzierteren Systematisierungen gelangen kann. 4.1 Paradigmatische Systematik (i) Ein zentraler Aspekt ist die Arbeit: Arbeitsvorgänge und Herstellungsprozesse stehen häufig im Mittelpunkt der Bilder, wobei industrielles 19 und landwirtschaftliches 20 Arbeiten sowie dienstleistende Berufe 21 ungefähr zu gleichen Teilen vertreten sind. Bei den Bildern der Industriearbeit dominiert die massenhafte Herstellung von Konsumgütern wie Autos, Fernsehgeräten oder Kleidung. Diese Bilder zeigen dann die Existenz einer Masse des gleichen Artikels und betonen in diesem Zusammenhang ein ‘ Funktionieren ’ der Industrie, was in der Regel durch einen symmetrischen, harmonischen oder fluchtpunktartigen Bildaufbau geleistet wird. Alle Tätigkeiten sind dabei häufig mit dem Aspekt des Sozialen 19 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CYx3WoFIU2C/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CRLShuypI_e/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CKBDInAprDA/ . 20 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CRX15bBJTBp/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CDp6eMSpSb3/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CCkgjubpsdD/ . 21 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CX2g9aRImGG/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CMhxySypXcX/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CIza2ZmJtdN/ . 110 Dennis Gräf korreliert, indem sie entweder als industrielle oder landwirtschaftliche Zusammenarbeit dargestellt werden oder als soziale Verkaufssituation in dienstleistenden Berufen. Das gleichzeitige Arbeiten mehrerer Menschen in einer Montagestraße installiert dann einen Gemeinschaftsaspekt, der auch für die Bilder landwirtschaftlicher Arbeit gilt. (ii) Ein zweiter Aspekt ist die Freizeit 22 , die in unterschiedlichen Bereichen vorgeführt wird: öffentlich oder privat, (selten) singulär oder (vermehrt) gemeinschaftlich, aktiv oder passiv. Dabei kommt es häufig insofern zu einer Verbindung mit dem Aspekt der Arbeit, als das Einkaufen als Freizeitbeschäftigung vorgeführt wird und somit der Dienstleistungssektor hier ebenfalls präsent ist. Der Freizeitbereich kann auch mit technischer Innovation verbunden sein, wenn etwa der Zeltaufbau für den Trabanten (im Volksmund gerne als “ Pension Sachsenruh ” bezeichnet, cf. https: / / www.instagram.com/ p/ CAbzQBgJ-Kp/ ) gezeigt wird. Freizeit äußert sich darüber hinaus in Cafébesuchen, dem Flanieren durch Abb. 2 Abb. 3 Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 111 Innenstädte oder dem Freizeitextrem, dem Urlaub, der auf den Bildern in der Regel ein Camping-Urlaub ist. (iii) Als politisches Leben 23 sollen hier all jene Darstellungen bezeichnet werden, die entweder in personaler Form (Politiker, Militär) den Staat zeigen, die Staatshandlungen vollführen (können) (Paraden, Wahlkampf etc.) oder den Staat in seinen zeichenhaften, symbolischen Repräsentationen in einem sozialen Funktionskontext zeigen. Diese Bilder zeigen in der Regel dominant den militärischen Aspekt des Staates, etwa durch Paraden oder sonstige Militäraufmärsche, häufig in Gegenwart des jeweiligen Staatsratsvorsitzenden. Die Bilder sind in der Regel gekennzeichnet von einer (meist vertikalen) Symmetrie (v. a. bei Paraden) und einer damit einhergehenden Ordnung. Abb. 4 (iv) Als Stillleben 24 sollen hier jegliche Darstellungen von belebter oder unbelebter Natur und Kultur verstanden werden: figurenlose Landschaften, Straßen(-züge) sowie Wohnungseinrichtungen. Die Stillleben-Bilder haben einen dokumentarischen Gestus. Mitunter befinden sich unter diesen Bildern auch Katalogbilder von Hotelzimmern (https: / / www. instagram.com/ p/ CaT1YC6sM1j/ ) oder Möbelhäusern (https: / / www.instagram.com/ p/ BvzXYJB1Gt/ ), die dann aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive Vorstellungen standardisierter Einrichtungskulturen erkennen lassen. Mithin lässt sich aus diesen Bildern eine “ Rekonstruktion der materiellen Kultur der Vergangenheit ” und eine “ Rekonstruktion der Alltagskultur ” (Burke 2019: 91) leisten, sowohl bezogen auf Einrichtungen als auch auf Stadt- und Landschaftsansichten (die in der Kunstgeschichte mit dem italienischen Begriff 23 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ Cekq2NzDdQt/ , https: / / www.instagram. com/ p/ COmWLO4p0uP/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CJSgGrWpW7 g/ . 24 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CR-rN2uCNgn/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CA9iVLNpNEr/ , https: / / www.instagram.com/ p/ B_5L4_2pUN5/ . 112 Dennis Gräf der Vedute versehen sind). 25 In Bezug auf die Konsumkultur geht es dabei vor allem um “ verschwundene Elemente der materiellen Kultur ” (Burke 2019: 105), also beispielsweise Lebensmittelprodukte. Abb. 5 4.2 Abstraktion: Alltags- und Kulturgeschichte Die einzelnen soeben rekonstruierten paradigmatischen Aspekte lassen sich insgesamt zu einer Abbildung von Alltagskultur abstrahieren oder dem, was rückblickend als repräsentativ für die DDR-Alltagskultur verstanden wird. Dazu gehören u. a. auch die Haufen von Kohlebriketts auf den Gehsteigen, 26 die Arbeit (an Maschinen und in einem VEB), 27 das Einkaufen (insbesondere mit Warteschlange) 28 sowie allgemein öffentliches Leben auf Plätzen oder in Innenstädten, aber eben auch das politische Leben. Die Kommentare verweisen bei diesen Bildern häufig auf die Modalitäten des Referenzrahmens. Bilder mit dem Einkaufsparadigma werden in der Regel hinsichtlich des Themas Mangelwirtschaft kommentiert, genauso wie Bilder mit vollen Regalen als “ Propagandafoto[s] ” (https: / / www. instagram.com/ p/ CK8RIFdJBZ5/ ) bezeichnet werden. Dabei zeigen die geposteten Bilder nicht nur Aspekte des sozialistischen Staates, sie bilden auch in ihrer Selektion in erstaunlicher Weise die für den Staatssozialismus geltenden Werte ab. Die Arbeit als zentrale Tugend des sozialistischen Staates lässt sich als Grundlage der Bildselektion rekonstruieren, so dass ein in ideologischer Hinsicht grundsätzlich affirmativer Zugriff auf das Bildarchiv und damit ein affirmativer (und eben nicht historisch-kritischer) Blick auf die DDR vorliegt. 25 Cf. hierzu die beiden folgenden Bilder von Badezimmern: https: / / www.instagram.com/ p/ BsPhWNNBYKS/ sowie https: / / www.instagram.com/ p/ B_5L4_2pUN5/ . 26 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CQc2OYPJPgZ/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CMyioZ5JUTv/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CL_MoCcpcW2/ . 27 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CYx3WoFIU2C/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CBcjdGzJS62/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CBPcE51JVb4/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CKBDInAprDA/ . 28 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CcuLw17IUyV/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CMhxySypXcX/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CK8RIFdJBZ5/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CKsvCjyJIf8/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CJk0d6Yp4VT/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CJAlbTyJt4k/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CFmqBvmp503/ . Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 113 Ein rekurrentes Muster der geposteten Bilder ist das Größenverhältnis von Zeichen des Staates (Flaggen, Schrift- und Spruchbanner an Plakat- oder Hauswänden) und den abgebildeten Menschen. Äquivalent zum Fallbeispiel sind die Repräsentationen des Staates im Verhältnis zu den Menschen deutlich überdimensioniert - und zwar sowohl real hinsichtlich des tatsächlichen Größenverhältnisses als auch durch Kameraperspektiven und/ oder proxemische Verhältnisse - , so dass die implizite Anthropologie des untergeordneten Menschen durchaus für das gesamte Korpus gilt. Die Zeichen des Staates können wahlweise Staatswappen, Inschriften auf Hochhäusern, Plakatwände o. ä. sein. In dieser Kategorie lassen sich wiederum Unterkategorien bilden: Bilder, in denen der Staat dominant über einen militärischen Aspekt präsent ist, neigen ebenfalls dazu, den Menschen als klein gegenüber den Repräsentationen des Staates (Flaggen, Panzer etc.) zu installieren. Abb. 6 Zu dieser Gruppe gehören des Weiteren diejenigen Bilder, auf denen einzelne menschliche Figuren selbst zum Zeichen des Staates werden. Beispielsweise zeigen Sportveranstaltungen in größeren Stadien häufig Zeichen des Staates, die sich aus den Menschen selbst oder von diesen hochgehaltenen Transparenten ergeben (cf. Abb. 6, die das Leipziger Turnfest aus dem Jahr 1983 zeigt). Hier lassen sich zwei koexistente Tropen erkennen: Indem die Menschen durch die von ihnen hochgehaltenen Transparente Teil des DDR-Wappens werden, sind sie (i) Synekdochen (der Repräsentation) des Staates. Darüber hinaus lassen sie sich (ii) als Metonymien verstehen, indem die Bürger den Staat darzustellen vermögen. Diese Art von Ikonographie ließe sich - ohne grundsätzlich eine semantische Äquivalenz herstellen zu wollen - mit dem Frontispiz von Thomas Hobbes ’ Leviathan (1651) in Verbindung bringen. Tatsächlich aber entspricht dieser sozialistische Leviathan zumindest dem sozialistischen Prinzip des Kollektivismus, der Grundlage des Staates ist. Signifikant ist auch in diesen Bildern die Beibehaltung des Größenverhältnisses. Die Menschen werden 114 Dennis Gräf angesichts des übergroßen Zeichens des Staates zu kleinen Bestandteilen seiner medialen Repräsentation. Auch beinhalten diese Bilder wiederum eine mediale Übertragung zweiter Ordnung. Die Transparente sind ihrerseits Medien, die durch das Bild medial übertragen werden. An diese kurze Systematisierung lässt sich die Frage anschließen, inwiefern die ausgewählten Bilder etwaigen impliziten Kategorien der Darstellbarkeit auf Instagram gehorchen, welche Kategorien dies sein könnten und aus welchen (Bild-)Aspekten heraus diese rekonstruierbar wären. Insgesamt lassen sich viele Bilder - wie bereits angedeutet - vor dem Hintergrund kulturellen Wissens als eher affirmative Bilder lesen, die das politische und ideologische Programm des SED-Staats semantisch stützen. Das Einkaufen als Freizeitbeschäftigung und die auf den Bildern stets vollen Regale sind aufgrund der Mangelwirtschaft eben nicht automatisch als Alltag lesbar, eher als Symbole wünschenswerten Lebens. In der Tat heben die Kommentare solcher Bilder dann auch die Innovationskraft der DDR-Technik hervor und bringen diese in ein vergleichendes Verhältnis zu technischen Produkten der Gegenwart, deren Innovation ranggemindert wird, weil es das entsprechende Produkt in der DDR bereits gegeben habe. In den Kommentaren prallen dann in der Regel insofern zwei konkurrierende Sichtweisen aufeinander, als dem ‘ normalen ’ , von der Politik unberührten Alltag der eben auch in den Alltag eingreifende SED- Unrechtsstaat entgegengehalten wird. Dabei kommt es in den Kommentaren eher selten zu diskursiven Syntheseleistungen, eher bleiben die Unterhaltungen konfrontativ. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die offizielle Fotografie der DDR instruktiv, wie sie beispielsweise in der Illustrierten Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik von Heitzer und Schmerbach aus dem Jahr 1984 zu sehen ist. Der Bildband zeichnet das Bild einer funktionierenden, alltäglichen DDR und stellt für die sukzessiven historischen Phasen (1945 - 1949, 1949 - 1961, 1961 - 1970, 1971 - 1983) Bilder aus den Bereichen Politik, Kunst/ Kultur, Arbeit, Freizeit und Stillleben vor. Interessanterweise lassen nun viele der in diesem Bildband vertretenen Bilder und die auf Instagram gezeigten Bilder stilistisch-ästhetische Ähnlichkeiten in Bezug auf das Alltagsparadigma erkennen, zumindest ließen sich viele der Instagram-Bilder problemlos in den Fotoband integrieren. Das wirft die Frage auf, ob der Auswahl der Bilder auf dem Profil ddr_geschichte nicht eine implizite Strategie zugrunde liegt, was wiederum eng an die spezifischen Erinnerungspraktiken auf Instagram gekoppelt ist, die im folgenden Kapitel rekonstruiert werden sollen. 5 Erinnerungsdiskurse der DDR auf Instagram Analoge Bilder aus der Vergangenheit, die auf einem gegenwartsbezogenen digitalen Medium wie Instagram gepostet werden, berühren grundsätzlich Aspekte von Erinnerungskultur(en), 29 wobei es sich hier nicht um eine staatlich organisierte Erinnerungspolitik handelt. Dabei geht es hier weniger um das sich auf überzeitliche und kulturell komplexe 29 Zu ostdeutschen Erinnerungsdiskursen nach 1989 in Literatur, Musik, Film und bildender Kunst cf. den Sammelband von Goudin-Steinmann & Hähnel-Mesnard 2013. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 115 Zusammenhänge beziehende Konzept des kulturellen Gedächtnisses, 30 eher um das kommunikative Gedächtnis, das sich vor dem Hintergrund nur weniger Generationensprünge dem Alltäglichen (Ißler 2017: 911) widmet. Die geposteten Bilder rufen, und das lässt sich aus den Kommentaren destillieren, hauptsächlich ostdeutsche Erinnerungen ab. Bilder von öffentlichen Einrichtungen oder der Gastronomie führen zu Kommentaren, die das damalige Speisenangebot kommentieren und häufig auch mit wertenden Attributen versehen. Die (nur vermutbaren) nicht-ostdeutschen Kommentare und jene in englischer Sprache zeigen in der Regel Interesse am Abgebildeten und dem entsprechenden historischen Wissen und werden hin und wieder (von ehemaligen DDR-Bewohnern, so lässt es sich herauslesen) aufgeklärt. Abb. 7 Schon die Kommentare und der Chat des Fallbeispiels (vgl. Kap. 3) haben gezeigt, dass ein DDR-Bild Erinnerungen triggert, die in einen sozialen Raum diffundiert werden. Die Kommentare zur Abb. 7 benutzen ebenfalls in auffälliger Häufigkeit die Lexeme “ erinnern ” / “ Erinnerung ” und repräsentieren damit dergestalt einen grundsätzlichen Tenor der Bildkommentare, dass die Bilder einen Anlass darstellen, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Dieser Anlasscharakter der Bilder ist dann - neben der zweiten, ästhetischen Funktion - auch als eine der beiden zentralen Funktionen der DDR-Bilder auf Instagram zu benennen, die sich dezidiert an ehemalige DDR-Bürger richtet, weil Nicht-DDR-Bürger keine Erinnerung - oder nicht in diesem Maße in Bezug auf die Alltagskultur - an die DDR haben können. Es handelt sich bei den Bildposts auf Instagram demnach dominant um einen ostdeutschen Diskurs, indem die Bilder Anlass zur Erinnerung geben. Dabei werden einzelne 30 Cf. hierzu Assmann 1988. 116 Dennis Gräf Aspekte der Bilder - hier sei noch einmal an das Fallbeispiel erinnert, bei dem sich alle Kommentare ausschließlich auf das Transparent beziehen - ausgesucht und quasi aus dem Bild herausgelöst, sodass das Bild nicht als Gesamtkonzept, schon gar nicht als künstlerischästhetisches Gesamtkonzept, sondern als Angebotstisch eines Kommunikationsangebots verstanden wird. Dies wird vor allem dann amplifiziert, wenn die Profilbetreiber von ddr_geschichte einen Onlineshop betreiben, in dem Erinnerung symbolisch erworben werden kann. Aleida Assmann führt grundlegend zu gegenwärtigen Erinnerungskulturen aus: Da die ontologische Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was war, nicht unterlaufen werden kann, ist die Möglichkeit einer einfachen Rückholoperation von Vergangenem in die Gegenwart grundsätzlich ausgeschlossen. Statt Rückholoperationen [ … ] haben wir es in der Erinnerungskultur nie mit der Vergangenheit an sich, sondern immer schon mit Repräsentationen von ihr und den damit verbundenen medialen Transformationen zu tun. [ … ] Als Repräsentationen sind ‘ Erinnerungen ’ vererbbar und vermarktbar. Für das gestiegene Interesse an Erinnerungen gibt es inzwischen einen wachsenden Markt. [ … ] Stets wird dabei die fehlende, unsichtbare und entzogene Vergangenheit durch etwas anderes ersetzt, mithilfe dessen wir uns sinnlich auf sie beziehen können. (Assmann 2020: 235) Die Instagram-Bilder werden durch ihre Funktion als Werbemittel für den Onlineshop nicht nur ökonomisch funktionalisiert, sie verlieren dadurch ihren ästhetischen Stellenwert. Das gesamte Korpus der geposteten Bilder wird Gegenstand einer Depravierung von Erinnerung. Vor dem Hintergrund semiotischer Bedeutungskonstituierung und damit des Prinzips von Selektion und Kombination werden in diesem Zusammenhang auch diejenigen (öffentlichen) Bildkorpora relevant, die eben gerade nicht Teil des Instagram-Universums werden: Es handelt sich um Bilder, die vor allem Diktatur und Unrechtstaat zeigen. Im Zusammenhang mit fotografischen Archiven und Formen medialer Erinnerung führt Götz Großklaus Folgendes aus: Mit der Erfindung der Photographie erfahren alle Formen der Erinnerung und der Gedächtnisbildung eine entscheidende Veränderung. In dem Maße, wie der individuellen und kollektiven Erinnerung ein umfangreiches und unhintergehbares, äußeres-mediales Bild-Gedächtnis zur Verfügung steht, verschiebt sich der Schwerpunkt von der vormals lediglich sprach- und schriftgestützten Erinnerung auf eine zunehmend bild-gestützte Erinnerung. Indem die Photographie uns immer das zeigt, was schon nicht mehr ist, wird sie notwendig zum Anlaß [sic! ] für weitere Wahrnehmungen, Überlegungen und Assoziationen, mit denen Erinnerungs-Elaboration einsetzt. Mit der Masse der uns umgebenden Bilder wachsen die Räume der Erinnerung, aber auch die Räume des Vergessens und Verdrängens. Bestimmte Bilder werden von der Zirkulation ausgeschlossen. (Großklaus 2004: 73 f., Hervorhebungen im Original) Die Tatsache, dass die meisten Bilder sich insgesamt dem Bereich der Alltags- und Kulturgeschichte subsumieren lassen, spielt dem grundlegenden Prinzip von Selektion und Kombination Bedeutung zu. Offensichtlich können nicht alle Bilder sämtlicher Bereiche des Lebens in der DDR auf Instagram gepostet werden, was mit dem Selbstverständnis des digitalen Dienstes zusammenhängen mag. Es geht dann doch eher um Unterhaltung als um Aufarbeitung von Geschichte. Das lässt sich beispielsweise an der Absenz von Bildern im Zusammenhang mit Aspekten des Überwachungsstaates diagnostizieren. Martin Sabrow hat im Zusammenhang der Erinnerung an die DDR drei “ Erinnerungslandschaften ” rekonstruiert: “ Diktaturgedächtnis ” , “ Arrangementgedächtnis ” und “ Fort- Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 117 schrittsgedächtnis ” (Sabrow 2009: 18 f.). Diese drei Gedächtnistypen sollen den jeweils dominanten Kern unterschiedlicher Argumentationen hinsichtlich der DDR-Erinnerung benennen: Das Diktaturgedächtnis bezieht sich “ auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft ” , das Arrangementgedächtnis auf das “ richtig[e] Leben im falschen ” und damit auf die Konditionen der DDR-Normalität, das Fortschrittsgedächtnis auf die “ vermeintlich moralisch[e] und politisch[e] Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten, die zu friedlicher Koexistenz und gegenseitiger Anerkennung geführt hätten ” (ibid.). Signifikant ist nun, dass sich die geposteten Bilder nicht auf alle drei Gedächtnistypen gleichermaßen verteilen, sondern hauptsächlich das Arrangementgedächtnis bedienen, wie auch schon die Äquivalenz(en) von Instagram-Bildern und der Illustrierten Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik gezeigt haben. Ausnahmefall ist in diesem Zusammenhang das bereits erwähnte Bild von Peter Fechter, der im Jahr 1962 von Grenzsoldaten an der Berliner Mauer erschossen wird (https: / / www.instagram.com/ p/ Bt5o_49BDVT/ ). Hier legen die Profil-Betreiber in der Caption zusätzlich zum Eingangsstatement auf der Startseite noch einmal Wert auf den unpolitischen Charakter des Posts. Schlussendlich muss die implizite Bildauswahl als Strategie verstanden werden, eben genau Alltagserinnerungen anzusprechen, die dann im Onlineshop auch dinglich-symbolisch gekauft werden können und als Ding verstetigbar sind. Der spezifische Umgang mit den Instagram-Bildern in Bezug auf den Aspekt der Erinnerung erinnert - zumindest latent - an Aby Warburgs Schlangenritual-Vortrag, den er im Jahr 1923 in der Heilanstalt Bellevue in Kreuzlingen in der Schweiz gehalten hat. Thematisch behandelt der Dia-Vortrag aus einer ethnologischen Perspektive das Leben der Pueblo-Indianer Neu-Mexicos. Interessanter aber sei, so Claudia Wedepohl, die das Nachwort zur Neuausgabe 2011 verfasst hat, dass Warburg hier einen Vortrag über eine Reise hält, die zum Zeitpunkt des Vortrags 27 Jahre zurückliegt. Warburg erinnert sich anhand der Bilder der damaligen Reise an die Vergangenheit und verknüpft seine Erinnerungen mit kunsthistorischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen zur “ moderne[n] Kultur ” (Warburg 2011: 73). Wedepohl meint, dass “ der Text mehr über ihn selbst und sein Lebenswerk als über sein Sujet ” aussage, indem Warburg “ das Material der ‘ indianischen Reise ’ mit den Erkenntnissen der Selbstbetrachtung zu verknüpfen ” versuche (Wedepohl 2011: 131). Im Prinzip funktioniert der Anlasscharakter der Instagram-Bilder ähnlich: Die Bilder nehmen eine Funktion als Erinnerungstrigger ein und führen häufig - nicht immer - zu Deutungen der Gegenwart und offenbaren dadurch, freilich anders als der Warburg-Vortrag, persönlich-subjektive Mentalitäten und Weltbilder, die ihrerseits in der Gesamtheit des Korpus ein - durchaus heterogenes - Werteset und im Prinzip Weltanschauungen rekonstruieren lassen. 6 Das Analoge im Digitalen/ das Vergangene im Gegenwärtigen Jenseits der inhaltlichen Befunde in Bezug auf die auf Instagram geführten Erinnerungsdiskurse zur DDR ist der strukturelle Aspekt der Integration analoger Fotografien in ein digitales Medium untersuchenswert. Die genuine Verwendung des Dienstes sieht so aus, dass die auf dem Handy geschossenen Fotografien direkt aus der Galerie in den Dienst integriert werden. Die Integration ursprünglich analoger Bilder (aus einer nicht-digitalen 118 Dennis Gräf Zeit) setzt zunächst einmal den analogen fotografischen Akt mit einer analogen Kamera voraus. Dieses Bild muss dann digitalisiert werden und kann erst anschließend hochgeladen werden. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Praxis somit um eine mediale Übertragung zweiten Grades, mithin ließe sich von einer Kopie sprechen. In diesem Sinne liegt, zumindest theoretisch und potenziell, ein (medialer) Verlust von Originalität vor, der für den Einzelfall allerdings weder in seiner Semantik noch in seiner interpretatorischen Tragweite erfasst werden kann, da das analoge Ursprungsbild im Rezeptionsakt nicht bekannt ist. Der Verlust kann sich dann auf Veränderungen in der Farbgebung, den Bildausschnitt etc. in Bezug auf das Original beziehen. Dabei ist auf der medialen Oberfläche der Plattform zunächst überhaupt nicht zu erkennen, ob das ursprüngliche, analoge Bild in irgendeiner Weise - beispielsweise durch Zuschneiden, Farbveränderungen etc. - bearbeitet wurde. Das Instagram-Bild ist damit lediglich eine gemutmaßte Version eines analogen Bildes. Zwar werden auch die auf dem Handy geschossenen Bilder vor dem Hochladen mithilfe von Effekten bearbeitet, allerdings spielt hier der pragmatische Aspekt eine Rolle: Während die digitalen Bilder vor ihrer ersten Präsentation bereits für die auf Instagram implizit geltenden Erwartungshaltungen bearbeitet werden, hatten die analogen Bilder bereits vor dem digitalen Hochladen eine ‘ Karriere ’ als (analoges) Medium, sie werden also nun zum zweiten Mal - zumindest potenziell - in einen öffentlichen Kontext integriert. Auch diese Tatsache verbleibt eher auf der theoretischen Ebene, da die erste Karriere in der Regel nicht bekannt ist. Handelt es sich nicht um Bilder, die bereits öffentlich zugänglich oder per se als öffentlich zugängliche Bilder konzipiert waren (beispielsweise in einem künstlerischen Kontext), handelt es sich um eine Verschiebung von einem privaten in einen öffentlichen Kontext. In diesem Fall verschiebt sich das Erkenntnispotenzial von einem eher allgemeinen kulturhistorischen Kontext zu einem alltagskulturellen Kontext. Die nun öffentlich zugänglich gemachten Bilder fungieren als Zeugen alltäglicher und privater Blicke und erlauben vielleicht sogar die Möglichkeit, Blickmuster des Alltäglichen und des Privaten zu rekonstruieren. Privaten Bildern sind spezifische Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge (Reißmann 2015: 129) inhärent, die für per se als öffentlich konzipierte Bilder nicht gelten, wie beispielsweise “ sich selbst und die eigene sozial [sic! ] und sozialräumliche Umgebung bildlich zu beobachten, zu dokumentieren, und zu konservieren ” (ibid.). Äquivalent zur Digitalisierung des Analogen steht der Transfer des Vergangenen in die Gegenwart. Dies haben die digitalisierten Instagram-Bilder zunächst mit allen digitalisierten Kulturgütern (mittelalterlichen Handschriften, Erstdrucken, Urkunden etc.) gemeinsam. Darüber hinaus ist es auch hier der pragmatische Aspekt, der die analogen Bilder durch die Digitalisierung in einen anderen (diskursiven) Kontext transferiert. Die Bilder aus der Zeit der DDR - und hier sind nun genau jene Bilder gemeint, die auch auf Instagram hochgeladen werden (vgl. Kap. 4), nicht eine mögliche Gesamtheit aller in der DDR gemachten Fotografien - waren zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht in einen Erinnerungsdiskurs eingespeist, sondern haben einen ästhetischen, archivarischen, sozialen oder emotionalen Zweck erfüllt. Archivieren und Erinnern befinden sich zwar in einem gemeinsamen semantischen Feld des Temporalisierens, aber mit prospektiven (Archivierung) und retrospektiven (Erinnerung) Ausrichtungen. Insofern ist die Differenz zwischen Archivieren und Erinnern, da diese hier als sukzessive Zustände auftreten, Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 119 einer Verwendungs- und Funktionsverschiebung äquivalent. Der Status der medialen Kopie der Bilder macht sie zu Zeitreisenden, die sich beispielsweise von alten Filmen, die nach langer Zeit wiedergesehen werden, darin unterscheiden, dass sie nicht mehr nur als die Bilder, die sie einmal waren, firmieren, sondern eine neue mediale Botschaft mit Gegenwartsbezug darstellen. Sie sind also Zeitreisende, welche die Wahrnehmung von Gegenwart verändern und somit in diese eingreifen können. Außerdem ist die Frage zu stellen, ob in unserer “ sich zunehmend visuell präsentierenden Gegenwart ” (Maasen et al. 2006: 9) 31 nicht bereits ausreichend Bilder zirkulieren, die unsere Erinnerungsdiskurse befeuern. Jörg Scheller hat in seinem Band Body-Bilder in der Reihe Digitale Bildkulturen festgestellt, dass es nicht darum geht, die Sozialen Netzwerke wie traditionelle Museen [zu betrachten], in denen herausragende Objekte präsentiert und auf eher passive Weise rezipiert werden. Doch heutige Museen entwickeln sich, im Takt eines überaus kommunikativen, vernetzten, user-generated-content-orientierten Kapitalismus, von Rezeptionszu Produktions- und Kommunikationsorten. Aus Medien der Ewigkeit werden Medien der Vorläufigkeit. (Scheller 2021: 23) Dem ist entgegenzuhalten, dass die Erinnerung an die DDR eben kein Diskurs ist, der mehr vorläufig als kontinuierlich auf der Grundlage eines user-generated Kapitalismus zu führen ist: 32 Die im Zusammenhang mit den DDR-Bildern geführten Diskurse auf Instagram zeigen in diesem Zusammenhang, dass die - vor allem entkontextualisierten - Bilder lediglich einen Anlass darstellen, entweder über die Vergangenheit oder über die Gegenwart zu sprechen, und dass der Status der produktiven Zeitreisenden dadurch im Prinzip ausgehebelt wird. Die Bilder haben dann eben doch nicht die Kraft, diskursive Muster aufzubrechen, eher dienen sie als Trigger zur Postulierung manifester ideologischer Überzeugungen. Ihre ästhetische Spezifik und textuelle Einzigartigkeit bleiben dabei unerkannt, vor allem aber auch ihre historische Kontextualisierung. Gerhard Paul führt Folgendes aus: Für unsere Vorstellung von Geschichte kommt dem Bilderkanon des kulturellen Gedächtnisses insofern eine herausragende Bedeutung zu, als er sich wie ein Passepartout selbst wiederum über die Geschichte legt und dieser eine Ordnungsstruktur verleiht, die sie selbst nicht besitzt. Der fragmentierte Körper der Geschichte, von dem Benjamin gesprochen hat, erhält daher erst im Spiegel dieser Bilder Geformtheit, Geschlossenheit, Identität und eine Vorstellung von sich selbst. (Paul 2008: 33) 31 Zur differenzierten Betrachtung des inflationären Ausrufs einer ‘ Zeitenwende ’ in Hinblick auf digital verfügbare Bildermengen cf. Schade & Wenk 2011: 35 - 40. 32 Cf. in diesem Zusammenhang auch die Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‘ Aufarbeitung der SED-Diktatur ’ des Jahres 2006 inklusive des Sondervotums des Expertenkommissionsmitglieds Freya Klier und die kontroversen Diskussionen über diese Empfehlungen. Zu finden in Sabrow 2007. Sicherlich mochten die damaligen Empfehlungen für den (staatlichen) Umgang mit der Vergangenheit der DDR kritikwürdig gewesen sein, die Diskussionen rund um die Expertenkommission und ihre Empfehlungen zeigen aber an, dass die Aufarbeitung der DDR-Geschichte eben nicht frei flottierend bewältigt werden, sondern nur in einem strukturierten, aber offenen Diskurs stattfinden kann. Dabei war die Erinnerung an den DDR-Alltag ein wesentlicher Bestandteil der von den Kritikern der Empfehlungen ausgesprochenen Desiderate. Die Empfehlungen konzentrierten sich auf die politischen Implikationen der SED-Diktatur, vernachlässigten aber die DDR als ‘ gelebten ’ Staat. 120 Dennis Gräf Die Entstehung von Geschichtsbildern hängt demnach massiv vom vorhandenen Bildmaterial ab. Wenn lediglich das Instagram-Korpus von Bildern der DDR zugrunde gelegt würde, entstünde demnach ein höchst fragmentarisches Bild der DDR. Ein Korpus von DDR-Instagram-Bildern ist - um Schellers Museumsbegriff noch einmal aufzunehmen - eben keine (neue Form der) Kunstkammer, wie Horst Bredekamp sie beschrieben hat, also keine Sammlungsform, die eine paradigmatische Klammer um eine Reihe von als zusammengehörig verstandenen Artefakten schließt, die Artefakte in den Mittelpunkt der Sammlung stellt und versucht, menschliche und kulturelle Entwicklung in der Zeit sichtbar zu machen (cf. Bredekamp 2012). Die DDR-Instagram-Bilder fingieren lediglich museale Kohärenz: Konzeptlosigkeit und Ungeordnetheit lassen eben keinen produktiven Kommunikationsort entstehen, sondern einen Ort, der lediglich das Bedürfnis zum phatischen Austausch über Vergangenheit (und Gegenwart) der DDR befriedigt und dabei auch kontroverse Urteile über die DDR nebeneinanderstellt. References Ahbe, Thomas 2005: Ostalgie. 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Zum Transfer zwischen Text- und Bildtheorie ” , in: Andriopoulos et al. (eds.) 2001: 136 - 157 letztes Zugriffsdatum für alle Abbildungen 19.08.2022 Abb. 1: https: / / www.instagram.com/ p/ BskBqhiBFtJ/ [19.08.2022] Abb. 2: https: / / www.instagram.com/ p/ CYx3WoFIU2C/ [19.08.2022] Abb. 3: https: / / www.instagram.com/ p/ CAbzQBgJ-Kp/ [19.08.2022] Abb. 4: https: / / www.instagram.com/ p/ Cekq2NzDdQt/ [19.08.2022] Abb. 5: https: / / www.instagram.com/ p/ CaT1YC6sM1j/ [19.08.2022] Abb. 6: https: / / www.instagram.com/ p/ B_9JXTnJ-QZ/ [19.08.2022] Abb. 7: https: / / www.instagram.com/ p/ CgFXf9UM4cS/ [19.08.2022] Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 123 K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene Produkt- und Konsum-Differenzierungen als Ausdruck und Mittel einer szeneinternen Pluralisierungstendenz Marco Krause (Dresden) Abstract: This article is dedicated to the topic of scene-specific product consumption. The essence of the text is the structural characterization of scene-specific product consumption in the context of the hip-hop scene, based on an ethnographic study conducted. Subsequently, the connection between the consumption of scene-specific products and the formation of internal structures of the hip-hop scene is shown. Keywords: Konsum, Mode, Konsumstile, Szenen, Hip-Hop, Ethnographie, reflexive Grounded Theory 1 Einführung Die Hip-Hop-Szene weist eine große interne Heterogenität hinsichtlich ihrer Struktur auf. Neben den in der Literatur oft benannten vier Säulen des Hip-Hop (Rap, DJing, Breakdance und Graffiti) bilden diese Grundströmungen in sich nochmals tiefergehende Subströmungen und Rollenmuster mit je eigenen Relevanzen, Authentizitätsansprüchen, Relationen und Dynamiken des Szene-Handelns aus (cf. Hitzler und Niederbacher 2010: 29, 84; Klein 2006: 28; Schröer 2013: 11; Güngör und Loh 2003: 55). Begleitet werden diese szeneinternen Differenzierungen mitunter durch je verschieden geartete Konsummuster. Diese Konsummuster basieren dabei auf funktionalen oder ästhetischen Gesichtspunkten, die die szenespezifischen Relevanzstrukturen und Authentizitätsansprüche des jeweiligen Mitglieds abbilden und moderieren. So sind es beispielsweise Szene-Künstler*innen, die Konsummuster vorgeben und eigene Produkte mit künstler*innenspezifischen Nuancierungen hervorbringen und in der Szene vertreiben. Gerade die Gruppe der Szene- Künstler*innen ist dabei durch verschiedene szenespezifische Medien mit der Ebene der Szene-Konsument*innen verknüpft und bringt eine szeneinterne Struktur- und Gemeinschaftsbildung auf einer Ebene höherer Granularität hervor. Die Rede ist von einzelnen Fan- Gemeinden, welche sich durch einen spezifischen, durch den Szene-Künstler*innen geprägten Konsumstil kennzeichnen, der zusätzlich mit etwaigen lokalen oder individuellen Überformungen verbunden ist (cf. Güngör und Loh 2003: 55). Aufgrund solcher und anderer interner Differenzierungslinien kommt es zur Ausbildung von subgruppenspezifischen Konsumstilen mit einer je eigenen Dynamik, Bedeutung und Relevanz (cf. Hitzler und Niederbacher 2010: 29). Eben diese Pluralisierung des Konsums vollzieht sich dabei entlang der internen Struktur der Hip-Hop-Szene mittels verschiedener Differenzierungskategorien, die den Inhalt eines szenespezifischen Produkts subgruppenspezifisch aufbereiten und so jeweils differenzierte Ausprägungen hervorbringen. Das Ziel des folgenden Beitrags ist es, die Charakteristika und Elemente, die eine solche interne Strukturierung der Hip-Hop-Szene hervorbringen, aufzugreifen und in Relation zueinander darzustellen. Zu diesem Zweck wurde in einer dreijährigen ethnographischen Studie (cf. Krause 2019) ein exploratives Forschungsdesign entworfen und im Feld der Hip-Hop-Szene angewandt (cf. einführend Hitzler 2000; Hitzler und Eisewicht 2016). Hierbei wurden unterschiedliche Methoden der Datenerhebung und Datenanalyse kombiniert. Zum Zweck der Datenerhebung wurden die Methoden (i) der teilnehmenden Beobachtung, (ii) der beobachtenden Teilnahme sowie (iii) leitfadengestützte Interviews genutzt. Darüber hinaus wurden ebenso aus den Feldaufenthalten generierte Dokumente sowie szenespezifische Medien wie etwa Magazine oder soziale Medien als Datenquellen hinzugezogen. Als Felder der Datenerhebung dienten szenespezifische (Kleidungs-)Geschäfte und Veranstaltungen wie etwa Konzerte, Jams und Conventions. Die sich aus den Feldaufenthalten ergebenden Daten wurden in Form von Feldprotokollen festgehalten. Hingegen wurden die Interview-Daten in Form von Transkripten abgebildet (cf. Honer 2011a; Honer 2011b; Hitzler und Eisewicht 2016; Hitzler 2000: 25 - 26; Hitzler und Honer 1994b: 393; Hitzler 2002; Krause 2019: 39 f.). Als übergreifende Methode der Datenanalyse wurde (iv) die reflexive Grounded Theory hinzugezogen (cf. Breuer 2009). Dieses Hauptverfahren der Datenanalyse wurde zusätzlich um zwei weitere Kodier-Modi erweitert, die bei vorliegender Relevanz Anwendung fanden. So fungierte (v) eine an die Hermeneutik angelehnte Form der Feinkodierung als nachgelagerte Tiefenanalyse von identifizierten Schlüsselstellen des textbasierten Datenmaterials (cf. Hitzler und Eisewicht 2016: 62; Breuer 2009: 44 f., 81; Kurt 2004: 243 f.; Krause 2019: 39 f.). Hingegen wurde für die Analyse des vorliegenden Bildmaterials (vi) auf die visuelle Grounded Theory als Instrument der Datenanalyse zurückgegriffen (cf. Mey und Dietrich 2016; Dietrich und Mey 2018; Krause 2019: 39 f.). Insgesamt kam der reflexiven Grounded Theory so nicht nur die Funktion zu, die vorliegenden Feldprotokolle, Bilder und Interviewtranskripte zu analysieren und dort Stellen für eine tiefer gehende Analyse zu identifizieren und diese dann auch anzuleiten, sondern im Weiteren auch die Teilergebnisse fall- und datenübergreifend in einem zentralen Kategorienkonzept abzubilden, um so ein umfängliches Verständnis in Bezug auf die Relation der internen Strukturen der Hip-Hop- Szene und deren Interdependenzen zu vorliegenden Konsumtendenzen zu erhalten (cf. Breuer 2009: 39, 52, 70; Hitzler und Eisewicht 2016: 70). 2 Strukturen der Hip-Hop-Szene Szenen können als eine “ Form von lockerem sozialem Netzwerk ” (Hitzler 2008: 56) definiert werden, “ einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften ” (Hitzler und Niederbacher 2010: 15). Ein wesentliches Merkmal von Szenen ist dabei ihr zugrundliegendes Thema. Ein solches Szene-Thema bildet einen zentralen Ausgangspunkt für die Gestaltung des szenespezifischen Handelns. So werden die Sprache, die Auswahl und die Gestaltung der szenespezifischen Treffpunkte, die Rituale, die Events, die Formen der sozialen Interaktionen sowie die Erscheinungsbilder Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 125 der Szene-Mitglieder durch das Szene-Thema beeinflusst (cf. Hitzler 2008: 64). Rein strukturell kann die Hip-Hop-Szene in vier übergreifende Kernthemen unterteilt werden. Diese Kernthemen sind Rap, DJing, Graffiti und Breakdance (cf. Klein 2006: 28; Hitzler und Niederbacher 2010: 84; Schröer 2013: 11). Bei dieser thematischen Unterteilung der Szene handelt es sich jedoch nicht um trennscharfe Grenzen innerhalb der Szene. Vielmehr weisen diese thematischen Felder der Hip-Hop-Szene diffuse Grenzen und auch Schnittmengen zueinander auf, die Raum für die Entwicklung von themenübergreifendem, szenespezifischem Handeln erlauben. Auf diese Weise können sich auch unterschiedliche Typen von Szene-Mitgliedern herausbilden, die eine Zugehörigkeit zu mehreren Kernthemen der Szene aufweisen. So kann sich beispielweise ein Szene-Mitglied sowohl im Rap als auch im Bereich Graffiti engagieren (cf. Krause 2019: 88). Neben dieser rein thematischen Unterteilung der Hip-Hop-Szene bildet das Einnehmen einer oder mehrerer szenespezifischen Rollen durch das Szene-Mitglied die nächste zentrale Strukturkategorie der Hip-Hop-Szene. Unterschieden werden hierbei Szene-Künstler*innen, Szene-Organisator*innen und Szene-Konsument*innen. Die Rolle der Szene-Künstler*innen kennzeichnet sich durch ein ausführendes Handeln in mindestens einem der Kernthemen der Szene, also beispielsweise das produzieren szenespezifischer Musik, das Gestalten von Graffitis oder aber das aktive Teilnehmen im Bereich Breakdance. Ein wesentlicher Parameter zur Einordnung der Szene-Künstler*innen bildet dabei ihr Bekanntheits- und Professionalisierungsgrad. So können Szene-Künstler*innen beispielsweise lediglich in ihrem lokalen Umfeld bekannt und tätig sein oder aber auch auf überregionaler, nationaler oder internationaler Ebene. Ebenso können Szene- Künstler*innen das szenespezifische Handeln nur als Hobby oder aber auch als einen den Lebensunterhalt generierenden Beruf ausüben (cf. Krause 2019: 89). Szene-Organisator*innen weisen im Unterschied zu den Szene-Künstler*innen ein Aufgabenfeld auf, das auf die Moderation und Bewältigung organisatorischer Aspekte zielt, die dem szenespezifischen Handeln zugrunde liegen. Dies kann sich beispielsweise auf das Vermarkten und Gestalten von Künstler*innenauftritten bei Konzerten, Jams oder anderen szenespezifischen Events belaufen. Hierunter ist jedoch auch die Moderation des szenespezifischen Austauschs z. B. in Online-Communitys oder Ähnlichem zu verstehen (cf. Krause 2019: 91). Die dritte Kategorie der Szene-Rollen bilden die Szene-Konsument*innen. Eben diese kennzeichnen sich durch eine Passivität hinsichtlich des Ausübens szenespezifischer Aktivitäten. Im Vordergrund steht hingegen die Konsumtion der Ergebnisse des szenespezifischen Handelns der Szene-Künstler*innen und Szene-Organisator*innen. Dies meint zum Beispiel das Lesen eines szenespezifischen Beitrags oder Magazins, das Betrachten des Entstehens eines Graffitis oder das Besuchen eines Konzertes. Auf der anderen Seite meint dies natürlich auch den Konsum von szenespezifischen Kleidungsprodukten zur Konstruktion eines für die Szene komplementären Erscheinungsbildes. Somit bilden sich zwei Ebenen des szenespezifischen Konsums an dieser Stelle heraus. Auf der einen Seite stellt (i) das Betrachten szenespezifischer Aktivitäten den Konsum auf der Handlungs-Ebene dar, während auf der anderen Seite (ii) der Konsum szenespezifischer Güter die Produkt-Ebene des szenespezifischen Konsums bildet. Auch innerhalb dieser Kategorie der Mitglieder der Hip-Hop-Szene kann entlang der Intensität des szenespezi- 126 Marco Krause fischen Konsums eine Differenzierung stattfinden. Das heißt, die Masse und die Frequenz des szenespezifischen Konsums kann als Indikator der Intensität des szenespezifischen Interesses gelten und zur internen Strukturierung der Gruppe der Szene-Konsument*innen herangezogen werden. Hierbei gilt es hinsichtlich der Grenzen dieser drei Rollen zu betonen, dass diese nicht als trennscharf zu betrachten sind. Vielmehr unterliegen auch diese Rollenkonzepte einer spezifischen Dynamik, die es den Szene-Mitgliedern ermöglicht, mehrere Rollen auszufüllen oder auch zwischen den verschiedenen Rollen alternieren zu können (cf. Krause 2019: 90-92). Eine weitere wesentliche Strukturierungskategorie der Hip-Hop-Szene bilden neben den szenespezifischen Rollen die Akteurs-Ebenen, auf denen sich die Mitglieder der Szene positionieren. Unterschieden wird hierbei zwischen der lokalen, der nationalen und der internationalen Ebene der Hip-Hop-Szene. Die lokale Hip-Hop-Szene umfasst meist eine Stadt oder eine kleinere Region. So weisen lokale Hip-Hop-Szenen je eigene Nuancierungen ihres szenespezifischen Handelns auf. Diese Einflüsse reichen von der Verwendung eines Sets unterschiedlicher Begriffe, der Entwicklung spezifischer Praktiken zur Ausübung des szenespezifischen Handelns bis hin zur Konstruktion eines dort geltenden, üblichen Erscheinungsbildes. Das heißt, das dort jeweils ansässige Verständnis von dem, was als szenespezifisches Handeln gilt, unterliegt einem je spezifischen Toleranzbereich. So können beispielsweise Rap-Songs oder auch Graffitis lokale Themen oder auch szeneexterne Einflüsse aufgreifen und in das szenespezifische Handeln integrieren. Diese Einflüsse müssen dabei nicht an andere lokale Szenen oder gar an die nationale oder internationale Hip-Hop-Szene anschlussfähig sein. Während die Akteur*innen auf der lokalen Szene-Ebene durch eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer szenespezifischen Rollen gekennzeichnet sind, agieren auf der nationalen und internationalen Ebene allen voran Szene-Organisator*innen und Szene-Künstler*innen, welche mit ihrem Handeln das Ziel verfolgen, möglichst großen monetären Erfolg zu generieren. So weisen z. B. Szene-Künstler*innen auf diesen Ebenen eine entsprechend hohe Reichweite auf, sodass diese auch auf überregionalen Veranstaltungen wie Konzerten oder Festivals in unterschiedlichen Regionen eine entsprechend hohe Anzahl an Szene-Mitgliedern anziehen. Aufgrund dieser höheren Reichweite kennzeichnet sich das szenespezifische Handeln auf dieser Ebene durch die Notwendigkeit einer höher ausgeprägten Anschlussfähigkeit, um komplementär zu den Relevanzstrukturen einer großen Anzahl von Szene- Mitgliedern zu sein. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass die szenespezifischen Inhalte und Produkte der Akteur*innen der nationalen und internationalen Hip-Hop-Szene die vorliegenden subkulturellen Variationen und Relevanzen der lokalen Hip-Hop-Szenen überwinden müssen, um Zugang zu diesen zu finden und als Bestandteil der Szene dort adaptiert und konsumiert zu werden (cf. Krause 2019: 95-97). Ähnlich wie die verschiedenen Akteurs-Ebenen der Hip-Hop-Szene miteinander unterschiedlich gearteten Relationen unterliegen, weist die Hip-Hop-Szene zusätzlich auch Interdependenzen zu szeneexternen Subgruppen auf, die unterschiedlich ausgeprägte Einflüsse auf sie ausüben. Hierunter ist z. B. die Integration szenefremder Inhalte in die Gestaltung des szenespezifischen Handelns oder szenespezifischer Produkte gemeint. Auf diese Weise zeigt die Hip-Hop-Szene eine gewisse Durchlässigkeit hinsichtlich ihrer Grenzen zu anderen Szenen, Organisationen oder sonstigen gesellschaftlichen Subgruppen. Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 127 Eine Möglichkeit einer solchen Interdependenz bildet zum Beispiel der Einfluss der Kleidungs-Industrie. So können mitunter szenefremde Inhalte (wie zum Beispiel Comic- Themen) auf den szenespezifischen Produkten (wie zum Beispiel Caps) aufgegriffen und abgebildet werden. Solche thematischen oder stilistischen Adaptionen szenefremder Inhalte bilden wiederum den Ausgangspunkt für die Erweiterung des szenespezifischen Themenspektrums, welches durch die Mitglieder aufgegriffen und in den Szene-Kontext überführt wird. Die hier dargelegten Struktur-Spezifika der Hip-Hop-Szene haben eine wesentliche Bedeutung bei der Herausbildung von szenespezifischen Konsumstrukturen. Hierbei handelt es sich um eine der wesentlichen Kernkategorien bei der Herausbildung etwaiger Konsumströmungen, die nämlich das strukturelle Feld bereitstellt, auf denen sich diese vollziehen. Eben dieser Zusammenhang wird im Folgenden detailliert aufgegriffen und dargestellt (cf. Krause 2019: 102-103, 213). 3 Produktkonsum in der Hip-Hop-Szene Unter dem Begriff “ Konsum ” soll in diesem Kontext der Ge- und Verbrauch von erworbenen Konsumgütern verstanden werden (cf. Hellmann 2005: 10-11). Insgesamt weist die Hip- Hop-Szene eine sehr konsumaffine Ausrichtung auf. Der Konsum von szenespezifischen Produkten wie zum Beispiel Kleidung und Accessoires gilt hier als wesentlicher Aspekt zur Wahrnehmung der Szenezugehörigkeit und ebenso der Abbildung der thematischen Szene- Verortung und ist damit von großer Bedeutung. So kann der Konsum von Produkten, die das äußere Erscheinungsbild eine*r Konsument*in formen (cf. Goffman 1969: 25), dazu dienen, einen für die Szene anschlussfähigen Stil darzustellen und zu etablieren. Eben dieser Aspekt ist dabei nicht nur auf der Ebene der medial präsenten Szene-Künstler*innen wichtig, sondern spielt auch bei den Szene-Konsument*innen auf lokaler Ebene eine wichtige Rolle, um z. B. als ein kompetentes Mitglied der Hip-Hop-Szene wahrgenommen zu werden. Somit kann ein anschlussfähiger, szenespezifischer Produktkonsum mitunter die Funktion erfüllen, Einlass in die Hip-Hop-Szene zu finden, da die Produkte die Szene-Zugehörigkeit moderieren und visuell herstellen. Auf diese Weise wird das Vorhandensein einer zur Hip- Hop-Szene komplementären Interessenstruktur mithilfe der konsumierten szenespezifischen Produkte (zumindest) visuell demonstriert. Jedoch ist die Wirkung des Produktkonsums nur begrenzt als Indikator anwendbar, da dies mit den Aspekten eines szenespezifischen Wissensbestandes und dem Interesse und der Teilnahme an relevanten Szene- Aktivitäten einhergehen muss. Diese Faktoren sind zentral und nicht durch ein szenespezifisches Konsummuster zu ersetzen (cf. Hitzler 2008: 64; Hitzler und Niederbacher 2010: 29, 87, 192; Eisewicht, 2016: 113; Krause 2019: 105 f.). Grundsätzlich kann bei der Konstruktion eines szenespezifischen Erscheinungsbildes auf verschiedene Produktklassen zurückgegriffen werden. Unter dem Begriff der “ Produktklasse ” sollen Jacken, Oberteile, Kopfbedeckungen, Beinkleider, Schuhe, Taschen und Accessoires verstanden werden. Diese Produktklassen weisen in sich wiederum verschiedenen Produkte auf, die an dieser Stelle als Produktkategorie bezeichnet werden (cf. Krause 2019: 106 f.). 128 Marco Krause Tabelle 1 zeigt diese Relation anhand ausgewählter Beispiele von Produktkategorien in der jeweiligen Produktklasse auf. Tabelle 1: “ Übersicht Produktklassen und deren beispielhafte Ausprägungen ” (Krause 2019: 106) Produktklasse Ausgewählte Produktkategorien Kopfbedeckungen Caps, Beanies (Baumwollmütze), Bandanas (Kopftuch) Jacken Parka, Lederjacken, College-Jacken Oberteile T-Shirts, Hoodies, Longsleeves, Tank Tops Beinkleider Jeans, Sweatpants Schuhe Sneakers Accessoires Ketten, Dog-Tags, Uhren, Sonnenbrillen Taschen Gym Bags (Turnbeutel), Brusttaschen Die hier abgebildeten Produktklassen sind grundsätzlich auch in den spezifischen Produktspektren anderer Szenen vertreten. Die Unterscheidung und die Ausprägung szenespezifischer Merkmale findet hier erst durch die Mechanismen der szenespezifischen Produktdifferenzierung auf der Ebene der jeweiligen Produktkategorie statt. Diese Mechanismen bilden wiederum feingranulare Muster und Differenzierungslinien, die breite Räume für die Ausgestaltung eines szenespezifischen Produktkonsums schaffen (cf. Krause 2019: 142). Diese Mechanismen der Produktdifferenzierung sind die Produktnuancierung, die Produktkombination und die Produktausrichtung. Unter dem Begriff der Produktnuancierung werden alle Produktmerkmale verstanden, die die äußere Erscheinung des Produkts bestimmen. Somit zählen hierzu die Produktfarbe, die Produktbreite, die Produktlänge, sowie die Integration von Marken oder auch bestimmten szene-externen oder -internen Themen (z. B. Serien, Comics oder szenespezifische Künstler*innen) durch Aufdrucke oder Schriftzüge. Hierbei eröffnet vor allem der Mechanismus der Integration szeneexterner Themen in jeweils szenespezifische Produkte die Möglichkeiten, das szenespezifische Produktspektrum in zwei Richtungen zu beeinflussen. Auf der einen Seite können so szenefremde Themen in szenespezifische Produkte integriert werden (z. B. durch Aufdrucke auf Caps oder Oversize-T-Shirts) und so eine Anschlussfähigkeit an die Hip-Hop-Szene entwickeln, was wiederum das thematische Spektrum dieser Szene erweitert. Auf der anderen Seite können aber auch szenefremde Produkte durch die Integration szenespezifischer Themen wiederum eine Anschlussfähigkeit an den szenespezifischen Produktkonsum entwickeln und so in der Hip-Hop-Szene etabliert werden (cf. Krause 2019: 107 f., 140, 181, 206). Die Produktkombination meint die Produktauswahl der Szene-Konsument*in bei der Erstellung seines szenespezifischen Erscheinungsbildes. Hier können beispielsweise durch die jeweiligen Nuancierungen der einzelnen Produkte etwaige Kontraste in das produktspezifische Erscheinungsbild integriert werden. Ein Beispiel hierfür wäre die Kombination einer eng sitzenden Skinny-Jeans mit einem Oversize-T-Shirt (cf. Krause 2019: 118 f., 181, 206). Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 129 Die Produktausrichtung meint die Art und Weise, wie ein Produkt in das Erscheinungsbild einer Szene-Konsument*in durch diesen integriert wird. Hierunter kann unter anderem die Ausrichtung eines Caps auf dem Kopf oder die Höhe verstanden werden, auf der ein*e Szene-Konsument*in die Hose an ihrer Hüfte platziert (cf. Krause 2019: 181, 189 f., 206). Die Aufnahmen der Abbildung 1 (cf. Abb. 1) illustrieren die beschrieben Aspekte der Produktdifferenzierung. Auf Abbildung 1a ist ein augenscheinlich männliches Szene-Mitglied abgebildet. Dieses kennzeichnet sich durch den Konsum einer schwarzen Hose, eines weißen Oversize- T-Shirts, einer silbernen Halskette und einer weißen Cap. Diese Produktauswahl bildet hierbei die Produktkombination des Szene-Mitglieds. Der Faktor der Produktnuancierung wird in diesem Beispiel am Produkt des Oversize-T-Shirts am deutlichsten. Dieses weist in der Eigenschaft der Produktlänge eine deutlich größere Ausprägung auf. Daneben ist auf dem Produkt noch ein Aufdruck mit dem Bild und dem Namen des Szene-Künstlers Tupac Shakur angebracht. Auf diese Weise kann das Produkt beispielsweise die Sympathie der Szene-Konsument*innen hinsichtlich dieses Szene-Künstlers akzentuieren. Das Cap des Szene-Mitglieds weist hier ebenfalls Nuancierungselemente auf. So ist auf diesem Produkt die Aufschrift der Marke CARHARTT zu erkennen. Auch durch den Konsum solch markenspezifischer Kleidung kann eine bestimmte, auf den szenespezifischen Produktkonsum ausgerichtete Haltung des Szene-Mitglieds signalisiert werden. Abbildung 1b zeigt hingegen eine weibliche Szene-Konsumentin. Diese kennzeichnet sich durch den Konsum von Sneakers und eines Oversize -T-Shirt. Dieses T-Shirt weist jedoch die Besonderheit auf, dass es sich um ein speziell für weibliche Konsumentinnen entworfenes Produkt handelt. In seinen Grundzügen ist dieses Produkt an den Typus des Oversize-T- Shirts angelehnt, welches von männlichen Konsumenten getragen wird. Jedoch wird dieser Produkttypus im vorliegenden Beispiel in den Kontext des Konsums weiblicher Szene- Konsumentinnen übersetzt. Auf diese Weise wird die Anschlussfähigkeit des Konsums dieser szenespezifischen Produktkategorie auch in dieser Teilgruppe der Szene ermöglicht. Abb. 1: Oversize T-Shirts 1 1 Abbildung 1a Quelle [Stand: 10.03.2022]: https: / / www.boohooman.com/ de/ oversized-tupac-bandana-t-shirt/ MZZ43241-173-34.html; Abbildung 1b Quelle [Stand: 10.03.2022]: https: / / www.asos.com/ de/ asos-design/ asos-design-oversized-t-shirt-kleid-in-hafermehl/ prd/ 13665455. 130 Marco Krause Insgesamt ergeben sich aus dem Zusammenspiel dieser drei Differenzierungsdimensionen breite Räume für die Ausprägung fein differenzierter, szenespezifischer Konsummuster. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die initialen Ausgangspunkte für die Ausprägung der produktbasierten Differenzierungsmuster Produktkategorien sind, welche bereits in der Hip-Hop-Szene etabliert und somit von den Szene-Mitgliedern als legitim angesehen werden. Das heißt, die verschiedenen Formen der Produktdifferenzierungen produzieren hier zwar Räume der Ausbildung heterogener Konsummuster, jedoch sind die geschaffenen Abweichungen nicht so tiefgreifend, dass das konsumierte Produkt nicht nicht mehr der ursprünglichen Produktkategorie zugeordnet werden kann. Somit werden diese trotz der vorliegenden Abweichungen noch stets als szenespezifisch erkannt. Dieser Umstand eröffnet den Szene-Konsument*innen im Weiteren die Möglichkeit aus einem heterogenen und teils nur an Substrukturen oder gar Einzelelementen der Hip-Hop-Szene angelehnten Produktspektrum ihren eigenen individuellen und szenespezifischen Stil zu konstruieren und in ihr Erscheinungsbild zu integrieren. Auf diese Weise wird das in der Hip-Hop-Szene bedeutsame Element der Kreation eines eigenen Stils befriedigt und dies mit der Gewissheit, sich mit diesem individuellen Stil auf legitimen und in der Szene anschlussfähigen Bahnen zu bewegen (cf. Schröer 2013: 126; Kimminich 2007: 58, 60; Krause 2019: 37, 142). Neben den bereits beschriebenen Struktur-Charakteristika der Hip-Hop-Szene weisen die hier dargelegten Spezifika der Produkt-Ebene eine wesentliche Bedeutung für die Ausbildung szenespezifischer Konsumtendenzen auf. So liefert die hier beschriebene Produkt-Ebene die Inhalte, die entlang der szeneinternen Subgruppen konsumiert werden und im Anschluss feingranulare Muster produktbasierter Konsumtendenzen hervorbringen (cf. Krause 2019: 213). 4 Authentizität und die Ausbildung eines individuellen Stils als Rahmenbedingung des Produktkonsums in der Hip-Hop-Szene Die Hip-Hop-Szene weist in ihrer Ausrichtung verschiedene Werte auf, die nicht nur das soziale Handeln beeinflussen, sondern sich zudem auch auf den szenespezifischen Produktkonsum auswirken. Ein wesentlicher Aspekt ist hierbei der Faktor der Authentizität. Authentizität kann mit dem Begriff der ‘ Echtheit ’ gleichgesetzt werden. Grundsätzlich umfasst dieser Aspekt die Komplementarität der Grundeinstellung eines Szene- Mitglieds mit seinen szenespezifischen Handlungen. Eben dieser Aspekt ist in der Folge auch von wesentlicher Bedeutung bei Interaktionen zwischen Szene-Mitgliedern und ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Hintergrund ist, dass eine entsprechende Bewertung bei der Wahrnehmung des szenespezifischen Handelns durch andere Szene-Mitglieder erfolgt. Hierbei kann ein Akteur in der Folge als authentisch oder auch nicht authentisch etikettiert werden. Diese Wahrnehmung unterliegt jedoch keinerlei Generalisierung, sondern kann unter subgruppenspezifischen Aspekten innerhalb der Szene erfolgen. So kann z. B. ein*e Szene-Künstler*in in gewissen Teilen der Szene als authentisch wahrgenommen werden, während andere Subgruppen ihm diesen Status nicht zuerkennen. Dabei können sich solche Subgruppen und ihre Anerkennungspraktiken durch unterschiedliche Spezifika definieren wie z. B. (i) durch die geographische Verortung einer ortsgebundenen lokalen Szene oder (ii) die vorliegenden Interessenstrukturen einer künstler*innenspezifischen Fangemeinde oder Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 131 sie kann sich (iii) auch entlang soziodemographischer Faktoren wie dem Alter oder dem Geschlecht bilden. So kann ein*e Szene-Künstler*in etwa in der Gruppe jüngerer Szene- Mitglieder als authentisch anerkannt werden, während langjährige Szene-Mitglieder diesen als “ fake ” stigmatisieren. Eine solche Wahrnehmungsdifferenz rekurriert mitunter auf unterschiedlich ausgeprägte, szenespezifische Wertmaßstäbe, die unterschiedliche Parameter hinsichtlich der Ausprägung und Anschlussfähigkeit eines szenespezifischen Handels aufweisen (cf. Krause 2019: 75-76). Mit diesem Aspekt der Authentizität geht darüber hinaus auch der Umstand zur Ausprägung eines eigenen individuellen, szenespezifischen Stils einher. Damit ein solcher Stil jedoch als authentisch wahrgenommen wird, darf er nicht als bloße Adaption beziehungsweise Kopie eines bereits von einem anderem Szene- Mitglied innehabenden Stils gelten. Eine solche Adaption allein stellt somit nicht die Konstruktion eines eigenen Stils dar und wird dementsprechend nicht als solcher von anderen Szene-Mitgliedern wahrgenommen. Zwar ist eine Orientierung an den Stilen anderer Szene-Mitglieder durchaus möglich und wird auch weitläufig praktiziert, jedoch ist bei einer solchen Aneignung einzelner Stilelemente eines Szene-Mitglieds der jeweilige Umfang wesentlich, in dem die Elemente in den eigenen Stil integriert werden. Das heißt, hier ist der Umstand von Bedeutung, ob die Elemente lediglich kopiert oder eher als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung genutzt werden. Darüber hinaus ist auch die jeweilige Relation von dem kopierenden und dem kopierten Akteur von wesentlicher Bedeutung, die diese zueinander innehaben. Hierunter ist der Umstand zu verstehen, dass das Kopieren eines Szene-Mitglieds im eigenen lokalen Umfeld negativer behaftet ist als das Kopieren eines Akteurs einer anderen Szene-Ebene. So kann das Aufgreifen von Stilelementen eine*r Szene-Künstler*in der nationalen oder internationalen Szene-Ebene hingegen durchaus als legitim und als anschlussfähig an die Szene betrachtet werden. Hintergrund dieses Umstands bildet die Distanz, die zu diesen verschiedenen Vertretern der Szene vorliegt. Zudem dienen Akteur*innen wie Szene- Künstler*innen, die mit ihrem Szene-Handeln auf kommerzieller Ebene agieren, durchaus als Vorgänger hinsichtlich der Ausprägung verschiedener Szene-Elemente, die auf den lokalen Szene-Ebenen aufgegriffen und adaptiert werden (cf. Krause 2019: 76, 192, 193). Die eben beschriebenen Aspekte eines authentischen und individuellen Stils sind dabei nicht nur auf das szenespezifische Handeln im Umfeld anderer Szene-Mitglieder beschränkt, sondern rekurrieren ebenso auf den szenespezifischen Produktkonsum. So bildet beispielweise die quantitative Menge von szenespezifischen Produkten, die in das Erscheinungsbild eines Szene-Mitglieds integriert werden, einen wichtigen Faktor für die Ausprägung eines authentischen und individuellen Erscheinungsbilds. Dies meint, dass das Ausmaß, in dem das Mitglied szenespezifische Produkte konsumiert, von anderen Szene-Mitgliedern nur dann als authentisch empfunden wird, wenn das sich aus den Produkten ergebende Erscheinungsbild auch komplementär zu den szenespezifischen Einstellungen und Handlungen de*r jeweiligen Konsument*in ist. Ein bloßes Konsumieren von zahlreichen szenespezifischen Produkten reicht hierbei also nicht aus, um innerhalb der Szene als authentisch wahrgenommen zu werden. Auf diese Weise kommt dem Konsum szenespezifischer Produkte die Funktion der Akzentuierung und Moderation der Haltung eine*r Konsument*in gegenüber der Hip-Hop-Szene zu und bildet nicht den zentral konstruierenden Faktor zur szene-internen Positionierung. Einzig die subjektiven Inte- 132 Marco Krause ressenstrukturen sowie das Ausüben szenespezifischer Aktivitäten sind die wesentlichsten Elemente bei der Herstellung einer szenespezifischen Identität. Diese können nicht durch den Konsum etwaiger Produkte kompensiert werden. Ein solcher Umstand eines “ künstlich ” übertriebenen szenespezifischen Produktkonsums wird dementsprechend schnell durch andere Szene-Mitglieder wahrgenommen und als nicht authentisch kategorisiert. Somit kann hier ein Zusammenhang bezüglich der szeneinternen Verortung und dem Vorhandensein eines als authentisch wahrgenommenen szenespezifischen Produktkonsums festgemacht werden (cf. Krause 2019: 117-118). Neben der thematischen szeneinternen Verortung weist auch die lokale Positionierung eines Szene-Mitglieds einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Ausprägung authentischer und anschlussfähiger Konsummuster auf. So bringen auch lokale Szenen eigene und als legitim geltende Produktspektren hervor. Das heißt, die Intensität der szenespezifischen Konsumtion und auch die Kombination bestimmter Produkte unterliegt unterschiedlichen Legitimitäts- und Authentizitätsgrenzen und kann lokalen Schwankungen unterliegen. In der Folge kann ein Konsumstil in der einen lokalen Szene als mehr und in anderen lokalen Szenen als weniger authentisch und anschlussfähig wahrgenommen werden. Diese Spektren des legitimen, szenespezifischen Produktkonsums bilden wiederum den Ausgangspunkt für die Ausbildung der individuellen Konsumstile der Szene-Konsument*innen. So gilt auch bei der Ausgestaltung eines eigenen, individuellen Konsumstils die Prämisse, dass dieser komplementär bezüglich der internen Positionierung eines Szene-Mitglieds sein soll. Das heißt, dass die Szene-Konsument*in sich hier einerseits auf den vorgegebenen Bahnen eines szenespezifischen Produktkonsums bewegt, diese jedoch entlang seiner eigenen szenespezifischen Relevanzstrukturen abwandelt und adaptiert. Dies kann beispielsweise durch einen eigenen Prozess der Produktnuancierung erfolgen, in dem das Szene-Mitglied auf einem Kleidungsstück etwaige szenespezifische Aufnäher anbringt, die dem Produkt eine zusätzliche Ebene liefern, die die szenespezifischen Relevanzstrukturen und die interne Positionierung der Konsument*innen abbilden und nach außen tragen. Das Ergebnis dieses produktbasierten Konstruktionsprozesses ist ein für die jeweiligen Szene- Konsument*innen individueller Stil des produktbasierten Erscheinungsbilds, der andererseits eine Legitimität hinsichtlich der vorgegebenen Konsummuster aufweist und zeitgleich die szeneinterne Position der Konsument*innen moderiert und akzentuiert und so ein an die Szene anschlussfähiges und authentisches Erscheinungsbild formt. Die in diesem Prozess enthaltene Balance zwischen der Intensität der Integration szenespezifischer Produkte und dem Maß der Nachahmung bestehender Konsummuster und ihrer individuellen Umdeutung entlang der jeweils szeneinternen Positionierung der Konsument*innen bilden somit die grundlegende Basis zur Herstellung der szeneinternen Anschlussfähigkeit und damit die Grundlage der Bildung von Authentizität innerhalb des szenespezifischen Produktkonsums (cf. Krause 2019: 119 f., 204). In diesem Prozess der Konstruktion des szenespezifischen Erscheinungsbildes werden so die drei bereits beschriebenen, grundlegenden Differenzierungsdimensionen, also die Produktnuancierungen, die Produktkombinationen und die Produktausrichtungen, durch die Szene-Konsument*innen miteinander verschränkt. Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 133 5 Produktkonsum und Strukturbildung der Hip-Hop-Szene Die bereits dargelegten Spezifika des szenespezifischen Produktkonsums im Kontext der Hip-Hop-Szene bilden insgesamt die Grundlage für die Ausbildung von produkt- und konsumbasierten Strukturen. Hierzu wurde bereits der Umstand beschrieben, dass es hinsichtlich der Ausbildung eines individuellen und authentischen szenespezifischen Stils von Bedeutung ist, in welcher strukturellen Relation das kopierende und das kopierte Szene-Mitglied zueinander stehen und wie sich die Intensität der Nachahmung im Konsumstil des kopierenden Szene-Mitglieds ausgestaltet. Besonders zum Tragen kommt dieser Aspekt bei der sozialen Figuration, die sich aus dem Verhältnis von Szene- Künstler*innen und Szene-Konsument*innen ergibt. Diese soziale Figuration ist hinsichtlich der Kategorie des Produktkonsums durch eine Vorgänger-Nachfolger-Tendenz gekennzeichnet. Das heißt, aufgrund der Komplementarität zwischen der szenespezifischen Bedürfnisstruktur der Szene-Konsument*innen auf der einen Seite und dem szenespezifischen Handeln der Szene-Künstler*innen auf der anderen Seite ergibt sich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass etwaige Produkte, die die entsprechenden Szene- Künstler*innen konsumieren, auch auf der Ebene der Szene-Konsument*innen Anschluss finden und in die Konsumstile der Akteur*innen auf dieser Ebene integriert werden. Hintergrund dieser Nachahmungstendenz bilden dabei Identifikationsprozesse der Szene- Konsument*innen, die sich entlang ihrer szenespezifischen Relevanzstrukturen positionieren und die Szene-Künstler*innen hierzu als Referenzpunkte nutzen. Das heißt, durch diese Formen der Identifikation der Szene-Konsument*innen sollen latente, szenespezifische Relevanz- und Interessenstrukturen sichtbar nach außen getragen werden, was wiederum anderen Szene-Mitgliedern die Möglichkeit liefert die entsprechende Akteur*in innerhalb der Hip-Hop-Szene zu verorten. Dies kann beispielsweise schon auf rudimentärer Ebene erfolgen, wenn beispielsweise ein*e Szene-Konsument*in ein T-Shirt trägt, auf dem die Tour-Daten eine*r Szene-Künstler*in abgebildet sind. Durch das Tragen dieses Produkts ist es anderen Szene-Mitgliedern möglich, die Szene-Konsument*in hinsichtlich ihres szenespezifischen Musik-Konsums als “ Fan ” eine*r bestimmten Szene-Künstler*in zuzuordnen (cf. Krause 2019: 148 f.). Diesen Aspekt der Nachahmung von Szene-Künstler*innen durch Szene-Konsument*innen beschrieb der Rapper Shindy in einem Interview wie folgt: [Frage: ] Shindy, findest du es manchmal befremdlich, wenn du Doppelgänger von dir auf der Straße oder auf Konzerten siehst? SHINDY: Am Anfang hat es mich gefreut, dann fand ich ’ s zum Kotzen. Mittlerweile freut es mich aber noch mehr als am Anfang. [Frage: ] Was hat dich daran angekotzt? SHINDY: Damals wollte ich, dass mich alle Leute in Ruhe lassen. Ich habe einfach nicht verstanden, warum die mich kopieren. Irgendwann ist mir aber bewusst geworden, dass das bloß eine andere Form von Bestätigung ist, indem die Leute mir zeigen, dass sie gerne so wären wie ich. Ein größeres Kompliment kann man kaum bekommen. [Frage: ] Sind das vorwiegend Teenager? SHINDY: Nein, und das freut mich am meisten! Das sind auch Leute, die so alt sind wie ich; Leute, die sich eigentlich längst gefunden haben sollten. Haben sie vielleicht auch, aber offensichtlich merken sie dann: Shindy ist doch noch ein bisschen cooler. (grins) (JUICE Nr. 171 Nov/ Dez 2015: 26-27) 134 Marco Krause Die hier dargelegte Nachahmungstendenz der Szene-Konsument*innen bildet wiederum den Ausgangspunkt für die Ausbildung verschieden gearteter künstler*innenspezifischer Produkte und ist damit auch aus ökonomischer Sicht von wesentlicher Bedeutung. Das zentralste Kennzeichen dieser Produkte bildet dabei die Nuancierung durch das Referenzieren auf eine bestimmte Szene-Künstler*in. So weisen z. B. verschiedene szenespezifische oder auch szeneexterne Marken etwaige Kooperationen auf, da es für diese relevant ist, mit entsprechenden Szene-Künstler*innen in Verbindung gebracht zu werden, um auf der Ebene der Szene-Konsument*innen als anschlussfähige und szenespezifische Konsumalternative etabliert zu werden und so eine entsprechende szeneinterne Positionierung aufzubauen. Darüber hinaus bilden Szene-Künstler*innen oftmals auch ihre eigene Marke aus, um unter dieser szenespezifische Produkte zu entwerfen und zu vertreiben. Dadurch, dass in diesem Fall die Marke auf die entsprechenden Szene-Künstler*innen rekurriert, weisen solche Produkte in der Gruppe der Szene-Konsument*innen eine tendenziell höhere Anschlussfähigkeit auf, sodass die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von Konsumtendenzen in dieser Gruppe entsprechend höher ist (cf. Krause 2019: 151). Nicht nur zwischen den Szene-Künstler*innen und den Szene-Konsument*innen besteht eine derart gelagerte Form der Ausbildung einer Vorgänger-Nachfolger-Tendenz. Auch Szene-Künstler*innen orientieren sich bei der Gestaltung ihres szenespezifischen Handelns an Strömungen aus anderen Ebenen der Hip-Hop-Szene. So bestehen hier Wechselwirkungen zwischen Szene-Künstler*innen unterschiedlicher Szene-Ebenen. Dies geht damit einher, dass Szene-Künstler*innen beispielweise einzelne Elemente des Konsumstils anderer Szene-Künstler*innen aus anderen lokalen oder nationalen Szene-Ebenen adaptieren. Dabei werden die nachgeahmten Elemente aufbereitet und umgearbeitet, um eine Anschlussfähigkeit an den Konsumstil der jeweiligen Szene-Künstler*in herzustellen. Ebenso können sich auch ähnlich gelagerte Nachahmungstendenzen zwischen Künstler*innen auf der nationalen Szene-Ebene und verschiedenen lokalen Szene-Ebenen herausbilden, wobei hier nicht von einer einseitigen Abhängigkeit zwischen den Szene- Künstler*innen der verschiedenen Ebenen ausgegangen werden kann. So ist es z. B. auch möglich, dass eine Szene-Künstler*in der nationalen Szene-Ebene Elemente eine*r lokalen Szene-Künstler*in aufgreift und diese in seinen Konsumstil integriert. Somit kann hier von einem wechselseitigen Aufgreifen und Umsetzen verschiedener szenespezifischer Konsumelemente gesprochen werden. Jedoch sind diese Nachahmungstendenzen auf der Ebene der Szene-Künstler*innen stets rückgekoppelt an die Gruppe der Szene-Konsument*innen. Dieser Umstand ergibt sich aufgrund der Integration des kopierten Elements in den Konsumstils eine*r Szene- Künstler*in. Aus diesem Grund wird das entsprechende Element beziehungsweise Produkt in der Folge auch anschlussfähig für den Konsum durch den Kreis der Szene-Konsument*innen. Auf diese Weise können etwaige Konsumtendenzen auch zwischen verschiedenen nationalen und lokalen Ebenen der Hip-Hop-Szene hindurch diffundieren. Hierbei ist es jedoch auf der Ebene der Szene-Konsument*innen von Bedeutung, dass das Wissen um die Nachahmungstendenz einer favorisierten Szene-Künstler*in nicht vorliegt. Das heißt, dass die Ursprungs-Version des kopierten Elements dem Großteil der Szene- Konsument*innen weitestgehend unbekannt ist und der jeweilige Konsumstil der Szene- Künstler*in zugeschrieben und damit als authentisch angesehen wird, was in der Folge die Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 135 Tendenz der Ausbildung eines Vorgänger-Nachfolger-Schemas zwischen der Szene- Künstler*in und den Szene-Konsument*innen erhöht (cf. Krause 2019: 97 f., 188 - 189). Für die Ausbildung und Etablierung eines solchen Vorgänger-Nachfolger-Schemas bilden die szenespezifischen Medien einen wesentlichen Aspekt. Allen voran digitale Medien wie Social-Media-Plattformen oder Online-Magazine beschäftigen sich mit den aktuellen Entwicklungen und schaffen so eine hohe Reichweite, Vernetzung und Zugänglichkeit in und zur Hip-Hop-Szene. So weisen solche und ähnliche szenespezifischen Medien aufgrund ihrer Funktion der Informationsvermittlung einen wirklichkeitskonstruierenden Aspekt auf, der als Referenzpunkt für die Szene-Konsument*innen fungieren kann. Eben diese Funktion der szenespezifischen Medien dient vielen Szene-Konsument*innen als Ausgangspunkt für die Ausgestaltung und Weiterentwicklung ihres eigenen szenespezifischen Handelns. Dies umschließt dabei auch die Orientierung bei der Auswahl und Gestaltung des szenespezifischen Produktkonsums. Auf diese Weise strukturieren die szenespezifischen Medien die Aufmerksamkeit der Szene-Konsument*innen und stellen zugleich die Verbindung zwischen den verschiedenen Szene-Ebenen und -Rollen her. So können Szene-Künstler*innen diese Medien nutzen, um die Gruppe der Szene-Konsument*innen zu erreichen und entsprechende kommerzielle Impulse zu setzen. Für die Szene-Konsument*innen hingegen dienen solche Medien aufgrund ihrer leichten Zugänglichkeit als stets abrufbare und legitime Orientierungsquellen für die Ausgestaltung des szenespezifischen Produktkonsums. Auf diese Weise stellen die szenespezifischen Medien nicht nur die Verbindung zwischen den Szene-Akteur*innen der verschiedenen Szene- Ebenen her, sondern sie verbinden auch die Struktur-Ebene mit der Produkt-Ebene der Hip- Hop-Szene, welche als Kernelemente für die Ausbildung konsumbasierter Strukturen notwendig sind. Dieser Sachverhalt ergibt sich daraus, dass innerhalb solcher Medien etwaige szenespezifische Konsumtendenzen aus der Ebene der Szene-Künstler*innen präsentiert werden, welche anschließend wiederum durch die Szene-Konsument*innen adaptiert und somit in andere strukturelle (lokale) Ebenen der Hip-Hop-Szene überführt werden (cf. Krause 2019: 86-87). Dadurch schließt sich an die mediale Verbreitung einer Konsumtendenz durch die szenespezifischen Medien ein Durchdringungsprozess eben dieser entlang der szene-internen Strukturen an. Das heißt, das jeweilige Konsummuster findet in verschiedenen lokalen Ebenen der Szene Anschluss, wird dort konsumiert und dabei auf spezifische Weise in die dort jeweils vorherrschenden Konsumstile integriert. In der Folge ergeben sich subgruppenspezifische Ausformungen der entsprechenden Konsumtendenz, welche jeweils eigene Dynamiken und szenespezifische Bedeutungen und Authentizitätsmuster ausbilden (cf. Krause 2019: 213). Aus dieser beschriebenen Dynamik ergeben sich wiederum szenespezifische Wirkbereiche, in denen sich solche Konsumtendenzen ausbreiten. Grundsätzlich kann hierbei zwischen drei grundlegenden Wirkbereichen unterschieden werden: Zuerst ist dies die übergreifende Szene-Ebene. Diese umfasst, die strukturelle Unterscheidung der Hip-Hop- Szene in ihre Kernthemen Graffiti, Breakdance, Rap und DJing. Die zweite Ebene der szenespezifischen Wirkbereiche ist die der szene-internen Subgruppen. Hierunter sind beispielsweise lokale oder thematisch orientiere Subgruppen zu verstehen. Eine Form der thematisch orientierten Subgruppen können beispielsweise Fangemeinden bestimmter szenespezifischer Künstler*innen sein. Die dritte und letzte Ebene der szenespezifischen 136 Marco Krause Wirkbereiche umfasst die individuelle Ebene des einzelnen Szene-Akteurs. Entlang dieser Wirkbereiche entwickeln sich dabei feingranulare Strukturen hinsichtlich der Ausprägung eines szenespezifischen Konsumstils. Dabei beherbergen die übergreifenden, thematischen Wirkbereiche grundlegende Strömungen des szenespezifischen Produktkonsums, an denen Abb. 2: subgruppenspezifischer Konsummuster in der Hip-Hop-Szene (eigene Darstellung, übernommen und angepasst (cf. Krause 2019: 206)) Konsumstrukturen in der Hip-Hop-Szene 137 sich die Szene-Konsument*innen bei der Ausformung ihrer Konsumstile orientieren. Das kann beispielsweise die eher funktionale Orientierung für die Ausübung szenespezifischer Aktivitäten wie Breakdance oder Graffiti sein. In diesen thematischen Strömungen liegt der Schwerpunkt bei der Erstellung eines produktbasierten Erscheinungsbildes darauf, dass dieses die Ausübung der jeweiligen Aktivität unterstützt. Das kann im Beispiel von Breakdance der Konsum von Kleidung sein, die die Bewegungsfreiheit eine*r Tänzer*in gewährleistet. Im Bereich Graffiti kann dies hingegen Kleidung meinen, die die Anonymität und die Fluchtmöglichkeiten beim illegalen Sprühen unterstützt (Sneaker zum schnellen Rennen, Sonnenbrille und Hoodie zur Wahrung der Anonymität). Hingegen weist die thematische Strömung des Rap eher eine ästhetische statt einer funktionalen Motivation zur Ausprägung eines szenespezifischen Konsumstils auf. Dieser muss hierbei lediglich in der Hinsicht funktional sein, dass die Authentizität und damit die szene-interne Positionierung des Szene-Konsument*innen widergespiegelt wird. Diese thematisch übergreifend vorherrschenden, konsumbezogenen Relevanzstrukturen werden auf der nächsten Ebene von den verschiedenen Subgruppen und anschließend von den einzelnen Szene-Konsument*innen adaptiert, überformt und in feingranulare Konsumstile übersetzt (cf. Krause 2019: 172 f., 198, 214). In der Abbildung 2 (cf. Abb. 2) sollen die hier erläuterten strukturellen Zusammenhänge bezüglich der Ausbildung subgruppenspezifischer Konsummuster entlang der internen Strukturen der Hip-Hip-Szene aufgezeigt werden. Auf dieser Abbildung ist zu erkennen, wie die Grundelemente der szeneinternen Struktur- und Produkt-Ebene durch die Szene-Medien miteinander verbunden werden und so die Entstehung von konsumbasierten Vorgänger-Nachfolger-Schemata ermöglichen. Diese Vorgänger-Nachfolger-Schemata vollziehen sich anschließend entlang der szene-internen Substrukturen und werden dort in den jeweiligen Subgruppen und letztendlich durch die einzelnen Akteur*innen in den Konsumstil integriert und dabei spezifisch überformt. Das heißt, dass sich hierbei verschiedene szene-interne Räume mit jeweils eigenen Substrukturen des Produktkonsums ergeben. Auf diese Weise kann eine Konsumtendenz in unterschiedlichen Substrukturen der Hip-Hop-Szene unterschiedlich ausgeformt werden und ist dort differenzierten Legitimitäts- und Bedeutungsansprüchen ausgesetzt. Daran anknüpfend bildet sich eine szeneinterne Pluralisierung des Produktkonsums heraus, die in unterschiedlichen Substrukturen beziehungsweise szeneinternen Wirkbereichen eigene Dynamiken entwickelt und Ausdruck für eine szeneinterne Pluralisierungstendenz hinsichtlich der Konstruktion eines szenespezifischen Konsumstils ist. Solche Dynamiken entsprechen dabei dem Rhythmus einer Konsumtendenz, der ihre Legitimitätsdauer und den Zeitpunkt umfasst, bis diese durch neue produktbasierte Impulse überformt wird (cf. Krause 2019: 195 f.). 6 Abschluss Der Produktkonsum zur Erstellung eines szenespezifischen Erscheinungsbildes in der Hip- Hop-Szene steht im Zusammenhang mit verschiedenen strukturellen Aspekten. Aufgrund der Strukturierung der Hip-Hop-Szene in verschiedene thematische und lokale Substrukturen und Fangemeinden, die jeweils bestimmte Szene-Aktivitäten, -Künstler*innen und -Akteur*innen favorisieren und als Referenzpunkte heranziehen, entstehen wiederum 138 Marco Krause verschiedene Subgruppen innerhalb der Szene mit je eigenen Konsumstrukturen und deren Bedeutungsbeimessungen. Eine wesentliche Rolle bei der Ausformung solch spezifischer Konsumausrichtungen spielt hierbei die Szene-Elite beziehungsweise die Szene-Künstler*innen. Eben diese Akteur*innen liefern aufgrund ihrer Vorbildfunktion die Grundlage für die Etablierung von konsumbasierten Nachahmungsstrukturen. Aufgrund der Dynamik entlang der szene-intern differenzierten Nachahmungstendenzen bildet sich wiederum eine thematische Strukturierung der Hip-Hop-Szene entlang verschiedener Wirkbereiche, die durch spezifische Konsummuster moderiert wird. Einen wesentlichen Aspekt bildet dabei die Herausbildung von regions- und rollenspezifischen sowie szenethematisch orientierten Konsummustern. In der Folge dieser strukturellen Differenzierung der Szene bildet sich auch eine dazu komplementäre Pluralisierung des Warenangebotes entlang der szeneinternen Strukturen heraus, die szenespezifische Produktdifferenzierungen auf einer Ebene höherer Granularität umfasst. Dieser Prozess vollzieht sich dabei entlang mehrerer szeneinterner Wirkbereiche und bildet auf jeder Ebene feingranulare Muster des Produktkonsums und deren Relevanzstrukturen. Diese sind dabei verbunden mit den vorliegenden Interdependenzen der verschiedenen Szene-Rollen und liefern die Basis für die Ausbildung von wirkbereichsspezifischen Konsumstrukturen in der Szene. Somit liefert der Produktkonsum einen Beitrag hinsichtlich der Moderation der internen Strukturbildung und Grenzziehung in der Hip-Hop-Szene und ist zeitgleich auch Ausdruck für eine Pluralisierung der szeneinternen Strukturen. An diese Erkenntnisse schließt sich die Frage an, inwiefern diese Tendenzen, die im Umfeld der Hip-Hop-Szene herausgestellt werden konnten, auch in anderen Szenen vorliegen und welche Schnittmengen und Differenzen hier festzustellen sind oder ob die Hip-Hop-Szene bezogen auf den Aspekt des szenespezifischen Produktkonsums eine Sonderstellung einnimmt (cf. Krause 2019: 90, 215 f.). References Androutsopoulos, Jannis (ed.) 2003: HipHop. Globale Kultur - Lokale Praktiken, Bielefeld: transcript Breuer, Franz 2009: Reflexive Grounded Theory. 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In our contribution, we focus on a narrative in skateboarding that has received little scholarly attention so far, but is typical of the scene the failing tricks. Using a case study, we reconstruct the significance of the media presentation of failure in skateboarding and classify this as a sign of voluntary individualized risk work in the street art sport of skateboarding. Keywords: Skateboarding, Jugendkultur, Szene, Scheitern, Zugehörigkeit, Mediatisierung, Skatevideos 1 Zugehörigkeitsanzeigen und Zeichengebrauch 1.1 Anthropologische Notwendigkeiten Der Mensch als Mängelwesen (cf. Gehlen 1940) muss in seiner Instinktarmut und Verhaltensfreiheit bzw. “ Weltoffenheit ” (Berger/ Luckmann 1980: 50) 1 die Welt und das, was in ihr und um ihn selber herum geschieht, stets interpretieren, auslegen und sich aufgrund seiner Weltwahrnehmung dieser Welt gegenüber verhalten und handeln. Geteiltes Wissen über die Bedeutung und Anwendung kulturell stabilisierter, darin institutionalisierter Zeichen, Artefakte oder Techniken hilft dem Menschen dabei, das Verhalten anderer Menschen verstehen zu können und auch, sich diesen Anderen gegenüber verständlich zu machen (cf. Knoblauch/ Tuma 2016: 380). Dergestalt als “ Kulturwesen ” (Rehberg 2010: 25) begriffen, gibt sich der Mensch in der Aneignung und dem kompetenten Gebrauch von Zeichen selbst einen Ausdruck, der chancenhaft einen kongruenten Eindruck beim Gegenüber erweckt (cf. Goffman 1955; Ichheiser 1970), sofern 1 Im Vergleich zu Tieren, Pflanzen, aber mitunter auch Maschinen und künstlicher Intelligenz. dieses das Wissen über die Bedeutung externalisierter Zeichen teilt. Über geteilte - und mehr noch, als gültig anerkannte und sozial gesicherte - Wissensbestände stabilisieren sich so gegenseitige Erwartungserwartungen, welche die soziale Ordnung des sozialen Gefüges fortwährend reproduzieren (cf. Berger/ Luckmann 1980: 52 ff.). Es ist also eine anthropologische Konstante, dass Menschen sich füreinander verständlich machen, indem sie auf objektivierte Zeichenhaushalte zurückgreifen, die sie reproduzieren, adaptieren, verwerfen und neu entwickeln. Prototypisch ist hier das Zeichensystem Sprache (cf. Schütz 1991: 282), aber auch gestische, mimische, piktorale, materielle Zeichensysteme stehen hierfür zur Verfügung und werden z. B. im Zuge proklamierter Cultural Turns kulturwissenschaftlich zunehmend in den Blick genommen. Das dem einzelnen Menschen qua Sozialisation vermittelte und ihm situativ zur Verfügung stehende Wissen (in Form von Erfahrungswissen, Bekanntheitswissen, Glauben und Nichtwissen; cf. Schütz 1991) ist Grundlage der individuell handlungsanleitenden Aufmerksamkeitsrelevanzen und Motivlagen. Dieses Wissen wird pragmatisch funktional genutzt, um sich gegenüber der Welt in der je konkret gegebenen Situation verhalten zu können. Darüber hinaus markiert der Zeichengebrauch aber auch individuell situativ übergreifend gültige Orientierungen, die sozialen Zugehörigkeiten zu Gruppen (cf. Wustmann/ Pfadenhauer 2017) und Zusammengehörigkeiten zu anderen, gleichgesinnten Menschen Ausdruck verleihen (cf. Eisewicht et al. 2012). Somit tragen Zeichen in sich geschlossen keinen objektiv allgemeingültigen Sinngehalt, sondern sie müssen stets vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Kontextualisierung interpretiert werden (cf. Aranguren 1967: 19). Zugehörigkeiten sind in dieser Perspektive weniger gegeben als fortlaufend in sozialen Gruppen und Situationen er- und ausgehandelt. Zugehörigkeiten herzustellen, aufrechtzuerhalten und dergestalt zu managen ist in diesem Sinne als ein zentrales Handlungsproblem des Menschen zu verstehen. Es ist in vormodernen Gesellschaften lediglich verdeckt, weil es durch in Traditionen sedimentierten sozialstrukturellen Faktoren routinemäßig gelöst wird (cf. Parsons 1951). 2 In ‘ irgendwie ’ vormodernen Gesellschaften wird Zugehörigkeit (z. B. die Position der Adligen, Bauernschaft etc.) aufgrund von sozialstruktureller Gemeinsamkeit durch Herkunft oder die politische und religiöse Zugehörigkeit durch den Geburtsort zugeschrieben. Vorgegebene, vorgefundene Gemeinsamkeiten regeln die sozialen Beziehungen und stabilisieren dergestalt soziale Ordnungen. Sie sind folglich weniger frei wählbar und weniger durch eigene Leistungen zugänglich. Dies ändert sich grundlegend durch die Modernisierung von Gesellschaften im Zuge der wissenschaftlich-industriellen und politischen Revolutionen, durch die eine zunehmende Emanzipation von eben diesen gesellschaftlich-kollektiven zugeschriebenen Personenständen erfolgt. Stattdessen nehmen die Möglichkeiten selbstverantwortlicher, freiheitlicher Positionierungen zu. 2 Dies wird dann ersichtlich, wenn Zugehörigkeiten und Positionierungen problematisiert werden und deren sozialer Konstruktionscharakter offenbar wird und mehr noch, wenn diese Probleme in Krisen umschlagen. In vormodernen Gesellschaften zeigte sich dies z. B. in der Aushandlungsbedürftigkeit von Thronfolgen bzw. der Handlungsbedürftigkeit durch das Ermorden unliebsamer, für die eigenen Interessen gefährlich erachteter Bastarde u. ä. 142 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann 1.2 Gegenwartsdiagnostische Anforderungen Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass individuelle Positionen und Gruppenzugehörigkeiten weniger zugeschrieben werden, als sie durch eigenes Handeln und Leistung zugänglich gemacht werden können. 3 Vor allem im Zuge der Modernisierungsbeschleunigung ab den 1950er Jahren, die als Beginn einer zweiten, beschleunigten, radikalisierten, das heißt irgendwie anderen (Post-, Spät-)Moderne verstanden werden (cf. Beck/ Giddens/ Lash 1996), werden die Konsequenzen dieser “ Entbettung ” (Giddens 1996: 33 f.) des Individuums aus sozialvorgegebenen Strukturen stärker offenbart. Denn mit der Freisetzung und Freiheit, sein eigenes Leben selbstbestimmt(er) zu führen (cf. Beck 1986: 20 ff.), 4 mit der Erosion tradierter Gewissheiten und Zuschreibungen 5 und der Pluralisierung (cf. Gross 2016) an kleineren und größeren Orientierungsrahmen im “ Supermarkt für Weltdeutungsangebote aller Art ” (Hitzler/ Honer 1994: 308) wächst auch die Notwendigkeit der eigenverantwortlichen Wahl aus diesen vielfältigen Möglichkeiten. An die Stelle von übergreifenden zugewiesenen Zugehörigkeiten tritt eine Vielzahl an differenzierteren, teilkulturellen, sich überlappenden, ergänzenden, widersprechenden, unvereinbaren, symbiotischen etc. Zugehörigkeitsangeboten, welche vom Einzelnen nach individueller Neigung, Nützlichkeitserwartung und subjektivem Erlebnisversprechen gewählt, sowie pragmatisch und identitätsbildend gemanagt und organisiert werden müssen. Zugehörigkeit wird damit in der Gegenwartsgesellschaft zunehmend zum individuellen Handlungsproblem, das spezifische Kompetenzen erfordert. In der “ Kreuzung der sozialen Kreise ” (Simmel 1908: 413) gilt nicht nur, einige wenige übergreifende und unbegrenzt geltende Zugehörigkeiten zu organisieren, sondern stattdessen vielfältige, partielle und in ihrer Deutungsreichweite raumzeitlich und sozial begrenzte Zugehörigkeiten zu balancieren, zu wechseln, aufrechtzuerhalten und zu integrieren. Jugendkulturen, Subkulturen und juvenile Szenen (cf. Eisewicht/ Wustmann 2020; Hitzler/ Niederbacher 2010; Richards 2010; JuBri 2018) sind ein prototypisches Beispiel solcher “ Posttraditionalen Vergemeinschaftung ” (Hitzler 1998: 81; als “ flüchtige Gemeinschaften ” Gebhardt 2010: 175; “ Neo-Tribes ” Maffesoli 1996: 6), über welche sich Menschen selbstverantwortlich aufgrund geteilter Interessen ‘ wiedereinbetten ’ ( “ re-embedding ” Giddens 1991: 88), das heißt, in denen sie Verhaltenssicherheit und Heimat finden (in der Moderne aber immer nur bis-auf-weiteres; als “ Rüstung mit Reißverschluss ” bei Bauman 2003: 199). Szenen bilden sich dabei um Themen und Interessen. Sie sind gekennzeichnet durch an diesen Themen ausgerichteten spezifischen Handlungsweisen und Interaktionstypen, die zu spezifischen Zeiten an spezifischen Orten und in Rückgriff auf spezifische Dinge wirksam werden. In den mit diesen Handlungen verbundenen Werten und Orientierungen weisen sie über Lebensstile (cf. Wustmann/ Pfadenhauer 2017) hinaus auf situationsübergreifende, subjektiv relevant erachtete Zugehörigkeiten. In den gegenseitig als geteilt unterstellten Normen sind sie “ Brutstätten Posttraditionaler Vergemein- 3 Das meint keineswegs, dass damit soziale Ungleichheiten eingeebnet würden, vielmehr bestimmen dabei auch individuelle und sozialisatorische Ressourcen die eigenen Handlungskorridore. 4 Dies findet sich in den prominenten Sozialfiguren des “ Arbeitskraftunternehmers ” (Voß/ Pongratz 1998) oder dem “ unternehmerischen Selbst ” (Bröckling 2013). 5 Als ‘ Ende der großen Erzählungen ’ ( “ fin des grands récits ” Lyotard 1979: 7). Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 143 schaftung ” (Hitzler 2008: 55). Das heißt, in dem ich dem Anderen zuschreibe, sich ähnlich für die Thematik zu begeistern, die Welt in diesem Wirklichkeitsausschnitt ähnlich zu sehen, realisieren sich in Szenen über subjektive Zugehörigkeiten hinaus auch kollektive Zusammengehörigkeiten. Diese sozioemotionale Qualität kennzeichnet das Vergemeinschaftungspotential von Szenen. Da posttraditionale Zu- und Zusammengehörigkeiten stärker interessengeleitet und weniger strukturell vorgegeben sind, bewegt man “ sich in einer Szene eher wie in einer Wolke oder in einer Nebelbank ” (Hitzler/ Niederbacher 2010: 16). Weder ist klar und festgeschrieben was die Szene und ihre Grenzen markiert, noch wer warum dazu oder nicht dazu gehört, Anerkennung findet oder gemieden wird. Derlei Zugehörigkeiten sind am ‘ bloßen ’ Körper nicht einfach so ablesbar. Vielmehr müssen mentale Konzepte posttraditionaler Zugehörigkeit im sozialen Miteinander angezeigt werden und materialisiert Ausdruck finden (cf. Eisewicht et al. 2018; Böder et al. 2019). Zugehörige müssen sich füreinander erkennbar machen, auch und gerade vor dem Hintergrund vielfältiger ähnlicher, verschiedener, konkurrierender Zugehörigkeitsangebote. Weniger werden diese Zugehörigkeitsmarker gänzlich selbst hergestellt. Vielmehr greifen Menschen in modernen Konsumgesellschaften (cf. Schrage 2009) vorrangig auf Konsumgüter zurück, die sie erwerben, aneignen, zweckentfremden (cf. Eisewicht/ Pfadenhauer 2016) und auf diese Weise in ihr eigenes Milieu integrieren (cf. Hitzler/ Pfadenhauer 2008). Entstehen Szene(stile) neu, greifen Zugehörige oft auf bereits bestehende und in anderen Kontexten verwendete Konsumprodukte zurück, modifizieren diese für ihre Zwecke oder beginnen eigene, den eigenen Interessen und Anforderungen entsprechende Dinge herzustellen. Da die Interessen geteilt und die Anforderungen ähnlich sind, entwickeln sich mit Szenen verwoben und aus ihnen heraus und um sie herum entstehende Szenewirtschaften (cf. zum Techno Kühn 2017; als Kulturunternehmer Ruile 2012). Im Erwerb und der Kombination von verschiedensten Dingen finden so mentale Konzepte von Zugehörigkeit, von selbstverstandener Positionierung in der Szene und damit auch von Abgrenzung gegenüber anderen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen Ausdruck. Zugehörigkeit realisiert sich dabei jedoch keineswegs nur im Besitz von Gütern, sondern vielmehr in ihrem Gebrauch, in sie begleitenden Praktiken, in Sprach- und Bewegungsstilen etc. Worin sich Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit ausdrücken, wird weniger dadurch ersichtlich, was konsumiert, genutzt und gezeigt wird, als vielmehr durch die Art und Weise seiner Nutzung (cf. Jarness 2015). Das heißt, Szenemoden aufzutragen oder Dinge lediglich zu besitzen, ist unzureichend um Zugehörigkeiten zu markieren und diese zugeschrieben zu bekommen. Die Herstellung von Zugehörigkeit geschieht dabei nicht nur im Gebrauch von Konsumgütern, sondern auch durch die mediale Dokumentation, Verbreitung und Archivierung ihres Gebrauchs. Besonders digitale Plattformen und mobile Endgeräte ermöglichen jedem Menschen sozusagen als ‘ Sender in eigener Sache ’ aufzutreten (cf. Hitzler 2014: 211 zum “ digitalen Panoptikum ” wechselseitiger Beobachtung). Dadurch werden raumzeitliche und soziale Grenzen (cf. Eisewicht 2015: 52 ff.) überschritten und Szenekontakte weit über die eigenen lokalen und regionalen Netzwerke ermöglicht. Gleichzeitig erleichtern es die Bedingungen der Mediengesellschaft (cf. McLuhan 1995; Saxer 1998) nicht nur der Szene sich zu vernetzen. Gerade in der Beobachtung von Szenen durch z. B. politische, wirtschaftliche und pädagogische Organisationen finden sich immer wieder 144 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann lebensstilistische Übernahmen durch Nicht-Zugehörige (wenn Graffiti zur Bewerbung von Autos benutzt wird, um diese ‘ urban ’ in Szene zu setzen oder wenn prominente Personen T-Shirts von Metalbands als ‘ modisches It-Piece ’ tragen; cf. Eisewicht/ Pfaff 2020: 271 f.). Die Dynamik besonders der digitalen Medien beschleunigt so auch die Dynamik von Szenemoden und die Notwendigkeit der Szene sich gegenüber diesen Vereinnahmungen zu verhalten, gerade weil damit Zugehörigkeitsmarkierungen an Gewicht verlieren können und Zugehörigkeitszuschreibungen unzuverlässiger werden. Gerade als Vergemeinschaftungsprojekte suchen Szenen stets ihre Grenzziehungen zu stabilisieren. Dergestalt begleiten Szenen stets Diskurse über die Gültigkeit diverser Authentizitätsmarkierungen (cf. Eisewicht et al. 2016). Umso verbreiteter, gesellschaftlich akzeptierter, zugänglicher die Dinge sind und umso stärker ihre Präsentation, ihr Gebrauch und ihre Bedeutung medial verbreitet werden sowie umso vielfältiger Produktangebote und umso differenzierter Gebrauchsweisen werden, desto schwerer wird es für Forschende, diesen Entwicklungen zu folgen und teilkulturelle Grenzziehungen von außen sinnadäquat verstehen zu können. “ Feine Unterschiede ” (cf. Bourdieu 1982) zeigen sich mitunter in solchen Zeichen, die zunehmend nur von Kenner*innen gelesen werden können. Dies hat u. E. nach Konsequenzen für die methodische Anlage von Szeneforschung, welche die Binnenperspektive dieser kulturellen Gebilde zu rekonstruieren sucht (cf. Hitzler/ Eisewicht 2020: 37). 1.3 Methodische Ableitungen Wenn es durch die Unübersichtlichkeit unzähliger Szeneangebote (als “ Mainstream der Minderheiten ” bei Holert/ Terkessidis 1997), die Ausdifferenzierung und Sublimierung von Zugehörigkeitszeichen und die Ausbildung eigener Sonderwissensbestände von außen (d. h. mit dem Alltagswissen) schwieriger wird, ihre eigenkulturelle Bedeutung rekonstruieren zu können, dann erfordert dies methodische Zugänge in der Datenerhebung, die näher am Forschungsgegenstand sind, ohne damit die notwendige analytische Distanz in der Datenauswertung aufzugeben. Wir plädieren hier für einen explorativ-interpretativen Zugang über ethnographische Verfahren und spezieller über die Lebensweltanalytische Ethnographie (vgl. Honer 1993; Hitzler/ Eisewicht 2020). Im Zuge dessen kombinieren wir verschiedene Formen der Datenerhebung, v. a. ethnographische Gespräche, Dokumenten- und Artefaktanalysen (cf. Eisewicht 2016; Froschauer/ Lueger 2007), teilnehmende Beobachtungen und beobachtende Teilnahmen (cf. Hitzler/ Gothe 2015). Die Triangulation verschiedener Datensorten verstehen wir in diesem Vorhaben als notwendig für die feldadäquate Rekonstruktion der Konstruktionsleistungen der Szenemitglieder. Das heißt, über monomedial fokussierte Zugänge hinaus verstehen wir Bilder und andere Dokumente der Szene nicht nur als Zugang zur Szenewelt, sondern wir versuchen auch die Bedeutung dieser Bilder in der Szene über deren Verhandlung in ihr selbst zu rekonstruieren. Über Dokumentenanalysen als Träger visueller Repräsentationen der Szenekultur lässt sich so der Zeichen- und Symbolhaushalt der Szene rekonstruieren, der aber erst durch die Feldarbeit, durch die Aneignung der Binnenperspektive in der eigenen Forschung und das dadurch erworbene Kontextwissen in der feldeigenen Bedeutung erschlossen werden kann. Die Feldarbeit wiederum kann auch dabei helfen, relevante Dokumente, Praktiken etc. zu identifizieren, die dann anleitend für die Sammlung medialer Repräsentationen sind. Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 145 Entsprechend greifen wir hier auf zwei ethnographische Forschungsarbeiten zur Skate- Szene zurück (cf. Eisewicht et al. 2018; cf. Nowodworski 2019). Wir wollen dabei das szenespezifische, aber bisher noch wenig beachtete Narrativ des Scheiterns und dessen mediale Inszenierung als Zugehörigkeitsmarker in den Blick nehmen. 2 Skateboarding als körperbezogener Straßensport Skateboarding 6 für sich ist zunächst die Fortbewegung mittels eines zweiachsigen, vierrädrigen Rollbretts. In Abgrenzung zu anderen Aktivitäten 7 besteht Street-Skateboarding im Kern aus dem Erlernen, Meistern, Vollführen und Scheitern (! ) von Tricks 8 unter Rückgriff auf örtlich gegebene oder szenespezifische Requisiten (Geländer, Treppen etc. oder selbstgebaute Rampen, Pipes etc.) auf öffentlichen Plätzen und Straßen. Zugehörigkeit wird durch den kompetenten Handlungsvollzug, also das ‘ Stehen ’ von Tricks hergestellt (als Ausdruck szenespezifischer Befähigung; cf. Eisewicht et al. 2018). Skateboarding lässt sich so als individueller Straßenkunstsport bezeichnen, indem er körperliche und auch kompetitive Elemente des Sports, mit ästhetischen Bewegungsformen in einem weniger kontrollierbaren und regulierbaren, öffentlichen Raum verbindet. Im Skateboarding greifen beim Handlungsvollzug szeneeigener Bewegungsabläufe zwei Aspekte ineinander, in denen sowohl sportals auch kunstspezifische Elemente hervortreten. Das, was als ‘ Style ’ bezeichnet wird, verbindet die bloße Trickausführung mit ihrer spezifischen Art und Weise (cf. Buckingham 2009: 140). Auf der Straße teilen sich Skater*innen den Raum mit anderen Akteur*innen, und an bestimmten Orten drohen Skater*innen auch öffentliche Anfeindung und rechtliche Strafverfolgung (durch Hausfriedensbruch oder Vandalismus). Die Zugehörigkeit zur Skateszene realisiert sich im individuellen Handlungsvollzug unter Rückgriff auf den szenespezifischen kulturellen Zeichenhaushalt. Dieser umfasst: (i) Eine feldeigene Sprache (z. B. für Tricks cf. Fußnote 8) und (ii) einen feldtypischen Kleidungsstil (cf. Buckingham 2009: 140), der sich v. a. im Skateschuh (prominent z. B. das Modell Sk8-Hi der Marke Vans, als schwarz-weiße High-Top Sneaker) ausdrückt oder (iii) in szenetypischen Praktiken, Körperhaltungen, Grußformen etc. Die materielle Grammatik der Szenezugehörigkeit zeigt sich aber auch in der Gestaltung des zentralen Dings, des Skateboards (cf. Abb. 1; cf. Bock 2017: 121). Entsprechend verschiedener Interessenlagen und Skatepraktiken haben sich spezifische Gestaltungen von Skateboards etabliert, die von 6 Cf. sozialwissenschaftliche Arbeiten zum Skateboarding Beal/ Weidman 2003; Donnelly 2008; Seifert/ Hedderson 2010; im deutschsprachigen Raum cf. Hälbich 2008; Hitzler/ Niederbacher 2010, S. 133 ff.; Peters 2016; Bock 2017; Nowodworski 2019; zur Geschichte cf. Brooke 1999. 7 Z. B. dem Cruisen, Downhill oder Indoor. 8 Zum etablierten Repertoire von Tricks in der Szene gehören u. a. Manuals (das Balancieren auf einer der Achsen, ohne dass Nose oder Tail des Skateboards den Boden berühren), Grinds (auf einem Rohr, Geländer oder einer Kante auf den Achsen rutschen), Slides (auf dem Brett, dem sog. Deck, rutschen) und Pivots (schnelle, ruckartige Richtungswechsel) sowie Ollies (ein Sprung mit dem Board), Grabs (das Greifen des Boards mit einer Hand), Flips (das Drehen des Boards um die eigene Achse ohne Skater) und Spins (Drehen des Boards mit dem Skater, typischerweise nur an Halfpipes). Zu den Basisvarianten gibt es jeweils verschiedene Variationen und Kombinationen mit anderen Elementen (z. B. der Ollie, Switch Ollie, Nose Ollie bzw. Nollie, Fakie Ollie, Ollie 180, Ollie North, Ollie Kickflip etc.). Tricks, die an Halfpipes oder Quarter Pipes in der Vertikalen durchgeführt werden, sind sog. Verts, Trans oder Airs (z. B. Spins oder Frontside Ollie), Tricks auf der Straße oder bei denen das Skateboard am Boden bleibt sind sog. Flats oder 2Ds (z. B. Ollies und Flips). 146 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann Szenekundigen gelesen werden können und die Aufschluss darüber geben, was, wer, wie und wann mit einem Skateboard anstellt. Steife Bretter, längere und breitere Decks mit geringer Wölbung an Nose und Tail gelten als geeigneter für das Cruising. Flexiblere Bretter, kürzere und schmalere Decks mit stärkerer Wölbung an Nose und Tail sind wendiger, erfordern weniger Kraftaufwand und gelten daher als besser für die Durchführung von Tricks, da sich diese Boards z. B. aufgrund der stärkeren Wölbung an der Tail stärker poppen lassen. Die Gestaltung von wie auch die Spuren der Nutzung an den Skateboards (cf. Eisewicht et al. 2018) gelten kundigen Menschen als (An-)Zeichen dafür, wer potentiell zugehörig sein könnte, auch wenn er oder sie gerade nicht einen Trick vollführt. Abb. 1: Collage von Darstellungen zur Veranschaulichung der materiellen Grammatik am Beispiel des Skateboards Entsprechend der Bedeutung des Tricks ist nicht nur der fortwährende Vollzug, sondern aufgrund der ungemeinen Flüchtigkeit, auch seine Dokumentation und ihre Verbreitung eine szenetypische Praktik. Skaten ist entsprechend durchzogen von medialen Dokumentationen der Handlungsvollzüge, ungeachtet des jeweils erworbenen Szenestatus. Dabei dominieren medienspezifisch inszenierte und darin nicht selten dramatisierte Handlungsvollzugsdarstellungen (cf. Abb. 2). Vergleichbar zu anderen vollzugsorientierten Sport/ Kunst-Szenen wie etwa dem Graffiti (cf. Eisewicht/ Lintzen 2022) oder dem Sportklettern (cf. Kirchner 2018) dominieren in den medialen Repräsentationen meist Darstellungen, welche einen erfolgreichen Vollzug zeigen oder zumindest nahelegen. Oft handelt es sich um Bilder, welche den Trick im Vollzug (meist an einem Scheitelpunkt) zeigen. Hier ist zwar eine erfolgreiche Landung ausgespart, allerdings impliziert auch das Erreichen des Scheitelpunkts oder einer entsprechend bildtechnisch dramatisierten Höhe (durch Froschperspektive, Setzen des Skaters Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 147 in die Titelleiste etc.; cf. Abb. 2) eine gewisse Befähigung. Es finden sich darüber hinaus im Print aber auch Bildserien oder durch Bildbearbeitung/ Mehrfachbelichtung präsentierte Handlungsabläufe. In Videos ist dagegen oft der erfolgreiche Trick als gesamter Handlungsablauf im Bewegtbild abbildbar. Begleitet wird dieser manchmal auch durch eine nachträglich hinzugefügte musikalische Untermalung, aber auch durch Reaktionen Anwesender. Entgegen einer szeneäußeren Perspektive, dass ein erfolgreiches Ausführen von Tricks bereits die Kernaktivität der gesamten Szene zusammenfasse, handelt es sich hierbei typischerweise um die sprichwörtliche ‘ Spitze des Eisbergs ’ . All jene vorausgehenden Handlungen, in denen neue Praktiken angeeignet und bereits erlernte verfeinert und gefestigt werden, schlicht: der gesamte Lernprozess, gelangen meist nicht in ökonomisch Abb. 2: Typische trick-, raum- und vollzugsfokussierte Darstellungen auf Skateboard-Magazin- Covern (Bildcollage Eisewicht et al. 2018; methodisch angelehnt an die figurative Hermeneutik von Müller 2012) 148 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann erfolgreiche Produktionen mit hohen Aufrufzahlen oder Likes in Social Media. 9 Der Aneignungsprozess hochkomplexer Bewegungsabläufe ist im Skateboarding ein mühseliger, der den Praktizierenden körperliche Belastungen und Leistungen, Schmerz- und Frustrationstoleranz abverlangt. 10 Es gibt jedoch auch ein szenetypisches, weniger beachtetes Narrativ im Skateboarding, welches das Scheitern von Tricks in den Fokus rückt und dem wir uns im Folgenden widmen. 3 Narrative des Scheiterns im Skateboarding Die Anzeige von Zugehörigkeit im Skateboarding basiert auf einer Bereitschaftsanzeige, der Kernaktivität der Szene - dem Skaten - nachzugehen (auf dem Skateboard stehend oder fahrend Sprünge und Tricks vollziehen). Und dieses Engagement schließt mit ein, dass das für ein erfolgreiches Skaten unbedingt notwendige Körperwissen (cf. Nowodworski 2019) geübt werden muss: Unter Einsatz des gesamten Körpers bei möglichst angespanntem Bewusstsein in das jeweilige Hier und Jetzt eignen sich Szeneangehörende die unterschiedlichsten Praktiken an, die eng mit den Handlungsmöglichkeiten der typischen Szenematerialien wie z. B. Skateboard, Kleidung, Schuhe und Umgebung verknüpft sind. In der Durchführung der Tricks können diese immer scheitern, sei es, weil diese neu erlernt werden, sei es aufgrund ihrer Komplexität und Schwierigkeit. Dies gilt auch für andere Szenen. Überraschend ist jedoch, dass das Scheitern beim Skateboarding in szenemedialen Repräsentationen, wenn auch selten, aber doch typischerweise, gezeigt wird (cf. Abb. 3). Deutlich ist dies in festgehaltenen Stürzen, aber auch in körperlichen Verletzungen, wie Abschürfungen an den Händen. Auch ersichtlich ist, dass diese Inszenierungen des Scheiterns v. a. beim Street-Skateboarding auffindbar sind, sturzbedingte Verletzungen im Vert-Bereich sind dagegen seltener. 9 In den professionellen, szenetypischen Skatefilmen gelangen Aufzeichnungen von Stürzen meist sporadisch zwischen die erfolgreichen Trickvollzüge. Beim Schauen dieser Videos wird schnell der Eindruck erweckt, als handle es sich beim Street Skateboarding um eine Aneinanderreihung hochkomplexer Bewegungsabläufe, die den professionellen Fahrer*innen kaum Anstrengungen abverlangen (cf. Bock 2017: 118; Peters 2016: 192). Aus szeneinterner Perspektive handelt es sich hingegen um ein typisches Wissen um die hinter den auserkorenen Videoausschnitten stehenden Handlungsabfolgen eines zirkulären Versuchens, Scheiterns und - im besten Falle - Erfolgreichseins. 10 Von Schürfwunden, Prellungen, Verstauchungen, Bänderüberdehnungen- und Rissen, Zerrungen, ausgerenkten Knochen, Knochenbrüchen (seien diese nun offen oder nicht), wird eine ganze Bandbreite an Verletzungen abgedeckt, die mit dem Scheitern einhergehen können. Für diejenigen starkbesonnenen Leser*innen, die sich eine audiovisuelle Vorstellung hiervon machen möchten, sei auf die von Thrasher herausgegeben Video-Reihe “ Hall of Meat ” verwiesen (Thrasher Magazine: https: / / www.youtube.com/ playlist? list=PLA741124267D57350, aufgerufen am 04.07.2022). In wenigen Fällen führen manche Stürze tatsächlich auch zum Tod von Szeneteilnehmenden (cf. Lustenberger et al. 2010: 926). Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 149 Abb. 3: Zeichen des Scheiterns in Szenepublikationen (oben: Thrasher Ausgabe August/ 2019; Skateboard Mag #153/ 2016; Slam #23; o. J. frühe 1990er) und YouTube-Videos 3.1 Fallanalyse: “ My War: Chris Joslin ” (2018) Sehr eindrücklich wird das Narrativ des Scheiterns in der vom Thrasher Magazine 11 gesponserten Video-Reihe “ My War ” (die Stand Juni 2024 26 Videos umfasst) dargestellt, aus der im Folgenden eine Fallanalyse des Videos “ My War: Chris Joslin ” dargelegt wird. 12 Das etwa sechsminütige Video (05: 37) ist auf der Homepage des Thrasher Magazine seit dem 30.05.2018 und auf der Videoplattform YouTube seit dem 31.05.2018 aufrufbar. Auf letzterer 11 Das Thrasher Magazine ist das älteste (Gründungsjahr: 1981) und erfolgreichste Skateboarding Magazin weltweit und steht szeneintern für Authentizität, was bedeutet, dass das ‘ raue ’ Street Skateboarding zentrales Thema der Darstellungen und Berichte ist. In einer Selbstbeschreibung des Magazins heißt es: “ Today, Thrasher is bigger and better than ever, its name synonymous with both skateboarding ’ s roots and constant evolution; its staff dedicated to defining this evolution and the adventurous spirit of their readership. International corporate big-wigs try to buy into our credibility, while kids tattoo the magazine ’ s mantra, “ Skate And Destroy, ” into their skin. Like those tattoos carved into the arms of skaters worldwide, Thrasher is forever ” (Thrasher Magazine: About Us). Angefangen als illustriertes Magazin hat sich das Unternehmen zu einem weltweit bekannten Filmproduzenten entwickelt. Vor dem Durchbruch von Social Media und Streaming Plattformen wurden meist 60-minütige Videos auf VHS Kassetten und später dann DVD veröffentlicht (cf. Buckingham 2009). Heutzutage werden in regelmäßigen Abständen themenzentrierte Kurzvideos einzelner Skater*innen veröffentlicht, die auf der eigenen Magazinhomepage und auf YouTube frei zur Verfügung stehen. 12 Video aufgerufen am 04.07.2022, unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=ZYNcoe2xgu4&list=PL7V-xVy- JYY3fpbJOOkEluWeKBRmz9EA-8&index=8. 150 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann werden seit dem Hochladedatum eine Aufrufzahl von knapp 4,7 Millionen und circa 2539 Kommentare verzeichnet (Stand Juni 2024). Unter den ‘ Standards ’ erfolgreicher Videos - gerade auch im innerfeldlichen Vergleich - kann das Video als erfolgreich bezeichnet werden. 13 Dargestellt ist der titelgebende Profiskater Chris Joslin (USA), der an einem 13stufigen Treppenabsatz am Kölner Dom einen bestimmten Trick einübt, der auf seiner persönlichen Agenda steht. Bei dem gesetzten Handlungsziel handelt es sich um eine Bewegungsabfolge, die als der Trick “ Blizzard Flip ” bekannt ist. In dieser komplexen Handlungskette werden zwei Tricks miteinander kombiniert (cf. Abb. 4): Eine vollständige 360 Grad Drehung des Skaters, bei der diejenige Schulter, die sich in frontaler Fahrtrichtung befindet, in Richtung der ‘ hinteren ’ Schulter gedreht wird, um so die Rotationsrichtung zu initiieren (der sog. “ Back Side 360 ” ). Parallel hierzu findet eine zum Skater gerichtete und von diesem mittels Vorderfuß initiierte Rotation des Skateboards auf dessen Längsachse statt (der sog. “ Kickflip ” ). Alternativ wird der Blizzard Flip auch als “ BS 360 Kickflip ” bezeichnet. 14 Der BS 360 Kickflip bzw. “ Blizzard Flip ” bekannt und zählt zu den Tricks, die nur auf Grundlage intensiven (meist jahrelangen) Trainings erlernt werden können. Szenegänger*innen, die diesen oder ähnlich komplexe Bewegungsabläufe beherrschen, wird daher zugeschrieben, auf einem hohen Niveau zu skaten. Ferner bedarf es aufgrund einer vollständig durchzuführenden horizontalen 360 Grad Drehung meist einer Mindestsprunghöhe, die mithilfe von Treppenabsätzen, Rampen o. Ä. erreicht wird. Im vorliegenden Fall zählt der Treppenabsatz 13 Stufen, womit eine Höhen- und Längendistanz gegeben ist, die nur unter Aufbringung einer entsprechend hohen Anfahrtsgeschwindigkeit und Sprungkraft überwunden werden kann. Darüber hinaus erschweren im hier behandelten Fall weitere ungünstige Umweltbedingungen, die zu Beginn des Videos von einzelnen Teammitgliedern erläutert werden, das gesamte Vorhaben maßgeblich: Ein vom Regen genässter Betonboden (erhöhte Ausrutschgefahr sowie verminderte Haftung zwischen Schuh und schmirgelpapier-ähnlichem Aufkleber - das “ Griptape ” - auf der Oberseite des Skateboards), eine hohe Anzahl in Fahrtrichtung kreuzender Menschen (der Treppenabsatz befindet sich zwischen dem Kölner Hauptbahnhof und dem Dom) und ein ‘ patrouillierendes ’ Sicherheitspersonal (Mitarbeitende des Ordnungsamts und Reinigungskräfte sind gerade in der nahen Umgebung des Kölner Doms damit beauftragt, für eine entsprechende ‘ Sicherheit ’ zu sorgen, sprich: Skater*innen aus dieser Umgebung fernzuhalten). Einteilen lässt sich das Video in drei Teile, von denen der erste die Funktion einer einleitenden Bekanntmachung mit den physischen Gegebenheiten des Ortes übernimmt, an dem der Trick durchgeführt werden soll (der sog. “ Spot ” ). Dabei werden alternierend Videoschnitte einzelner Sprecher (Hauptakteur Chris Joslin und Crewmitglieder, die zum 13 Im Vergleich hierzu erreicht das Street-Skateboarding Video zu den X Games (die im Extremsportbereich wohl bekannteste kompetitive Weltmeisterschaft) im Jahre 2021 eine Aufrufzahl von knapp 740.000 (https: / / www.youtube.com/ watch? v=NP20gX7C5lc, aufgerufen am 04.07.2022). 14 In der Benennung typischer Stilelemente, die in szenespezifischen Bewegungsmustern zu Trickfolgen kombiniert werden können, erinnert die Kultursemiotik der Skateboardtricks an die Stile und Elemente im Breakdance (cf. Kimminich 2003, 2010) Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 151 Abb. 4: Bewegungsablauf eines BS 360 Kickflip/ Blizzard Flip durch Yoshi Tanenbaum/ RIDE Channel (2013), aufgerufen unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=VW3OB1D5Mew 152 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann gegenwärtigen Zeitpunkt und rückblickend eine Beschreibung der Szenerie durchführen), der Stadt Köln und schließlich des Spots zum Zeitpunkt vor der Skate Session eingeblendet. Diese erste Narration lässt sich als Aufbau einer gewissen Dramaturgie zusammenfassen, da besonders auf die ungünstigen Wetterbedingungen (Regen, nasser Boden) verwiesen wird, mit besonderem Augenmerk darauf, dass die gesamte Crew am gleichen Tag abreisen wird: “ Fingers crossed that we ’ re gonna do it today, cause we leave here today too ” (00: 16). Bevor der Hauptteil beginnt, springt der Hauptakteur das gesamte Treppenset mit einem ‘ einfachen ’ Sprung (sog. “ Ollie ” ) hinunter - eine Art Aufwärmübung. Auditiv wird ein Spannungsaufbau mittels eines unterschwelligen elektronisch verstärktem Gitarrenriffs aufgebaut, dessen Lautstärke langsam ansteigt und schließlich in einen Hardrock typischen Rhythmus überleitet, womit dann auch der Hauptteil des Videos beginnt: Es folgen insgesamt 26 Videoschnitte, in denen die Handlungsvollzüge gescheiterter Versuche aus verschiedenen Kameraperspektiven gezeigt werden. Dabei handelt es sich um eine mit dem Skater mitfahrende Kamera in horizontaler Einstellung (gesamte Treppenstufen sichtbar), die kurz vor Absprung zum Skater heranzoomt, eine Distanzperspektive, die den gesamten Treppenabsatz einfängt (mit anschließendem Heranzoomen an den Skater) sowie eine Kamera aus einer mittleren Vogelperspektive oberhalb des Treppenabsatzes (cf. Abb. 5). Abb. 5: Kameraperspektiven im Video Aufgrund der Höhe des Treppenabsatzes, der hohen Fahrtgeschwindigkeit und der Schwierigkeit der Bewegungsabläufe münden diese Versuche in drastischen Stürzen. Die ersten 25 Versuche werden entschlossen mit einem neuen Versuch begonnen, wohingegen der letzte Sturz, der in Zeitlupe dargestellt wird, das Ende der Skate Session einleitet: Bei der Landung - der Hardrock Song endet abrupt - knickt der Skater aufschreiend mit dem linken Fuß um und hält diesen auf dem Boden liegend mit beiden Händen und schmerzerfülltem Gesicht fest (Abb. 6). Ausnahmslos ertönt von der beobachtenden Menschenmenge (ein Großteil davon ist der Skatecrew angehörig) unmittelbar nach jedem einzelnen Sturz eine lautstarke Interjektion ( “ Ouh ” und “ Ah ” ), die als spontane Entäußerungen einer gewissen Anteilnahme am Schmerz des gestürzten Skaters, aber auch an den beinahe erfolgreich umgesetzten Bewegungsabläufen, gedeutet werden können. Darüber hinaus unterstreicht dies das im vorliegenden Aufsatz behandelte Narrativ des Scheiterns als Zugehörigkeitsmarker. Eine dergestalt externalisierte Interjektion ließe sich verbalsprachlich in etwa so übersetzen: “ Wir (die Beobachter) wissen um die Komplexität und Schwierigkeit des geplanten Bewegungsablaufs, an dem du gescheitert bist. Wir wissen außerdem um deine hohe Bewegungskompetenz und die Risiken, die du angesichts deiner körperlichen Versehrtheit eingehst. Dass du trotz gescheiterter Handlungsvollzüge und Erleiden schmerzbedingter Stürze am Verfolgen ebenjenes Handlungs- Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 153 plans festhältst, zeigt deine Bereitschaft zum Skateboarding an und deshalb erkennen wir deinen Status als Szenegänger an ” . Abb. 6: Gescheiterte Handlungsvollzüge Es folgen Aufnahmen kurz nach diesem drastischen Sturz: besorgte Crewmitglieder stehen um den Skater versammelt (cf. Abb. 6), begleiten diesen unter die Arme stützend weg (denn dieser humpelt nun auf einem Bein und hat den Schuh und die halbe Socke des umgeknickten Fußes ausgezogen), wo er sich auf den Rücken legt und von einem seiner Teammitglieder eine (gekühlte) Dose Bier an den verletzten Knöchel gehalten bekommt. Wieder ertönt eine leise Gitarrenriff-Untermalung, während eine Stimme aus dem Off die Unumgänglichkeit beschreibt, dass Chris Joslin an denselben Spot zurückkommen und den im Interesse stehenden Handlungsentwurf erfolgreich umsetzen müsse, was in den inhaltlichen letzten Teil des Videos mündet: die Wiederkehr der Crew an denselben Ort etwa ein Jahr später. Stilistisch wird dieser Zeitsprung mit einer Zeitlupenaufnahme Chris Joslins eingeleitet, der eine tentative Aufwärmfahrt kurz vor dem Treppenabsatz durchführt, in kurzen Einblendungen Dehnübungen durchführt, mit den Reinigungskräften spricht und (wieder in Zeitlupe) den Treppenabsatz hinaufsteigt. Musikalisch untermalt wird dies nun nicht mehr mit rockigen Gitarrenriffs und schnellen Rhythmen, sondern mit melodischer und langsamerer Rockmusik. Die Darstellungsform wird somit transformiert von einer anfänglichen ‘ Härte ’ und ‘ Kampfgeist ’ hin zu einer euphorischen Atmosphäre des nahenden Erfolgs. Nicht nur der Skater selbst bereitet sich auf die anschließend folgenden Versuche vor, sondern auch die antizipierten Rezipient*innen werden über die Länge einer gesamten Minute über erneute Herausforderungen der physischen Gegebenheiten - Wetterlage, übermäßiges Aufkommen an Passanten, Reinigungskräfte, in der Landebahn liegende Stromkabel - aufgeklärt. Diese äußeren Bedingungen liegen mehr oder weniger außerhalb der Kontrolle der Crewmitglieder; lediglich wird der Betonboden ein wenig trockengewischt und mit den Reinigungskräften ein Zeitfenster von fünf Minuten ausgehandelt, die für die folgenden Handlungsvollzüge genutzt werden können (cf. Abb. 7). 154 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann Abb. 7: Umgang mit den lokalen Gegebenheiten Es folgen insgesamt zehn weitere Stürze - von denen der erste den Einsatz der nun ‘ sanfteren ’ und nun in der Lautstärke leicht erhöhten Rockmusik markiert - , die allerdings weniger drastisch wirken, da der Skater sein Skateboard kurz vor der Landung mit den Füßen wegstößt, um das Risiko gefährdender Verletzungen zu vermeiden (der sog. “ Bail ” ), und sich kompetent am Boden abrollt. Kurz nach dem zehnten - und somit letzten - Sturz, wird in einer Nahaufnahme die Faust des Kameramanns dem nun sich auf den Weg hinauf zum Treppenabsatz machenden und zum nächsten Handlungsvollzug vorbereitenden Chris Joslin entgegengehalten. Dieser hält seinerseits seine Faust entgegen, was alltagsprachlich unter der sog. “ Bro Fist ” bekannt ist (cf. Abb. 8). Abb. 8: Szeneinterne Anerkennungsgesten Diese auch als Begrüßungs- und Abschiedsgeste geläufige Handlung lässt sich im vorliegenden Fall als anerkennende Geste interpretieren, die auf die bisherige Bereitschaft hindeutet, körperbezogene Risiken einzugehen, Schmerzen zu erleiden und mit handlungshemmenden Emotionen umzugehen. In Anbetracht des erfolgreichen elften (insgesamt 37. im Video gezeigten) Versuchs wird mit dieser szenetypischen Handlung zudem ein dramaturgisches Element verwendet, das den Übergang vom bisherigen Scheitern und Versuchen hin zum ersehnten Erfolg markiert. Die hoch aufgeladene Bedeutung des nun erfolgreich gestandenen “ Blizzard Flips ” wird mittels Zeitlupenaufnahmen aus allen drei Kameraperspektiven zelebriert. Kurz nach der Landung wird der Zeitlupeneffekt aufgehoben und der nun sein Cappie auf den Boden schmeißende, sich sein T-Shirt ausziehende Hauptakteur wird vom Kameramann verfolgt. Es folgen Aufnahmen des Jubelns und miteinander Feierns: Ein Crewmitglied rennt Chris Joslin entgegen und umarmt ihn, ein Kameramann hält ihm die bekannte “ Bro Fist ” entgegen und es ertönen zahlreiche Freudenschreie (cf. Abb. 9). Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 155 Abb. 9: Feiern des Erfolgs Um es in der Metaphorik der Videoproduktion selbst auszudrücken, ist der tatsächliche Erfolg des Handlungsentwurfs die Antwort auf die Videoreihe “ My War ” in dem Sinne, als der ‘ innere Krieg ’ , der sich im bedingungslosen Verfolgen eines komplexen Handlungsentwurfs manifestiert, nun überstanden und ‘ gewonnen ’ ist. 15 Damit verbunden zeigt sich auch, dass es sich um einen ganz konkreten Kriegsschauplatz handelt. Chris Joslin steht nicht nur im Krieg mit dem Trick, sondern gleichsam auch im ‘ Krieg ’ mit den städtebaulichen Elementen vor Ort (also nicht mit der Stadt Köln, sondern mit dem konkreten Spot vor Ort). Den Trick an einem anderen Ort erfolgreich zu vollführen, käme in der Semantik gerade keinem Sieg gleich. Alle Videos der Reihe “ My War ” enden in vergleichbarer Form, wie in der weiter oben durchgeführten Fallanalyse dargelegt, durchweg mit cineastisch inszenierten Erfolgsmomenten, die zusammen mit der gesamten Skatecrew jubelnd gefeiert werden. Das Narrativ wird durch die Verwendung von Schriftsprache nicht nur am Titel “ My War ” ersichtlich, sondern auch in den Kurzbeschreibungen der einzelnen Videos selbst. Demgemäß ist die Rede von einer “ battle of mental endurance ” , “ a battle for the books ” oder “ This battle is brutal ” (cf. Abb. 10). Die Beschreibung einer individualisierten ‘ Handlungsodyssee ’ beinhaltet typischerweise (i) die persönliche Nennung des Szeneteilnehmenden, (ii) eine Kurzbeschreibung der Handlungsabfolge (dem jeweiligen Trick) und (iii) den abschließenden Hinweis darauf, dass hier Einblicke über Szenegänger*innen gegeben werden, die sich durch ihr konkretes Engagement auszeichnen, bis an die eigenen Grenzen möglicher Handlungsvollzüge zu gehen (demgemäß einen ‘ Krieg ’ mit den eigenen Handlungszielen zu führen). Dass es sich bei diesen Videos um herausragende Leistungen handelt, die durch hohe Kompetenzen der einzelnen Skater*innen bestimmt werden, wird ferner an den wertschätzenden Bewertungen wie etwa “ This guy is on another level ” (cf. Abb. 10) deutlich. 15 Die demonstrative Darstellung der selbstdefinierten ‘ Kriegserklärung ’ findet sich gleichermaßen im szenetypischen Slogan “ Skate or Die ” wieder. Auf einer Szene-Homepage heißt es hierzu: “ It ’ s a battle cry. It ’ s the emotional expression of a real skater ’ s heart. It epitomizes the life of a hardcore skater. It ’ s a raw and timeless motto that captures the spirit and essence of skateboarding ” (https: / / www.surfertoday.com/ skateboarding/ skate-or-die-the-origins-of-the-famous-expression, aufgerufen am 05.07.2022). 156 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann Abb. 10: Videoreihe “ My War ” (Thrasher Magazine) Dieser individuell bestrittene und dabei selbstdefinierte Krieg, dem hier unter Einsatz von Frustrationstoleranz, Schmerz und Verletzung begegnet wird, verweist auf ein hochindividualisiertes Arbeiten an der eigenen Szenebiographie- und Karriere. Dies impliziert, dass jede und jeder Skater*in, der/ die sich der Szene zugehörig fühlt, eigene Maßstäbe an sich selbst stellt. 16 Auf einer weiteren medialen Ebene - den YouTube Kommentaren - wird diese Arbeit an den eigenen Grenzen und Kompetenzen ersichtlich, wenn das professionell erstellte Video als Aufhänger für die schriftliche Explikation der eigenen (höchst individualisierten) Erfahrungszusammenhänge genutzt wird (cf. Abb. 11). 16 Entgegen Katharina Bocks rekonstruierten “ Aneignungsregeln ” (2017, S. 73 f.) sehen wir im Skateboarding vielmehr individuellen Fähigkeiten und Interessen folgende Szenekarrieren, die sich schwer formalisiert typisieren lassen. Wir stimmen hier eher David Buckingham dahingehend zu, dass “ the competition is more with oneself, or with one ’ s past performance, than with other skaters ” (Buckingham 2009: 134). Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 157 Abb. 11: YouTube Kommentare zu “ Chris Joslin: My War ” 3.2 Scheitern und Versuchen in der teilnehmenden Beobachtung Auch Szenegänger*innen, die auf niedrigem Niveau fahren und möglicherweise noch wenig Erfahrungen sammeln konnten, erhalten nichtsdestoweniger Anerkennung von anderen Skater*innen, so lange die erwähnte Bereitschaft wahrgenommen wird, an die eigenen Grenzen zu gehen. Ein Beispiel aus einem ethnographischen Feldaufenthalt soll dies verdeutlichen: Während ich [d. i. Pao Nowodworski] mich in einem Skatepark in einer “ Miniramp ” (eine kleinere Halfpipe) aufhalte, selbst einige Male in dieser herauf und herunter fahre, beobachte ich einen anderen Skater, der sich auf die obere Standfläche der Rampe stellt und das Einfahren in die Rampe übt (der sog. “ Drop In ” ). Dieser Bewegungsablauf ist gewissermaßen die Eintrittskarte für alles weitere Fahren im Vert Skateboarding. Meine Vermutung, dass dieser Skater noch nicht allzu lange mit dem Skaten vertraut ist, bestätigt sich sodann, als er auf meine Frage, wie lange er bereits skate, mit “ Erst ein paar Tage ” antwortet. Umso erstaunlicher empfinde ich seinen Mut, sich bereits nach ein paar Tagen an diesen risikohaften Handlungsablauf zu wagen. Immer wieder versucht er mit dem Skateboard in die Miniramp hineinzufahren, und bei jedem Versuch stürzt er auf schmerzliche Weise auf den Betonboden des Rampenuntergrundes. Dass er hierbei Schmerzen empfindet, deute ich an seinen kurzen Aufschreien, die nach dem Aufklatschen seiner Handflächen auf dem Betonboden ertönen. Und nicht weniger klatschen die Hände der anderen Skater (diese befinden sich ebenfalls oberhalb auf der Rampe) allerdings anerkennenden Beifall. Mit “ Oh! ” -Rufen werden der Einsatz und die Risikobereitschaft des Skaters anerkannt. Nach circa zehn Versuchen hat er den “ Drop In ” tatsächlich geschafft; 158 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann dieses Mal mit ohrenbetäubendem Beifall der beobachtenden Skater. Einer dieser Skater wendet sich an einen anderen mit den Worten zu: “ Boah, der ist so krank ’ ne! ” . Die euphorische Stimmung nimmt auch mich mit in ihren Bann, und ich klatsche und jubele eifrig mit. Ich freue mich schlicht darüber, dass dieser Skater sein gesetztes Handlungsziel unter Frust, Wut und Schmerz schlussendlich umsetzen konnte. Dass er sich dabei (ohne Schutzkleidung! ) einer Vielzahl körperlicher Risiken ausgesetzt und gar die eine oder andere Prellung und Schürfwunde in Kauf genommen hat, fasziniert mich und evoziert mein Respektempfinden, welches ich mit den anderen Skatern jubelnd ausdrücke. Auch wenn diese für mich vor Eintritt in den Park fremde Personen waren und es weiterhin auch sein werden, so teilten wir doch einen gemeinsamen Erfahrungsraum, in dem uns ein Gefühl temporärer Gemeinschaft erfüllte. 4 Mediale Inszenierung des Scheiterns als Zugehörigkeits- und Kompetenzmarker 4.1 Skaten als Demonstration von Risikobereitschaft und Befähigung Risiko ist ein omnipräsenter Bestandteil in der Lebenswelt des Skateboarding und erfährt gegenüber rein psychologischen Betrachtungsweisen eine besondere Bedeutung hinsichtlich sozialer Implikationen. Denn Szenezugehörigkeit konstituiert sich in der Skateboarding-Szene mitunter durch eine demonstrative Bereitschaft, körperbezogene Risiken einzugehen. Dies zeigt sich auch in einem Leitmotiv der Szene: “ Try and fail. But don ’ t fail to try ” . Darin verdeutlicht sich die szeneinterne Konvention, dass Versuchen und Scheitern insofern anerkannt werden, als aus diesem zirkulären Handlungskreis nicht ausgebrochen wird: Denjenigen, die dies aufgrund motivationaler Grenzen (oder anderen Gründen) eben doch tun - also alltagsprachlich aufgeben - , verschließt sich die Möglichkeit, der Szenegemeinschaft anzugehören. Die Demonstration von Risikobereitschaft fassen wir auf Basis der vorangegangenen Analyse anhand folgender Punkte zusammen: (i) Im Street Skateboarding werden keine Protektoren getragen. Diese innerhalb der Szene meist nicht weiter thematisierte Konvention hat, abgesehen von dem Risiko- Engagement, auch praktische Gründe. Denn in voller Schutzkleidung (Knieschoner, Handgelenkschoner, Schienbeinschoner, Helm etc.) ist die Bewegungsfreiheit maßgeblich eingeschränkt. (ii) Die Bedingungen der äußeren Gegebenheiten im Straßenraum - dem Terrain - beeinflussen aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit (Wetterbedingungen, Bodenbeschaffenheit, Menschenmengen, Sicherheitspersonal) die Schwierigkeitsgrade auszuführender Tricks und somit auch das Risiko des Scheiterns. (iii) Skateboarding inkludiert das Management eines individuellen Emotionshaushalts. Das heißt, Szenegänger*innen entwickeln individuelle Handlungsstrategien, um mit den eigenen Schmerzen, Ängsten, Frust- oder Wutzuständen umzugehen. 17 (iv) Skateboarding ist keine klassische Mannschaftssportart, sondern konstituiert sich gerade dadurch, dass Szeneteilnehmende an individuell 17 Wutausbrüche, in denen geschrien und das eigene Skateboard durch die Luft geschleudert wird oder einfach mit einem Knacks darauf getreten wird, sind keine Seltenheit im Szenegeschehen. Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 159 erstellten Szenebiographien basteln (zur “ Bastelexistenz ” cf. Hitzler/ Honer 1994), deren Qualitäten anhand von Bereitschaft und Befähigung ‘ gemessen ’ werden. Die Handlungspläne und ihre Vollzüge, sind unmittelbar an einzelne Individuen geknüpft (dramaturgisch bereits als “ My War ” beschrieben). Szeneteilnehmende erlangen ihre Teilnahmeberechtigung an der Szene eben nicht nur durch die Bereitschaft, sondern auch mittels der Anzeige von Befähigung. Das bedeutet, dass eben den Anderen demonstriert werden muss, dass die Kernaktivität - das Skaten - beherrscht wird. Das beinhaltet z. B., dass ein eingeübter Trick wiederholt werden kann, auch in Anbetracht äußerlicher Bedingungen wie Terrain, Wetterlage oder herumlaufendem Sicherheitspersonal. Und auch wenn dieses genannte Immer-wieder-Versuchen-und- Scheitern den Großteil der Praktik ausmacht, so hat das Gelingen eines Tricks oberste Priorität - allerdings stets angepasst an die individuellen Kompetenzen der Skater*innen selbst. Dies schließt mit ein bereit zu sein, an den individuellen körperlich-emotionalen Grenzen zu arbeiten. Es gibt keinen objektivierten Katalog an Tricks, dem alle Skater*innen nacheifern und sich dann durch seine Beherrschung als kompetent verstehen könnten. Vielmehr erarbeitet sich jede*er Einzelne einen ganz individuellen Vorrat szenespezifischer Handlungskompetenzen. Die Frage nach der Bewertung ‘ guten ’ oder ‘ schlechten ’ Skateboardings kann dabei vor allem szeneintern anhand sich entwickelnder Kriterien beantwortet werden (cf. Buckingham 2009: 134) und sie ist unmittelbar an die zugeschriebene/ demonstrierte Bereitschaft Einzelner geknüpft. Dies impliziert auch eine ständige Arbeit am individuellen Emotionshaushalt der sich in Eigenschaften wie Mut, Wagnis, Ausdauer oder Kampfhaltung zeigt (cf. Bock 2017: 110). Diese motivationalen Ressourcen leiten die zentrale Szenepraktik an: das repetitive Verfolgen konstant bleibender Handlungsentwürfe an ein und demselben Ort (cf. Peters 2016: 192). ‘ Gute ’ Tricks sind dabei eine Verschränkung von Trick und Ort (wie im Video auch in der Notwendigkeit zu sehen, den Trick an eben diesem Ort einzuüben und auch zu meistern). Das heißt, zum Skateboarding zählt auch die Kompetenz, geeignetes Terrain, also die architektonischen Eigenschaften der Städte, aufzuspüren und zu kennen (cf. Buckingham 2009: 134) und den Orten und eigenen Fähigkeiten entsprechend passende Tricks auszuwählen. Skateboarding erweist sich dabei als Prototyp freiwilliger Grenzarbeit (als “ Edgework ” cf. Lyng 2004), weil sich im Risiko die Akteure einer - von ihnen nur in Teilen durch die eigene Handlungsfähigkeit kontrollierbaren - Unsicherheit aussetzen (cf. Lyng 2008: 109). Dies geschieht jedoch keineswegs in rein individuellen Vollzügen. Skater*innen bedienen sich vielmehr kultureigener Bewegungsmuster, welche ein szenespezifisches Szenewissen, sowie damit verbundene (Be-)Wertungen kommunizieren (als “ Kinefakte ” Kimminich 2010: 92). Dies zeigt sich in der Sichtbarmachung durch die Benennungen der Trickelemente (etwa “ BS 360 ” ), durch damit verbundene, erforderliche Körperpraktiken und situativ gesetzte räumlich-materielle Rahmungen und dadurch ermöglichte Erfahrungen (cf. Kidder 2021). In sozial institutionalisierten, geteilten Bewegungsmustern, die individuell angeeignet werden, ermöglichen kollektivierte Erfahrungen (und damit den Anschluss an konjunktive Erfahrungsräume), wie auch Selbst(wirksamkeits)erfahrungen (cf. Kimminich 2010). Auch das Scheitern umfasst szeneeigene Körperpraktiken (z. B. “ Bail ” ) und folglich auch typische Erfahrungen. Damit verbunden ist stets eine ganz individuelle 160 Paul Eisewicht / Pao Nowodworski / Pauline Kortmann Leiberfahrung einerseits. Andererseits verweist die Kommentierung durch Anwesende (im Wissen um die Schwierigkeit des Tricks, die Kompetenz der/ des Skatenden etc.), die Dokumentation und Verbreitung über Medien etc. auf eine geteilte (und im empathischen Nachempfinden) kollektive Erfahrung. Darin zeigt sich, dass Skateboarding eine soziale Angelegenheit ist. Verstanden als Sinnprovinz, kursieren in dieser Szene ganz eigene geteilte Wissensbestände um Handlungspraktiken (die Einübung von Tricks, deren Bezeichnungen etc.), gewisse Regeln und Konventionen (z. B. dass man jemand anderem nicht in dessen Bahnlinie - die sogenannte “ Line ” - hineinfährt), aber auch Bedingungen wie das Emotionsmanagement, das mit der Risikobereitschaft verbunden ist. Und auch wenn Szenen hinsichtlich bestimmter Wissensbestände lokal eingefärbt sind (z. B. das Wissen um geeignete Spots in der Nähe), so liegen bestimmte intrakulturell und auch global geteilte Deutungsmuster und Sinnzuschreibungen vor. Besonders der Dinggebrauch - also die Nutzung und der Verschleiß von Brettern und Schuhen - kann von Skater*innen auf der ganzen Welt gelesen werden. 4.2 Medienformattypische Darstellungen Die typische Szenepraktik inkludiert neben dem tatsächlichen Tun im Hier und Jetzt auch seine bild- und bewegtbildliche Dokumentation: das Erstellen von Fotographien und Videos (cf. Peters 2016: 60), eine Art innerszenisches ‘ Beweismaterial ’ von Befähigung (cf. Buckingham 2009: 141). Insbesondere die Videos haben seit den 1990er Jahren einen rasanten Aufschwung erlebt, der bis heute anhält (cf. Peters 2016: 60). Diese Praktik dient als eine Art Selbstrepräsentation und Aufrechterhaltung von Szenewirklichkeit (cf. Buckingham 2009: 138). Das Teilen und Schauen von Skatevideos ist eine Art Orientierungspunkt, Inspiration und Schablone für das eigene Handeln in der Szene. Darüber hinaus dienen die Videos auch als Informationsträger über die lokalen Gegebenheiten des im Video zentrierten Handlungsortes, was mit Fragen nach der Eignung von Treppenstufen, Stangen, Bänken, Geländern etc. einhergeht (cf. Buckingham 2009: 141). Die Dokumentation der Trickvollzüge wird dabei oft szenetypisch inszeniert - dazu gehören Inszenierungen vor Ort, durch Kameraposition, dramatisierte Perspektiven, Kommentierungen etc., aber auch nachträgliche Bearbeitungen durch Filter, Schnitt, hinterlegte Musik und hinzugefügte Voice-Over. In szenespezifischen Inszenierungen werden Gefahr, Spektakel, Erlebnis und Spaß symbolisiert, aber auch an hohe Kompetenzgrade der gezeigten Skater*innen gebunden (cf. Bock 2017: 192). Systematisch wird dies hingegen in einer Vielzahl an Videos gebrochen, in denen die szenetypische und medienspezifische Dokumentation und Inszenierung des Scheiterns dargestellt wird (auch schon in ‘ klassischen ’ Skatevideos als Out Takes am Ende oder als sporadische Einblendungen zwischen den meist gelungenen Bewegungsabläufen, cf. Peters 2016: 192). Die szenespezifische Nutzung digitaler Medien als Dokumentation, Aufrechterhaltung und Anzeige von Szenezugehörigkeit umfasst auch neuere und immer wieder neu aufkommende Social-Media-Kanäle. Der relativ flüchtige Austausch von Bildern und Kurzvideos (inklusive der darauf Bezug nehmenden Kommentare) auf Instagramm (cf. Dupont 2020) hat unmittelbaren Einfluss auf die Darstellungsform skatespezifischer Handlungsvollzüge. Bei einer Maximaldauer von 15 Sekunden wird durch eine massive Zeitbegrenzung typischerweise weniger das Scheitern, als vielmehr das Gelingen aus- Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen 161 zuführender Tricks dokumentiert. Das Narrativ des Scheiterns scheint nur dann Szenezugehörigkeit erfolgreich markieren zu können, wenn die Bereitschaft einsehbar ist, körperliche Anstrengungen und Gefahren einzugehen. Dies schließt folgerichtig mit ein, dass all jene gescheiterten Handlungsvollzüge, die in die finale und somit erfolgreich abgeschlossene Handlungsumsetzung münden, ein Videomaterial von lediglich 15 Sekunden weit überschreiten. Daher der medientheoretische Ausblick, dass die globale Ausbreitung von Massenmedien dazu beiträgt, dass aus einer großen Auswahl an Material eine Art Mitziehzwang entsteht: Gesteigerte Leistungen in den Videos sind immer mehr Menschen zugänglich. Unsere abschließende These ist dabei, dass das Narrativ des Scheiterns eine Art medial manifesten Qualitätshinweis auf die hochkomplexen Ansprüche liefert, die Skateboarding an Körper und Leib darstellt. References Aranguren, José Luis 1967: Soziologie der Kommunikation, München: Kindler Verlag Atkinson, Michael & Kevin Young (eds.) 2008: Tribal Play. Subcultural Journeys Trough Sport, Bingley: JAI Press: 197 - 216 Bauman, Zygmunt 2003: Flüssige Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag Beal, Becky & Lisa Weidman 2003: “ Authenticity in the skateboarding world ” , in: Rinehart & Sydnor (eds.) 2003: 337 - 352 Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag Beck, Ulrich & Elisabeth Beck-Gernsheim (eds.) 1994: Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. 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Mediale Kodierungen einer neuen Sozialfigur Julia Wustmann (Dortmund) & Angelika Poferl (Dortmund) Abstract: This article focuses on the central female protesters of the Fridays For Future movement, who are examined as frontline women. Due to their effectiveness, they occupy a hinge position between organization and media communication. Therefore, it is necessary to examine how the phenomenon of frontline women of the Fridays For Future movement is currently asserting itself and which symbolic framings are associated with it. In order to be able to historically classify the phenomenon of frontline women of the Fridays For Future movement, a historical review on the engagement of women in environmental and nature protection will be given first. Subsequently, the social science debates on gender, climate and social movements will be summarized in order to justify the research project. After an exemplary analysis, which refers to a specific mode of representation of Greta Thunberg and her contextualization in Twitter postings, it is finally discussed why the frontline women of the Fridays For Future movement stand for the establishment of a new kind of social figure. Keywords: Fridays For Future, Krisen-Heldinnen, Reflexive Modernisierung, Sakralisierung und De-Sakralisierung, Geschlechter- und Naturverhältnisse 1 Vorbemerkungen Die Klimakrise ist aufgrund ihrer fortlaufend sicht- und spürbar werdenden Effekte in den letzten Jahren auch medial immer präsenter geworden. Mit dem Einsetzen der Corona- Pandemie schien es zunächst so, als ob das Thema in den Medien verdrängt worden sei. Doch nach und nach erfuhr die Diskussion um die Klimakrise in Corona-Zeiten erneut Aufwind. So wurde, unter anderem von der früheren Bundesumweltministerin Svenja Schulze, an bereits bekannte Forschungsergebnisse erinnert, die einen Zusammenhang zwischen beiden Krisenphänomenen sehen: Der Klimawandel habe eine katalysatorische Wirkung auf Zoonosen wie Corona, also auf Infektionskrankheiten, die vom Tier auf den Menschen und umgekehrt übertragen werden. Mehr Naturschutz und mehr Nachhaltigkeit, so der argumentative Umkehrschluss, könne Pandemien vorbeugen (cf. BMUV 2020; zu Zoonosen cf. Grunert 2015). Eine glokale 1 soziale Bewegung, welche sich für das Thema Klimaschutz bereits vor Corona eingesetzt hat, und die im Zuge der Corona-Pandemie über den Hashtag #FightEveryCrisis auf sozialen Medien dazu aufgerufen hat, die Coronakrise mit der Klimakrise zusammen zu denken, ist Fridays For Future. Die 2018 durch Greta Thunberg begründete Bewegung, derer sich innerhalb kürzester Zeit weltweit Hundertausende anschlossen, verlagerte coronabedingt ihre Streikaktionen einige Zeit von der Straße in die sozialen Medien. Doch seit Kurzem werden die Proteste auch wieder offline organisiert. So fand am 25. März 2022 erneut ein globaler Klimastreik statt, zu dem die Bewegung aufgerufen hat, und dem sich zahlreiche weitere Organisationen, Institutionen und Akteur*innen aus dem Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes angeschlossen haben. Allein in Deutschland haben sich zehntausende Menschen im Rahmen von etwa 300 Kundgebungen an dem Protest beteiligt (cf. Tagesschau online 2022). 2 Fridays For (a Female) Future? Zur sozialstrukturellen Besonderheit der Fridays For Future Bewegung Aus europa- und weltweiten empirischen Erhebungen zu den beiden letzten vor-pandemischen Klimastreiks im März und September 2019 fällt ein strukturelles Merkmal von Fridays For Future besonders auf: Mehrheitlich nehmen Personen an den Protesten teil, die sich als weiblich identifizieren. Im September 2019 waren dies im Länderdurchschnitt circa 59 % der Teilnehmenden (cf. Abb. 1): Abb. 1: “ Gender Composition by City (September 2019) ” (de Moor et al. 2020: 14) 1 Der Begriff glokal bezieht sich auf das von Roland Robertson etablierte Konzept der “ Glokalisierung ” (1998). Mit dieser Wortneuschöpfung aus den Begriffen Globalisierung und Lokalisierung wendet sich Robertson gegen ein polares Verständnis von Globalem und Lokalen und gegen die Vorstellung, dass Globalität ein Makrophänomen ist, dass zu einer Nivellierung lokaler Unterschiede führen würde. Robertson definiert Glokalisierung als “ Ineinanderblenden von global und lokal ” und argumentiert, dass sich globale Perspektiven immer auch an lokale Gegebenheiten anpassen (Robertson 1998: 197) und umgekehrt, Lokales durch Globales gestaltet und hervorgebracht wird. Solche Formen der lokalspezifischen Einbettung lassen sich neben bspw. Fast-Food-Ketten und TV-Formaten auch für soziale Bewegungen wie die Fridays For Future-Bewegung konstatieren. Fridays For Future etablierte sich über das Format “ Globaler Klimastreik ” , das aber durch lokale Ortsgruppen organisiert und umgesetzt wird. Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 167 Auffallend ist darüber hinaus, dass sich dieses strukturelle Merkmal nicht auf einzelne Altersgruppen beschränkt. Fasst man die Länderergebnisse für die Erhebungen im September 2019 in Bezug auf Alter und Geschlecht zusammen, wird deutlich, dass alle Altersgruppen weiblich dominiert sind, auch wenn dies besonders für die Kohorte der unter 19-Jährigen gilt, in der sich 71 % der Teilnehmenden als Mädchen oder Frauen verstehen (cf. Abb. 2). Abb. 2: “ Gender distribution by age cohort (March and September 2019) ” (de Moor et al. 2020: 13) Die auffallende Geschlechtsspezifik, die sich auf der Ebene der strukturellen Zusammensetzung der Teilnehmenden zeigt, zeichnet sich auch und nochmals verstärkt auf der Ebene der zentralen Protestakteur*innen ab. Denn in zahlreichen Ländern werden die Fridays For Future-Initiativen und -Aktionen führend von Mädchen und jungen Frauen initiiert, koordiniert und vor allem in sozialen Medien kommuniziert: Greta Thunberg (Schweden), Vanessa Nakate (Uganda), Luisa Neubauer (Deutschland), Anna Taylor (Großbritannien), Rayanne Franca (Brasilien), Oladosu Adenike (Nigeria), Jamie Margolin (USA), Anuna de Wever (Belgien), um nur einige Beispiele zu nennen. Aus der Perspektive der sozialen Bewegungs- und Protestforschung stellt sich ein derart hoher Anteil an Personen, die sich als weiblich identifizieren oder gelesen werden, bei einem Thema, das nicht explizit und ausschließlich Mädchen und Frauen betrifft, als Besonderheit dar. Zwar besteht die generelle Tendenz, dass sich seit den 1970iger Jahren der Gender Gap bei Demonstrationen und Protesten schließt. Es lassen sich aber weiterhin geschlechtsspezifische Unterschiede ausmachen. So sind etwa bei Right-Wing-Bewegungen oder Demonstrationen der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) mehrheitlich Männer vertreten (cf. u. a. Graff et al. 2019, Grant & MacDonald 2020, Dietze & Roth 2020, Sommer et al. 2019; van Vaelst & Walgrave 2001). Einen hohen Frauenanteil wie bei den Fridays For Future-Demonstrationen findet man dagegen sonst eher bei dezidiert feministisch gerahmten Protesten, etwa gegen Femizide oder gegen Abtreibungsverbote sowie bei Protesten für Frauenrechte, wie beim Women ’ s March on Washington (cf. Atci et al. 2021; Berry & Chenoweth 2018; Król & Pustu ł ka 2018). 168 Julia Wustmann / Angelika Poferl Unser Beitrag knüpft an dieser strukturellen Besonderheit an und richtet die Aufmerksamkeit auf die weiblichen* zentralen Protestakteure der Fridays For Future-Bewegung, die wir aufgrund ihrer organisatorischen und medialen Position an vorderster Stelle als Frontline-Frauen* 2 bezeichnen. Denn gerade in dieser Scharnierposition zwischen Organisation und medialer Kommunikation kommt den Frontline-Frauen* eine zentrale Rolle für die Bedeutsamkeit und Wirkmächtigkeit der Fridays For Future-Bewegung zu. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich das Phänomen der Frontline-Frauen* der Fridays For Future- Bewegung gegenwärtig durchsetzt und welche symbolischen Rahmungen damit verbunden sind. Im Folgenden wird zuerst ein historischer Rückblick zum Engagement von Frauen* im Umwelt- und Naturschutz gegeben, um das Phänomen der Frontline-Frauen*, der Fridays For Future-Bewegung geschichtlich einordnen zu können. Im Anschluss daran wird ein Einblick in die sozialwissenschaftlichen Debatten zu den Themen Gender, Klima und soziale Bewegungen gegeben, um das Forschungsvorhaben zu begründen. In einem darauffolgenden Schritt wird die methodologische Rahmung von Twitter-Postings und das methodische Vorgehen zu ihrer Analyse vorgestellt. Nach einer exemplarischen Analyse, die sich auf eine spezifische Darstellungsweise Greta Thunbergs und ihrer Kontextualisierung in Twitter- Postings bezieht, wird abschließend erörtert, warum die Frontline-Frauen* der Fridays For Future-Bewegung für die Etablierung einer neuartigen Sozialfigur stehen. 3 Das Engagement von Frauen* im Umwelt- und Naturschutz Beim überproportional hohen Engagement von Frauen* für den Klima- und Umweltschutz, wie es aktuell bei der Fridays For Future-Bewegung zu beobachten ist, handelt es sich nicht um ein gänzlich neues Phänomen. Die Bereitschaft von Frauen* sich für den Natur- und Umweltschutz einzusetzen, lässt sich bis zu den Anfängen ökologischer Bewegungen zurückverfolgen. Zudem sind seit dem Beginn organisierter Umwelt- und Naturschutz- Aktivitäten Frauen* immer wieder auch initiativ und federführend als Pionierinnen in Erscheinung getreten. So gründete Lina Hähnle 1899 den Vogelbund für Vogelschutz, der heute als Naturschutzbund Deutschland bekannt ist. 1962 veröffentlicht Rachel Carson das Werk Silent Spring, das als Startpunkt der US-amerikanischen Umweltbewegung gilt. 1975 entwickelt Liz Christy in New York das erste Projekt zu Urban Gardening, 1976 wird das Kuratorium zum Schutz gefährdeter Pflanzen von Hannelore “ Loki ” Schmidt gegründet. 1977 ruft Wangari Maathai die Umweltschutzorganisation The Green Belt Movement ins Leben, und 1997 wird das erste Ökostrom-Stadtwerk von Ursula Sladeck eingerichtet (cf. Archiv der deutschen Frauenbewegung e. V. 2013, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2013). Diese Beispiele illustrieren, dass Frauen* sich seit jeher auf politischer, aktivistischer und wissenschaftlicher Ebene initiierend und wegbereitend für den Umwelt- und Klimaschutz einsetzen (vgl. grundsätzlich zu Umweltdiskursen Keller & Poferl 2023). 2 Mit der Verwendung des Gendersternchens hinter dem Wort ‘ Frauen ’ verdeutlichen wir den sozialen Konstruktionscharakter von “ Geschlecht ” . Mit dem Begriff Frauen* bezeichnen wir entsprechend alle Personen, die sich als ‘ Frau ’ identifizieren, identifiziert werden und/ oder sich sichtbar machen oder sichtbar gemacht werden. Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 169 Abb. 3: “ Cartoon Mocks John Muir ” (Rome 2006: 441) Mitunter wurden Umwelt- und Naturschutz sogar diskreditierend als ‘ Frauenthemen ’ abgetan, wie die um 1900 entstandene Karikatur des amerikanischen Naturschützers John Muir exemplarisch verdeutlicht (Abb. 3). Muir führte eine Kampagne an, um das Hetch- Hetchy-Tal, einen Teil des Yosemite-Nationalparks, vor der Auffüllung zu einem Stausee zu schützen. Die Karikatur zeigt ihn in Kleid und Schürze, in Frauenschuhen und eine mit Blumen verzierte Haube tragend. Es werden typisiert weibliche Kleidungsstücke genutzt, die in Kombination mit der Haushaltstätigkeit des als aussichtslos dargestellten Fegens auf eine herabwürdigende Rahmung seines ökologischen Engagements als ‘ weiblich ’ abzielt (cf. Rome 2006: 441 f.). Solche abwertenden Geschlechterstereotypisierungen finden sich aber auch noch heutzutage. So titelt die Zeitschrift Spektrum Wissenschaft im Jahr 2018: “ Ist öko zu unmännlich? ” . In dem dazugehörigen Artikel stellen die Marketing-Forscher Aaron Brough und James Wilkie aufgrund ihrer Forschungsergebnisse die These auf, dass sich Männer weniger nachhaltig verhalten, weil sie sich “ wie echte Kerle fühlen [wollen] und fürchten, dass umweltfreundliches Handeln sie allzu feminin erscheinen lassen könnte ” (cf. Brough & 170 Julia Wustmann / Angelika Poferl Wilkie 2018). Sie schlagen im Anschluss u. a. vor, dass Naturschutzorganisationen ein ‘ männlicheres ’ Werbedesign verwenden sollten, um mehr Spenden zu generieren (cf. ebd.). Trotz der weiblichen Konnotation des Umwelt- und Naturschutzes und der bedeutenden Pionierinnen* in diesem Kontext kam es nach Sherilyn MacGregor mit dem Aufstieg der Klimakrise als gesellschaftlichem Thema zu einer ‘ Maskulinisierung ’ der Umweltpolitik ( “‘ masculinisation ’ of environmental politics ” , MacGregor 2010: 230). MacGregor argumentiert, dass sich infolge dieser ‘ Maskulinisierung ’ ab den 1990iger Jahren das Zentrum der Umweltdiskussionen und -handlungen verlagerte und Männer als wissenschaftliche Experten, politische Fürsprecher und wirtschaftliche Unternehmer in den Vordergrund rückten (cf. ebd.: 230 ff.). Deutlich wird dies beispielsweise anhand der Unterrepräsentanz von Frauen in den Delegationen der nationalen Vertragsparteien bei Tagungen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC). Der Prozentsatz von weiblichen Delegationsleitungen lag 2009 bei 10 % und betrug, nach einigen Jahren der stetigen Zunahme (bis zu 26 % im Jahr 2017), im vergangenen Jahr nur 13 %. 3 Ein weiterer Effekt einer ‘ Maskulinisierung ’ der Umweltpolitik zeigt sich etwa auch an den prominenten Vertreter*innen, die sich vor Greta Thunberg für den Klimaschutz einsetzen. Bei den Top 10 der einflussreichsten Personen des Nielson Online Surveys aus dem Jahr 2007, die sich für die Bekämpfung der globalen Erderwärmung einsetzen, handelt es sich fast ausschließlich um Männer: Al Gore, Bill Clinton, Bono, Nelson Mandela, Kofi Annan (cf. The Nielsen Company 2007: 3). Vor dem Hintergrund dieses historischen Abrisses zur Rolle von Frauen* innerhalb des Natur- und Umweltschutzes und der zurückliegenden Entwicklungen in der Klimapolitik zeigt sich verstärkt die Relevanz der eingangs aufgeworfenen Frage: Warum setzt sich das Phänomen der Frontline-Frauen* der Fridays For Future-Bewegung gegenwärtig so erfolgreich durch? Denn zum einen handelt sich bei den Frontline-Frauen* der Fridays For Future- Bewegung nicht um vereinzelte Beispiele aktivistischen Engagements wie bei den angeführten Pionierinnen* der Natur- und Umweltbewegung. Zum anderen sind die Frontline-Frauen* der Fridays For Future-Bewegung, wie die Bezeichnung bereits impliziert, auch in führenden Positionen und Verantwortungsbereichen (Organisation & Kommunikation) innerhalb der Bewegung maßgeblich tätig. 4 Sozialwissenschaftliche Debatten zu Gender, Klima und sozialen Bewegungen Um diese Frage in den Kontext vorliegender Erkenntnisse und Debatten einzuordnen gilt es, im Weiteren zunächst einen Einblick in die aktuelle sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft zu geben. Der Blick in die Forschungslandschaft wird gerahmt und fokussiert durch die mit der Forschungsfrage verwobenen Themen Klima(krise), Gender 4 und soziale 3 Cf. https: / / genderclimatetracker.org/ womens-participation-party-delegations [letzter Zugriff am 14.08.2023]. 4 Wir folgen der Annahme der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht. Mit einer solchen theoretischen Perspektive berücksichtigen wir zum einen die zweigeschlechtliche Konstruiertheit der sozialen Wirklichkeit ( ‘ Frau ’ vs. ‘ Mann ’ / ‘ weiblich ’ vs. ‘ männlich ’ ). Im Anschluss daran gehen wir zum zweiten aber davon aus, dass die Geschlechterdifferenzierung “ eine permanent stattfindende soziale Praxis ” ist (Hirschauer 1996: 242), im Rahmen derer Geschlechterunterscheidungen erst hergestellt werden. Geschlecht verstehen wir also nicht als eine essenzielle, statische Eigenschaft einer Person, sondern als ein soziales Phänomen, das über das Handeln Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 171 Bewegungen. Trotz des medialen und politischen Aufschwungs, den die Themen Klimakrise und Fridays For Future in den letzten Jahren erfahren haben, und trotz des auffallenden Merkmals, dass sich vor allem Frauen* in der Bewegung engagieren, bleibt die bisherige Studienlage überschaubar. Wird Gender mit der Klimakrise in einen Forschungszusammenhang gebracht, behandeln gegenwärtige Studien vor allem die Folgen der Klimakrise für Frauen*. In einem Forschungsstrang in diesem Kontext werden Frauen*, besonders jene des Globalen Südens, als vulnerable Personen verhandelt, die in vielfacher Weise drastischer von den Auswirkungen des Klimawandels bedroht sind als Männer. Ein weiterer Forschungsstrang umfasst Studien, in denen es um nachhaltiges, umweltbewusstes Alltagshandeln geht. Übergreifend wird herausgearbeitet, dass sich Frauen, insbesondere jene des Globalen Nordens, umweltbewusster verhalten und mehr Wert auf Nachhaltigkeit legen als Männer (cf. Arora-Jonsson 2011, Bauriedel 2014, MacGregor 2010, Röhr & Alber 2018). 5 Zum Zusammenhang von sozialen Bewegungen und Gender wurde vorhergehend bereits erwähnt, dass ein so hoher Anteil an Frauen* wie bei den Fridays For Future- Demonstrationen in der sozialen Bewegungs- und Protestforschung eher eine Besonderheit darstellt, da die Themen von Fridays For Future nicht explizit und ausschließlich Mädchen und Frauen betreffen. Gender im Kontext von Fridays For Future beschränkte sich in der bisherigen Forschung vor allem auf die deutschland-, europa- und weltweite Erfassung der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Teilnehmenden im Rahmen quantitativer Erhebungen, innerhalb derer auch die Kategorie Geschlecht oder Geschlechtsidentität abgefragt wird (cf. u. a. de Moor et al. 2020, Haunss & Sommer 2020, Sommer et al. 2019, Wahlström et al. 2019). Ein davon wiederum unterscheidbarer Forschungsstrang, der insbesondere mit Blick auf die Frontline-Frauen* von Interesse ist, beschäftigt sich mit den Motiven und Einstellungen der Teilnehmenden von Fridays For Future-Protesten. Innerhalb dieser Erhebungen wird immer wieder die Begründerin der Fridays For Future-Bewegung Greta Thunberg als Grund für das Interesse an der Klimakrise und als Motivation zur Teilnahme an den Klimastreiks der Bewegung angeführt (cf. u. a. Daniel & Graf 2020, Sommer et al. 2020, Wahlström et al. 2019). Mitunter wird dieser Zusammenhang sogar als “ Greta Effect ” (de Moor et al. 2020: 23) bezeichnet, oder Greta Thunberg wird als “ Zünder ” der Mobilisierung beschrieben (Rucht & Sommer 2019: 122). Mit Blick auf das Phänomen der Frontline-Frauen* lässt sich darüber hinaus ein bedeutsamer Forschungsstrang ausmachen, der das Verhältnis von digitalen Medien und der Fridays For Future-Bewegung behandelt. In diesem thematischen Kontext finden sich zahlreiche Studien, die zu ergründen suchen, welche Rolle (digitale) Medien bei der in Interaktionen erzeugt wird. Begrifflich wird diese Perspektive im Konzept des “ Doing Gender ” gefasst (cf. u. a. West & Zimmerman 1987, Gildemeister & Wetterer 1992). Forschungspraktisch meint dies, dass nicht Geschlechterunterschiede, sondern Prozesse der Geschlechterunterscheidung untersucht werden. 5 Kritisch anzumerken bleibt, dass mit Vulnerabilität und Nachhaltigkeit zwar Effekte beschrieben werden, die gesellschaftlichen Ursachen und die dahinterliegenden Machtasymmetrien im Großteil der Studien allerdings unbeleuchtet bleiben. In den Studien “ werden die Erfahrungen und das Verhalten von Frauen und Männern stark vereinfacht, die Unterschiede innerhalb der Geschlechter ignoriert, aber auch die Dichotomie zwischen dem Globalen Norden und Süden reproduziert ” (Röhr & Alber 2018: 120). 172 Julia Wustmann / Angelika Poferl Zunahme des Bekanntheitsgrads der mittlerweile prominentesten Frontline-Frau* Greta Thunberg gespielt haben (cf. u. a. Jung et al. 2020, Murphy 2021, Olesen 2020, Ryalls & Mazzarella 2021). Eine Reihe von Studien beschäftigt sich zudem mit diskreditierenden medialen Verhandlungen (hinsichtlich Adultismus, Ageismus, Abelismus und Sexismus) von Thunberg (cf. u. a. Bergmann & Ossewaarde 2019, Meade 2020, Park et al. 2021). Schließlich finden sich auch Analysen dazu, wie Greta Thunberg selbst digitale Medien für die Fridays For Future-Bewegung nutzt (cf. u. a. Molder et al. 2021, Prakoso et al. 2021). Vor dem Hintergrund der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatten zu Klima, Gender und sozialen Bewegungen und um die Frage nach der gegenwärtigen erfolgreichen Durchsetzung des Phänomens der Frontline-Frauen* von Fridays For Future zu beantworten, richtet der vorliegende Beitrag den Fokus auf Greta Thunberg. Sie ist als Begründerin der Bewegung sowohl zur bekanntesten und - mit Blick auf die Studien zur Motivation von Protestteilnehmenden - als auch bedeutsamsten Frontline-Frau* der Bewegung avanciert. Zudem konzentrieren die Ausführungen sich auf die Verhandlung der Person Thunberg innerhalb des digitalen Mediums Twitter. Die Proteste von und die Diskussionen über soziale Bewegungen wie Fridays For Future finden heutzutage nicht mehr allein oder vorrangig offline und in analogen Medien statt, sondern sie vollziehen sich gleichsam in einer hybridisierenden Weise über digitale Medien. Twitter ist indes eines der bekanntesten digitalen Medien, das seit Jahren von Protestbewegungen (z. B. Arabischer Frühling, Occupy, MeToo etc.) genutzt wird (cf. Dang-Anh 2019a: 42). Twitter als analytischen Ausgangspunkt zu wählen hat wiederum zur Folge, dass - anders als ein Großteil bisheriger Studien zu Fridays For Future und Greta Thunberg - die Binnenperspektive der Bewegungen verlassen wird. Da über die Struktur und die Funktionsweise von Twitter entstehende Wissensbestände und Ordnungen sich nie nur auf die Teilnehmenden von Fridays For Future beschränken, wird so der Blick auf eine breitere gesellschaftliche Diskussionsarena eröffnet. 5 Zur Interpretation von Twitter/ -Postings als Sehflächen Für die Rekonstruktion der symbolischen Rahmungen in den Verhandlungen zur Frontline- Frau* Thunberg gilt es zu konkretisieren, wie das digitale Medium Twitter methodologisch gefasst werden kann. Die wichtigste Bedeutungseinheit im Medium Twitter sind Postings, die wir im Anschluss an Mark Dang-Anh (2019b, 2016) als sogenannte “ Sehflächen ” fassen. Mit dem Konzept der Sehflächen bezieht sich Dang-Anh wiederum auf Ulrich Schmitz (2011), der sich aus bildlinguistischer Perspektive mit der Verknüpfung von schriftlichen Texten und unbewegten Bildern befasst und konstatiert, dass diese auf [ … ] Sehflächen aller Art [erscheinen]: Zeitungen, Zeitschriften, Buchseiten, Geldscheinen, Flyern, Ansichtskarten, Plakaten, Wegweisern, Schaufenstern, Bildschirmen, Webseiten, T-Shirts, Warenverpackungen und so weiter und so fort. Sehflächen sind Flächen, auf denen Texte und Bilder in geplantem Layout gemeinsame Bedeutungseinheiten bilden. (Schmitz 2011: 25) Dieser Definition von Sehflächen folgend, kann Twitter zunächst als eine Gesamtsehfläche betrachtet werden, die sich durch die Kombination von schriftlichen Zeichen und verschiedenen grafischen Bestandteilen zusammensetzt. Postings können entsprechend als spezifische Sehflächen konzipiert werden, die sich nochmals in unterschiedliche Bereiche Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 173 aufgliedern (Textfelder, Fotos/ Bilder, Informationen zu Metadaten, Schaltflächen). Twitter- Postings als spezifische Sehflächen sind zudem von Operativität gekennzeichnet; über die digitalschriftlichen Operationen “ @ ” (für Adressierungen), “ # ” (für Kontextualisierungen) und “ http: / / ” (für Verlinkungen) werden Operationen an das Medium delegiert, die diese Operationen über eine programmkodierte Regel ausführt (cf. Dang-Anh 2019b: 94 ff., 2016: 157 ff.). Twitter-Postings aufgrund ihrer digitalschriftlichen Operationen als technikdeterminiert zu verstehen, wäre allerdings verkürzt, denn die [ … ] Verknüpfung von Operationsdeklarationen mit anderen Zeichen in kommunikativen Praktiken in digitalen Medien sind Bedeutungskonstitutionen sui generis. Operationen treten demnach in der Regel im Rahmen kommunikativer und damit sozialer Praktiken [ … ] in Erscheinung. Die sozialen Relationen der Kommunizierenden - ihre Sozialität - und die operative Verknüpfung ihrer Interaktionen werden somit durch die Medialität des Mediums (mit-)konstituiert und (mit-)gestaltet. (Dang-Anh 2016: 157, H. i.O) Twitter-Postings als Sehflächen zu konzipieren, in denen Bild und Text über ein Layout zu einer Bedeutungseinheit werden, beinhaltet die Annahme, dass Bild und Text nicht separat für sich genommen, sondern als eine “ holistisch[e] Gesamtbotschaft ” (Schmitz 2011: 33) wirken. In unserem methodischen Vorgehen wurde diesem Umstand darüber begegnet, dass Bilder wie auch Texte von Postings in einem ersten Schritt separat analysiert wurden, diese Analysen in einem zweiten Schritt jedoch in einer ganzheitlichen Perspektive zusammengeführt und abstrahiert wurden. Für die Analyse der Bild- und Textkomponenten von Twitter-Postings wurden die Verfahren der Figurativen Bildhermeneutik (Müller 2012) und der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (Soeffner 2004) gewählt. Bei beiden hermeneutischen Vorgehensweisen wird zunächst die monothetische Perspektive, also die subjektive Intentionalität des oder der Verfasser*in rekonstruiert, um diese in einem anschließenden zweiten Schritt mit möglichst vielen unterschiedlichen Lesarten und Vergleichen polythetisch aufzubrechen (cf. Müller 2012: 148, Soeffner 2004: 83ff). 6 Bildclusteranalyse: Greta Thunberg als Heilige Bevor die Ergebnisse der Analysen an zwei Twitter-Postings exemplarisch dargestellt werden, wird zuvor nochmals dezidiert auf die Bildebene eingegangen. Unseren empirischen Ausgangspunkt bildete eine spezifische Bild-Darstellung von Greta Thunberg, die uns auf Twitter immer wieder begegnete. Im Sinne der Figurativen Bildhermeneutik galt es, zu Beginn systematische Bildvergleiche anzustellen, denn “ die gesellschaftliche Ausarbeitung (Produktion) und Ausdeutung (Konsumption) von Bildern [vollzieht sich] immer auch im intersubjektiv geteilten Kontext anderer Bilder ” (Müller 2012: 156). Für den systematischen Vergleich wurde eine “ Parallelprojektion ” vorgenommen, im Zuge derer Kontrasterfahrungen darüber erzeugt wurden, dass Bilder zu Vergleichspaaren in einem Bildcluster zusammengestellt wurden (cf. Abb. 4). Anders als bei kontrastiven Ansätzen bleiben die Gestaltungsmerkmale zunächst implizit und müssen hinsichtlich ihrer Relevanz erst expliziert werden (cf. ebd.: 151). 174 Julia Wustmann / Angelika Poferl Abb. 4: Bildcluster Greta Thunberg Bei den in einem Cluster zusammengestellten Bildern gehen wir davon aus, dass es sich um Darstellungen von Greta Thunberg handelt, denn entweder sieht man eine Fotokopie von Thunbergs Kopf, die über Bildbearbeitung in ein stilistisch differierendes Bild übertragen wurde (Bild 2, 3 und 4) und/ oder es wird sich in den Darstellungen charakteristischer Merkmale ihres Erscheinungsbildes bedient, um anzuzeigen, dass das Bild Thunberg darstellt. Deutlich wird dies etwa an der Darstellung von Greta über ihre charakteristische Frisur mit den zwei langen, geflochtenen Zöpfen wie in Bild 3, 4, 5 und 6. Andere Hinweise lassen sich über schriftliche Bezeichnungen ableiten, die direkt auf ihren Namen verweisen ( “ St. Greta ” in Bild 2, “ Sancta Greta ” in Bild 5, “ Greta der Retter ” in Bild 6) oder auch über das Zitieren einer mittlerweile berühmt gewordenen Aussage Thunbergs ( “ Our house is on fire ” ), die sie im Rahmen einer Rede zum World Economic Forum in Davos 2019 getätigt hat (Bild 1). Nachdem das ‘ Was ’ der Bilder (Greta Thunberg) geklärt wurde, soll nun das ‘ Wie ’ der Darstellungen rekonstruiert werden. Müller verweist bei Parallelprojektionen im Rahmen Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 175 Figurativer Bildhermeneutik darauf, dass implizite Gestaltungsmerkmale erst expliziert werden müssen. Derlei Gestaltungsmerkmale können die Körpersprache betreffen, sich an zeichenhaft-symbolischen Verweisen oder Bezügen zeigen oder die kommunikative Gattung einer Darstellung sichtbar werden lassen (cf. Müller 2012: 151 f.). Vor diesem Hintergrund gehen wir aufgrund von drei auffallenden, ikonographischen Attributen davon aus, dass die Darstellungen darauf abzielen, Greta Thunberg als Heilige zu inszenieren - eine Darstellungsweise, die allerdings ihre eigenen Brechungen beinhaltet und symbolisch bereits mittransportiert. Auffallend ist auf allen Bildern des Clusters zunächst der Kreis um den Kopf Thunbergs, der in leuchtenden Farben gehalten ist (gelb, orange, gold) und mitunter sogar strahlend wirkt. Diese Kreise lassen sich als Nimbus und als sogenannter “ Heiligenschein ” deuten, der religionsübergreifend als Symbol für Erleuchtete oder Heilige steht. Ein zweites ikonographisches Heiligenattribut findet sich im Segnungsgestus, der sich in den jeweiligen Handhaltungen zeigt: ob zum Himmel erhobene, anrufende Hände (Bild 2 und 6), vor dem Körper zusammengelegte, betende Hände (Bild 3), auf oder um etwas gelegte Hände (wie in Bild 5 um eine Weltkugel) oder die erhobene Hand mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinder (Bild 4). All diese dargestellten Handhaltungen lassen sich als Gesten der Segnung deuten. Schließlich sind auf den Bildern 2, 5 und 6 jeweils Bezeichnungen beigefügt, die wir als drittes Heiligenattribut deuten. Die Bezeichnungen in Form von Namenskürzeln oder Beschreibungen der dargestellten Person ( “ St. Greta, Patron Saint of Ecologists ” in Bild 2, “ Sancta Greta ” in Bild 5, “ Greta der Retter ” in Bild 6) lassen sich als Beischriften interpretieren, die wiederum charakteristisch für christliche Ikonendarstellungen sind. Vor allem der englische Begriff ‘ Saint ’ und das spanische Wort ‘ Sancta ’ unterstreichen die Lesart einer Ikonendarstellung. Beide Termini lassen sich auf das mittelhochdeutsche ‘ sancte ’ und ‘ sante ’ zurückführen, beides sind Bezeichnungsweisen, die Personennamen vorangestellt werden, um diese als ‘ heilig ’ auszuweisen. Aufgrund der rekonstruierten Gestaltungsmerkmale zu symbolischen Verweisen (Nimbus), zur Körpersprache (Segnungsgestus) und zur kommunikativen Gattung der Bilder (christliche Ikonendarstellung) schlussfolgern wir, dass Thunberg in den Bildern des Clusters als sakral konnotierte Figur, eben als Heilige, inszeniert wird. Heilig kann bedeuten, dass jemand oder etwas vom göttlichen Geist erfüllt ist oder aber - in verweltlichter Semantik - , dass jemand besondere Reinheit aufweist. Übergreifend besagt dies, dass jemand - wie hier Thunberg - in Abgrenzung zum Irdischen vollkommen sei und daher als verehrungswürdig wie auch als unantastbar gilt. Eine erste These lautet dem folgend, dass die bildlichen Darstellungen von Greta Thunberg von Zügen der Sakralisierung gekennzeichnet sind und dass dies wiederum auf ihre (vermeintliche) symbolische Unverfügbarkeit verweist. Die von ihr verkörperte Positionierung, ihr Handeln und Wirken entziehen sie auf diese Weise einem profanisierenden Zugriff und damit auch einer (sei es diskursiven, sei es politisch-praktischen) Infragestellung. Parallelen zwischen (Vertreter*innen) der Klimabewegung und Religiosität werden gegenwärtig auch in den Sozialwissenschaften gezogen. So attestiert z. B. Karl-Heinz Kohl den Anhänger*innen der Fridays For Future-Bewegung religiöse Denkmuster und Rituale (cf. Kohl 2020). Zu ähnlichen Ergebnissen kam bereits Anfang der 1990er Jahre Gabriele Christmann, die religiöse Dimensionen in der Sinnwelt von Klimaaktivist*innen rekon- 176 Julia Wustmann / Angelika Poferl struierte (cf. Christmann 1992). Bereits Ende der 1980er Jahre hat Klaus Eder die Kulturbedeutung der Natur in postsäkularen Gesellschaften betont (cf. Eder 1988, 2008). Die Deutung von Klimaaktivismus als Religion oder Ersatzreligion existiert also seit mehreren Jahrzehnten. Eine neue Wendung erhält diese Lesart allerdings mit der Frontline-Frau* Greta Thunberg, die der Bildcluster-Analyse nach zur (an-)führenden Patronin der ‘ Religion ’ Klimabewegung stilisiert wird. Die Deutung von Thunberg als ‘ heilig ’ ist auch nicht gänzlich neu. So arbeiteten Antje Daniel und Patricia Graf im Anschluss an eine Analyse der Medienrezeption Thunbergs verschiedene Stereotype zu ihrer Darstellung heraus. Neben dem Typus der ‘ Machtbesessenen ’ rekonstruieren die Autorinnen u. a. auch den Darstellungs-Typus der ‘ Heiligen ’ und der ‘ Erlöserin ’ (cf. Daniel & Graf 2020: 153). Anhand unserer nun im Anschluss darzustellenden Ergebnisse aus den Analysen von Twitter- Postings, in denen auf die Deutung von Thunberg als Heilige Bezug genommen wird, wollen wir aufzeigen, dass eine trennscharfe Typologie der Komplexität des Untersuchungsgegenstands allerdings nicht vollumfänglich gerecht wird. Vielmehr zeigen sich bei der Verwendung der bildlichen Darstellung von Thunberg als Heilige verschiedene Rahmungen, die sich teilweise überschneiden, miteinander verwoben sind und/ oder sich ineinander verwischen. 7 Twitter-Posting-Analyse: Greta Thunberg als woke Prophetin Wie bereits ausgeführt, geht mit der Konzeption von Twitter-Postings als Sehflächen die Annahme einher, dass Bilder und Texte nicht einfach unabhängig nebeneinanderstehen, sondern nur in der wechselseitigen Bezugnahme aufeinander verstanden werden können, denn Sehflächen “ organisieren deren semiotische Interaktion (Inhalt) durch gezieltes Design (Ausdruck). Dabei nehmen Bilder einige Eigenschaften von Texten an [ … ] und Texte einige Eigenschaften von Bildern [ … ] ” (Schmitz 2011: 28). Im Folgenden werden wir, ausgehend von der dargestellten Bildcluster-Analyse zu Greta Thunberg als Heilige, die Analysen zweier Twitter-Postings exemplarisch vorstellen, um im Anschluss eine abstrahierende Interpretation der Ergebnisse vorzunehmen. Wie sich im Laufe unserer Analysen herausstellte, werden sakralisierende Darstellungen Thunbergs in Twitter-Postings nicht immer so wertschätzend verwendet, wie der Terminus ‘ heilig ’ vermuten ließe. So werden sakralisierende Darstellungen von Thunberg auch in Kontexte eingebettet, in denen die Klimakrise mindestens infrage gestellt und die Fridays For Future-Bewegung skeptisch bis diffamierend betrachtet wird. Zur Illustration dieser Dynamik werden im Folgenden zwei Twitter-Postings analysiert, die auf dasselbe Bild zurückgreifen, dieses aber gänzlich unterschiedlich kontextualisieren. Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 177 Abb. 5: Twitter-Posting I In diesem Twitter-Posting (Abb. 5) wird eine Fotografie kontextualisiert und beschrieben. Zu sehen ist eine größere Ansammlung von Menschen, die über die Hashtagsetzung “ #FridaysForFuture ” und die Ergänzung “ climate change action protest in Paris ” als Ausschnitt einer Fridays For Future-Demonstration interpretiert werden kann, die in Paris stattgefunden hat. In der Mitte der Fotografie ist eine Abbildung zu sehen, die wir zuvor auch in der Bildclusteranalyse zu Greta Thunberg als Heilige vorgestellt haben. Diese Abbildung wird in Form eines Protestschilds verwendet ( “ a sign depicting Swedish climate Abb. 6: Twitter-Posting II 178 Julia Wustmann / Angelika Poferl activist Greta Thunberg ” ). Protestschilder dienen als ein Requisit der Inszenierung als Protestteilnehmende*r. In ihnen materialisieren sich bestimmte Informationen wie der Grund zur Teilnahme, gestellte Forderungen oder aber zentrale Positionen und Ansichten wie etwa, dass Greta Thunberg als (an-)führende Heilige der Bewegung gesehen wird. Über einen Hyperlink wird schließlich auf weitere Fotografien des Ereignisses verwiesen, was die für den Twitter-Post ausgewählte Fotografie nochmals besonders macht, denn dadurch erhält sie einen mindestens stellvertretenden, wenn nicht sogar prototypischen Charakter. In einem zweiten Tweet (Abb. 6) wird eine Fotografie verwendet, die dasselbe Protestschild mit der Abbildung von Greta Thunberg als Heilige zeigt, welches auch im vorherigen Twitter-Posting im Mittelpunkt stand. Doch wird die Darstellung Thunbergs in einer ganz anderen Weise kontextualisiert als in dem vorangegangenen Twitter-Posting. Deutlich wird dies am Text “ Regard the fabricated and exploited green prophet of the Cult of Woke ” , was übersetzt so viel bedeutet wie “ Betrachten Sie den fabrizierten und ausgebeuteten grünen Propheten des Kultes des Erwachens/ Wachsam Seins ” . Über den Begriff “ prophet ” wird ebenfalls eine religiöse Deutung vorgenommen, steht dieser doch für eine Person, die sich dazu berufen sieht, Wahrheiten ihres Gottes zu verkünden, und die von einer Glaubensgemeinschaft als Autorität Anerkennung erfährt. Dass die Bezeichnung ‘ Prophet ’ allerdings, anders als der Begriff ‘ Heilige ’ , eine hier erkennbar negative Konnotation hat, wird am Ausdruck “ Cult of Woke ” deutlich. Der Begriff Woke entstand bereits zur Mitte des 20. Jahrhunderts, erfuhr aber mit der Black Lives Matter-Bewegung in den USA neue Aufmerksamkeit. Mit dem Begriff wird dazu aufgerufen, diskriminierenden politischen und sozialstrukturellen Missständen gegenüber wachsam zu sein. In den letzten Jahren erfuhr der Begriff allerdings auch viel Kritik, ihm wurde u. a. vorgeworfen, ‘ politische Korrektheit ’ zu überbetonen und einen Hang zur Cancel Culture zu begünstigen. Es entwickelte sich eine multiple Ausdeutung des Begriffs; so wird er einerseits positiv konnotiert als Selbstbeschreibung genutzt und andererseits als Fremdbeschreibung diskreditierend verwendet. Dass vom “ Cult of Woke ” die Rede ist, impliziert, zumindest gegenwartsgesellschaftlich, eine negative Konnotation. Bei einem Kult handelt es sich um eine Gemeinschaft, die in ritualisierter Weise eine Gottheit religiös verehrt. Doch mit dem Begriff Kult geht auch immer einher, dass sich diese Verehrung in einer übertriebenen Weise vollzieht. Die Termini ‘ Cult ’ oder ‘ Kult ’ und ‘ Woke ’ oder ‘ Wachsamkeit ’ eint also die Lesart einer Übertreibung, was im Umkehrschluss und auf Thunberg als ‘ Prophetin ’ dieses Kults bezogen meint, dass sie zwar religiös verehrt wird, diese Verehrung aber als unangemessen erachtet wird. Dass das Twitter-Posting durch eine abwertende Konnotation gekennzeichnet ist, demonstrieren schließlich die Hashtag-Setzungen unter der Fotografie, die das Posting nochmals eindeutiger kontextualisieren. So verweist z. B. der Hashtag “ #Soros ” auf eine Verschwörungstheorie, der zufolge George Soros, ein US-Börsenmilliardär und Philanthrop, insgeheim einen Bevölkerungsaustausch in Europa plane. Dafür kaufe er Politiker*innen, Journalist*innen oder auch Aktivist*innen wie Thunberg, die in seinem Sinne agieren sollen. Thunberg wird in diesem Sinne also nicht als Heilige, sondern vielmehr als eine Marionette geheimer Mächte betrachtet. Sinnhaft schließt dies an den im oberen Textteil der Sehfläche verwendetet Begriff “ fabricated ” also ‘ hergestellt ’ an. Damit wird Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 179 ausgedrückt, dass Thunberg als ‘ Prophetin ’ nicht eigeninitiativ handelt, sondern durch jemanden oder etwas erst als Prophetin produziert und/ oder gesteuert wurde. Fasst man die Analysen des zweiten Twitter-Postings zusammen, so lässt sich festhalten, dass der Frontline-Frau* Greta Thunberg zwar eine zentrale, religiös charakterisierte Führungsrolle für die gegenwärtige Klimabewegung zugeschrieben wird, doch geschieht dies letztlich in diskreditierender Art und Weise. Die Sakralisierung verkehrt sich de facto zur De-Sakralisierung, sie wird zur Ent-Wertung und Herabsetzung genutzt. Was sich an dieser Analyse zeigt, so unsere zweite These, ist eine für die sakralen Darstellungen Thunbergs typische Dynamik aus wechselseitigen strukturellen Reflexivitäten (im Sinne von Rückspiegelungen) und gesteigerten Perspektivenverzerrungen (nicht: Perspektivenverschränkungen). Der Effekt dieser Dynamik besteht darin, dass die sakralisierende Rahmung auf den ersten Blick erhöht, umgekehrt jedoch zur Demonstration eines nur vermeintlich Unverfügbaren gerät. Eine solche De-Sakralisierung (oder Sakralisierungskarikatur) fordert zum gezielten Tabu-Bruch, zur ‘ Entblößung ’ und zur ‘ Entweihung ’ auf (und scheint aus diesem Modus heraus enorme zerstörerische Energie zu gewinnen). Theoretisch interpretieren wir dieses Zusammenspiel von Sakralisierung und De- Sakralisierung als einen Ausdruck multipler Relevanzhorizonte. Multiple Relevanzhorizonte sind im Kontext einer reflexiv gewordenen (d. h. mit ihren eigenen Grundlagen und Folgeproblemen konfrontierten) Moderne prinzipiell durchlässig. Ihre Pluralität und Aufeinanderbezogenheit ist jedoch keineswegs nur emanzipatorisch beschaffen, sondern kann in Destruktion münden, wie die Analysen zum zweiten Twitter-Posting verdeutlichen. 8 Die Sozialfigur der Krisen-Heldin Dieses Zusammenspiel von Sakralisierung und De-Sakralisierung als Ausdruck multipler Relevanzhorizonte deuten wir, so unsere dritte These, als Teilaspekt eines übergeordneten Heroisierungsprozesses. Denn anders als bei der ‘ klassischen ’ Konzeption von Heiligen (die auf Transzendenz abstellen), sind Handlungen von Helden (wir sprechen hier bewusst in der männlichen Form) gegen ein spezifisches diesseitiges, innerweltliches ‘ Außen ’ gerichtet, das als Negativfolie dient (cf. Möbius 2018: 45). Bei Greta Thunberg sind dies etwa die Klimakrise leugnende Politiker*innen, Ökonom*innen oder Personen, die Thunberg aufgrund ihrer Ansichten diffamieren. Held*innen repräsentieren zudem Ideale und Werte einer Gruppe und sind “ affektivemotional aufgeladene Zeichen/ Signifikanten, Fixierungen von Bedeutungen ( ” Knotenpunkte “ ), Verknüpfungen und Verdichtungen von unterschiedlichen diskursiven Zuschreibungen, die eine diskursive Einheit ermöglichen ” und dadurch eine vergemeinschaftende Funktion erfüllen (cf. Möbius 2018: 45). Auch dies gilt für Greta Thunberg, die z. B. aufgrund ihrer Prinzipien zur Nachhaltigkeit den Atlantik per Segelschiff überquerte statt ein Flugzeug zu benutzen und die über die Fridays For Future-Bewegung Millionen Menschen zusammengeführt hat. Thunberg erfüllt somit Charakteristika eines oder einer Helden*in, wie sie u. a. vom Sonderforschungsbereich 948 zu “ Helden. Heroisierungen. 180 Julia Wustmann / Angelika Poferl Heroismen ” und von Stephan Moebius herausgearbeitet wurden (cf. Heinzer et al. 2017: 18; Moebius 2018: 45). Wir bezeichnen Greta Thunberg aber nicht als Heldin, sondern wir sind der Annahme, dass sie als prominenteste Frontline-Frau* der Fridays For Future-Bewegung eine neue Sozialfigur verkörpert, für die - in Anlehnung an Moebius ’ männlichen Helden und angesichts des Gründungsanlasses der Klimakrise - der Begriff der Krisen-Heldin geeigneter ist. Die Etablierung einer Sozialfigur der Krisen-Heldin steht unseres Erachtens prototypisch für die Öffnung neuer Denk- und Handlungsräume und dies in zweifacher Hinsicht: Erstens kommt die Erosion von Geschlechterverhältnissen ins Spiel. Frauen und Heldentum wurden vor allem traditional-relational konzipiert, d. h., die Rolle der Frau an der Seite des Helden beschränkte sich darauf ihn zu entsenden, zu trösten oder seinen Tod zu beklagen. Oder aber die Frau wurde an typisch männliche Heldencharakteristika angeglichen, z. B. in der Figur der kämpferischen Amazone. Abgesehen davon ergaben sich sonst nur die Rollen der Mutter, Jungfrau oder Märtyrerin, deren Heroismus in der Selbstaufopferung besteht (cf. Rolshoven 2018: 13 ff.). All dies ist Thunberg nicht. Ihr Engagement lässt sich kaum in gängige geschlechtstypische Ordnungsmuster einfügen, auch wenn ihr Aussehen weiblich erscheint, und sie mit der Selbstetikettierung als “ kleines Mädchen ” (Die ZEIT, 27.8.2020: 2) agiert. Dass Gender in diesem Heroisierungsprozess eine zentrale Rolle spielt, zeigt sich auch im Verhältnis der Krisen-Heldin zum negativ konnotierten ‘ Außen ’ . Dieses ‘ Außen ’ diffamiert Thunberg und andere Akteur*innen der Bewegung nicht nur in de-sakralisierender Weise, sondern auch über Ableismus, Ageismus und vor allem über Sexismus und Misogynie, worauf die eingangs angeführten Studien zur Verhandlung von Thunberg in sozialen Medien Hinweise geben. Zweitens formulieren Greta Thunberg und andere Frontline-Frauen* der Fridays For Future-Bewegung eine radikale Kritik an Ressourcen ausbeutenden Natur-Gesellschafts- Verhältnissen. In ihrer Schärfe und Unnachgiebigkeit stellen sie - gegenüber ‘ Klimawandelleugnern ’ sowie auch gegenüber den seit längerem existierenden gemäßigteren ökologischen Reformansätzen, die weniger grundsätzlich argumentieren, - eine Provokation dar. Denn die Frontline-Frauen* stellen, bei aller Wissenschaftsgläubigkeit, die Orientierung an einem Rationalitätsimperativ der ‘ kleinen Schritte ’ und des Kompromisses in Frage. Sie richten sich darüber hinaus dezidiert und oft auch bewusst moralisierend gegen das Erbe, das die vorherigen Generationen hinterlassen haben - es ist ein Erbe der ‘ Klimaschuld ’ , der (teils irreversiblen) Schädigung von Natur. Das macht sie auch für manch moderate Diskurspositionen ‘ anstrengend ’ , ‘ penetrant ’ und mitunter schwer ‘ erträglich ’ - bei gleichzeitig bekundetem (paternalistischem) Wohlgefallen an einer ‘ Jugend ’ , die sich der Zukunft des Planeten annimmt. Die Frontline-Frauen* stehen insofern für eine neuartige Sozialfigur der Krisen-Heldin, die im Kontext einer vieldimensionalen Krisensituation und vielschichtiger Konstellationen eines gesellschaftlichen Grundlagenwandels emergiert. Frontline-Frauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? 181 9 Die Krisen-Heldin als Ausdruck einer Kosmopolitik des Sozialen In den dargestellten digital-medialen Verhandlungen der Frontline-Frau* Greta Thunberg verschränken sich die Umbrüche von Geschlechter-, Natur-, aber auch von Generationenverhältnissen. Ihr struktureller Hintergrund ist die Erosion etablierter Ordnungskategorien und Unterscheidungen, die für die klassische, industriegesellschaftliche Moderne und deren bürgerliche Geschlechterordnung zentral waren. Diese Konstellation bedingt die Entstehung der neuen Sozialfigur der Krisen-Heldin, die weiterführend als Ausdruck und Ergebnis einer Kosmopolitik des Sozialen verstanden werden kann. Dieser Begriff (Poferl 2020, 2022; cf. auch Poferl 2017) steht für ein Struktur- und Handlungskonzept der Analyse gesellschaftlichen Wandels. Er zielt auf die Inklusion des bislang Ausgeschlossenen, die Auflösung etablierter Unterscheidungen und auf eine Re-Figuration der Außen- und der Binnengrenzen des Sozialen, die in ganz unterschiedlichen Ausprägungen in Erscheinung tritt. Hier als Zusammenspiel von ökologischer Krise vs. ökologischem Engagement, Sakralisierung vs. De-Sakralisierung und Heroisierung vs. De-Heroisierung, in dem sich das Ringen um neue Formen der Vermittlung von Mensch und Natur, der Human- und Biosphäre in ein Gewand geschlechtlicher (und generationeller) Kodierungen und Umkodierungen hüllt. Solche Entwicklungen lösen das Gefüge der Hoch- und Spätmoderne in ihren strukturellen Beschränkungen von innen auf. Darin zeigen sich Bewegungen reflexiver Modernisierung in Reinkultur, die an den Grundpfeilern der mit der klassischen Moderne entstandenen (Kultur-, Natur-, Geschlechter-, Human-) Ordnungen rütteln und neuartige Politiken der Grenzziehung und Grenzüberschreitung in materialer und symbolischer Hinsicht hervorbringen. In den bisherigen Grundlegungen der Theorieperspektive reflexiver Modernisierung (cf. Beck (1986, 2007 [1999], 2017) wurden Geschlechter- und Naturverhältnisse allerdings nicht zusammengedacht. Wie sehr es auch für die künftige Theoriebildung darauf ankommt beides zu verknüpfen, zeigen die vorliegenden Ausführungen. Die Sozialfigur der Krisen- Heldin ist ein paradigmatisches Beispiel für die Erschütterung überkommener und sich transformierender, d. h. sich auflösender, neu zusammensetzender und verwandelnder Ordnungskonstruktionen. Sie zeugt von einem zentralen gesellschaftlichen Handlungsproblem, nämlich dem sich strukturell aufdrängenden Erfordernis, ‘ anders ’ mit dem ‘ Anderen ’ ( ‘ den ’ jungen Frauen, der Natur, den Generationen) umzugehen; ein Erfordernis, das seinerseits auf Widerstand trifft und markante Polarisierungen nach sich zieht. Die digital-medialen Verhandlungen lassen sich so gesellschaftstheoretisch als eine Entwicklung interpretieren, in der es darum geht, Geschlechter-, Natur- und Generationenverhältnisse neu zu erfinden, auch gegen Abwehr. Die Sozialfigur der Krisen-Heldin bringt genau dies zum Ausdruck. References Archiv der deutschen Frauenbewegung e. V. (ed.) 2013: Umweltgeschichte und Geschlecht. Von Antiatomkraftbewegung bis Ökofeminismus (= Ariadne. 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(u. a.): Peter Lang 186 Julia Wustmann / Angelika Poferl K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Autorinnen und Autoren / Authors Prof. Dr. Maren Conrad ist Professorin für Kinder und Jugendliteratur und ihre Didaktik am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln und leitet dort die Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung (ALEKI). Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen Inklusion und Diversität, multilineare, multimodale und intermediale Erzählverfahren sowie engagierte Dystopien in Kinder- und Jugendliteratur und -medien sowie jugendkulturellen Formaten. Prof. Dr. Jan-Oliver Decker ist seit 2011 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik an der Universität Passau. Seit 2005 ist er Beirat in der Sektion Literatur der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e. V., von 2011 − 2017 war er im Vorstand und von 2014 − 2017 Präsident der DGS e. V. Seine Forschungsschwerpunkte sind Semiotik, transmediale Narratologie, Literatur vom 18. − 21. Jahrhundert, Film, Fernsehen und neue Medien in kultur- und mediensemiotischer sowie mentalitätsgeschichtlicher Perspektive. Dr. Paul Eisewicht, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Universität Münster. Er ist Sprecher der Sektion Jugendsoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Chefredakteur von jugendszenen.com. Seine Forschungsgebiete sind explorativ-interpretative Methoden, posttraditionale Gesellungen und digitaler Konsum. Prof. Dr. Kathrin Fahlenbrach, ist Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsbereiche umfassen Ästhetik und Wahrnehmung filmischer und interaktiver Medien, körpernahe Metaphern in populärer Medienästhetik, sowie Bildrhetorik von Protest in Massenmedien und im Netzaktivismus. PD Dr. Dennis Gräf, Akademischer Oberrat am Lst. f. Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau, Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Medien- und Kultursemiotik, deutsche Literatur- und Mediengeschichte, insbesondere Tatort, Film der 1960er Jahre, Literatur und Film der DDR. Publikationen: Ordnung und Angriff. Film und Literatur der 1960er-Jahre (Würzburg: Königshausen & Neumann 2024.); Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren 2 2017 (zusammen Stephanie Großmann, Peter Klimczak, Hans Krah und Marietheres Wagner). Prof. Dr. Eva Kimminich war von 2010 bis 2023 Professorin für Kultursemiotik und Romanische Literaturen an der Universität Potsdam. Sie hat dort den ersten deutschen Masterstudiengang für “ Angewandte Kulturwissenschaften und Kultursemiotik ” eingerichtet. Seit 2002 ist sie Beirätin der Deutschen Gesellschaft für Semiotik DGS e. V. für die von ihr gegründete Sektion “ Semiotik der Jugend- und Subkulturen ” . Von 2008 bis 2011 war sie Präsidentin und von 2011 bis 2014 Vorstandsmitglied der DGS. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben der semiotischen Durchdringung soziokultureller Programmatiken Sub-, Populär- und Protestkulturen sowie Verschwörungserzählungen. Einschlägige Veröffentlichung u. a.: “ A Third Space for Dissent: Raps periphere Semiosphäre, ihre Entstehung und Wirkung ” , in: Lexia, Rivista di Semiotica 13/ 14 Protesta/ Protest (2013) 209 - 226; Virality and Morphogensis of right wing internet populism. (Welt - Körper - Sprache. Perspektiven kultureller Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, 13) Frankfurt: Lang 2018 und Symbolische (Ver)formungen. Einführung in eine kultursemiotische Beobachtung gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Baden Baden: Ergon 2023. Pauline Kortmann, B. A. hat ihren Bachelor 2021 im Studiengang Erziehungswissenschaft mit dem Wahlpflichtfach Soziologie an der Technischen Universität Dortmund erlangt und ist seitdem im erziehungswissenschaftlichen Masterstudiengang an dieser Universität eingeschrieben. Sie war von 2019 bis 2023 im DFG-geförderten Projekt “ Curated Shopping ” an der Fakultät 17 der Technischen Universität Dortmund als studentische Mitarbeiterin tätig und ist seit 2023 dort als studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie angestellt. Prof. Dr. Hans Krah, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Passau. Forschungsschwerpunkte: Semiotik, Narratologie, Kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung, Privatheit, Populärkultur. Publikationen u. a.: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren 2 2017 (zusammen mit Dennis Gräf, Stephanie Großmann, Peter Klimczak und Marietheres Wagner); Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse. Kiel: Ludwig 2 2015 (unter Mitwirkung von Dennis Gräf, Stephanie Großmann und Stefan Halft). Dr. Marco Krause, Senior Consultant und Programm Manager im Bereich Digital Analytics & Optimization bei der Deutsche Telekom MMS GmbH. Studium der Soziologie und Psychologie an der TU Dresden (Diplom). 2019 Promotion an der TU Dortmund. Publikationen u.a.: Marco Krause (2019): Moden in der Hip-Hop-Szene. Eine ethnographische Studie über die Bedeutung und Dynamik von Modestrukturen, Wiesbaden: Springer VS 2020. Pao Nowodworski M.Ed. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie unter der Leitung von Prof. Dr. Angelika Poferl an der Technischen Universität Dortmund. Seine Forschungsgebiete sind Interpretative Sozialforschung, Ethnographie, Phänomenologie, Wissenssoziologie, Kommunikationssoziologie mit den Themenschwerpunkten Ränder der Sozialität und Jugendszenen. 188 Die Autorinnen und Autoren / Authors Prof. Dr. Angelika Poferl war von 2010 - 2016 Professorin für Soziologie und Globalisierung am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Fulda und ist seit 2016 Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie an der Fakultät Sozialwissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Ihre Forschungsgebiete sind: Theorien der Moderne; Globalisierung; Wissens- und Kultursoziologie; Soziologie der Menschenrechte; Soziologie des Alltags; Soziale Ungleichheit; Geschlechterforschung; Interpretative Sozialforschung. Dr. Franziska Trapp, Postdoc- Wissenschaftlerin an der Université Libre de Bruxelles (BE), widmet sich in ihrer aktuellen Recherche den Objekten und Apparaturen im Zirkus. Sie ist die Gründerin des Forschungsprojektes Zirkus | Wissenschaft, Initiatorin des Young Researchers Network in Circus Studies (YOUR | Circus) und Co-Herausgeberin des wissenschaftlichen Journals Circus Arts, Life and Science. Darüber hinaus arbeitet Trapp als freiberufliche Dramaturgin. Sie wurde vom Deutschen Hochschulverband mit dem dritten Platz als Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres 2019 ausgezeichnet und erhielt 2020 den Nachwuchspreis der Deutschen Gesellschaft für Semiotik für ihre Dissertation mit dem Titel ‘ Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus ’ (De Gruyter 2020 (DE), Routledge 2024 (EN)). Dr. Julia Wustmann ist seit 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehr- und Forschungsbereich Allgemeine Soziologie an der Technische Universität Dortmund in der Fakultät für Sozialwissenschaften, wo sie auch mit einer Forschungsarbeit zum Thema: Ganz schön operiert. Eine wissenssoziologische Rekonstruktion von Alltags- und Expert/ innenwissen zur Legitimität der Ästhetisch-Plastischen Chirurgie 2019 promoviert wurde. Ihre Forschungsgebiete sind Mikrosoziologie, Geschlechtersoziologie, Wissenssoziologie, Medizinsoziologie und Qualitative und Interpretative Sozialforschung. Die Autorinnen und Autoren / Authors 189 K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of the authors Prof. Dr. Maren Conrad Professur für Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik Leitung der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung (ALEKI) Universität zu Köln Bernhard-Feilchenfeld-Str. 11 50969 Köln Maren.Conrad@uni-koeln.de Prof. Dr. Jan-Oliver Decker Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Mediensemiotik Universität Passau Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät Innstraße 41 94032 Passau Jan-Oliver.Decker@uni-passau.de Paul Eisewicht Institut für Soziologie Westfälische Wilhelms-Universität Münster Scharnhorststr. 121 48151 Münster Paul.eisewicht@uni-muenster.de Prof. Dr. Kathrin Fahlenbrach Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Medien und Kommunikation Überseering 35 22297 Hamburg kathrin.fahlenbrach@uni-hamburg.de PD Dr. Dennis Gräf Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät Universität Passau Innstraße 25 94032 Passau Dennis.Graef@uni-passau.de Prof. Dr. Eva Kimminich Kulturen romanischer Länder Institut für Romanistik Universität Potsdam Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam Eva.Kimminich@uni-potsdam.de Pauline Kortmann, B. A. Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie Fakultät Sozialwissenschaften (Fak. 17) Raum 2.515 Emil-Figge-Str. 50 44227 Dortmund Telefon: 0231 755-4417 Pauline.Kortmann@tu-dortmund.de Prof. Dr. Hans Krah Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Geistes- und Kulturwissenschaftliche Fakultät Innstraße 25 94032 Passau Hans.Krah@uni-passau.de Dr. Marco Krause Deutsche Telekom MMS GmbH Riesaer Straße 5 01129 Dresden Marco.Krause@telekom.de Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of the authors 191 Pia Nowodworski, M.Ed. Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie Fakultät Sozialwissenschaften (Fak. 17) Raum 2.515 Emil-Figge-Str. 50 44227 Dortmund Telefon: 0231 755-4417 pao.nowodworski@tu-dortmund.de Prof. Dr. Angelika Poferl Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie Fakultät 17 Sozialwissenschaften TU Dortmund Emil-Figge-Str. 50 44227 Dortmund Franziska Trapp Freie Universität Berlin Institut für Theaterwissenschaft Grunewaldstraße 35 12165 Berlin Franziska.trapp@fu-berlin.de Dr. Julia Wustmann Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie Fakultät 17 Sozialwissenschaften TU Dortmund Emil-Figge-Str. 50 44227 Dortmund 192 Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of the authors Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10 - 30 S. à 2.500 Zeichen [25.000 - 75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2 - 3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarzweiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3 - 5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht ( “…” ). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “ normalen ” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “ [ … ] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen ” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “ f. ” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [ … ], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “ (Hervorh. im Original) ” oder “ (Hervorh. nicht im Original) ” bzw. “ (Hervorh. v. mir, Initial) ” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “ [sic] ” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt ( “… ‘…’ …” ). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “ Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet. ” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “ Fähe bedeutet ‘ Füchsin ’ . ” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “ *Rettet dem Dativ! ” oder “ *der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. ” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [ … ] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “ Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben ” , in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1 - 2 (1999): 27 - 41 Duck, Donald 2000: “ Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag ” , in: Duck (ed.) 4 2000: 251 - 265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “ und ” oder “ & ” (bei mehr als drei Namen genügt ein “ et al. ” [für et alii] oder “ u. a. ” 194 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “ etc. ” ): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘ graue ’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck ( “ Zürich: Diss. phil. ” ), vervielfältigte Handreichungen ( “ London: Mimeo ” ), Manuskripte ( “ Radevormwald: unveröff. Ms. ” ), Briefe ( “ pers. Mitteilung ” ) etc. - muss nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “ Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis ” , in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47 - 67 Duck, Daisy 2001 b: “ Zum Rollenverständnis des modernen Erpels ” , in: Ente und Gesellschaft 19.1 - 2 (2001): 27 - 43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “ Schon wieder keinen Bock ” , in: Franz Gans ’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 195 Instructions to Authors Articles (approx. 10 - 30 pp. à 2 ’ 500 signs [25.000 - 75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3 - 5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is - 0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn ’ t make sense; one is taken out of context; one isn ’ t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘ normal ’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [ … ], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “… ‘…’ …” . Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘ Enlightenment ’ ); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘ I learn English since ten years ’ : The Global English Debate and the German University Classroom ” , in: English Today 18.2 (2002): 9 - 13 Modiano, Marko 1998: “ The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union ” , in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241 - 248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “ Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe ” , Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5 - 7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09]. Instructions to Authors 197 BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Der Band versammelt 12 Beiträge, die verschiedene Aspekte literarischer Mehrsprachigkeit in den Fokus rücken. So wird das Potenzial mehrsprachiger Texte zur Erneuerung literarischer Formen analysiert. Literarische Übersetzungsstrategien sowie Momente der Intertextualität und Intermedialität bilden einen weiteren Schwerpunkt. Schließlich beleuchten die Beiträge Sprachbilder und Komposita, die aus anderen Sprachen übertragen oder neu gebildet werden. Gemeinsam ist all diesen Schreibverfahren, dass sie sprachliche Automatismen hinterfragen - dadurch eröffnen sich kritische Perspektiven auf sprachliche Formen und Inhalte sowie auf die Materialität von Sprache. Konventionelle Sprachregeln werden kritisch untersucht, neu gedacht, überschritten oder auf den Kopf gestellt und das auf eine spielerische Weise - mehrsprachige Texte erweitern somit das Set der Spielregeln. Áine McMurtry, Barbara Siller, Sandra Vlasta (Hrsg.) Mehrsprachigkeit in der Literatur Das probeweise Einführen neuer Spielregeln Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism 1. Au age 2023, 280 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-7720-8783-7 eISBN 978-3-7720-5783-0 Themenhe : Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate: Aneignung, Literacy, Protest Von Jan-Oliver Decker und Eva Kimminich Jan-Oliver Decker & Eva Kimminich: Einführung Jan-Oliver Decker & Hans Krah: Texte und Aneignungskulturen. Ein semiotischer Ansatz am Beispiel Little Britain Kathrin Fahlenbrach: Memes und Netzikonen in digitalen Protestkulturen des Web 2.0 Franziska Trapp: Transformationen vom Anthropozentrismus zum Neuen Materialismus - Objekte und Apparaturen im Zirkus Maren Conrad: Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen Dennis Gräf: #Space&semiotics - (Narrative) Raumaneignungen in touristischen Instagramposts Marco Krause: Moden in der Hip-Hop-Szene - Produkt- und Konsumdi erenzierungen Paul Eisewicht, Pao Nowodworski & Pauline Kortmann: Mediale Narrative des Scheiterns im Skateboarding als Zugehörigkeits(an)zeichen Julia Wustmann & Angelika Poferl: Frontfrauen* von Fridays For Future als Krisen-Heldinnen? Mediale Codierungen einer neuen Sozialfigur narr.digital ISBN 978-3-381-12501-2
