eJournals

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
826
2024
422-4
narr.digital Gunther Jikeli: Manipulation of Symbols Daniel Miehling, Victor Tschiskale, Günther Jikeli: Holocaustvergleiche auf X/ Twitter Wolfgang Wildgen: Dynamische Religionssemiotik Götz Wienold: Farben und andere Qualizeichen Götz Wienold: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan Winfried Nöth: Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus Hans Giessen: Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten H. Walter Schmitz: Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse Simon Meier-Vieracker: Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen Ernest W. B. Hess-Lüttich, Tim Stehle: Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? Ernest W. B. Hess-Lüttich: Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? Ernest W. B. Hess-Lüttich: Viren, Farben und Moral Ernest W. B. Hess-Lüttich: Wir, „Der Westen“ - und der Rest der Welt Ernest W. B. Hess-Lüttich: Machtgefälle Ernest W. B. Hess-Lüttich: Sprache, Politik und Macht ISBN 978-3-8233-1801-9 Vol. 42 · July/ December 2019 · No. 2-4 An International Journal of Semiotics Vol. 42 · July/ December 2019 · No. 2-4 An International Journal of Semiotics BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Dieser Band wirft einen genauen Blick auf die Autorschaftserkennung im Bereich der Forensischen Linguistik. Mit Textanalysen und -vergleichen von inkriminierten Texten werden schreiberidenti zierende Merkmale erarbeitet und analysiert, die dabei helfen, Hinweise auf Täter: innen zu nden. Ferner werden theoretische Rahmenbedingungen und Analysen von authentischen inkriminierten Schreiben vorgestellt, die in Zusammenarbeit mit dem BKA erstellt wurden. Anhand der Analysen wird eine bisher noch nicht beschriebene Verstellungsstrategie herausgearbeitet: die Stilisierungsstrategie. Bei dieser überdecken Täter: innen den eigenen Sprachgebrauch mit stilisierten Merkmalen, die aus verschiedenen Medien bekannt sind, und verschleiern damit ihre persönliche sprachliche Kompetenz. Wegen der großen Menge an inkriminierten Texten werden Methoden zur teil-automatisierten Analyse entwickelt und in der Arbeit vorgestellt. Steffen Hessler Autorschaftserkennung und Verstellungsstrategien Textanalysen und -vergleiche im Spektrum forensischer Linguistik, Informationssicherheit und Machine-Learning Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL) 1. Au age 2023, 426 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8561-5 eISBN 978-3-8233-9561-4 Editors: Achim Eschbach (†) · Ernest W. B. Hess-Lüttich · Jürgen Trabant Review Editor: Daniel H. Rellstab KODIKAS / CODE is an International Journal of Semiotics and one of the leading European scholarly journals in this field of research. It was founded by Achim Eschbach, Ernest Hess-Lüttich and Jürgen Trabant in order to promote multidisciplinary approaches to the study of sociocultural semiosis in 1979, and has been publishing high quality articles, in-depth reviews, and reports on all aspects of sign processes from historical, theoretical, and empirical perspectives since then. On a regular basis, KODIKAS / CODE also publishes special issues, collections of refereed articles on timely topics, solicited by guest editors. Languages of publication are German, English, and French; all contributions handed in to the editorial board are subject to a peer review process. Please send manuscripts electronically to either of these addresses: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich (Prof. em. University of Berne, Hon. Prof. Tech. Univ. Berlin, Hon. Prof. Univ. of Cape Town) / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin / luettich@campus.tu-berlin.de / hess-luettich@t-online.de Prof. Dr. Jürgen Trabant / Krampasplatz 4b / 14199 Berlin / Deutschland / trabant@zedat.fu-berlin.de Please send books for review to: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin Prof. Dr. Daniel Hugo Rellstab / Germanistik und Interkulturalität / PH Schwäbisch Gmünd / University of Education / Oberbettringer Straße 200 / D-73525 Schwäbisch Gmünd / daniel.rellstab@ph-gmuend.de Manuscripts should be written according to the Instructions to Authors (see last pages of this issue). Books will be reviewed as circumstances permit. No publication can be returned. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 / 72070 Tübingen / Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 / info@narr.de / www.narr.de / narr.digital KODIKAS/ CODE An International Journal of Semiotics Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Articles Gunther Jikeli Manipulation of Symbols: Holocaust Denial and Distortion on Social Media Platforms After the October 7 Massacre in Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Holocaustvergleiche auf X/ Twitter. Assoziationen deutschsprachiger User zu Juden und der Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Wolfgang Wildgen Dynamische Religionssemiotik: Zeichen und Zeichenverbote in den Religionen . . . 159 Götz Wienold Farben und andere Qualizeichen. in Objektgestaltung, Sprache, Literatur, bildender Kunst und im nichtsprachlichen Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Götz Wienold Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Winfried Nöth Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Hans Giessen Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten.. Ergebnisse einer qualitativen Befragung zur Mediennutzung und -bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 H. Walter Schmitz Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Simon Meier-Vieracker Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? Zwei kontroverse Urteile zu illegalen Autorennen aus der Sicht forensischer Linguistik und Rechtssemiotik . . . 288 Ernest W. B. Hess-Lüttich Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? Zur Diskursethik in den Technikwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Viren, Farben und Moral. Diskursethische Anmerkungen zu Dürrenmatts “ Die Virusepidemie in Südafrika ” im Lichte der Corona-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Review Articles Ernest W. B. Hess-Lüttich Wir, “ Der Westen ” - und der Rest der Welt. Über Zeichen der Identitätskonstitution von Großgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . 341 Sprache, Politik und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Recent Readings - Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Autorinnen und Autoren / Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten / Instructions to Authors . . . . . . . . . . . . 364 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 138, - (special price for private persons € 104, - ) plus postage. Single copy (double issue) € 85, - plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. The articles of this issue are available separately on www.narr.digital © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P. O. Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 0171-0834 ISBN: 978-3-8233-1801-9 (Print) ISBN: 978-3-8233-1901-6 (ePDF) K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Manipulation of Symbols: Holocaust Denial and Distortion on Social Media Platforms After the October 7 Massacre in Israel Gunther Jikeli (Bloomington, Indiana) “ Mal nommer un objet, c ’ est ajouter au malheur de ce monde ” (To misname an object is to add to the misery of this world.) Albert Camus 1944 Abstract: The denial or relativization of the Holocaust attempts to reinterpret the term “ Holocaust ” . The signifier “ Holocaust ” is manipulated and reinterpreted and can even be used to call for violence against Jews. This is evidenced empirically in social media discussions. We investigated Holocaust-related content on Facebook, TikTok, YouTube, X (formerly Twitter), Truth Social, Gab and 4chan in October 2023 and how social media providers handled Holocaust-related search queries. While some of the larger platforms such as Facebook, YouTube and TikTok use algorithms that do not prominently display Holocaust denials and relativizations, users regularly find Holocaust denials and relativizations when searching for the signifier “ Holocaust ” on platforms such as X and Truth Social. Gab and 4chan have an even higher proportion of antisemitic and Holocaust denial messages. Our study shows that after the Hamas pogrom in Israel in October 2023, references to the Holocaust were used to accuse Israel of genocide and incite violence against Jews. In addition, the signifier “ Holocaust ” was often instrumentalized to attack political opponents, changing its meaning. Keywords: Holocaust denial, Holocaust distortion, antisemitism, social media, 10/ 7 Zusammenfassung: Mit der Leugnung oder Relativierung des Holocaust wird versucht, den Begriff “ Holocaust ” umzudeuten. Der Signifikant “ Holocaust ” wird manipuliert und umgedeutet und kann sogar zum Aufruf zur Gewalt gegen Juden verwendet werden. Dies lässt sich empirisch an Diskussionen auf sozialen Medien nachweisen. Wir untersuchten Holocaust-bezogene Inhalte auf Facebook, TikTok, YouTube, X (früher Twitter), Truth Social, Gab und 4chan im Oktober 2023 und den Umgang von Anbietern sozialer Medien mit Suchanfragen zum Thema Holocaust. Während einige der größeren Plattformen wie Facebook, YouTube und TikTok Algorithmen verwenden, die Holocaustleugnungen und -relativierungen nicht an prominenter Stelle zeigen, finden Benutzer bei Suchanfragen zu dem Signifkanten “ Holocaust ” auf Plattformen wie X und Truth Social regelmäßig Holocaustleugnungen und -relativierungen. Gab und 4chan weisen einen noch größeren Anteil an antisemitischen und Holocaustleugnenden Nachrichten auf. Unsere Studie zeigt, dass nach dem Pogrom der Hamas in Israel im Oktober 2023 Verweise auf den Holocaust verwendet wurden, um Israel des Völkermords zu beschuldigen und zu Gewalt gegen Juden aufzurufen. Außerdem wurde der Signifikant “ Holocaust ” häufig instrumentalisiert, um politische Gegner anzugreifen, wodurch seine Bedeutung verändert wurde. Schlüsselbegriffe: Holocaustleugnung, Holocaustrelativierung, Antisemitismus, Soziale Medien, 10/ 7 1 Holocaust Distortion and Denial - Banned from Social Media Platforms? Holocaust denial serves as a profound signifier of antisemitism. The Holocaust, with its well-documented narrative and countless testimonies from survivors, is an undeniable historical reality. Denial of this event, therefore, not only disrespects the victims but also implicitly accuses them of falsehood, making it a symbolic act of maligning their experiences. Moreover, the existence of comprehensive documentation, research centers, and education initiatives about the Holocaust around the world represent symbols of collective remembrance and learning. Their existence needs to be explained by Holocaust deniers through conspiracy theories. Jews are then accused of having invented the Holocaust and of using Holocaust remembrance for nefarious purposes, which is another antisemitic accusation. Holocaust denial operates not just as misinformation but as a coded language of antisemitism. It appropriates historical evidence and survivor narratives, distorting them into signs of deceit and manipulation. Holocaust denial can be defined as any attempt to claim that the Holocaust did not happen or that fundamental aspects of the Holocaust are untrue, such as the intent to commit genocide against Jews, the existence of gas chambers, or a significant minimization of the number of victims (Lipstadt 1993; Courouble-Share and Karmasyn 2023). Holocaust distortion can be seen as a softer form of Holocaust denial. In contrast to Holocaust denial, which rejects the meaning of the signifier (Holocaust), in Holocaust-relativizing comparisons the existence of the Holocaust is the basis of the argument. In comparisons, the meaning is accepted, but often manipulated to fit certain narratives and thus distorted. This shows how flexible and manipulable signs can be in the context of the Holocaust and Nazi history. However, the boundaries between the denial and distortion can be blurred. The International Holocaust Remembrance Alliance offers five examples of Holocaust distortion. 1) Intentional efforts to excuse or minimize the impact of the Holocaust or its principal elements, including collaborators and allies of Nazi Germany; 2) Gross minimization of the number of the victims of the Holocaust in contradiction to reliable sources; 3) Attempts to blame the Jews for causing their own genocide; 112 Gunther Jikeli 4) Statements that cast the Holocaust as a positive historical event. Those statements are not Holocaust denial but are closely connected to it as a radical form of antisemitism. They may suggest that the Holocaust did not go far enough in accomplishing its goal of ‘ the Final Solution of the Jewish Question ’ ; and 5) Attempts to blur the responsibility for the establishment of concentration and death camps devised and operated by Nazi Germany by putting blame on other nations or ethnic groups ” (International Holocaust Remembrance Alliance 2013). However, Holocaust denial can also be a form of minimizing the Holocaust by making inappropriate comparisons, claiming that some current events that do not come close to genocide are somehow “ the same ” as what happened during the Holocaust. This is facilitated by the fact that the Holocaust has become, for many, simply a symbol of all that is bad (Rosenfeld 2011). Mainstream social media platforms operating in Western countries have taken some voluntary measures to reduce hate speech, including antisemitism. After some pressure, YouTube pledged to take down videos that deny the Holocaust and other “ well documented violent events ” in the summer of 2019. (YouTube Team 2023) META updated its hate speech policy in October 2020 to “ prohibit any content that denies or distorts the Holocaust ” (Bickert 2020). TikTok followed suit a year later, promising to remove Holocaust denial and antisemitism from its platform (TikTok 2021). X ’ s (formerly Twitter) updated policy from April 2023 does not explicitly prohibit Holocaust denial but it prohibits the use of “ images altered to include hateful symbols or references to a mass murder that targeted a protected category, e. g., manipulating images of individuals to include yellow Star of David badges, in reference to the Holocaust ” (X 2023). Truth Social does not ban Holocaust denial explicitly but its terms of service prohibit “ obscene, lewd, lascivious, filthy, violent, harassing, libelous, slanderous, or otherwise objectionable ” contributions and advocating or inciting, encouraging, or threatening physical harm (Truth Social 2023). Interestingly, 4chan, a platform that is notorious for racist content, says that users must not publish racist content (4chan 2023). Gab on the other hand says that “ the First Amendment remains the Website ’ s standard for content moderation ” and only illegal content is banned (Gab 2023). Internet regulation in the Western world is dominated by U. S. law and, to some extent, EU law and the laws of European and other countries. Section 230 of the U. S. Communication Decency Act (CDA) of 1996 is fundamentally important for all current business models. It provides immunity to online platforms from liability for user-generated content. It allows platforms to moderate content without being held responsible for what users post. The EU E- Commerce Directive of 2000 similarly provides liability relief for platform operators in most cases. They are only liable for illegal content if they have knowledge of the illegality of the content and if they remain inactive. However, they have no obligation “ to monitor the information which they transmit or store, nor a general obligation actively to seek facts or circumstances indicating illegal activity ” (Official Journal of the European Communities 2000). The European Union Digital Services Act (DSA) of 2023 affects all businesses providing digital services to Europeans but stricter rules apply to very large platforms with at least 45 million monthly users. Platforms must implement ways to prevent and remove posts containing illegal goods, services, or content, including illegal hate speech as defined by other laws, which in some countries include Holocaust denial (Whine 2020; 2009). This Manipulation of Symbols 113 could help reduce illegal hate speech on social media, although it ’ s unclear what constitutes illegal hate speech and there are still no obligations for platforms to monitor hate speech content (Schroeder and Reider 2023). However, studies such as the “ History under Attack ” report published by UNESCO and the United Nations show that Holocaust denial is widespread on all major platforms. (UNESCO and United Nations 2022) And the Anti-Defamation League ’ s 2021 Online Holocaust Denial Report Card and its 2023 update show that platforms often fail to remove Holocaust denial content when reported by ordinary users (Anti-Defamation League (ADL) 2023a). Antisemitic content increased significantly in October 2023, including on mainstream platforms, such as Facebook, YouTube, X/ Twitter, and TikTok, especially in comments about the Israeli-Palestinian conflict. One study found “ an over 50-fold increase in the absolute volume of antisemitic comments on YouTube videos about the Israel/ Palestine conflict, following Hamas ’ attacks ” (Rose, Guhl, and Comerford 2023). A study of discussions in comment sections of YouTube and Facebook profiles of major news outlets in the UK, France, and Germany found an alarmingly high percentage of comments celebrating, supporting, or justifying the Hamas terror attacks (Becker et al. 2023). The Anti- Defamation League reported a significant increase of antisemitism on X/ Twitter (Anti- Defamation League (ADL) 2023b). “ TikTok faces escalating accusations that it promotes pro-Palestinian, anti-Israel content, ” headlined the New York Times in mid-November (Maheshwari 2023). In our ongoing research on antisemitism on X/ Twitter, we have seen evidence that Holocaust distortion, i. e., minimizing the Holocaust or making inappropriate comparisons, was widespread even before the anti-Jewish mass violence by Hamas. Based on representative samples of data from the full Twitter archive and manual annotation of these samples (Jikeli and Soemer 2023), we found that more than five percent of all live tweets containing the word Jews in 2022 distorted the Holocaust. With more than 10 million tweets about Jews, this means that well over 500,000 messages in conversations about Jews on Twitter alone distorted the Holocaust in 2022. And that does not include messages that have been deleted. Not all of these distortions are clearly antisemitic, at least not according to the International Holocaust Remembrance Alliance ’ s (IHRA) Working Definition of Antisemitism which includes a narrow definition of Holocaust denial, excluding inappropriate comparisons. However, we used this definition for our annotation and found that about one-fifth of the antisemitic messages in conversations about Jews were Holocaustrelated. Holocaust distortions are thus an important part of today ’ s manifestations of antisemitism. 2 Methods While we know that Holocaust denial can be found on all platforms, we wanted to find out what users see when they search for references to the Holocaust on major and fringe platforms. What do platforms choose to show users when they search for information about the Holocaust? What kinds of narratives are being presented? 114 Gunther Jikeli We selected four major platforms, Facebook, TikTok, YouTube, and X (formerly Twitter), and three relatively small or fringe platforms, Truth Social, Gab, and 4chan. The latter two are known to be platforms populated by many far-right users, including neo-Nazis. As of October 2023, Facebook had reportedly 3030 million users, YouTube 2491 million, TikTok 1218, and X/ Twitter 666 million (We Are Social, DataReportal, and Meltwater 2023), It is estimated that Truth Social has 2 million (Woodward 2023), Gab about 4 million, 1 and 4chan 22 million users. 2 We used the search function of the platforms and searched for the term “ Holocaust. ” We conducted the searches with a fresh account, or without an account if possible, so that our queries would not be influenced by previous user history. We had planned to run the searches four times in October 2023, one week apart. This would allow us to see a trend over time. We started our searches on all platforms on Friday, October 6, 2023. However, after the Hamas massacre in Israel on October 7th, we decided to run the searches every day of that weekend and then every Saturday for the rest of the month. Thus, we searched for the term “ Holocaust ” on each platform on six days, October 6 - 8, 14, 21, and 28, 2023. We used the first 30 results that the search returned for each query. We manually reviewed 210 posts for each of the dates, for a total of 1260 posts across the seven platforms, describing our observations for each day and platform. In our analysis, we focused on forms of Holocaust denial and distortion. When we saw other forms of antisemitism including anti-Zionist forms of antisemitism, we focused on those with references to the Holocaust. 3 Results Most of the larger platforms use algorithms that returned mostly unbiased search results, i. e., posts from organizations that promote Holocaust remembrance (Facebook) or by displaying clips containing information about the Holocaust that were produced at least several months before October 7, 2023 (YouTube and TikTok). Some of the comments on these videos were more recent and some of them were antisemitic but the videos themselves were generally not. Search results on X/ Twitter and Truth Social, on the other hand, included mostly recent posts, and many of them were biased, including posts denying the Holocaust. The percentage of search results containing antisemitic and Holocaust denial messages was particularly high on Gab and 4chan. Gab and 4chan seem to use very simple algorithms to produce search results, displaying them in chronological order. The radicalism of antisemitic messages, including calls for violence, increased during the month of October. This is an indication that discussions about the Holocaust are now being used for an antisemitic mobilization, most openly on fringe platforms. The accusation that Israel is committing genocide or a “ Palestinian Holocaust ” is an important factor in the antisemitic emotionalization and mobilization. 1 https: / / www.eurekalert.org/ news-releases/ 924295 2 https: / / www.4chan.org/ press Manipulation of Symbols 115 3.1 October 6 On October 6, the day before the Hamas massacre of Israeli civilians, the first 30 posts returned by searches on Facebook, TikTok, and YouTube were all informational, mostly from organizations such as the United States Holocaust Museum, Yad Vashem, or the Shoah Foundation. In addition, Facebook and YouTube provided a link to informational websites before displaying search results. TikTok videos were shorter and tended to be less professional and more emotional than YouTube videos. YouTube provided a link to the Encyclopedia Britannica entry, and Facebook provided a link to aboutholocaust.org, a site created by the World Jewish Congress in partnership with UNESCO that provides basic facts about the Holocaust. Some TikTok videos included a link “ Learn the facts about the Holocaust, ” but the link was dead. X/ Twitter displayed accounts of organizations educating about the Holocaust, the United States Holocaust Memorial Museum and the Holocaust Educational Trust before displaying search results. However, among the videos returned by the YouTube search, the second most popular was a video by the satirical newspaper The Onion, which featured statements by Holocaust deniers responding to the question “ Why do you think the Holocaust never happened? ” It showed the absurdity of Holocaust deniers ’ arguments. The search on fringe platforms, on the other hand, yielded many posts denying the Holocaust. More than a third of the top 30 posts on Gab and 4chan openly denied the Holocaust or called for a second Holocaust. On 4chan, these included comments such as “ Why don ’ t Jews ever feel guilty about lying about the holocaust or about black people? Is it true that absolute power corrupts absolutely? ” and “ STOP DENYING THE HOLOCAUST it needs to happen. ” The Gab posts contained more references to news events than the 4chan posts, but Holocaust denial was just as overt, such as the comment “ Six is the favorite number of satan. Ask yourself, why do they prosecute anyone who questions the holocaust? Because it ’ s a LIE.! ! ! ” Holocaust deniers on Truth Social were only slightly more subtle, also appearing prominently in the first 30 search results. “ This is why it ’ s healthy to question the Holocaust, ” one user commented on his own post, “ Lies are important to combat, especially trauma inducing ones. You will gain peace of mind when you realize the monster under your bed was just a teddy bear the whole time. ” There were also comparisons between the Holocaust and the Holodomor, as well as the situation of Border Patrol agents on the southern U. S. border who are threatened by cartel rings, using references to the Holocaust to highlight issues that are important to many far-right users. On X/ Twitter, Holocaust denial was also present and overt, though relatively more subtle than in many of the posts on 4chan. Two of the top 30 search results included the argument that Jews forced Holocaust remembrance on American society. One said that “ America ’ s entire political discourse is shaped by the Holocaust ” and promoted a video by US neo-Nazi Nick Fuentes in which he railed against Holocaust remembrance and the Jewish media (Figure 1). The other tweet rejected the Holocaust denial label for “ disagreeing with any part of the Holocaust ” and pointed out that there are more Holocaust museums in the U. S. than museums about the genocide of Native Americans. The latter point was also made in a tweet by British politician George Galloway. 116 Gunther Jikeli Figure 1: Post on X/ Twitter 3.2 October 7 A day later, on October 7, 2023, when the news of the new war between Hamas and Israel had spread, we ran the same experiment. We got similar results to the previous day for YouTube, with most videos showing documentaries or testimonies of Holocaust survivors. TikTok had many personal videos, some of questionable quality or taste, including clips from movies like “ The Boy in the Striped Pajamas, ” but none of them denied the Holocaust. On Facebook, we found mostly posts from Holocaust museums and the Claims Conference that had been posted within the previous 10 days. On Gab, however, now two-thirds of the posts denied the Holocaust, including a video promoting well-known Holocaust denier Ernst Zundel. The posts that did not deny the Holocaust made some distasteful comparisons that diminished the Holocaust or endorsed the Holocaust. One post suggested that a flooded parking lot of Ferrari cars was worse than the Holocaust because of the damage to the cars. We also found an endorsement of the Hamas massacre and the Holocaust. “ 5,999,700 to go until we ’ re onto holocaust part 2! ” , commented one user on the news at the time that the reported Israeli death toll in the pogrom had risen to 300 (Figure 2). Another user blamed Jews for the pandemic under the headline “ Covid Jab Holocaust. ” The results on 4chan were similar to the day before. None of the messages commemorated the Holocaust, the majority denied the Holocaust, and none expressed any sympathy for Jewish victims. A search of Holocaust-related posts on Truth Social also included many of the posts from the previous day ’ s search results, nearly half of the posts denied or questioned the Holocaust. On X, the above two messages from the October 6 search of relatively subtle Holocaust denial were still in the top 30 results. The first message that appeared attacked Israel and claimed “ One Holocaust does not justify another Holocaust, ” referring to the Israeli-Palestinian conflict (Figure 3). A similarly anti-Israel post came from the account Torah Judaism. The account, with 164k followers, is from a radical anti-Zionist group of Orthodox Jews, that is often cited by users seeking to vilify Israel. The tweet read: “ Our grandfathers did not die so that you Zionists could easily kill people in Palestine. ” However, there were also many tweets calling out Holocaust denial, and a few posts commemorating aspects of the Holocaust, such as a post by Anthony Blinken commemorating the Babyn Yar massacre. Manipulation of Symbols 117 Figure 2: Post on Gab Figure 3: Post on X/ Twitter 3.3 October 8 On October 8, 2023, searches on Facebook, TikTok, and YouTube yielded posts that were very similar to the previous days, with no reference to the Israeli-Palestinian conflict. On X, on the other hand, many posts referred to the kidnapping of a Holocaust survivor by Hamas or pointed out that Hamas terror was inflicting unprecedented suffering on Jewish civilians not seen since the Holocaust. But there were also virulently anti-Israel posts. One user responded to Bernie Sander ’ s condemnation of Hamas and Islamic Jihad violence by accusing him of “ condoning another Holocaust ” and accusing Israel of apartheid and genocide against the Palestinians. Unrelated to the conflict, there were Holocaust denial messages, including the 2015 video “ The Holocaust Debunked Once and For All, ” and a white nationalist user mocking the Holocaust with a clip from a video of a Holocaust survivor. The results on Gab were dominated by posts of an article from the far-right fake news site The Gateway Pundit accusing the Biden administration of supporting terrorism by giving Iran $6 billion. However, the top 30 posts returned by the search still included at least eight messages denying the Holocaust and three endorsing the killing of Israeli civilians or making fun of the massacre, in addition to messages of antisemitic conspiracy theories. One user claimed that the Hamas attack was orchestrated by the Israeli Prime Minister “ to create an excuse for the mass slaughter of the Palestinian people. ” Another post, unrelated to the Hamas massacre, called for an end to the “ Covid-Holocaust. ” Holocaust-related conversations on Truth Social were largely influenced by the Hamas attack, either in reference to the Holocaust survivor hostage or the severity of the attack, which reminded users of the Holocaust. However, at least five messages contained some form of Holocaust denial, one made fun of the Holocaust, and another made an 118 Gunther Jikeli inappropriate comparison between the Holocaust and the allegedly murderous hospital system in the United States. A search on 4chan again yielded many Holocaust denial posts in the top 30 results. Three posts related to the Hamas attack, none of them sympathetic to the Israelis. One read in capital letters, “ Backed into a corner, the Zionist entity will create a nuclear Holocaust to take the whole planet down with them. ” To which another user replied, “ [ … ] this will be the last straw. You would see normies actually advocate for a holocaust (a real one) ” . Hamas ’ s war against Israel seems to be a factor in the radicalization of white nationalists. Another user responded to the question of what radicalized him by saying, “ The Gaza bombings of 2008. Until this point, the only thing I knew about kikes was that they were expelled from Egypt and the holocaust. It started with a few Wikipedia pages and articles, but I fell into the kike rabbit hole. I still haven ’ t reached the bottom. ” But the October 7 massacre was too much even for some of 4chan ’ s antisemites. “ They just beheaded an Israeli soldier … Well, it was fun while it lasted, but I ’ m out. Fuck those barbarians are isis tier, who the fuck in their right mind supports that? ” (Figure 4). Figure 4: Post on 4chan (Timestamp in UTC, 5 hours ahead of Eastern Time) 3.4 October 14 A week later, on October 14, search results on the mainstream platforms were similar to those of the previous week. Facebook showed mostly posts from professional Holocaust remembrance organizations, including many pictures of a conference by one of them and a post from the Holocaust & Humanity Center forwarding an announcement of an October 10 event in Cincinnati in support of Israel. YouTube showed mostly Holocaust documentaries and clips of Holocaust survivors from previous months or years. At the top of the list, however, was a recent video titled “‘ Hell is here again ’ : Jewish Holocaust Survivor Reflects on Hamas Attack in Israel ” (Figure 5). Three of the four videos in the additional “ People also watched ” category were related to the recent pogrom in Israel on October 7th, including two testimonials from relatives of victims and an AFP soundbite of Israeli Prime Minister Netanyahu briefing American President Biden on the attack, “ whose savagery, I can say, we have not seen since the Holocaust ” . The fourth of these suggested videos was about Netanyahu ’ s alleged claim that the Holocaust was the idea of the Mufti of Jerusalem. Figure 5: Post on YouTube Manipulation of Symbols 119 On TikTok, there were many of the same short clips from the previous week ’ s results, some perhaps a little more tasteless, but again, no Holocaust denial (Figure 6). Many of the clips showed the headline “ Learn the facts about the Holocaust ” at the bottom of the video, with a flash to click on. But, as in the previous week, the link went nowhere. In contrast, on X, the search using the term “ Holocaust ” returned mostly posts about the situation in Israel. Eight were pro-Israel and 13 were anti-Israel, including accusing Israel of Nazi policies, genocide, apartheid, colonization, or claiming “ Gaza is now a concentration camp. What Israel is doing to Palestinians is a holocaust. ” One post questioned the gravity of the massacre of Israeli civilians. Another implied that there is an alleged obligation to deal with the Holocaust in any game about World War II, which can be seen as an endorsement of the conspiracy theory that Holocaust remembrance has been imposed on society by nefarious Jewish actors. This came from a user who frequently posts screenshots from 4chan. Only four tweets were related to actual Holocaust remembrance or historical events related to the Holocaust. However, the first three tweets were all sympathetic to the victims of the pogrom. The first was a post that mentioned the kidnapping of Holocaust survivors and promoted a “ Hamas is ISIS ” video by the producers of the popular Israeli series Fauda. The second post was by Hananya Naftali, a social media journalist known for posting crude images of atrocities committed against Israelis to call attention to them. The post included a short video of him reporting from one of the villages attacked by Hamas. The third condemned a pro-Palestinian rally in London that accused Israel of being a terrorist state. The fourth post, however, quoted Norman Finkelstein approvingly, claiming that the Holocaust is being used as an ideological weapon and a “ pretext to humiliate, degrade and torture the Palestinians, ” again with an embedded video. On Gab, the first 30 posts displayed were dominated by forwarding or commenting on three news stories. The first was a video from BitChute that can be seen as promoting the Great Replacement Conspiracy Theory by claiming that members of the Jewish community in San Diego are responsible for bringing illegal aliens into the United States. The second was a report from GatewayPundit about an instructor at Stanford University who made Jewish students stand in a corner and accused Israel of colonialism. Most of the users who shared the story seemed to condemn it. The third was a story in the New York Post about a West Bank pizzeria that created an ad mocking a Holocaust survivor captured by Hamas. This story was shared mostly without comment. However, the top 30 results included eight posts denying the Holocaust and seven promoting conspiracy theories about Jewish power or Zionist control of the United States. About half (17 out of 30) were related to the war in Israel, one of them denying the massacre (and also the Holocaust) and another supporting the killing of Jews. The latter is a response to a post with a picture of a handcuffed Jesus Figure 6: Post on TikTok 120 Gunther Jikeli surrounded by Israeli soldiers and the headline “ Jesus Christ VS The synagogue of satan “ . The reply reads, ” Lol this time Christ will holocaust them off the earth. Good times. ” Some users ’ antisemitism is so strong that they advocate the killing of Jews and take sides for Hamas and against Israel. Others are more conservative and less antisemitic, using current events to denounce people on the political left. The Stanford instructor may stand for much that some of these conservatives dislike. But there was a complete lack of empathy for the victims of the pogrom against Israeli civilians or, for that matter, for the Palestinians, among Gab users. On Truth Social, most of the posts that the search with the term “ Holocaust ” returned on October 14 were related to events in Israel. Two-thirds were pro-Israel and only three were anti-Israel, two of which linked to a video of a Holocaust survivor, Gabor Maté, accusing Israel of ethnic cleansing. Another denied the Holocaust in passing. The message read, “ The real holocaust is going to be the Gaza Strip if the Israeli government ’ s X feed and official statements are to be believed. Oh the irony ” (Figure 7). Five messages either mocked or denied the Holocaust. Two users denounced what they called the “ hospital Holocaust. ” 3.5 October 21 On October 21, 2023, two weeks after the massacre of Israeli civilians, the themes on some platforms shifted toward discussions about the war in Israel and Gaza. However, on TikTok, the short videos were mostly about some aspects of the Holocaust, uploaded before October 7. The embedded link “ Learn the facts about the Holocaust ” in some of the videos still did not work. One video compared the Holocaust to slavery by asking why we know the number of victims of the Holocaust but not the number of victims of slavery, suggesting that we do not pay enough attention to the history of slavery. While none of the top 30 videos denied the Holocaust, some of the comments on the videos did. Many of the comments that were anti- Israel or antisemitic equated the Holocaust with the suffering of Palestinians at the hands of Israel in the current war in Gaza. This was not the case in the comments on the YouTube videos, partly simply because most of the comments were made long before October 7. YouTube had still the Encyclopedia Britannica ’ s entry on the Holocaust on display before showing the research results. Comedian Jessica Kirson ’ s video which was down the list in previous weeks had risen to first place (with 1.8 million views). In the video, she made clear in a conversation with a member of her audience that the Holocaust was worse than 9/ 11. However, the rest of the top 30 videos were still dominated by documentaries on the Holocaust and Nazism and Holocaust survivors ’ testimonies. Only one video, in the additional category “ People also watched ” was related to the massacre in Israel. The top 30 Facebook posts were dominated by posts from the Holocaust & Humanity Center and the United States Holocaust Memorial Museum. Other posts were from the Museum of Jewish Figure 7: Post on Truth Social Manipulation of Symbols 121 Heritage - A Living Memorial to the Holocaust, the Virginia Holocaust Museum, the Zekelman Holocaust Center, and the Holocaust Museum L. A. The latter posted a video of a rally in support of Israel (Figure 8). Figure 8: Post on Facebook Two weeks after 10/ 7, discussions on X/ Twitter were dominated by the war in Israel and Gaza. About half of them were attacking Israel, mostly with accusations of genocide and comparing Israel to Nazi Germany. One tweet even endorsed the Holocaust with a false Hitler quote “ I could have killed all the Jews of the world, but I left some of them to know why I was killing them. ” The tweet included hashtags that mention Hamas, GazaHospital, and PalestineGenocide. It can be read as a call to murder Jews. However, other posts called out such narratives and antisemitism at various rallies or denounced the brutality of the massacre against Israeli civilians by Hamas terrorists. On TruthSocial, five of the first 30 posts that were yielded by the search denied the Holocaust by comments, such as “ What if I told you the Holocaust did not gas 6 million people of Jewish faith … .. ” Only one post, a report of a meeting with a Holocaust survivor, was directly related to the Holocaust. In other posts, the Holocaust was more used as a reference, mostly in denouncing the massacre in Israel but in two cases also as a positive reference, again, to Canadian Holocaust survivor Gabor Maté and his accusation against Israel of ethnic cleansing. The proportion of Holocaust denial was higher on Gab, with more than one-third of posts denying the Holocaust and two-thirds of posts being antisemitic. The majority of posts were related to the war in Israel, and most of them were anti-Israel. Five posts were pro-Israel or pointed out the brutality of the massacre. The widespread accusation of genocide against the Palestinians was combined in at least one case with the accusation of genocide against the Russians during the Russian Revolution. Endorsing the Holocaust (Figure 9) or Holocaust denial was part of more than a third of the threads on 4chan. All but two threads contained antisemitic tropes. One of the two non- 122 Gunther Jikeli antisemitic threads was overtly racist against black people, and the other praised the farright politician Javier Milei from Argentina. Interestingly, however, at least one user seems to want to challenge antisemites on the platform, repeatedly posting “ Question for all you anti-semites. Why would Jews want increased islamic immigration? ” and voicing concern about the rise of antisemitism. Both posts were mostly met with antisemitic comments. Figure 9: Post on 4chan 3.6 October 28 Three weeks after the massacre, on October 28, we saw more distortions of the Holocaust and more antisemitic comments than in previous weeks. On TikTok, most of the videos returned by a search of “ Holocaust ” were posted before 10/ 7, but some of the comments were not. Some of these more recent comments included antisemitic comments related to the war. One comment on the first video that came up read “ Now their doing the same to the Palestinian people! They mustve forgot where tf they came from [sic] ” and other comments repeated similar tropes. One of the top 30 posts featured a video of a white man with a printout of a picture of Kanye West and his quote “ I ’ m a bit sleepy tonight but when I wake up I ’ m going death con 3 On JEWISH PEOPLE. The funny thing is I actually can ’ t be Anti Semitic because black people are actually Jew also You guys have toyed with me and tried to black ball anyone whoever opposes your agenda. ” , interviewing a black man, pointing out that people know the number of victims of the Holocaust but not the number of victims of slavery. The same user posted videos of the antisemitic “ Ban-the-ADL ” campaign and used imagery popular with the alt-right, such as Pepe the Frog. On YouTube, there were a few more videos about current events than in previous weeks, all about Israel. One video focused on an incident in which Orthodox Jews in Jerusalem were filmed spitting at Christian pilgrims. Another one showed an Israeli Holocaust survivor who was shocked by the Hamas massacre. Most of the comments on this video were sympathetic, but some accused Israel of genocide. One emotional comment blamed all Jews in Israel for oppressing the Palestinians and expressed solidarity with their “ struggle ” : “ my heart goes out to the palestenian people against their struggle with their oppresor the jewish people of israel. ” We found similar comments on the video “ Netanyahu vows to ‘ destroy the enemy ’ as Israeli offensive in Gaza intensifies, ” which was shown in the “ People also watched ” section. The same section featured the video “’ A Textbook Case of Genocide ’ : Israeli Holocaust Scholar Raz Segal Decries Israel ’ s Assault on Gaza, ” which can be read as an antisemitic accusation and Holocaust inversion. At the time, the video had been viewed more than 400,000 times. Manipulation of Symbols 123 The Facebook search again returned posts from Holocaust centers. Facebook ’ s algorithms seem to be programmed that way. In contrast, on X, two-thirds of the top 30 posts were antisemitic and/ or accused Israel of genocide and two tweets indirectly denied the Holocaust. One of them referred to the war in Gaza as “ the greatest crime in history and the real genocide of the Holocaust. ” The other one was more indirect. It posted a survey asking users “ Are you a holocaust survivor? ” This was from someone with a history of openly antisemitic comments, such as “ Never trust a Jew. Period. ” However, five out of 30 posts were positive about Israel, some refuting the accusation that Israel is committing genocide against the Palestinians. Notorious Jewish critics of Israel, such as Norman Finkelstein, Gabor Maté, and Jane Hirschmann were repeatedly used to accuse Israel of ethnic cleansing and genocide, often with embedded videos. While a third of the top 30 posts on TruthSocial were positive about Israel and two even called out antisemitism, a quarter contained Holocaust denial and distortion, and one post called for a Holocaust, that is, the murder of Jews in America. “ We need a holocaust, ” commented one user on an antisemitic post that claimed that 89 % of dual citizens in Congress are Israeli and that the U. S. government works for Israel (Figure 10). Two posts diminished the Holocaust through inappropriate comparisons, such as a video billed as “ Covid Style Holocaust ” that included a clip of Hitler and his staff with (obviously) false subtitles saying that Hitler tricked the population into taking the vaccine. Three posts questioned the Holocaust in ways that qualify as Holocaust denial or distortion, including a misleading quote from former Israeli minister Shulamit Aloni, saying that the Holocaust is “ a trick we always use. ” One post was part of the farright campaign #TheNoticing, which asked “ Did the holocaust really happen? ” Two included antisemitic conspiracy theories about Soros and some were anti- Israeli, including accusing Israel of committing a genocide against the Palestinians. “ Jews are performing a Holocaust on Palestinians, ” said one TruthSocial user. The majority of posts on Gab denied, belittled, or mocked the Holocaust, such as saying that some allergies, a pimple, or some kettle corn between the teeth were worse than the Holocaust. Two posts accused Israel of weaponizing the Holocaust, but a few posts also called out Hamas or Hamas supporters. Calling out Hamas supporters, however, was used to advance a political agenda, either by condemning prominent Democrats, including the “ Squad, ” for their alleged support of Hamas, or by pointing out that much of the antisemitism in Europe comes from immigrants. Some of the most outrageous comments were found on 4chan on October 28. A majority of posts denied the Holocaust, mocked it, or showed some Figure 10: Post on Truth Social 124 Gunther Jikeli form of admiration for Hitler or the SS, including Hitler portraits. One post cheered the killing of an Israeli soldier by Hamas and another one called for the murder of Jews while denying the Holocaust. “ even the most pro-Israel retards are learning to hate the Kikes. Hope you ’ re ready fora real holocaust, ” it read. Another post called even more directly for the mass murder of Jews. “ By typing in this thread you denounce Israel as a legitimate state, denounce the Talmud and endorse TKD (Total Kike Death), ” was one of the phrases that accompanied an image showing a Palestinian fighter in a wheelchair throwing rocks with a sling, surrounded by the slogan “ CHIP - Comfy Happening in Palestine ” (Figure 11). The “ CHIP ” meme is part of a wider campaign on 4chan with hundreds of similar “ CHIP ” memes that are used to start threads, each including the above sentence and updated links related to news about the war, using sources such as Al-Jazeera, RT, and al-Mayadeen, a pro- Hezbollah news network. 3 Another post made fun of Jews and Muslims in the area and advocated for killing both Jews and Muslims, adding “ The world would be better off. ” However, interestingly, some posts called out Holocaust denial, showed admiration for female Israeli soldiers, and one post even displayed a “ We stand with Israel ” image by the ADL with the text “ Why do you guys take out your childhood bullying trauma on jews? bit pathetic, unless this place is infested with shitskin sandniggers, hating jews is irrational. ” Despite the openly racist message, such posts might have been used to troll the neo-Nazis on 4chan. Figure 11: Meme on 4chan 3.7 4chan The share of Holocaust denial in the top 30 search results about the Holocaust on 4chan rose from about a third at the beginning of the month to more than half of the posts. Some users advocated for a second Holocaust and celebrated the violence against Israelis, sometimes expressed in memes. 4 One user posted an image of an alt-right paraglider, thereby identifying the alt-right with Hamas terrorists, see Figure 2. Some users openly called for the mass murder of Jews with slogans like “ Total Kike Death. ” Only a few users challenged antisemitic content, some of them seem to be trolling antisemites on 4chan. Overall, the analysis paints a disturbing picture of 4chan as a breeding ground for 3 (World Jewish Congress 2023) The meme is modeled on the pro-Russian meme “ chug/ (Comfy Happening in Ukraine General) ” . (Stenmann Baun et al. 2022) 4 We found variations of the meme “ CHIP - Comfy Happening in Palestine, ” see (World Jewish Congress 2023) The meme is modeled on the pro-Russian meme “ chug/ (Comfy Happening in Ukraine General) ” . (Stenmann Baun et al. 2022) Manipulation of Symbols 125 antisemitism and Holocaust denial, with limited counter-narratives and increasing acceptance of extremist views endorsing violence against Jews. The rise in Holocaust denial content and the celebration of violence against Israelis and Jews on 4chan signifies a disturbing increase in antisemitic sentiment. The posts themselves become signs of a deeply ingrained prejudice and hatred, distorting historical reality and advocating for violence. The memes shared by users function as potent symbols of open hatred and calls for violence against Jews. They signify an insidious form of hate speech, as their often humorous or ironic tone can mask the severity of the messages they convey. The image of an alt-right paraglider posted by a user serves as a sign linking the alt-right movement with Hamas terrorists. This symbolic association suggests a shared endorsement of violence against Jews and a common enemy in the Jewish State. The slogan “ Total Kike Death ” operates as a chilling symbol of genocidal intent. Its use signifies a call for mass violence against Jews, showcasing the extreme nature of the discourse found on 4chan. The limited challenges to antisemitic content and the trolling of antisemites signify a community largely complacent or supportive of such views. These actions, or lack thereof, serve as signs of the normalization of hate speech on the platform. 3.8 Facebook Facebook uses an algorithm for its Holocaust search results that strongly favors posts from professional organizations dedicated to preserving the memory of the Holocaust. The top 30 results in October 2023 were consistently from organizations such as the United States Holocaust Museum, Yad Vashem, the Holocaust & Humanity Center, the Shoah Foundation, the Museum of Jewish Heritage - A Living Memorial to the Holocaust, the Virginia Holocaust Museum, the Zekelman Holocaust Center, and the Holocaust Museum L. A.. The consistent appearance of professional organizations dedicated to preserving the memory of the Holocaust signifies Facebook ’ s endorsement of authoritative and reliable sources. In addition, Facebook displayed a brief explanation of the Holocaust before the search results, including a link to a page established by the World Jewish Congress in partnership with UNESCO (www.aboutholocaust.org). It symbolically associates the Holocaust search on Facebook with international standards of education and remembrance. It also displayed relevant Facebook groups to join, including “ Holocaust: a warning from history, ” “ Holocaust Survivors and Descendants, ” and “ Holocaust Educators of North Carolina, ” and suggested pages to follow. The suggested pages were all from organizations dedicated to preserving the memory of the Holocaust, mostly posting about their events, conferences, or Holocaust survivors. Toward the end of the month, more posts appeared about recent events, including statements in solidarity with the Jewish people or Israel in response to the Hamas mass murder attack. 3.9 Gab Already before the massacre, over a third of top posts denied or called for a second Holocaust, with the number rising to two-thirds the day after. This trend continued throughout the month, with a significant portion of posts promoting denial, belittlement, or mockery of the Holocaust. It signifies an alarming acceptance and promotion of violence against Jews within the community. Posts celebrated the Hamas massacre, with some 126 Gunther Jikeli justifying it as a response to Israeli actions or endorsing further violence against Jews. The celebration of the Hamas massacre functions as a symbol of endorsement for anti-Jewish violence, demonstrating a dangerous disregard for human life and an alignment with extremist views. Gab users also widely shared and promoted conspiracy theories about Jewish power, Zionist control, and the Great Replacement theory, signifying a scapegoating mechanism, where complex societal issues are simplified and blamed on a particular group, in this case, Jews. Empathy for the victims of the 10/ 7 massacre, or Palestinians for that matter, was rare, with some users even mocking the suffering, reducing the victims to objects of ridicule rather than acknowledging their humanity and suffering. When the pogrom or antisemitism was condemned, it was used to advance a political agenda, with users attacking Democrats, the left, and immigrants. The analysis reveals a disturbing symbolic landscape within the Gab online community, dominated by signs of hate, violence, conspiracy, manipulation, and a chilling lack of empathy. 3.10 TikTok The first 30 posts returned by searches on TikTok on each of the six days were mostly informational. However, TikTok videos were shorter and tended to be less professional and more emotional than YouTube videos. Some TikTok videos included a link “ Learn the facts about the Holocaust, ” but the link was dead in all cases. This empty signifier symbolizes an attempt at providing accurate information but fails to deliver, thus creating a gap in the intended educational message. TikTok had many personal videos, some of questionable quality or taste, including clips from movies like “ The Boy in the Striped Pajamas, ” which might be an attempt to humanize the Holocaust and make it more relatable to viewers, despite issues of accuracy and respectful representation. One video compared the Holocaust to slavery by asking why we know the number of victims of the Holocaust but not the number of victims of slavery, suggesting that we do not pay enough attention to the history of slavery. This can be interpreted as an attempt to use the memory of the Holocaust for other political purposes and a form of distorted comparison. While none of the top 30 videos denied the Holocaust, some of the comments on the videos did. Many of the comments that were anti-Israel or antisemitic equated the Holocaust with the suffering of Palestinians at the hands of Israel in the current war in Gaza. However, even at the end of the month, most of the videos returned by a search of “ Holocaust ” were posted before 10/ 7, but some of the comments on those videos were not. Some of the more recent comments included antisemitic comments related to the war between Israel and Hamas. A comment on the first video that came up on October 28 accused the Jewish people of doing the same to Palestinians as Nazis did to them. 3.11 Truth Social A significant number of posts denied, minimized, or mocked the Holocaust throughout October. At the end of October, a quarter of the top 30 posts contained Holocaust denial or distortion. Comparisons between the Holocaust and current events, such as issues at the southern U. S. border, were used to advance political narratives aligned with the far-right. Manipulation of Symbols 127 Many posts related to Israel were positive about Israel, while others were negative, including posts with Holocaust survivor, Gabor Maté, accusing Israel of ethnic cleansing. At least one post on Truth Social explicitly called for the mass murder of Jews, highlighting the dangerous extremist views present also on this platform. Only a few posts challenged antisemitic content. The posts denying, minimizing, or mocking the Holocaust act as signifiers of a disturbing trend of historical revisionism within parts of the political right. The quarter of top posts containing Holocaust denial or distortion at the end of October signifies an alarming intensity and normalization of such narratives within the platform ’ s discourse. The comparisons between the Holocaust and current events, such as issues at the southern U. S. border, serve as metaphoric signs. They signify an attempt to use historical atrocities to advance politically charged narratives, oversimplifying complex issues and exploiting emotional reactions. The varied posts related to Israel, both positive and negative, show a divisive debate within the Truth Social community. The Holocaust survivors are used as signs of moral authority and misused to attack Israel through claims they made in public about the Israeli- Palestinian conflict. However, the few posts challenging antisemitic content act as signs of resistance within the community and signify individuals or groups attempting to counteract the prevalent hate speech and misinformation, which is different from more extreme platforms, such as Gab. 3.12 YouTube For searches about the Holocaust, YouTube primarily displayed documentaries, survivor testimonies, and an encyclopedia link, demonstrating a neutral and informative approach. This signifies a commitment to education and factual representation. References to the Israeli-Palestinian conflict emerged in mid-October, with videos featuring survivor reflections on the Hamas attack and news coverage of the situation. While some search results leaned toward the Palestinian perspective, YouTube algorithms showed a generally neutral approach to the conflict in response to a search for content related to the Holocaust. The emergence of references to the Israeli-Palestinian conflict in searches for content about the Holocaust shows the interplay between historical events and contemporary issues. 3.13 X/ Twitter Although X/ Twitter displays mostly relevant organizations before the search results, a search for Holocaust-related content on X/ Twitter often returns messages denying the Holocaust or advancing the trope that the Holocaust memory is politically misused for nefarious purposes, see Figure 1, showing a message featuring a video by far-right leader Nick Fuentes. A significant portion of posts after the mass violence against Israelis attacked Israel, accusing it of genocide, apartheid, and Nazi-like policies. Only a small fraction of posts supported Israel, with some countering accusations of genocide and others refuting antisemitic narratives. Notorious Jewish critics of Israel were frequently cited to advance anti-Israel or antisemitic arguments. The accusations against Israel in a significant portion of posts demonstrates a strong anti-Israel sentiment within the X/ Twitter community. 128 Gunther Jikeli These posts act as signs of a narrative that equates Israeli policies with genocide, apartheid, and Nazi-like practices. The citation of notorious Jewish critics of Israel to advance anti- Israel or antisemitic arguments signifies a tactic used to legitimize these views. It acts as a sign of an attempt to cloak antisemitism under the guise of legitimate criticism by using Jewish voices as a form of protection. Some posts explicitly endorsed the Holocaust, highlighting the platform ’ s potential for spreading dangerous content. They are alarming signs of extreme hatred and historical revisionism. They signify the platform ’ s potential to be used as a vehicle for spreading dangerous and harmful content. While some users challenged antisemitic content, they were a minority. Overall, the analysis reveals a disturbing environment on X/ Twitter where Holocaust denial and antisemitism are found frequently in Holocaust-related content, often intertwined with anti-Israel sentiment. The display of relevant organizations before search results on X/ Twitter signifies an effort to provide credible and authoritative sources of information. However, the fact that Holocaust-related searches frequently return messages denying the Holocaust or advancing politically motivated misuse of Holocaust memory signifies a disconnect between the platform ’ s intent and the actual content it surfaces. The platform ’ s algorithms and moderation practices appear insufficient to effectively address these issues. 4 Conclusions When people search for information and posts about the Holocaust on Facebook and YouTube, they will find links to informational websites displayed before the search results. The search results are curated so that content that denies or distorts the Holocaust is unlikely to appear in the top results. This was also the case during the month of October 2023, when many users made inappropriate comparisons between the Holocaust and the war in Gaza. However, this welcome practice does not mean that, depending on user behavior and the circle of followers, users are not confronted with corresponding content in their feeds or in messages and comments from other users. TikTok also seems to try to reduce displaying Holocaust denial content through its algorithms. However, TikTok ’ s ineffective (dead) links to informational sites and questionable content reflect its struggle to balance user-generated content with the seriousness of the Holocaust. This could symbolize a generational gap in understanding and use of the sign “ Holocaust ” and depicting historical atrocities, as well as the limitations of short video formats in conveying complex issues. X/ Twitter ’ s display of relevant organization accounts before search results illustrates an attempt to direct users toward credible sources. On most days, it displayed the accounts of the United States Holocaust Memorial Museum and other organizations, such as the British Holocaust Educational Trust or the United Nations Outreach Program on the Holocaust. However, the prominence of unrelated accounts like “ Toxic Holocaust, ” an American thrash metal band, signifies a limitation in their algorithms ’ ability to distinguish between contextually appropriate and inappropriate content. Manipulation of Symbols 129 It was shocking to see how widespread Holocaust denial is on X/ Twitter and Truth Social and that there does not seem to be any effective attempt by these platforms to reduce such content, signifying a worrying trend of misinformation and revisionism. The widespread denial of the Holocaust on Gab and 4chan came as no surprise. There was little, and on some platforms no, empathy for the Jewish victims of the Hamas massacre. Immediately after the pogrom, however, a certain degree of sympathy was expressed in relation to the abduction of a Holocaust survivor and in response to the news that the massacre of the Jewish civilian population represented suffering unprecedented since the Holocaust. On the day of the massacre, when Israel was still assessing the scale of the atrocities against its civilian population in the south of the country, Israel was already accused of genocide against the Palestinians and perpetrating “ another Holocaust ” . In the weeks that followed, this accusation only grew louder on social media, often supported by citing a Holocaust survivor. It is worth noting that, according to the United Nations definition of genocide, the Hamas massacre is a genocide, while the Gaza war is not. The U. N. definition reads: “ [G]enocide means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group, ” and it concludes with “ (e) Forcibly transferring children of the group to another group ” (United Nations 1948). The intent to destroy the group and to take action to do so is essential. Hamas officials have repeatedly made it clear, including in their founding charter, that they intend to wipe out Israel and that they intend to kill all Jews, and they have put this into practice as best they can. By the end of the month of October, on fringe platforms and on X/ Twitter, antisemitic comments had become more frequent and more radical and empathy for Jews had further declined. Accusations of genocide committed by Israel also became more frequent. Users on the far-right spectrum even cheered the Hamas massacre of Jews or called for another Holocaust, whether on Gab, 4chan, or Truth Social. We can confirm previous findings that far-right users share Hamas content and cheer the death of Jews.(World Jewish Congress 2023, 13) The cheering of massacres by far-right users symbolizes a dangerous radicalization of online discourse. Other users on the political right used news of the massacre to blame the Biden administration, for example, for making $6 billion available to Iran in the summer of 2023, implicitly condemning the massacre. Similarly, some users pointed to the antisemitic rallies in many countries to denounce liberal immigration policies. As Imran Ahmed, director of the Center for Countering Digital Hate, said, 5 we are in a moment of mobilization. In terms of Jew-hatred, antisemites are not just spreading false accusations anymore, they are calling for action, for the murder of Jews, which is what the antisemite desires (Sartre 1995). 5 In a conversation at an online event on November 7, 2023, “ Understanding and Countering Online Hate During the Israel-Gaza Conflict, ” organized by the Jewish Council for Public Affairs. 130 Gunther Jikeli References 4chan. 2023: “ Rules. ” 2023. https: / / www.4channel.org/ rules [21.12. 2023]. Anti-Defamation League (ADL). 2023a: “ 2023 Online Holocaust Denial Report Card. ” 2023. https: / / www.adl.org/ resources/ report/ 2023-online-holocaust-denial-report-card [21.12. 2023]. - . 2023b: “ Online Antisemitism Increased after Hamas Attack. ” November 9, 2023. https: / / www.adl. org/ resources/ blog/ online-antisemitism-increased-after-hamas-attack [21.12. 2023]. 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We identified more than 2,400 tweets with Nazi comparisons using semi-automated methods. Our study identifies themes of Holocaust comparisons in online discourse and reveals an increase in Nazi comparisons during the pandemic, including comparisons of the situation of some of today ’ s (alleged) victim groups, such as Covid-skeptics, AfD supporters, and Muslims, with the situation of Jews during the Nazi regime. Other inappropriate comparisons are made between the Nazi regime and (alleged) perpetrators today, such as the national government imposing measures to contain the pandemic. Unlike Holocaust denial, Holocaust comparisons are based on acknowledging the existence of the Holocaust, but references to the Holocaust are most often used to distort and diminish it. Keywords: Holocaust, Shoah, Covid, AfD, “ Neue Juden ” , X, Twitter, Social Media Zusammenfassung: Das Wort “ Juden ” und Verweise auf das NS-Regime sind in der deutschen Kultur starke Symbole, die aufgrund der historischen Verfolgung der Juden ein großes emotionales Gewicht besitzen. Es sind Zeichen, die ein komplexes Bedeutungsgeflecht von Vorurteilen, Schuld, Verfolgung und Leid darstellen und auf vielfältige Weise genutzt und missbraucht werden können. Dieser Beitrag analysiert die Entwicklung des Online-Antisemitismus auf dem deutschsprachigen X/ Twitter von 2019 bis 2021 und konzentriert sich dabei auf Vergleiche und Bezüge zum NS-Regime. Er basiert auf einer Analyse aller Tweets, die das Wort “ Juden ” in diesem Zeitraum enthalten. Mit halbautomatisierten Methoden wurden mehr als 2.400 Tweets mit Holocaust-Vergleichen identifiziert. Die Studie untersucht Themen von Holocaust-Vergleichen im Online-Diskurs und zeigt eine Zunahme von Vergleichen mit dem Nationalsozialismus während der Pandemie, einschließlich Vergleichen der Situation einiger heutiger (vermeintlicher) Opfergruppen wie Covid-Skeptiker, AfD-Anhänger und Muslime mit der Situation der Juden während des Nationalsozialismus. Weitere unangemessene Vergleiche werden zwischen dem NS-Regime und (vermeintlichen) Tätern von heute gezogen, wie z. B. die von der Bundesregierung verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Im Gegensatz zur Holocaust-Leugnung basieren Holocaust-Vergleiche zwar auf der Anerkennung der Existenz des Holocaust, doch wird der Verweis auf den Holocaust häufig dazu verwendet, den Holocaust zu verzerren und zu verharmlosen. Schlüsselbegriffe: Holocaust, Shoah, Covid, AfD, “ Neue Juden ” , X, Twitter, Soziale Medien 1 Holocaustvergleiche - Wozu? Seit etwa drei Jahren verfolgen wir Diskurse über Juden 1 auf X/ Twitter. In unserem fortlaufenden Forschungsprojekt zu Antisemitismus in sozialen Medien an der Indiana University analysieren wir repräsentative Stichproben von Twitter-Nachrichten, die Rückschlüsse auf Diskurse über Juden und Israel zulassen. Uns ist aufgefallen, dass, wenn über Juden gesprochen wird, die Shoah oft auf die eine oder andere Weise thematisiert wird. Das kann anlässlich eines Gedenktages sein, etwa in einem Beitrag, der an die Opfer der Shoah erinnert, aber auch in Vergleichen aktueller Ereignisse mit der Shoah oder sogar in offen antisemitischen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus. Das Wort “ Juden ” und Verweise auf das NS-Regime sind aufgrund der Geschichte der Verfolgung und des Massenmords an Juden in Deutschland starke Symbole in der deutschen Kultur. Sie haben ein großes emotionales und kulturelles Gewicht. Wenn diese Symbole in Tweets verwendet werden, sind sie nicht einfach nur Worte, sondern Zeichen, die ein komplexes Netzwerk von Bedeutungen im Zusammenhang mit Vorurteilen, Schuld, Verfolgung, Diskriminierung und Leid darstellen und auf vielfältige Weise verwendet und missbraucht werden können. NS-Vergleiche, auch über das Wort “ Juden ” als Symbol, haben vielfältige Funktionen, die von der Veranschaulichung abstrakter Phänomene über die Erzeugung von Empörung und Aufmerksamkeit zugunsten von Einzelpersonen, Gruppen und politischen Organisationen bis hin zur Leugnung der Shoah reichen. Wir wollten dieses Phänomen empirisch näher untersuchen. Wenn in Online-Diskursen NS-Vergleiche oder antisemitische Bezüge hergestellt werden, stellt sich die Frage, bei welchen Themen diese Äußerungen gehäuft auftreten und wie solche Vergleiche sprachlich realisiert werden. Wir knüpfen an die Arbeit von Linda Giesel zu antisemitischen NS-Vergleichen und NS- Metaphern in E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ) und die Israelische Botschaft in Deutschland (IBD) an. Sie untersuchte 945 solcher Texte, die zwischen 2002 und 2008 an den ZdJ und zwischen 2003 und 2014 an die IBD geschickt wurden. Sie stellte fest, dass solche Metaphern und Vergleiche “ in erster Linie als Stigmatisierungen und Diffamierungen jüdischer und/ oder israelischer Personen, Institutionen oder des Staates 1 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass im nachfolgenden Text alle Geschlechtsidentitäten inkludiert sind, aber aus Gründen der Barrierefreiheit, insbesondere im Hinblick auf nicht muttersprachliche Leser*innen, im Fließtext ausgespart bleiben. 134 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Israel fungieren ” und beobachtete eine Täter-Opfer-Umkehr, die sie als eine Form der Schuldabwehr und Erinnerungsabwehr nach 1945 interpretierte (Giesel 2019: 298). Findet sich Vergleichbares im sozialen Medium Twitter? Und wenn ja, in welchem Kontext? Anfang Februar 2023 war auf der Twitter-Seite der Alternative für Deutschland (AfD)- Fraktion der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin zu lesen: 2 (1) “ Die Nazis haben die Juden ausgerottet, die Grünen die Deutschen! Sie nennen es Vielfalt! ” Damit kommentierte die Fraktion einen Tweet der AfD-NRW, der sich seinerseits wiederum auf das Zitat der Grünen-Politikerin Bettina Jarasch bezog: (2) “ Die nächste Berliner Generation hat überwiegend Migrationshintergrund. Daran sollten sich alle mal gewöhnen ” . Der Kommentar der lokalen AfD-Fraktion wurde mittlerweile gelöscht. Dennoch stellt sich die Frage, was Menschen dazu bewegt, solche offensichtlich abwegigen, die Shoah verharmlosenden Vergleiche zu ziehen. Und wie verbreitet sind solche Vergleiche und Bezüge? Komplizierter ist ein anderes Beispiel. Yossi Bartal, ein in Berlin lebender Israeli mit mehr als 11.000 Follower auf Twitter, kommentierte eine Kritik des Bild-Korrespondenten Björn Stritzel mit den Worten: (3) “ Springer-Autoren sind die neuen Juden! ” Stritzel hatte seinerseits einen aggressiven Kommentar von Stephan Anpalagan gegen Wohnungseigentümer mit dem Gerede eines “ ordinäre[n] Nazi[s] ” gleichgesetzt. 3 Die Gleichsetzung von Springer-Autoren mit Juden im Nationalsozialismus ist hier eher als Ironie zu werten, die mittels dieser rhetorischen Überspitzung die zuvor von Stritzel vorgenommene NS-Analogie anprangert - unter Inkaufnahme einer Verharmlosung des Holocaust. Auffällig ist jedenfalls, dass in den Online-Kommentaren, in denen von Juden die Rede ist, häufig Holocaust-Bezüge hergestellt werden, und dass ein Teil dieser Bezüge nicht historisch ist, sondern sich auf Vergleiche in der Gegenwart bezieht. Der Holocaust dient dabei als häufig in Bezug gesetzte Relationsbasis, mit der die Verfasser beispielsweise die Ereignisse während der Corona-Pandemie überspitzt kritisieren oder sich selbst als “ Opfer der Gegenwart ” darstellen. Die vorliegende Studie stellt einen ersten Ansatz dar, das quantitative Ausmaß von NS-Vergleichen auf Twitter im Längsschnitt zu erfassen sowie die in aktuellen Online-Diskursen verwendeten sprachlichen Mittel zu veranschaulichen und die darin wiederkehrenden Themen und Erscheinungsformen aufzuzeigen, mit denen NS- Vergleiche im Spannungsverhältnis von Universellem und Partikularem realisiert werden. Giesel stellt fest, dass NS-Vergleiche einen besonderen Typus des Vergleichs darstellen, der zwar strukturelle und sprachliche Äquivalenz zu typischen Vergleichen aufweist, sich aber funktionell deutlich davon unterscheidet (Giesel 2019: 298). Von zentraler Bedeutung ist, dass bei NS-Vergleichen Analogiebeziehungen zwischen Konzepten aus verschiedenen Wirklichkeitsdomänen hergestellt werden (Giesel 2019: 125; vgl. Thurmair 2001: 74). NS- 2 Quelle: https: / / www.berliner-register.de/ vorfall/ 6b0226d5-f5a6-4ca1-9c30-eb51bf597d86/ , zuletzt geprüft am 31.12.2023 3 https: / / twitter.com/ bjoernstritzel/ status/ 1302929430898147328, zuletzt geprüft 31.12.2023 Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 135 Vergleiche werden oft nicht explizit kommuniziert und stattdessen indirekt über Anspielungen (vgl. Pérennec 2008: 4) oder rhetorische Fragen hergestellt (vgl. Meibauer 2008: 109). Des Weiteren erschließen sich NS-Vergleiche oftmals nur aus konzeptuellen Bezugspunkten, über “ das Dritte des Vergleichs ” , das sogenannte Tertium Comparationis (vgl. Hortzitz 1995: 21), aus vorhandenem Weltwissen, über Bilder und Metaphern, über Neologismen oder damit verknüpften Adjektiven (Giesel 2019; Hortzitz 1995; Pérennec 2008; vgl. Schwarz-Friesel 2013). Vergleiche zum Nationalsozialismus werden außerdem häufig als “ Äquativvergleiche ” (Giesel 2019: 22 f.; Thurmair 2001: 73 ff.) realisiert. 4 Ihre Funktion besteht darin, dass über Vergleichspartikel oder einen Junktor (Becker 2018; vgl. Giesel 2019: 225), implizit oder explizit, eine Äquivalentsetzung hergestellt wird. Manche NS-Vergleiche basieren auf verbalen Entgleisungen, manche sind jedoch keine zufälligen sprachlichen oder rhetorischen Ausrutscher, sondern bewusst intendierte Sprachhandlungen, die den Holocaust als schlimmstmöglichen Bezugspunkt der Geschichte missbrauchen, um einem Thema größtmögliche Aufmerksamkeit zu verschaffen (siehe auch Jureit & Schneider 2010; Salzborn 2020; vgl. Schwarz-Friesel 2022: 169; Schwarz-Friesel & Reinharz 2013). Entsprechende Vergleiche sind also problematisch und können antisemitisch motiviert sein, 5 auch wenn viele dieser Vergleiche nach gängigen Definitionen von Antisemitismus, wie beispielsweise der Arbeitsdefinition des Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA 2016), 6 nicht als antisemitisch klassifiziert werden. 7 Im Vordergrund unserer Arbeit steht jedoch nicht die Frage, welche NS-Bezüge als antisemitisch zu werten sind, sondern aufzuzeigen, wie und bei welchen Themen diese realisiert und verbreitet werden. 2 Worauf basieren unsere Beobachtungen? Daten und Methodik Unsere Arbeit basiert auf einer qualitativen und quantitativen Analyse von Kurznachrichten auf Twitter, in denen über Juden gesprochen wird. Die Daten stammen aus dem Twitter-Archiv, in dem alle bisher versendeten Nachrichten zugänglich sind, sofern sie nicht gelöscht oder die User gesperrt wurden. 8 Wir extrahierten zunächst alle Twitter- Nachrichten einschließlich der zugehörigen Metadaten aus dem Zeitraum Januar 2019 bis einschließlich April 2021, die das Wort “ Juden ” enthalten, insgesamt 651.984 Nachrichten. 9 4 Darüber hinaus lassen sich weitere Vergleichsformen wie Modalitäts-, Komparativ-, und Superlativvergleiche unterscheiden siehe hierzu Schwarz-Friesel (2022: 171). 5 Zur weiteren Thematisierung von NS-Analogien im Zusammenhang mit Israel siehe auch die Beiträge von Klaff (2014); Gerstenfeld (2007). 6 IHRA, “ Arbeitsdefinition von Antisemitismus. ” Zuletzt geprüft am 31.12.2023, https: / / www.holocaustremembrance.com/ de/ resources/ working-definitions-charters/ arbeitsdefinition-von-antisemitismus 7 Nach unserer Lesart schließt die Arbeitsdefinition des Antisemitismus der IHRA nur Holocaustleugnungen, nicht aber Holocaustverzerrungen und -relativierungen mit ein. Wir gehen jedoch davon aus, dass viele dieser Holocaustverzerrungen und -relativierungen antisemitisch motiviert sind und außerdem dazu beitragen, antisemitische Denkmuster zu verbreiten. 8 Die Daten wurden über die API-Schnittstelle V2 des Twitter Full-Archive abgerufen. Twitter Full-Archive, online einsehbar unter: https: / / developer.twitter.com/ en/ docs/ twitter-api/ tweets/ search/ quick-start/ full-archive-search, zuletzt geprüft 23.06.2023 9 Die Metadaten umfassen 35 Parameter, darunter Text, User-Name, Profildaten, Kategorie des Nachrichtentyps und Anzahl der Follower/ Follows. 136 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Auch wenn in vielen Twitter-Nachrichten mit inhaltlichen Bezügen zu Juden das Lexem “ Jude ” nicht explizit vorkommt, stellt unser Korpus eine gewisse Repräsentativität für den Diskurs über Juden auf Twitter dar, zumindest wenn explizit von “ Juden ” die Rede ist. Twitter-Nachrichten (Overall Content) umfassen Tweets, Retweets, Replies und Quotes. Tweets sind Nachrichten, die individuelle User erstellen und in der eigenen Timeline veröffentlichen. Retweets werden durch das Anklicken des Retweet-Buttons erzeugt. Quotes werden ähnlich wie Retweets erstellt, jedoch mit einem zusätzlichen Kommentar. Replies sind Kommentare zu anderen Nachrichten und werden nicht allen Followern der User angezeigt, sondern bleiben in der Diskussion, auf die sich der Reply bezieht. Der Gesamtvergleich zeigt, dass 117.365 verschiedene Twitter-Accounts die Inhalte der Grundgesamtheit generiert haben. Retweets stellen mit einem Anteil von 63 % die größte Nachrichten-Kategorie dar, gefolgt von Replies mit 25 %, während die Kategorie der Tweets lediglich 10 % aufweist. “ Quotes ” werden nur sehr selten verwendet, siehe Tabelle 1. 10 Das ist nicht ungewöhnlich. Eine amerikanische Studie des Pew Research Center ergab, dass im Sommer 2021 Originalbeiträge nur 14 % der Nachrichten auf Twitter ausmachten. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge waren entweder Retweets (49 % der Gesamtzahl) oder Antworten auf andere User (33 %) (McClain, Widjaya u. a. 2021). Tab. 1: Gesamtzahl der Tweets in unserem Korpus 11 2019 2020 Jan-Apr 2021 Overall N 293537 278679 79768 651984 % n % n % n % n Unique Content a 33,74 99038 36,67 102192 40,31 32156 35,65 232407 Unique Users b 21,23 62317 25,18 70170 38,34 30587 18 117365 Tweets 10,6 31118 9,35 26504 10,83 8636 10,16 66249 Replies 22,14 64992 26,2 73009 28,53 22758 24,7 161054 Retweets 65 190786 62,06 172960 58,52 46684 62,95 410430 Quotes 2,16 6355 2,23 6206 2,12 1690 2,19 14251 a Anzahl/ Anteil an Inhalten ohne Duplikate, b Anzahl/ Anteil an unterschiedlichen Usern Diskussionen über Juden werden auf Twitter durch verschiedene Ereignisse ausgelöst. An manchen Tagen ist das Volumen der Kurznachrichten, in denen das Wort “ Juden ” vorkommt, um ein Vielfaches höher als in anderen Zeiten. Im Zeitraum von Januar 10 Die Daten-Abfrage umfasst existierende Live-Tweets, die wir mithilfe der Python-Library TWARC erfassten. Twarc-Library, online einsehbar unter: https: / / twarc-project.readthedocs.io/ en/ latest/ , zuletzt geprüft 23.06.2023 11 Die Anzahl der Tweets, Replies, Retweets und Quotes errechnet sich nach der Filterung der Nachrichten- Kategorie. Die Erfassung des Unique Content basiert auf zwei Schritten: Die Textbotschaften wurden im ersten Schritt (Text-Pre-processing) systematisch von Anhängen wie beispielsweise in Form von URLs, einem oder mehreren @Usernames oder der Entfernung der Retweet- Markierung, bereinigt. Im zweiten Schritt wurden alle Duplikate entfernt. Die Berechnung der Unique Users resultiert durch Entfernung aller Duplikate der Twitter-User-IDs. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 137 2019 bis April 2021 gab es einige Zeitpunkte mit deutlich erhöhten Nachrichtenaggregationen, sogenannten Peaks, siehe Abbildung 1. Abb 1. Gesamtanzahl der Tweets im Verlauf der Zeitachse Januar 2019 bis 30. April 2021 Die fünf höchsten Peaks traten am 2. Juni 2019, am 10. Oktober 2019, am 27. Januar 2020, am 9. November 2020 und am 27. Januar 2021 auf. Die Peaks lassen sich durch verschiedene Ereignisse erklären. Der Internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar führt zu Spitzenwerten in den Jahren 2019 (2.679 Nachrichten), 2020 (7.787 Nachrichten) und 2021 (4.423 Nachrichten). Auch das Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November führte zu einer erhöhten Aktivität: 2019 wurden 6.591 Nachrichten gepostet, 2020 waren es 3.537. Der höchste Peak am 10. Oktober 2019 war ein Tag nach dem geplanten Massenmord in Halle, bei dem ein rechtsextremer Terrorist am jüdischen Feiertag Jom Kippur versuchte, mit Waffengewalt in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um die dort versammelten Juden zu ermorden. Ein weiterer Spitzenwert wurde am 2. Juni 2019 mit 5.542 Meldungen verzeichnet, von denen 4.349 das Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch enthielten. Dies stand im Zusammenhang mit einer Online-Kampagne der islamistischen Gruppe Generation Islam. Die Gruppe trat erstmals 2018 unter diesem Hashtag in Erscheinung (vgl. ISD Global 2018). Am 2. Juni 2019 startete die Kampagne erneut und verkündete über Twitter, dass das Hashtag innerhalb weniger Minuten bereits über 303.300-mal geteilt wurde. Nur ein kleiner Teil der Nachrichten dieser Kampagne nahm allerdings Bezug auf Juden. Bereits im Vorfeld hatte die Organisation ihre Kampagne als Twitter-Storm auch außerhalb der Plattform Facebook angekündigt. Am häufigsten teilten User zu diesem Zeitpunkt einen Tweet mit einem Zitat des Historikers Wolfgang Benz: (4) “‘ In Deutschland darf man nicht ungestraft gegen Juden hetzen. Man darf aber ungestraft gegen Muslime hetzen. ’ (Wolfgang Benz, Deutscher Historiker) #NichtOhneMeinKopftuch ” Um Holocaustvergleiche und antisemitische NS-Bezüge in diesem Korpus von Online- Diskursen über Juden zu untersuchen, wurde zum einen ein vorwiegend qualitativer und zum anderen ein vorwiegend quantitativer Ansatz gewählt. 138 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli 2.1 Manuelle Auswahl von Tweets mit Holocaustvergleichen Wir sind an einem fortlaufenden Forschungsprojekt zu Diskursen über Juden und Israel auf Twitter an der Indiana University beteiligt. Im Rahmen dieses Projektes wurden zufallsgenerierte Stichproben von jeweils 500 Nachrichten erstellt aus der Gesamtmenge der Nachrichten auf Twitter mit bestimmten Schlüsselwörtern, unter anderem mit dem Schlüsselwort “ Juden ” . Aus den drei Zeiträumen Januar bis Dezember 2019, Januar bis Dezember 2020 und Januar bis April 2021 generierten wir zunächst vier Stichproben von je 500 Tweets, eine aus dem Jahr 2019, zwei aus dem Jahr 2020 und eine für die ersten vier Monate des Jahres 2021. Im Projektverlauf kam eine fünfte Stichprobe für die qualitative Analyse aus dem Zeitraum Mai bis August 2021 hinzu. Die Samples bilden somit einen Querschnitt der Diskussionen auf Twitter von Januar 2019 bis August 2021, in denen das Wort “ Juden ” verwendet wurde, wobei das Jahr 2019 unterrepräsentiert ist, da wir nur ein Sample aus dem Jahr 2019 verwendeten. Die Stichproben wurden von jeweils zwei Personen im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institute for the Study of Contemporary Antisemitism an der Indiana University annotiert. Eine der Klassifizierungen war, ob die Nachricht einen Bezug zum Holocaust aufweist. 616 Kurznachrichten wiesen einen solchen Bezug auf. Darunter fallen Anspielungen und indirekte Vergleiche mit dem Holocaust. Einer der Autoren war am Annotationsprozess beteiligt und hat alle fünf Stichproben mit jeweils einer anderen Person annotiert. Manuell wurden aus den 616 Tweets, die sowohl das Wort “ Juden ” enthalten als auch einen Bezug zum Holocaust aufweisen, 53 Tweets identifiziert, die einen Vergleich zum Holocaust ziehen, siehe Tabelle 2. Diese 53 Tweets bilden die Grundlage für eine induktive Kategorienbildung nach Form und Inhalt. Tab. 2: Zahl der Tweets mit Bezug zum Holocaust und Holocaustvergleiche Sample Anzahl der Tweets mit Bezug zum Holocaust Anzahl der Tweets mit Holocaustvergleichen Jan.-Dez. 2019 - Rep1 59 16 Jan.-Dez. 2020 - Rep2 121 6 Jan.-Dez. 2020 123 16 Jan.-April 2021.rep2 207 8 Mai-August 2021.rep1 106 7 Summe 616 53 2.2 Teilautomatisierte Identifizierung von Tweets über Juden und mit NS-Bezug Aus einer Gesamtmenge von 651.984 Nachrichten, die das Wort “ Juden ” enthalten und zwischen Januar 2019 und April 2021 versendet wurden, identifizierten wir mittels eines teilautomatisierten Auswahlverfahrens 2.403 Beiträge mit Holocaust-Vergleichen oder antisemitischen NS-Bezügen. Das Verfahren basiert auf einer Adaption des von Daniel Miehling entwickelten plattformübergreifenden Verfahrens zur Identifizierung von antisemitischen Inhalten Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 139 im Web 2.0 mittels eines Diktionärs. 12 Diktionäre sind Sammlungen von Wörtern, Sätzen, Wortarten oder anderen wortbezogenen Indikatoren (z. B. Wortlänge, Anzahl der Silben), die als Grundlage für eine Textanalyse verwendet werden (Neuendorf 2017: 213). Sie werden im Rahmen der computergestützten Inhaltsanalyse eingesetzt, um aus einer großen Menge von Daten relevante Textstellen zu identifizieren 13 , einschließlich Hate-Content und terroristischer Muster in Texten (Hine, Onaolapo u. a. 2016; Mittos, Zannettou u. a. 2019; Rieger, Kümpel u. a. 2021; vgl. Riloff 1996). Diktionäre können aus mehreren tausend Wörtern bestehen, sowie fortlaufend erweitert werden, jedoch kann sich dadurch auch der Anteil an Tokens mit Ambiguitäten erhöhen. So stellen beispielsweise Homonyme ein ungelöstes Problem in NLP-Verfahren dar (vgl. Döring, Bortz u. a. 2015: 299), wie sich am Beispiel des Lexems “ Israel ” zeigt. Es kann sich auf den jüdischen Staat beziehen oder einen Nachnamen oder männlichen Vornamen repräsentieren. Hinzu kommen sehr kurze Tokens und Tokens mit non-ASCII-Zeichen, wodurch die Validität von diktionärgeleiteten Textanalysen verringert wird. Ohne ergänzende qualitative und kontextbezogene Evaluation können chiffrierte Begriffe oder Sprechakte mit konversationalen Implikaturen (vgl. Grice 1995; Meibauer 2009) nur unzureichend erklärt werden. Auch Metaphern, Ironie oder Sarkasmus lassen sich nur schwer durch Diktionäre erfassen. Wir wählten daher eine Methodenkombination aus einer teilautomatisierten Inhaltsanalyse, die durch eine qualitative Annotation ergänzt wurde. Im ersten Schritt erfolgte eine deduktiv geleitete Ermittlung von Tokens und N-Grams, darunter Pejorativlexeme, Schimpf- und Codewörter mit Bezugspunkten zum Nationalsozialismus, Ausdrucksformen mit expliziten Negativevaluierungen, sowie Tokens und N- Grams mit Tiervergleichen, Fäkalisierungen und Dehumanisierungen. Die identifizierten Informationskomponenten wurden jeweils separat den Pejorativen, NS-Vergleichen und Superlativen zugeordnet, wodurch keine Überschneidungen entstehen. Dem ging eine Vorstudie zu Telegramkanälen voraus, bei der ein Diktionär entstand, das dann für diese Studie erweitert wurde. Es beruht auf der Durchsicht von Nachrichten auf Telegramkanälen, die hauptsächlich von Menschen genutzt wurden, die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie kritisch gegenüberstehen und dem rechten Spektrum zuzuordnen sind. Für die Erweiterung des Diktionärs nutzten wir Auswertungen einer randomisierten Stichprobe von 2.000 Kurznachrichten aus unserer Grundgesamtheit von Twitter-Nachrichten mit dem Stichwort “ Juden ” sowie die in dem oben erwähnten Annotationsprojekt als antisemitisch klassifizierten 59 Nachrichten. So wurden weitere relevante Wörter, Tokens und Sprechakte als Informationskomponenten identifiziert und in das Diktionär integriert. 14 12 Das Forschungsprojekt “ Online-Antisemitismus verstehen: Hassrede im Web 2.0 ” ist ein von der Hans- Böckler-Stiftung gefördertes Dissertationsprojekt, das in Kooperation an der Technischen Universität Berlin und an der Indiana University Bloomington betreut wird. 13 Zu den Schwächen und Erfassungsgrenzen computergestützter Inhaltsanalysen siehe Früh (2017: 278). 14 Die systematische Erfassung der Informationskomponenten wurde mithilfe eines Key-Word-Parsers realisiert. Ein Parser ist eine computergestützte Anwendung, die Texte einer syntaktischen Analyse unterzieht, zum Beispiel in Form einer Phrasenstruktur oder eines Dependenzbaums (vgl. Lemmnitzer & Zinsmeister (2015: 198)) 140 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Im zweiten Schritt nutzten wir das Diktionär für die automatisierte Filterung der Grundgesamtheit, womit 11.852 antisemitische oder holocaustrelativierende Nachrichten (inkl. einiger Falsch-positiver) erfasst wurden. Im dritten Schritt erfolgte eine qualitative Evaluation der erfassten Nachrichten. Dies beinhaltete die Disambiguierung und Filterung von sogenannten falsch-positiven Textbotschaften (vgl. Früh 2017: 74, 273). Alle mittels des provisorischen Diktionärs identifizierten Tweets (abzüglich der durch Retweets aufgetretenen Dopplungen) wurden manuell auf falsch-positive Textbotschaften geprüft. Textbotschaften, die keine antisemitischen Semantiken oder NS-Vergleiche aufwiesen, wurden aus der Stichprobe entfernt und das Diktionär wurde so modifiziert, dass Falsch-Positive reduziert werden. Zudem wurden kontextgebundene und wiederkehrende Sprechakte als Informationskomponenten in das Diktionär integriert. 15 Zur Erfassung zusätzlicher Informationskomponenten dienten weitere Texte von Usern als Quellen, von denen viele antisemitische Nachrichten stammten. So entstand ein überarbeitetes Diktionär aus 6.688 Informationskomponenten. Gleichzeitig wurden antisemitische Nachrichten auch manuell identifiziert, sowie User, die antisemitische Inhalte versendet hatten. Die in manueller Durchsicht als antisemitisch identifizierten Nachrichten sowie weitere Nachrichten der User, die häufig antisemitische Inhalte verbreiten, wurden genutzt, um neue explizite, implizite und kontextgebundene antisemitische Inhalte zu finden, die folglich in das Diktionär ergänzend aufgenommen wurden. Hierzu zählen Antisemitismen, die implizit und als chiffrierte Sprachhandlungen beispielsweise über Vergleichspartikel und Junktoren und realisiert wurden (Becker 2018: 364; vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz 2013: 369) sowie Sprachhandlungen, die keine klassischen Vergleichsindikatoren aufweisen und beispielsweise über semiotische Marker als sogenannte Bildzeichenmuster realisiert wurden (vgl. Li & Yang 2018). Insgesamt umfasst das Diktionär 6.688 unterschiedliche Informationskomponenten, bestehend aus Unigrams, N-Grams, Kombinationen von Bildzeichen sowie komplexeren Token-Kombinationen, in denen Ausdrucks- und Sinnformeln realisiert werden. Für die quantitative Erfassung judenfeindlicher Sprachgebrauchsmuster basiert das Diktionär auf Indikatoren von Schwarz-Friesel und ist in drei Kategorien unterteilt: NS- Vergleiche, Superlativvergleiche und -Konstruktionen, sowie Pejorativlexeme mit drastischen Dehumanisierungen von Juden (vgl. Schwarz-Friesel 2019: 104 f.). Die quantitative Klassifizierung judenfeindlicher Inhalte ist von der IHRA-Arbeitsdefinition zu Antisemitismus geleitet und orientiert sich des Weiteren an Ergebnissen empirischer Studien, sowie Konzepten und Beiträgen der interdisziplinären Forschung zu Antisemitismus von Nicoline Hortzitz 1995, Ergebnisse der Korpusstudien von Monika Schwarz-Friesel & Jehuda Reinharz 2013 sowie die Analysen zu NS-Vergleichen von Linda Giesel 2019 und Matthias J. Becker 2018, die als methodologische Rahmen- und Referenzwerke für die Annotation antisemitischer Textbotschaften dienten. 16 Im vierten Schritt wurde erneut eine automatisierte Filterung der Grundgesamtheit vorgenommen, wodurch wir 8.088 antisemitische oder holocaustrelativierende Nach- 15 Zur kontextgebundenen Äußerungsbedeutung siehe Wodak (2011); vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz (2013: 53). 16 Siehe hierzu ausführlich Komparandum und Komparationsbasis bei Thurmair (2001: 183). Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 141 richten identifizierten. Dies sind 1,24 % der Gesamtmenge. Die manuelle Annotation von repräsentativen Samplen ergibt einen Anteil antisemitischer Nachrichten von etwa 3 %. Für unser Projekt sind jedoch nur die Nachrichten mit NS-Vergleichen oder antisemitischen NS-Bezügen relevant, nicht alle antisemitischen Nachrichten. Daher wurden im fünften Schritt alle Nachrichten mit NS-Bezug herausgefiltert, insgesamt 2.443 Nachrichten. Im sechsten Schritt wurden diese Nachrichten einer eingehenden Analyse unterzogen. Die schloss eine automatisierte Clusteranalyse sowie eine manuelle Kategorisierung nach Themen ein. Bei der manuellen Durchsicht wurden nochmals 40 Falsch-Positive aussortiert. Zu den verbliebenen 2.403 Nachrichten erstellten wir Statistiken über User-Aktivitäten, Verbreitungstechniken und Themenschwerpunkte. Unter den Nachrichten waren erwartungsgemäß viele Retweets. 578 Nachrichten waren singuläre Nachrichten. Retweets fließen in die statistischen Analysen ein, da User Tweets und Retweets in ähnlicher Weise sehen. 3 Wie äußern sich Holocaustvergleiche auf Twitter? Ergebnisse der qualitativen Analyse: Typenbildung Allen 53 qualitativ untersuchten Twitter-Beiträgen ist gemeinsam, dass sie Analogiebeziehungen zwischen aktuellen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und dem Nationalsozialismus herstellen. Diese Form der Holocaustrelativierung ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht Dimensionen und Mechanismen wie Opferzahlen und Vernichtungslager geleugnet werden, sondern darin, den Nationalsozialismus und den Holocaust mit aktuellen Geschehnissen in der deutschen Politik und Gesellschaft gleichzusetzen, die nicht annähernd mit dem Zivilisationsbruch durch den Holocaust und den Nationalsozialismus vergleichbar sind. Ob es sich dabei um Antisemitismus handelt, muss unseres Erachtens im Einzelfall geprüft werden. Antisemitische Ressentiments scheinen in vielen Fällen eine plausible Erklärung dafür zu sein, weshalb entsprechende Analogien gezogen werden. Dies lässt sich nicht immer mit formalen Definitionen erfassen, die auf der Erscheinungsebene verbleiben, wie etwa der Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance. Letztere schließt zwar Holocaustleugnung explizit als eine Form von Antisemitismus ein, nicht aber verzerrte Darstellungen der Shoah. Gewisse Formen dieser Verzerrungen sind in ihrem Ausdruck so deutlich, dass sie unter Leugnung der Shoah im Sinne der IHRA fallen können, jedoch hat die Praxis gezeigt, dass eine Vielfalt holocaustrelativierender Aussagen gibt, denen die IHRA als Arbeitsdefinition nicht immer gerecht werden kann. In den von uns untersuchten Holocaustvergleichen konnten wir Muster auf drei Ebenen identifizieren: wiederkehrende sprachliche Mittel, Vergleichskonzepte und thematische Bezüge. 3.1 Sprachliche Mittel bei Holocaustvergleichen Mit sprachlichen Mitteln wird eine Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus bzw. der Shoah und aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Ereignissen hergestellt, siehe Tabelle 3. 142 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli In der Analyse der sprachlichen Mittel wurde zwischen “ expliziten ” und “ impliziten ” Formulierungen unterschieden (vgl. Schwarz-Friesel & Consten 2014). In expliziten Vergleichen, bei denen das historische Ereignis mit einem aktuellen auf eine Stufe gestellt - also gleichgesetzt wird, werden Junktoren wie “ genauso ” , “ wie ” oder Formulierungen wie “ Nachkommen der Faschisten ” , “ Geschichte wiederholt sich ” verwendet (vgl. Thurmair 2001: 89). Beispielhaft dafür ist folgender Tweet, in dem über den Vergleichsindikator “ wie damals ” eine Ähnlichkeitsrelation hergestellt wird: (5) “ Das sind ja Methoden wie damals im 3. Reich. Das haben die Nazis damals auch gemacht bei den Juden. ” , der als Reaktion auf die Kündigung des Kontos des thüringischen AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke durch die zuständige Bank, zu verstehen ist. Während bei expliziten Vergleichen ein direkter Bezug zum Nationalsozialismus respektive zur Shoah hergestellt wird, basieren implizite Vergleiche oftmals auf Anspielungen, die beispielsweise durch rhetorische Fragen realisiert werden. Dabei werden Ähnlichkeiten suggeriert, deren relativierende Wirkung sich aus dem Kontext der Aussagen ableiten lässt und durch Vergleichsindikatoren wie “ erinnert an ” oder “ fast wie ” hergestellt werden. Ein Beispiel für solch einen relativierenden Holocaustvergleich ist der folgende Tweet: (6) “ Haben wir die Geschichte der Juden behandelt, um daraus zu lernen, oder um uns auf etwas Ähnliches vorzubereiten? #StopMacron ” . Gleichsetzungen oder Vergleiche lassen sich in allen untersuchten Kurznachrichten finden, dabei waren Gleichsetzungen häufiger zu finden als Vergleiche. Ein weiteres sprachliches Mittel, das verwendet wird, um eine bereits gezogene Analogie noch zu verstärken, sind Zitate mit einer klaren Zuordnung zum Nationalsozialismus, beispielsweise “ Kauft nicht beim Juden ” , oder “ Die Juden sind unser Unglück ” . So schreibt ein User: (7) “ 1933: ‘ Die Juden sind unser Unglück ’ 2021: ‘ Die Ungeimpften sind unser Unglück. ’ Ich finde diese faschistoide Scheiße passt nicht zu Deutschland. Ich will #Deutschlandabernormal. ” Versehen ist der Tweet mit semiotischen Markern: Deutschlandfahnen, zum Gebet geformte Hände und blaue Herzen. Dazu wurde ein Bild gepostet. Die Schwarz-Weiß- Fotografie zeigt eine Frau, die öffentlich zur Schau gestellt und der ein Schild um den Hals hängt, auf dem steht: “ Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen ” . Der Bezug zum Nationalsozialismus wird explizit über mehrere Vergleichsindikatoren bimodal auf der Text-Bild-Ebene hergestellt und auf den Kontext der Corona-Pandemie adaptiert. Durch das Ersetzen von “ Juden ” durch “ Ungeimpfte ” bei gleichzeitigem Beibehalten des restlichen Zitats werden beide (tatsächliche und vermeintliche) Opfergruppen gleichgesetzt. Dieser Tweet ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie explizit die Analogie zum Nationalsozialismus von einigen Usern gezogen wird. Deutliche Analogisierungen werden, wie hier, durch die Verwendung von bekannten Zitaten oder von Namensnennungen, wie “ Goebbels ” realisiert. Andere User verzichten auf solche expliziten Formulierungen und überlassen es dem Kontext und dem Weltwissen der Lesenden, die Verbindung zum Nationalsozialismus und der Shoah zu ziehen (vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz 2013: 206). Dabei reicht meist der Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 143 Verweis auf “ Juden ” oder das sich als “ Jude fühlen ” , um diesen Sinnzusammenhang klarzumachen. Beispielhaft steht dafür dieser Tweet, der anlässlich einer Debatte um mögliche Kopftuchverbote verfasst wurde: (8) “ Damals Juden, heute wir Muslime ” . Ein expliziter Verweis auf den Nationalsozialismus oder die Shoah bleibt aus, lediglich das Wort “ damals ” impliziert eine Verbindung zu einem historischen Ereignis. Eine Ähnlichkeitsrelation zum Nationalsozialismus kann jedoch im Rezeptionsprozess der Nachricht nur über das hierzu notwendige Hintergrundwissen erschlossen werden (Pérennec 2008: 2; vgl. Schwarz-Friesel 2022: 169). Neben diesen Beobachtungen ist eine weitere sprachliche Besonderheit auffällig. Für alle untersuchten Kurznachrichten gilt, dass eine negative Konnotation des Nationalsozialismus vorliegt, beziehungsweise auf die gesellschaftlich anerkannte / gewünschte negative Konnotation vertraut wird. Mehr als die Hälfte der untersuchten Tweets beinhaltet dabei eine explizit negative Beurteilung des Nationalsozialismus als schlecht oder bösartig. Die User heben hier noch einmal besonders diese Beurteilung hervor und machen dies sprachlich vor allem durch Adjektive wie “ grausam ” , “ böse ” , oder “ widerlich ” kenntlich. Beispielhaft dafür schreibt ein User: (9) “ Das Grundgesetz wurde 1949 verkündet aus dem, Resultat des 1. & 2. Weltkriegs, in dem die Juden aufs brutalste vernichtet wurden. Die Zeit des bösen hat genauso angefangen, Schritt für Schritt systematisches Feindbild aufgebaut! #NichtOhneMeinKopftuch. ” Keine der untersuchten Nachrichten bezieht sich positiv auf den Nationalsozialismus. Andere sprachliche Mittel wie Suggestivfragen und Zitate werden vereinzelt verwendet. Tab. 3: Sprachliche Mittel von Holocaustvergleichen Sprachliche Ebene Definition Ankerbeispiel Gleichsetzung (Überkategorie) Sprachliche Indikatoren: “ genauso ” , “ wie ” oder Formulierungen wie “ Nachkommen der Faschisten ” , “ Geschichte wiederholt sich. ” NS oder Shoah im Speziellen werden mit einem aktuellen Bezugspunkt (Gesetzgebungen, gesell. Umgang mit bestimmten Gruppen, politische Debatten) auf eine Stufe gestellt - gleichgesetzt. “ Das sind ja Methoden wie damals im 3. Reich. Das haben die Nazis damals auch gemacht bei den Juden. ” Vergleich (Überkategorie) Sprachliche Indikatoren: “ erinnert an ” , “ ähnlich ” , “ fast wie ” . NS oder Shoah im Speziellen werden mit aktuellen Ereignissen verglichen, dabei aber nicht gleichgesetzt. Eine Vergleichbarkeit zwischen beiden Ereignissen, die miteinander in Verbindung gebracht wird, impliziert jedoch eine sprachliche Relativierung oder Kontextualisierung. “ Haben wir die Geschichte der Juden behandelt, um daraus zu lernen, oder um uns auf etwas Ähnliches vorzubereiten? #StopMacron ” 144 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Sprachliche Ebene Definition Ankerbeispiel Implizit Sprachliche Indikatoren: “ früher, ” “ damals ” Verzicht auf direkte Benennung des Nationalsozialismus oder der Shoah. Eine Zuordnung zu besagten Themen ist erst aus dem Kontext erschließbar. Grundannahme bei der Annotation ist die Verankerung von NS und Shoah im kollektiven Gedächtnis. “ Von wem geht die Gewalt aus? Früher wurden die Juden verfolgt und jetzt die AfD. ” Explizit Sprachliche Indikatoren: “ Kauft nicht bei Juden ” , “ Goebbels ” , “ Nazis ” , “ 3. Reich ” . Verweis auf den Nationalsozialismus oder die Shoah im speziellen mit Wörtern oder Namensnennungen oder Formulierungen, die diesem Themenkomplex eindeutig zuordenbar sind. “ Knobloch macht das mit der AfD, was die Nazis mit den Juden gemacht haben. ” Zitat Zitat mit klarer Zuordnung zum NS. “‘ Kauft nicht beim Juden ’ hieß es früher. ” Negative Bezugnahme auf NS Der User macht eine negative Haltung / Verurteilung des NS oder der Shoah erkennbar, z. B. durch Adjektive wie “ grausam ” , “ böse ” , “ widerlich ” . Gilt zur Erfassung sprachlicher Mittel, die eine verstärkende Wirkung haben und an denen sich die negative Rezeption des NS eindeutig nachweisen lässt. Die generelle Tendenz einer negativen Konnotation ist Gegenstand der inhaltlichen Auswertung. “ Den Gegner entmenschlichen ist so ziemlich das schwerste Geschütz, welches man auffahren kann. Im 2.WW konnte man so z. B. Juden oder Russen ganz legitim dem Hass eines gesamten Volkes aussetzen und es funktionierte. Tolle Zeiten in denen wir leben. #Merkelmussweg #Weidel ” [sic] Suggestivfrage Fragen, die eine Antwort besonders nahelegen, bzw. deren Beantwortung im Tweet selbst folgt, z. B.: “ Hatten wir das nicht schon mal? ” “ Hatten wir das nicht alles schon mal, Rot fuer die Kommunisten. Gelb fuer die Juden, Rosa fuer die Schwulen und Lespen und Gruen für die Kleinkriminellen, nichts neues im Deutschen Reich. ” [sic] Die Kategorien der Tabelle wurden aus dem untersuchten Material entwickelt. Dabei lassen sich frappierende Ähnlichkeiten mit den Ergebnissen von Linda Giesels Arbeit zu NS- Vergleichen und NS-Metaphern in E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland feststellen. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 145 3.2 Konzeptionelle Ebene von Holocaustvergleichen: Täter-Analogie, Opfer- Analogie und doppelte Analogie Die konzeptionelle Ebene widmet sich weniger konkreten sprachlichen Ausformulierungen, sondern konzentriert sich auf die Art der von den Usern gezogenen Analogien. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Opfer-Analogie, Täter-Analogie und Analogie-Dopplungen. Eine ausführliche Analyse von Täter- und Opferkonzepten lässt sich in Beckers Untersuchung von antiisraelischen Leser-Kommentaren in der Zeit und im Guardian finden. Die Opfer-Analogie konkretisiert die Analogie zum NS dahingehend, dass eine Vergleichbarkeit oder gar Gleichsetzbarkeit von Juden im Nationalsozialismus mit einer heutigen gesellschaftlichen Gruppe in der BRD impliziert wird. Das Konzept von Juden als (historischer) Opfergruppe wird also auf eine andere Gruppe im aktuellen gesellschaftlichen und politischen Kontext übertragen. Die Opfer-Analogie kann so weit gehen, dass sie zu einer expliziten Selbstbezeichnung als “ Jude ” führt, also nicht nur die Analogisierung zweier Opfergruppen. Der Verfasser nimmt eine Selbst- oder Fremdzuordnung einer Person oder Gruppe vor, die als “ Jude ” oder “ jüdisch ” perspektiviert wird. Das nachfolgende Beispiel illustriert dies gut: (10) “ @ING_Deutschland (die ING-DiBa Bank ist damit gemeint, sie wird im Tweet mit ihrem Twitter-Account verlinkt) hat Björn Höcke ohne Angabe von Gründen das Konto gekündigt. Weshalb? Was soll das? Kein Konto für Juden? ” (zusätzlich verlinkt der User noch den Account der AfD-Bundestagsfraktion) Die als Suggestivfrage formulierte Aussage “ Kein Konto für Juden? ” dient der Analogisierung von Kontokündigung und nationalsozialistischer antisemitischer Politik. Außerdem wird Höcke als Jude imaginiert, was dessen Opferstatus unterstreichen soll. “ Jude ” steht hierbei nicht nur metaphorisch für eine Person, die von Diskriminierung und Repression betroffen ist. Höcke wird hier mit der historischen Opfergruppe der Juden in eins gesetzt. Mit der Täter-Analogie verhält es sich wiederum so, dass weniger die vermeintliche Opferperspektive bzw. Opferrolle der User oder einer Gruppe in den Vordergrund gerückt wird. Vielmehr geht es darum, Politiker oder politische Gruppen mit den Nazis gleichzusetzen und somit als Täter zu perspektivieren. So zum Beispiel: (11) “ Bekommen geimpfte Freiheiten und nicht geimpfte weniger Freiheiten, sind wir in der NS Zeit angekommen, da hat Hitler auch Unterschiede zwischen den blonden und den Juden beschlossen, Angela Merkel folgt ihm, der wahre Nazi ist Angela Merkel in dem Falle. Diskriminierung gegen die Menschenrechte. ” Merkel wird hier explizit als Nazi und Nachfolgerin Hitlers referenzialisiert. Die dritte Subkategorie, also die doppelte Analogie, entstand aus der Schwierigkeit heraus, dass sich einige Tweets nicht eindeutig in die bereits genannten Kategorien einordnen ließen und sowohl eine Täter-Analogie als auch eine Opfer-Analogie aufwiesen. Folgender Tweet illustriert das Phänomen besonders gut. Der User leitet den Tweet mit einem abgewandelten Zitat bzw. der zitierten Parole des nationalsozialistischen Boykotts jüdischer Geschäfte ein: (12) “ Kauft nicht bei Sachsen (Juden) ” … Hatten wir das nicht schon mal? Steht die Antifa, SA im neuen Gewand, schon bereit um anders Denkende zu denunzieren, verleumden, verprügeln oder Schlimmeres? ” 146 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Neben den expliziten Bezügen auf den Nationalsozialismus lässt sich hier sehr gut zeigen, wie (historische) Opfer- und Tätergruppen einfach ausgetauscht werden. Nicht nur werden im Tweet nach Anfeindungen gegen Sachsen mit der Diskriminierung und Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus auf eine Stufe gestellt, auch werden Antifaschisten in ihr Gegenteil verkehrt und mit der SA gleichgesetzt. Der Austausch kann sogar so weit gehen, dass jüdische Personen mit Nazis gleichgesetzt werden. Ein User schreibt in Reaktion auf eine Rede der ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, in der diese die AfD für eine Pogromstimmung im Land zur Verantwortung zieht: (13) “ Knobloch macht das mit der AfD, was die Nazis mit den Juden gemacht haben. ” Die AfD wird in ihrer vermeintlichen Opferrolle somit mit den verfolgten und ermordeten Juden gleichgesetzt. Es wird keinerlei Differenzierung zwischen dem vermeintlichen Umgang Knoblochs mit der AfD und der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik vorgenommen. Diese doppelte Analogie kann sich auch weniger explizit darstellen, so zum Beispiel, wenn die Verbindung eines aktuellen Ereignisses mit dem Nationalsozialismus allgemein gehalten wurde und der Fokus der getätigten Aussage auf gesamtgesellschaftlichen Tendenzen lag, die sowohl Täterals auch Opferschaft implizieren: (14) “ Und dann fragt ihr Euch noch wie sowas jemals passieren konnte … Warum hat keiner aufgemuckt und sich dagegen gewehrt? Warum wurden Juden in der Gesellschaft geächtet und ausgegrenzt? Warum liefen soviele Menschen der Propaganda hinterher? Jetzt wisst ihr es … #Corona ” [sic]. Versehen ist der Text mit einer historischen Fotografie, die ein vollbesetztes Stadion zeigt, in dem alle Menschen den Arm zum Hitlergruß heben. Zur konzeptionellen Ebene der Untersuchung lässt sich abschließend festhalten, dass sich der größte Teil der analysierten Tweets in Täter- und Opfer-Analogien aufteilen lässt, wobei Opfer-Analogien die am häufigsten aufgetretene Variante sind. Der kleinere Teil entfällt auf die beschriebenen Analogie-Dopplungen. 3.3 Thematische Bezüge der Holocaustvergleiche Die dritte Ebene der Betrachtung bildet die Zuordnung der Tweets zu Themenkomplexen. Einige der Themen sind schon in den vorherigen Beispielen angeklungen. Die zeitliche Rahmung ist durch die Auswahl der untersuchten Datensamples von 2019 bis 2021 gegeben. Während sich die gemeinsame qualitative und quantitative Untersuchung auf den Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 30.04.2021 beschränkt, wurde in der qualitativen Untersuchung ein zusätzliches Datensample für den Zeitraum vom 01.05.2021 bis zum 31.08.2021 analysiert, in dem sich zeigt, dass sich die gefundenen Ergebnisse der Untersuchung auch über den begrenzten Zeitraum hinaus fortsetzen. Die Fokussierung bei der Zusammenstellung der Untersuchungsdaten auf das Stichwort “ Juden ” grenzte einen möglichen thematischen Bezug ein, ohne dass von vornherein einzelne gesellschaftliche und politische Ereignisse ausgeklammert wurden. Um die Einordnung in diese thematischen Bezüge zu erleichtern, wurden wiederkehrende Stichworte wie “ Impfungen oder G-Regelungen ” , Namensbzw. Parteinennungen und verlinkte Nachrichtenartikel berücksichtigt, die Aufschluss über den Themenbezug der einzelnen Tweets geben konnten. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 147 Drei wiederkehrende thematische Bezüge kristallisierten sich heraus. Zum einen die Debatte um vermeintliche und tatsächliche Diskriminierung von Muslimen im Rahmen von Verbotsdebatten um das Kopftuch und um Karikaturen des Propheten Mohammed. Beispielhaft ist dafür folgender Tweet zu nennen: (15) “ #NichtOhneMeinKopftuch früher waren ’ s die Juden. Und heute wollen sie uns an ihre Stelle Rücken. [ … ] ” Der zweite Themenkomplex dreht sich um die rechtsradikale Partei AfD. Dabei ging es zumeist um den (zivil)-gesellschaftlichen Umgang mit der Partei. Vor allem in diesem Themenkomplex ist eine Häufung von Einzelereignissen auffällig, auf die verschiedene User Bezug nehmen. So zum Beispiel die bereits erwähnten Fälle der Kündigung des Bankkontos von Björn Höcke, die Rede Charlotte Knoblochs anlässlich einer Gedenkveranstaltung vor dem bayerischen Landtag, in der sie die AfD kritisierte, aber auch ein Interview mit der Parteivorsitzenden der AfD, Alice Weidel, in der diese über die vermeintliche Ächtung in ihrem privaten Umfeld aufgrund ihrer Tätigkeit, spricht. Der dritte - und mit Abstand größte Themenzusammenhang, ist das Auftreten der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus. Bedeutend waren hier vor allem Diskussionen um die sogenannten G-Regelungen, die den Zugang zu Restaurants und Kulturstätten reglementieren sollten und den Eintritt nur für Menschen mit nachweisbarem Impf- oder Genesenen- Status möglich machten. Die Diskussion, ob dieses Vorgehen diskriminierend sei, zieht sich über einen Zeitraum von mehreren Monaten, nicht nur im deutschsprachigen Raum, und kann als wichtiger Referenzpunkt seitens der Tweet-Verfasser angesehen werden. Aber auch die Diskussion um die Impfungen und eine mögliche allgemeine und eine berufsgruppenspezifische Impfpflicht waren prägend. Hier sind für das Jahr 2019 keine Tweets zu finden, da das Virus erst im Jahr 2020 in Deutschland auftrat. Neun der 53 Tweets konnten keinem der drei thematischen Bezüge zugeordnet werden. Grund dafür waren Tweets mit thematischen Bezügen, die lediglich einmal in allen Sets vorkamen, sprachlich unverständlich waren, oder solche, deren Aussagen ohne Kontext nicht klar einzuordnen waren und in denen dieser benötigte Kontext bereits gelöscht wurde. Beispiele für weitere Themen, in denen auf Vergleiche zum Nationalsozialismus zurückgegriffen sind eine Kritik an Donald Trump, die Diskussion um die Enteignungsdebatte (Deutsche Wohnen) in Berlin, eine “ Reichensteuer ” und der Vergleich von Untätigkeit bei unmenschlicher europäischer Flüchtlingspolitik. 4 Trends. Welche Holocaustvergleiche sind wann besonders prominent und wie werden sie verbreitet? Unser teilautomatisiertes Verfahren zur Identifizierung von antisemitischen NS-Bezügen und holocaustrelativierenden Botschaften auf Twitter führte zu einer Auswahl von 2.403 entsprechenden Nachrichten aus einer Gesamtmenge von 651.984 Nachrichten. 148 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli 4.1 Thematische Entwicklungen: Ergebnisse der Clusteranalyse Um wiederkehrende Muster und thematische Ähnlichkeiten zu erfassen, ordneten wir die 2.403 Textnachrichten in thematische Muster. Topics bestehen aus einer Mischung aus Schlüsselwörtern, die in unterschiedlichen Dokumenten beziehungsweise in Textbotschaften unseres Korpus auftreten (vgl. Vajjala, Majumder u. a. 2020). Dazu verwendeten wir zunächst das Topic Modelling Verfahren Latent Dirichlet Allocation (LDA). Nach der Bereinigung von Stoppwörtern, Links, Usernamen, etc. wurden hiermit Tokens nach ihrer Häufigkeit in der einzelnen Nachricht und nach ihrer Seltenheit im gesamten Datensatz nach dem Term Frequency-Inverse Document Frequency (TF-IDF) gewichtet. Das LDA- Verfahren umfasst 2000 Iterationen, nach denen die zehn meistgenutzten Tokens in zehn Themenfeldern erfasst wurden. Abbildung 2 visualisiert die nach diesem Verfahren gewonnenen Themenfelder in Word-Clouds. Abb. 2: Top 10 Themenfelder nach Topic Modelling (LDA) Aus den Word-Clouds können erste thematische Schlüsse zu prominenten Themen und wiederkehrenden Textmustern abgeleitet werden. Die Topics 1, 2 und 8 beziehen sich inhaltlich auf Tweets im Rahmen der Kampagne “ #NichtOhneMeinKopftuch ” . Referenzen zur Corona-Pandemie und damit verbundenen Impf-Diskursen zeigen sich in Topic 6. Topic 9 bezieht sich auch auf Impfungen, was jedoch nicht ersichtlich ist, ohne den Wortlaut des betreffenden Tweets zu kennen, der leicht variiert sehr häufig weitergeleitet wurde. 17 In Topic 7 werden Analogien zu AfD Mitgliedern ersichtlich, was sich in Topic 10 nur erahnen lässt. Bezüge zu Israel und dem Holocaust finden sich in den Topics 3 und 4, wobei in Topic 3 auch noch die USA hinzukommt. Diese automatisierte Clusteranalyse lässt auf mindestens vier große Themen schließen, bei denen antisemitische NS-Bezüge oder Holocaustrelativierungen vorgenommen werden: Covid, Muslime in Deutschland, Israel, und die AfD. Die 10 Topics der Clusteranalyse lassen sich jedoch nicht klar voneinander abgrenzen, sodass eine Quantifizierung auf dieser Grundlage schwierig ist und einige inhaltliche Themen vermutlich nicht erfasst werden. 17 Der Tweet lautet “ 1933: #IBM entwickelt für NaziDeutschland das Lochkartensystem, ohne das die Erfassung, Zusammenführung & Vernichtung der europäischen Juden nicht durchgeführt hätte werden können. 2021: #IBM entwickelt für Deutschland den digitalen Impfpass. #KeinVergleich #JustFacts ” . Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 149 Eine qualitative, “ manuelle ” Analyse, d. h. eine Sichtung und Klassifizierung aller Einzelnachrichten, bildet die Grundlage für unsere weitergehende statistische Auswertung zur Ermittlung prominenter Formen antisemitischer NS-Bezüge und Holocaust-Vergleiche. 4.2 Thematische Entwicklungen: Manuelle Klassifizierung der Nachrichten mit antisemitischen NS-Bezügen und Holocaustvergleichen Die Klassifizierung erfolgte im iterativen Prozess durch induktive Kodierung der verbliebenen Nachrichten (einschließlich Retweets). Es kristallisierten sich drei Überkategorien heraus. Die ersten beiden waren analog den Beobachtungen aus der qualitativen Analyse: Opfer-Analogien und Täter-Analogien. 18 Die dritte Überkategorie umfasste antisemitische Bezüge zur Shoah. Darunter fielen die affirmative Verwendung von Begriffen wie “ Schuld-Kult ” oder “ Holocaustindustrie ” oder die Behauptungen, Juden hätten nach 1945 in Deutschland “ Narrenfreiheit ” und der Antisemitismusvorwurf werde pauschal instrumentalisiert. Es gab auch direkte Holocaustleugnungen oder -zweifel, pronazistische Nachrichten, Behauptungen einer angeblichen Beteiligung von Juden am Holocaust (etwa durch George Soros oder die Haavera). Auch die besondere Hervorhebung deutscher Opfer mit Bezug auf die Shoah, Weltverschwörungsfantasien mit Bezug auf die Shoah, Gleichsetzungen des Holocaust mit dem Holodomor oder der Sklaverei in den USA fassten wir unter dieser Überkategorie zusammen. Hinsichtlich der Opfer-Analogien kamen einige Themen besonders häufig vor. Die Situation von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus wurde gleichgesetzt mit Muslimen, Migranten, Arabern, Abgeschobenen, Palästinensern oder Islamisten, aber auch mit Anhängern der AfD, Rechten im Allgemeinen, Trump-Anhängern oder Nazis. Gleichsetzungen mit Impfkritikern, Covidskeptikern oder Querdenkern fanden ebenfalls häufig statt. Zudem kamen Gleichsetzungen mit der gegenwärtigen Lebensrealität von Deutschen vor. “ Deutsche sind die Juden 2020 ” , hieß es beispielsweise. Vereinzelt wurden in den Diskussionen reiche Menschen oder Vermieter als Verfolge “ wie Juden ” dargestellt. Unter den Täter-Analogien fanden wir Gleichsetzungen der Verfolgung von Juden durch das NS-Regime oder NS-Anhängern, mit Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, mit Zionismus, Israelis oder mit Juden heute im Allgemeinen, mit den Juden in der AfD, mit der Politik von SPD, Der Linken, Antifa, oder Den Grünen, aber auch mit der Politik oder Aktivitäten von AfD, Rechten, Söder, Sundermeyer oder anderen eher rechten Einzelpersonen. Vereinzelt traten Täter-Analogien zu BDS-Anhängern, Medien, Amerikanern (mit Bezug auf den Völkermord an indigenen Stämmen), Katalanen oder sogar unliebsamen Nachbarn auf. Wir konnten 11 Themenfelder im Material erkennen, die sich wie folgt betiteln lassen, (1) Muslime/ Migranten, 19 (2) AfD/ Rechte, (3) Covid, (4) Deutsche, (5) Zionismus und Israelis, (6) Juden in der AfD, (7) Linke, (8) “ Schuld-Kult ” , (9) Holocaustleugnung/ pro-Nazi, (10) Jüdische Weltverschwörung, (11) Sonstiges, siehe Abbildung 3. 18 In der Verwendung des Opfer- und Täter-Kategorisierungen beziehen wir uns auf die Arbeiten von Heidrun Kämper zum Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit und das von ihr entwickelte Wörterbuch zum Schuldiskurs von 1945-1955. siehe hierzu Kämper (2005); vgl. Kämper (2007). 19 In den Texten wurden vor allem “ Muslime ” benannt, aber auch “ Migranten, Araber, Abgeschobene, Palästinenser und Islamisten. ” 150 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Die manuelle Auswertung der Themencluster der 2403 Nachrichten aus dem Zeitraum von Januar 2019 bis April 2021 zeigt, dass Opfer-Analogien innerhalb aller Nachrichten mit einem Anteil von 60 % (n = 1443) am häufigsten auftraten, gefolgt von Täter-Analogien mit 27 % (n = 641). Der Anteil der Shoah-Bezüge beträgt 13 % (n = 319). Die Analyse der Unterkategorien verdeutlicht, dass die häufigste Opfer-Analogie (59 % aller Opfer-Analogien) zu Muslime/ Migranten gezogen wurde. Dies konzentrierte sich vor allem auf das Jahr 2019 und fand im Zusammenhang der #NichtOhneMeinKopftuch- Kampagne der Organisation Generation Islam statt. AfD-Sympathisanten und Anhängern rechter Parteien und Organisationen realisierten am zweithäufigsten Opfer-Analogien in ihren Nachrichten (23 %). Opfer-Analogien von Impfkritikern, Covidskeptikern und Querdenkern stellen den drittgrößten Anteil dar (20 %). Im Frühjahr 2021 tauchten besonders häufig Parallelen zwischen der Corona-Pandemie und der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus auf. Bei der Auswertung der Täter-Analogien stellen wir ebenfalls drei dominierende Themen in den Unterkategorien fest: Gut 31 % der Täter-Analogien bezogen sich auf Impfkritikern, Covidskeptikern und Querdenkern. In 33 % der Nachrichten wurden linke Parteien und Organisationen mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt, vor allem im Jahr 2020 (30 %). Der drittgrößte Anteil (23 %) bezog sich auf Nachrichten, in denen der Zionismus und Israel mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt wurden. Shoah-Bezüge weisen insbesondere zwei größere Anteile in den Unterkategorien auf: In 47 % der Nachrichten wurde der Holocaust geleugnet, besonders im Jahr 2020 (36 %). Sprachliche Äußerungen, in denen Juden beschuldigt wurden, die Shoah zu instrumentalisieren, machen mit 34 % den zweitgrößten Anteil dieser Unterkategorie aus. Diese Äußerungen wurden am häufigsten im Jahr 2019 (20 %) getätigt. Abb. 3: Prominente Themenfelder nach qualitativer Analyse Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 151 Einige Nachrichten gehören zu mehreren Kategorien, was sich manchmal erst erschließt, wenn man die Nachricht im Kontext sieht. Dies zeigt sich an einem Reply mit dem Wortlaut: (16) “ Dies ist offener #Faschismus. Gerade #Juden sollten Lehren aus diesem dunkelsten aller Kapitel gezogen haben! ” Dies ist zum einen eine antisemitische Opfer-Täter-Umkehr, bei der Juden in die Nähe des Faschismus gerückt werden. Bei Durchsicht des Threads wird deutlich, dass der Reply Maßnahmen in Israel zum Schutz vor Covid kommentiert. Der NS-Vergleich bezieht sich also auch auf Israel und auf Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie, siehe Abbildung 4. Abb. 4: Täter-Analogie mit Bezug auf Israel und Covid Am häufigsten treten NS-Vergleiche im Zusammenhang von Opferanalogien auf: In den beiden größten Themenclustern, NS-Vergleiche im Zusammenhang mit der Kopftuchdebatte unter dem Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch und politischen Auseinandersetzungen mit AfD-Sympathisanten, stellen Schreiber gezielte Bezüge zur Shoah her. Im ersten Themencluster entgegnen Muslime der Kritik der Unterdrückung religiöser Konventionen, während sich im zweiten Themencluster AfD-Sympathisanten aufbegehrend gegen das “ politische Establishment ” wenden. Gemein ist den Schreibern beider Gruppen, dass sie die Shoah als Relationsbasis für ihre Selbstviktimisierung missbrauchen, analog auf aktuelle politische Debatten übertragen und sich dabei in Eigenbezeichnung als “ neue Juden ” gerieren. 4.3 Zeitliche Verteilung der NS- Vergleiche & Bezüge NS-Vergleiche und -Bezüge traten im Jahr 2019 deutlich häufiger auf als 2020, sowohl in Zahlen als auch prozentual im Verhältnis zur Grundgesamtheit an Nachrichten. Für das Jahr 2021 lässt sich ein ansteigender Trend feststellen. Die meisten User posteten nur einen NS- Vergleich, siehe Tabelle 4. 152 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Tab. 4: Anzahl von NS-Vergleichen und Bezügen in Nachrichten auf Twitter mit dem Stichwort “ Juden ” n a % b Unique Users c 2019 1254 0.43 873 2020 685 0.25 504 Jan-Apr 2021 464 0.58 282 Overall 2403 0.37 1602 a Anzahl Vergleichen und Bezügen; b Prozentualer Anteil Vergleichen und Bezügen in Relation zu den Grundgesamtheiten pro Zeitraum; c Anzahl der Unique User pro Zeitraum 4.4 Superspreader Eine kleine Anzahl von acht Usern, die von Januar 2019 bis April 2021 jeweils mindestens 10 Nachrichten mit antisemitischen NS-Bezügen oder Holocaustrelativierungen allein mit dem Stichwort “ Juden ” verschickten, waren verantwortlich für 13 % der NS-Vergleiche und -Bezüge. Von einem Account gingen gar 174 Nachrichten mit NS-Vergleichen aus. Interessanterweise waren dies fast ausnahmslos Replies auf unterschiedliche User, immer mit dem gleichen Text, manchmal angereichert durch Links zu Zeitungsartikeln: (17) “ Was unterscheidet uns noch vom dritten Reich? -Wachsender Antisemitismus, -SS, Gestapo Methoden, keinen Zutritt für AFD Mitglieder, keinen Zutritt für Juden. -AFD Mitglieder werden zusammen geschlagen und Attentate auf sie verübt. ” Mit 60.000 Nachrichten ist der Account seit September 2018 äußerst aktiv. Viele der Nachrichten legen eine Nähe zur AfD nahe und weisen seit dem Krieg in der Ukraine prorussische Positionen auf. Andere “ Superspreader ” von NS-Vergleichen zeichneten sich durch pro-palästinensische Nachrichten aus oder beteiligten sich an der Kampagne #NichtOhneMeinKopftuch. 4.5 User-Aktivitäten und Verbreitungstechniken Betrachtet man die Aktivitäten der User, so lässt sich derzeit ein rückläufiger Trend feststellen: Im Jahr 2019 verbreiteten 1,4 % der User zum Keyword Juden NS-Vergleiche. Im Folgejahr 2020 sinkt der Anteil auf 0,7 %. Für das Jahr 2021 ist zum Stand der Analyse noch keine abschließende Tendenz der Aktivitäten vorauszusagen, da die Auswertung auf die Monate Januar-April 2021 begrenzt ist. Der Anteil an Usern, die im Frühjahr 2021 NS- Vergleiche zogen, beträgt 0,9 %. Die Verbreitung der Textbotschaften der beiden größten Themen-Cluster erstreckt sich über den Erhebungszeitraum der Jahre 2019 - 2020. Im Jahr 2019 verbreiteten zwischen 18. Mai und 03. Juli 706 unterschiedliche User 926 Textbotschaften, die Opfer-Analogien zwischen Juden und Muslimen aufweisen. Opfer-Analogien zwischen Juden und AfD- Sympathisanten erstrecken sich über den Zeitraum des 03. Januar 2019 bis 17. Oktober 2020 und umfassen insgesamt 328 Textbotschaften von 120 unterschiedlichen Usern. Ein Großteil der Textbotschaften beider Themen-Cluster ist dem Nachrichtentyp Retweet Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 153 zuzuordnen, wodurch sich auch die hohe Anzahl der in Abbildung 5 visualisierten Verbreitungstechniken identischer Inhalte als sog. Share-Messages erklären lässt. Die Verbreitung von NS-Vergleichen findet am häufigsten über sogenannte Share- Messages statt: Die quantitativen Daten belegen, dass Textbotschaften des Typs Retweet mit einem Anteil von über 67 % am häufigsten als Multiplikator genutzt werden, um den Radius der Inhalte zu vergrößern. 21 % der Inhalte treten als Antworten, sogenannte Replies, auf, was ein Hinweis darauf ist, dass vor allem vorangegangene Tweets und Kommentare antisemitische Reaktionen evozieren. Nur 8 % der NS-Vergleiche werden als reguläre Tweets verfasst. Den geringsten Anteil an NS-Vergleichen umfassen Textbotschaften mit sog. Quotes, darunter fallen Textbotschaften, die mitunter ein Zitat eines anderen Users oder eines Dritten aufweisen. Deren Anteil beträgt unter 3 %. Diese prozentuale Verteilung von Retweets, Replies, Tweets und Quotes ist allerdings nicht ungewöhnlich. Sie entspricht in etwa der Verteilung aller Kurznachrichten auf Twitter, zumindest mit dem Stichwort “ Juden ” . Betrachtet man die Verteilung jedoch in einer Zeitschiene (Abbildung 5), fällt auf, dass die meisten Retweets im Sommer 2019 gesendet wurden. Dies geht zu einem großen Teil auf die Kampagne mit dem Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch zurück. Viele der Retweets dieser Kampagne vergleichen die Situation von Muslimen in Deutschland mit der Situation der Juden im Nationalsozialismus. Abb. 5: Verbreitungstechniken antisemitischer NS-Vergleiche in longitudinaler Abbildung der Zeitachse 5 Schlussfolgerungen Der Holocaust ist ein beispielloses Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Vergleiche im Sinne von Gleichsetzungen zwischen dem Holocaust und anderen Ereignissen oder Phänomenen verharmlosen damit meist indirekt den Holocaust, sind aber im Web 2.0 weit verbreitet. Unsere Studie zeigt, dass entsprechende NS-Vergleiche nicht nur in extremistischen Randbereichen des Internets vorkommen oder von einigen wenigen Personen verbreitet werden, sondern dass sie Bestandteil von Diskursen sind, die als 154 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Mainstream bezeichnet werden können. Sie erstrecken sich über das gesamte politische Spektrum jeglicher Couleur und nehmen unterschiedliche Formen an, ob als Täter- oder Opfer-Analogien oder anderweitigen NS-Bezügen. Mit beiden unserer Untersuchungsansätze, einmal mit überwiegend qualitativen und einmal mit überwiegend quantitativen Methoden kommen, wir zu ähnlichen, sich ergänzenden Ergebnissen hinsichtlich der Mechanismen und Themenkomplexe. Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass Opfer-Analogien, in denen NS- Vergleiche realisiert werden, die derzeit am häufigsten verwendete Analogieform in Online-Diskursen darstellt, zumindest auf X (ehemals Twitter): Die Verwendung von selbstviktimisierenden Analogien, wie sie von Coronaskeptikern, Muslimen oder AfD- Sympathisanten mit Juden in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgen, verweisen zugleich auf eine besonders perfide Form der Opfer-Analogie. In selbstviktimisierenden Analogien missbrauchen die Verfasser die Shoah, um ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Diskriminierungserfahrungen maximale Aufmerksamkeit zu verleihen, bei gleichzeitiger Nivellierung der Gräueltaten der Nationalsozialisten und Verhöhnung der Opfer des Holocaust. Sie setzen ihre eigene Situation in Eins mit der Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus. Ein ähnlicher Mechanismus, jedoch ohne direkte Selbstidentifizierung, findet sich in Opfer-Täter-Umkehrungen, die den Holocaust nutzen, um auf die Situation von Palästinensern im israelisch-palästinensischen Konflikt zu verweisen. Die Themen der Opfer-Analogien sind dominiert von aktuellen Themen wie Covid oder politischen Kampagnen. Auch das Projekt Decoding Antisemitism, das neben deutschsprachigen auch englisch- und französischsprachige Online-Diskurse untersucht, stellt fest, dass eine thematische Nähe zum israelisch-palästinensischen Konflikt (vgl. Becker, Ascone u. a. 2022), aber beispielsweise auch zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine (vgl. Chapelan, Ascone u. a. 2023), Auslöser für holocaustrelativierende Vergleiche und NS- Analogien sein können. Unsere Funde scheinen also über den deutschsprachigen Raum und die von uns erwähnten Themen/ Diskursauslöser hinaus relevant zu sein. Unsere Untersuchungen zeigen entlang des Hashtags #NichtOhneMeinKopftuch, dass Kampagnen einen bedeutenden Einfluss auf die Verbreitung von Holocaustvergleichen im Online-Diskurs haben können, in denen das Wort “ Juden ” als Symbol für Verfolgung benutzt wird. Diese Kampagnen zeichnen sich durch die rasante Generierung und Multiplikation von affektsteigernden Inhalten aus, die zunächst an ein spezifisches Publikum gerichtet sind und das Ziel haben, Leser und Gruppen zu aktivieren und sie zur Weiterverbreitung dieser Inhalte zu mobilisieren. Insbesondere im Kontext der Verbreitungsdynamiken wird deutlich, dass Share-Messages die vorherrschende Verbreitungstechnik von NS-Vergleichen darstellen und dass einseitige Viktimisierungen und Täterzuschreibungen an politisch verhasste Akteure NS-Vergleiche triggern. Diese Studie zeigt, dass X-/ Twitter-User das Zeichen des Holocaust missbrauchen, um die historische Realität der Shoah zu verzerren und zu vermindern. Indem sie die Situation von Covid-Skeptikern, AfD-Anhängern und Muslimen mit der Lage der Juden während des Nazi-Regimes vergleichen, lösen sie den Signifikanten (Holocaust) von seiner ursprünglichen Bedeutung (den systematischen Völkermord an sechs Millionen Juden). Dieser Missbrauch von Zeichen führt zu historischer Verzerrung und Trivialisierung. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 155 Auf konzeptueller Ebene verdeutlichen unsere Ergebnisse, dass NS-Vergleiche sprachliche Äußerungen abbilden, bei denen unweigerlich eine “ schleichende Nivellierung der Erinnerung ” (Salzborn 2020: 103) bei gleichzeitiger Verhöhnung der Opfer und Verfolgten erzielt wird. Insbesondere die von rechtsgerichteten Verfassern realisierten NS-Vergleiche beinhalten Schuldabwehrstrategien, die in Form des Entlastungsantisemitismus zum Ausdruck kommen. Auch die von Muslime und Migranten artikulierten NS-Vergleiche basieren auf dem kollektiven Gedächtnis und Wissen über den Holocaust und stellen über Äquativvergleiche eine Analogiebeziehung zu den Opfern der Shoah her. Im Unterschied zur Holocaust-Leugnung, die die historische Tatsache verneint und damit die Bedeutung des Zeichens Holocaust ablehnt und den Zweck hat, sich oder ein Kollektiv von Verantwortung und Schuld zu befreien, ist in Holocaust-relativierenden Vergleichen die Existenz des Holocausts Grundlage der Argumentation. In Vergleichen wird die Bedeutung akzeptiert, aber manipuliert, um ihren Erzählungen zu entsprechen. Dies zeigt, wie flexibel und manipulierbar Zeichen im Kontext des Holocaust und der NS-Geschichte sein können. Die Besonderheit der untersuchten Tweets liegt in ihrem instrumentellen Verhältnis zu Juden als (historische) Opfergruppe. Ihr Status als unschuldige Leidtragende eines bisher beispiellosen Menschheitsverbrechens wird im Rahmen einer Selbstviktimisierung zur Unterstützung des eigenen Standpunkts und Immunisierung gegen Kritik missbraucht. Die untersuchten Analogien folgen damit klaren (moralischen) Zuschreibungen: Diejenigen, die symbolisch als NS-Täter identifiziert werden, gelten als böse, brutal und amoralisch, “ stehen auf der falschen Seite der Geschichte ” . Diejenigen, die wiederum mithilfe des Zeichens “ Juden ” als Opfer konstruiert werden, gelten als unschuldig und ihre als Diskriminierung dargestellten Erfahrungen sind damit einhergehend unhinterfragbares Unrecht. So sollen all jene, die in diesem Zusammenhang als Opfer stilisiert werden, gegen Kritik immunisiert werden. Das vermeintlich gegenüber dem Nationalsozialismus kritische Bewusstsein wird instrumentalisiert, um das jeweilige Gegenüber in Form von Täter- Analogien so stark wie möglich zu diskreditieren. Das Publikum spielt bei dieser Konstruktion eine entscheidende Rolle. Die Zunahme von Nazi-Vergleichen könnte eine Verschiebung in der Interpretation des Zeichens des Holocaust in der Öffentlichkeit widerspiegeln. Möglicherweise ist dies Ausdruck eines beunruhigenden Trends, den Holocaust mehr als Metapher für Verfolgung, Unrecht und Diskriminierung zu sehen, anstatt ihn als einzigartiges historisches Ereignis anzuerkennen. Literatur Becker, Matthias J. 2018: Analogien der “ Vergangenheitsbewältigung ” . Antiisraelische Projektionen in Leserkommentaren der Zeit und des Guardian. Baden-Baden: Nomos (Interdisziplinäre Antisemitismusforschung, Bd. 8). Becker, Matthias J., Ascone Laura, Bolton, Matthew, Chapelan Alexis, Krasni Jan, Placzynta Karolina, Scheiber Marcus, Troschke Hagen, Vincent Chloé 2022: Decoding Antisemitism: Eine KI-gestützte Untersuchung von Hassrede und -bildern im Internet. Diskursreport 4: Technische Universität Berlin. Chapelan, Alexis, Ascone Laura, Becker Matthias J., Bolton Matthew, Haupeltshofer Pia, Krasni Jan, Krugel Alexa, Mihaljevi ć Helena, Placzynta Karolina, Pustet Milena, Scheiber Marcus, Steffen 156 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Elisabeth, Troschke Hagen, Tschiskale Victor, Vincent Chloé 2023: Decoding Antisemitism: Eine KIgestützte Untersuchung von Hassrede und -bildern im Internet. Diskursreport 5: Technische Universität Berlin. Döring, Nicola, Bortz Jürgen, Pöschl Sandra, Werner Christina S., Schermelleh-Engel Karin, Gerhard Carla, Gäde Jana C. 2015: Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. Berlin, Heidelberg: Springer. Früh, Werner 9 2017: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. Stuttgart, Deutschland: utb GmbH. Gerstenfeld, Manfred 2007: “ Holocaust Inversion: The Portraying of Israel and Jews as Nazis ” . https: / / jcpa.org/ article/ holocaust-inversion-the-portraying-of-israel-and-jews-as-nazis/ [5/ 10/ 2023]. 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Further sections deal with the relationship between words, images, and music, especially music and dance as symbols of religious content. The last section discusses the order of religious ideas in the narrative mode. Finally, considerations are given to religion ’ s genesis (even morphogenesis). Keywords: Religious signs, ban on images, music, narrative, morphogenesis, Cassirer, Peirce Zusammenfassung: Religion ist ein traditionelles Thema in der Semiotik und der Philosophie symbolischer Formen (Cassirer). In diesem Beitrag wird für das Studium der Religion eine innovative Art der Semiotik namens (morpho-)dynamische Semiotik zugrunde gelegt. Im Mittelpunkt stehen die Rolle von Zeichen in der Religion und das Phänomen des Bildersturms (Bilderverbot). Es herrscht in Religionen vor, die sich auf Heilige Schriften stützen (Judentum, Christentum und Islam). Die Ausweitung des Bilderverbots auf Skulpturen, Musik und schließlich auf Namen endet in einer Art “ Semioklasmus ” , d. h. jede zeichenhafte Vermittlung von Religion wird verboten. Weitere Abschnitte behandeln die Beziehung von Wort, Bild und Musik, und spezieller Musik und Tanz als Zeichen für religiöse Inhalte. Im letzten Abschnitt wird die Ordnung religiöser Vorstellungen im Erzählen thematisiert. Abschließend werden Überlegungen zur Genese (gar Morphogenese) des Religiösen angestellt. Schlüsselbegriffe: Religiöse Zeichen, Bilderverbot, Musik, Erzählung, Morphogenese, Cassirer, Peirce 1 Das religiöse Zeichen in einer dynamischen Semiotik 1 Als allgemeinstes Merkmal jeden Zeichens gilt, dass es sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht. Dabei mag das Andere auch wieder Zeichencharakter haben, muss es aber nicht. Im Gegenteil, man geht davon aus, dass jedes Zeichen letztlich (am Horizont aller Verweise) einen Verweis auf etwas Erfahrbares, real Existierendes aufweist. Diese Forderung ist schon deshalb notwendig, weil das Zeichenverhalten, z. B. im Falle der Sprache, in einer evolutionären Perspektive aus etwas Vorhandenem entstanden (emergiert) sein muss, das nicht selbst Zeichencharakter hatte. Als Zeichen kommen dabei nicht nur singuläre Zeichen (Zeichen-tokens) und deren wiederkehrender Typus (Zeichen-types), sondern auch Zeichenfolgen bzw. bei visuellen und musikalischen Zeichen Zeichenfelder oder -körper vor. Die Referenz auf Nicht-Zeichenhaftes setzt letztlich eine Welt, also nach Kant die Dinge an sich voraus. Die Skeptiker seit der Antike haben die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass es diese gar nicht gibt. Von der Skepsis behalten wir nur die Warnung, alle tradierten Urteile und Systementwürfe kritisch zu hinterfragen, nichts als endgültig sicher anzunehmen und im Allgemeinen keine Autoritäten anzuerkennen oder nach Anciennität zu urteilen. Die einzelnen Disziplinen unterscheiden sich in Bezug auf ihre Autoritätsgläubigkeit aber grundsätzlich: die Semiotik als relativ neue Disziplin verweist sehr häufig auf die Gründungsväter um 1900 oder auf wichtige Vertreter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, wie Jakobson, Hjelmslev, Sebeok 2 , Greimas 3 und Eco 4 . Da die Methoden empirischer Beobachtung oder gar die experimentelle Methodik sowie die statistische Induktion und Argumentation bei diesen Autoritäten (im Kontext ihrer Zeit) gar nicht präsent sind, dominiert eine interpretative (hermeneutische) Herangehensweise. 5 Immerhin hat Peirce in sehr systematischer Weise ein Raster von Unterscheidungen eingeführt und mit seiner Nähe zur Naturwissenschaft auch eine solide begriffliche Basis der semiotischen Untersuchungen geschaffen. Den Ausgangspunkt unserer theoretischen Überlegungen bilden jedoch neuere Entwicklungen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Für die morphodynamische Semiotik, wie sie René Thom seit 1972 vorgestellt und weiterentwickelt hat, ist Folgendes charakteristisch (auf weiterführende Aspekte in den Arbeiten von Prigogine und Haken können wir an dieser Stelle nicht näher eingehen; vgl. 1 Für eine umfassende Behandlung der dynamischen Semiotik von Mythos und Religion siehe Wildgen (2021). In Teil I werden u. a. auch Themen dieses Aufsatzes behandelt. Aspekte der Thematik sind auch Gegenstand in Wildgen (2022 und 2023: Kapitel 5) (in Englisch). 2 Thomas Sebeok (1920 - 2001) hatte bereits in den 40er Jahren zu philologischen und anthropologischen Fragen publiziert und begründete in den 60er Jahren die Zoosemiotik. 3 Algirdas Greimas (1917 - 1992) begann seine Serie wichtiger Arbeiten mit seiner Dissertation von 1948 zum Vokabular der Pariser Mode um 1830. Ausschlaggebend für sein späteres Werk war aber das Buch “ Sémantique structurale ” von 1966. 4 Umberto Eco (1932 - 2016), der vorher als Journalist gearbeitet hatte, trat 1962 mit Opera aperta. (dt. Das offene Kunstwerk) in die semiotische Diskussion ein. 5 Ich gibt immer wieder Versuche, mittels einer Logik, die aber meist nicht die modernen Entwicklungen seit 1900 als Basis hat, eine halbwegs formale Organisation der Modelle und Theorien zu gewährleisten (vgl. die logizistischen Ansätze bei Hjelmslev oder das “ semiotische Quadrat ” bei Greimas). Mathematisierungen kommen über mengentheoretische oder einfachste algebraische (siehe die generativen Ansätze zu einer Semiotik von Sprache oder Musik) nicht hinaus. 160 Wolfgang Wildgen Wildgen 2005). Für die Zeichen bedeutet dies aufgrund ihrer Verweisstruktur (siehe oben) zweierlei: 1. Die Zeichenformen bilden Gestalten auf einem kontinuierlichen und durch dynamische Felder strukturierten Hintergrund. Lediglich die äußeren Grenzen sind allgemein festgelegt, so die Wahrnehmungsschwellen und die Begrenzungen in der Bewegung der Artikulationsorgane sowie die Grenzen des Gedächtnisses. Alle übrigen, die sogenannten kategorialen Grenzen, werden in der Morphogenese des Zeichensystems erst gesetzt und verlangen eine dynamische Erklärung ihrer Konstitution. 2. Die Zeicheninhalte, ob sie die Außenwelt oder die mentale Innenwelt als Bezug haben, sind auch nicht kategorial vorgegeben, sondern sie sind das Ergebnis von Prozessen der Morphogenese und der Selbstorganisation. Die Formgebung ist auch hier das primäre Ereignis. Eine rein kombinatorische, mosaikartige Zusammenfügung (die für den Strukturalismus die Regel ist) stellt dagegen nur eine Möglichkeit dar, die unter sehr spezifischen Bedingungen in den Vordergrund treten kann. Diese Charakterisierung des Zeichengebrauchs ist auch im Falle der religiösen Zeichen und der Verständigung mit ihnen gültig. Der religiöse Zeichengebrauch bildet jedoch insofern einen Randbereich, als eine externe, referenzorientierte Kontrolle des Zeichengebrauchs und des Erfolgs der Verständigung durch Zeichen nur sehr begrenzt möglich ist. Die Bedeutung im Sinne einer Referenz dieser Zeichen, z. B. des Wortes “ Gott ” oder der visuellen Darstellungen Gottes kann man nur im Kontext weiterer Verhaltensformen und anderer Zeichen, die parallel vorkommen, zuverlässig erschließen. Cassirer hat gezeigt, dass es entscheidende Unterschiede des Zeichengebrauchs einerseits zwischen Sprache und Mythos (im weiteren Sinn auch der Religion) und andererseits zwischen Sprache und wissenschaftlichem Denken (besonders in mathematisierter Form) gibt. Im Falle des Mythos, besonders deutlich in der Magie, ist die kognitive Distanz zwischen Zeichenform und Zeicheninhalt gering, in der Tendenz kann sie sogar aufgehoben sein. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Dämon durch die Nennung seines Namens herbeigerufen wird; er ist quasi an seinen Namen gebunden. Dagegen ist im mathematischen Kalkül der Objektbezug so abstrakt und nur in spezifischen Anwendungen gesichert, dass manche Mathematiker ihn gar für überflüssig halten. Das “ pro aliquo ” , das “ stellvertretend für ” in der klassischen Zeichendefinition von Augustinus, kann von einer Identität (im Falle der Magie) bis zur einer möglichen, aber nicht notwendigen und hinreichenden Beziehung reichen (im Falle der Mathematik). Die Spezifikation der Objektbeziehung bei Peirce als Skala von indexikalisch > ikonisch > symbolisch ist eine mögliche Unterteilung dieses Kontinuum, wobei die magischen Zeichen primär indexikalisch, die mathematischen Zeichen primär symbolisch sind. Die ikonische Beziehung füllt in unterschiedlichen Abstufungen die Lücke zwischen beiden aus. Das Klassifikationssystem von Peirce erweist sich aus wissenschaftshistorischer Sicht als abhängig von Strukturen einer zweiwertigen Logik in der Nachfolge der antiken und mittelalterlichen Logik, in der eine infinitesimale Betrachtungsweise undenkbar erschien. Dies hat sich aber seit Newton und Leibniz im späten 17. Jahrhundert verändert und sollte auch für den Bereich der Semiotik (letztlich auch für den der Logik, deren Verallgemeinerung nach Peirce die Semiotik darstellt) gelten. Dynamische Religionssemiotik 161 Im Mythos wird besonders deutlich, dass die Zeichenorganisation nicht klassisch logischen Formen entspricht, dass Kontinua, zwischen Mensch und Tier, Mensch und Gott vorausgesetzt werden, dass der Zeichenbenützer quasi instrumentell auf die Wirklichkeit zugreift, diese beeinflussen ja formen kann. Dennoch liegt keine Beliebigkeit, keine Zufälligkeit ohne Formgebung vor. Es mag keine Logik des Mythos, im Sinne der traditionellen Logik geben, aber es gibt rationale, der natürlichen Vernunft des Menschen genügende Organisationsformen in diesem Bereich. Die Vorstellungswelten sind in Bezug auf die Wirklichkeitsbewältigung unter den Lebensbedingungen der jeweiligen Ethnien ähnlich effektiv und zufriedenstellend, wie unsere Vorstellungswelten unter den Bedingungen einer technisierten und globalen Gesellschaft. 2 Wort, Bild oder Musik. Formen der Kommunikation über Gott (und deren Verbote) Ausgangspunkt unserer Überlegungen in diesem Abschnitt ist das biblische Bilderverbot im zweiten Buch Mose des Pentateuchs (Moses, Buch 2, 20, 4): Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder von dem, was im Himmel ist, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. (Luther- Bibel 1985: 80b). Im 3. Buch Mose, 26, 1 heißt es: Ihr sollt euch keine Götzen machen und euch weder Bild noch Steinmal aufrichten, auch keinen Stein mit Bildwerk setzen in eurem Lande, um davor anzubeten, denn ich bin der Herr, euer Gott. Das Gebot richtet sich eindeutig gegen den Götzendienst der Religionen, mit denen Israel in Ägypten, in Mesopotamien und danach im hellenistisch-römischen Kulturraum konfrontiert war. Als Aaron während der Abwesenheit von Moses, der Gott im Sinai-Massiv begegnete, ein goldenes Kalb machen ließ, damit das Volk etwas Sichtbares zur Verehrung hatte, verstieß er eklatant gegen dieses Gebot. Für Fromm (1966) ist es das Verbot des Götzendienstes, das die israelitische Religion aus allen anderen zeitgenössische Religionen heraushebt und damit den Kern der religiösen Innovation darstellt. Die Konkretisierung im 3. Buch Mose engt den Abbildbegriff auf “ Bild ” , “ Steinmal ” und “ Stein mit Bildwerk ” ein. In der allgemeinen Formulierung der zehn Gebote allerdings ist ein sehr allgemeines Verbot von Bildern (Darstellungen) nicht nur von Gott, sondern von allem, was über, auf und unter der Erde existiert, ausgesprochen. Jedes ikonische Zeichen könnte damit gemeint sein, ob sprachlich, bildnerisch oder gar musikalisch. In der weiteren religiösen Entwicklung im Judentum, Christentum und Islam, für die ja der Pentateuch eine gemeinsame Basis darstellt, sollten die verschiedenen Lesarten alle eine Rolle spielen. Da damit im Extremfall der Wert von Zeichen, ihr Gebrauch in religiösen und anderen Kontexten in Frage gestellt wird, kann man am Horizont das Verbot jeden Zeichengebrauchs erkennen. Da aber gerade der Gebrauch von Zeichen, jenseits der Körpersprache oder eines tierischen Signalisierens, also von Sprache, visueller Kunst, Musik ein zentrales Merkmal des Menschen ausmacht, hieße dieses Verbot quasi das Verbot Mensch zu sein und würde, zumindest im Kontext der Religion, einen Regress in vormenschliche Zustände erzwingen. Es muss sich also um ein Beispiel der Überinterpretation handeln, wie sie Umberto Eco (1992) anhand der herme- 162 Wolfgang Wildgen tischen Schriften oder der Suche nach geheimen Botschaften in Dantes “ Göttlicher Komödie ” diskutiert. Eco fordert eine Reihe von Kriterien, wie etwa die Ökonomie der Erklärung oder deren Vollständigkeit, die keine unerklärten Reste stehen lässt, oder die Beseitigung von Widersprüchen zu anderen bereits gesicherten Interpretationen (also den Unterschied zwischen einem leichtsinnigen, voreiligen Detektiv und einem skrupelhaft alle Indizien prüfenden und bewertenden Kriminologen). 2.1 Götzenbilder im Nahen Osten und die Darstellungen Gottes in der Bibel Es gibt natürlich eine lange Tradition der bildlichen Darstellung “ heiliger ” , oder zumindest den Alltag transzendenter Wesen seit dem Paläolithikum, z. B. in den Höhlenmalereien und den Figurinen seit etwa 40.000 J. v. h. (vgl. dazu Wildgen 2013). Die religiösen Kulte in Mesopotamien, Ägypten und Indien haben diese Tradition fortgesetzt und im Kontext komplexer Stadtkulturen und organisierter Priesterschaften weiterentwickelt und kodifiziert. In Ägypten stand auch die Entwicklung der Schrift im Dienst der religiösen Kulte. Sie wurde begleitet von Darstellungen durch Architektur, plastische Gebilde und Bebilderungen. Das Bilderverbot des Pentateuchs und in der Folge das der anderen Schriftreligionen, die sich auf die Tradition Abrahams beziehen, das Christentum und der Islam, ist klar eine Negation dieser Tradition, eine Abgrenzung gegenüber diesen Kulturen. Diese Entwicklungstendenz des Judentums war insbesondere durch den Exodus aus Ägypten unter Moses (falls man dem biblischen Bericht glaubt) und dann durch das historisch gesicherte Exil in Babylon motiviert. Die ursprünglich nomadische Hirtenkultur Israels mag im Kontext anderer nahöstlicher Hirtenkulturen ebenfalls zu einer kritischen Distanz gegenüber diesen Stadt- und Herrschafts-Kulturen beigetragen haben. 6 Dabei spielten komplizierte semiotische Prozesse und deren Reflexion im religiösen Diskurs eine zentrale Rolle. Ich will die Problematik an drei ausgewählten Szenarien betrachten. 1. Beim Exodus aus Ägypten stehen sich Moses, der eigentlich ein kultureller Vermittler ist, insofern er in der ägyptischen Hofkultur aufgewachsen ist, aber dem Volk Israel angehört, und der Pharao, selbst ein Gott im ägyptischen Glaubens-System, gegenüber. Moses muss sich in dieser einseitigen Konfrontation auf seinen Gott und dessen himmlische Heerscharen verlassen. Nach der gelungenen Befreiung aus der Herrschaft des Pharaos und der Begegnung mit Gott zuerst in der Wüste beim brennenden Busch und schließlich auf dem Berg im Sinai, verwandelt sich Moses in einen Halbgott. Bei der Rückkehr vom Berg leuchtet sein Antlitz und löst einen heiligen Schrecken bei den Israeliten aus (in einer anderen Interpretation, die Michelangelo bildnerisch aufgreift, trägt er Hörner, ein Urbild des Stiers als göttlicher Erscheinung). Er wird quasi dem Pharao gleichgestellt, der auch göttlich aber sterblich ist. Moses lässt das während seiner Abwesenheit als Ersatzfigur geschaffene “ Goldene Kalb ” zerstören, dem die Israeliten auf 6 Eliade (1976: § 76) verweist auf den Ahnenkult vieler Hirtenvölker, der familienbezogen war und darin bestand, den “ Gott meines Vaters ” zu verehren. In ähnlicher Weise wird Jahwe als der “ Gott Abrahams ” , in einer ersten Erweiterung als der “ Gott Israels ” bezeichnet. Dieser Gottesbegriff passt auch in die patriarchalische Struktur Israels vor der Landnahme und der sukzessiven Annäherung an die in Palästina vorgefundenen Kulte und sozialen Organisationen. Durch die eher lose Verbindung der zwölf Stamme, die auch dezentrale (bezogen auf Juda und Jerusalem) Gebiete besiedelten, bildete die ursprüngliche Hirtenkultur weiterhin einen religiösen und kulturellen Hintergrund. Dynamische Religionssemiotik 163 ihrem Weg durch die Wüste folgen wollten. Indem er das Götzenbild ersetzt, wird er selbst zum (sterblichen) Gott, dem das Volk Nachfolge leistet. Als er im Anblick des Gelobten Landes stirbt, ergibt sich die Frage, wer ihn ersetzen kann. Daniel, der das von Moses schon erblickte Jericho einnimmt, und danach die Heerführer, später mit Saul, David und Salomon die Könige, treten in diese großen Fußspuren. Im Sinne der Prägnanztheorie von René Thom (in seiner Semiophysik, Thom 1988; vgl Wildgen 2009) geht zuerst die Prägnanz des Gottes (YHWH) auf Moses über und von diesem auf die Heerführer und schließlich die Könige (in der weiteren Folge auf Personen in der Filiation Davids, z. B. auf Christus). Man kann sagen, es gibt eine Aufspaltung der göttlichen Prägnanz, so dass Moses und die Nachfolger daran partizipieren, stellvertretend (repräsentativ) agieren. Der nur als Wolkensäule, Donner und Blitz und in seinen Taten (Hilfe oder Strafe) wahrnehmbare Gott wird in einer menschlichen Gestalt sichtbar, fassbar. Als solcher kann er auch verantwortbar gemacht werden. Später treten die Seher und Propheten in diese Rolle ein und es ist kein Zufall, dass Jesus auf seinen Wanderungen und den öffentlichen Auftritten nach der Ermordung von Johannes dem Täufer im Stile der alttestamentarischen Propheten auftritt. Am Kreuz wird er als “ König der Juden ” stigmatisiert. Seine Position ist so ambivalent, wie die (von den Hohepriestern ironisch gemeinte) Bezeichnung “ König der Juden ” . In seiner Funktion als Prophet verweist er zwar auf die Prophetenbücher (von Jesaja, Jeremia und anderen), mit seinem Anspruch, “ Sohn Gottes ” , d. h. von göttlicher Natur zu sein, übersteigt er aber am Ende diese Rolle. 7 Es gibt zwar auch in den antiken Religionen Halbgötter, gezeugt von einem Gott mit einem Menschen, sie nehmen aber nicht die zentrale Rolle ein, die z. B. Moses im Judentum, Christus im Christentum und Mohammed im Islam besetzen. 8 2. Bei der Eroberung des “ Heiligen Landes ” durch die Stämme Israels kommt es trotz der radikalen Ermordung der Bevölkerung (sogar der Tiere) in den eroberten Städten (siehe die Berichte in der Bibel), zu einem kulturellen Ausgleich mit den eroberten Ethnien; dies ist später auch im Zweistromland Mesopotamien ein sich wiederholender Typ von Konfrontation und Amalgamierung. In Israel ist die Kultur der Kanaaniter mit ihrem Baal-Kult zuerst ein Ort der Integration. Jahwe wird mit Baal quasi identifiziert, ersetzt ihn, 9 daneben werden aber sowohl heilige Steine und insbesondere Holzfiguren, die für die Göttin Asherah neben Baal stehen, 10 lange Zeit akzeptiert (vgl. Herring, 2013: 56 - 67). Der Tempelkult wird weitgehend dem der Kanaaniter angeglichen, ja der Tempel, der das 7 Da wir keinen Beweis außerhalb der frühestens Ende des ersten nachchristliche Jahrhunderts verfassten Schriften haben und der Streit über die Auslegung dieser Frage die frühe Christenheit gespalten hat, muss die Frage, ob Jesus diesen Schritt tatsächlich gegangen ist, offen bleiben. 8 Mohammed hat sich dieser Option ausdrücklich verweigert und den Islam damit von Christentum abgehoben; praktisch und historisch sind er und die von ihm autorisierten Schriften aber ebenso der Angelpunkt der Religion wie im Falle des Christentums. 9 Dies zeigt sich u. a. in der Verwendung des Wortes “ El ” . Plural “ Elohim ” für den Gott Israels. El war auch eine vor-jüdische Gottheit, bzw. Bezeichnung für Gott, die auch im Wort “ Allah ” steckt. Im Norden Israels hielt sich der Baal-Kult, der ursprünglich aus Ugarit stammte, länger. 10 In gewisser Weise wird die männlich-weibliche Konstellation von Baal und Asherah im geschlechtslosen, aber primär als männlich gedachten Gott Jahwe zusammengeführt. In der christlichen Entwicklung, insbesondere im apokryphen Jakobus-Evangelium, wird die männlich-weibliche Besetzung des Zentrums mit Jesus - Maria wieder eingeführt. 164 Wolfgang Wildgen Bundeszelt mit der Bundeslade ersetzt, ist selbst eine rituelle Übernahme von den benachbarten Kulten. Das Zelt verwies deutlich auf den ursprünglich nomadischen Charakter der israelitischen Stämme. Deren Vereinigung unter der Bundesvereinbarung mit Jahwe nimmt die spätere Vereinigung der Wüstenstämme Arabien unter Mohammed vorweg. Überhaupt sind diese beiden Momente, die (wohl im Falle Israels über einen längeren Zeitraum erfolgte) Zusammenführung der nomadischen Stämme in Hinblick auf eine erfolgreiche Eroberung eines reichen Landstrichs (wo “ Milch und Honig fließt ” ) und die anschließende Integration von entwickelten Kulturtraditionen in die eigene Kultur der Schlüssel zur besonderen Geschichte des Volkes Israel. 3. Der dritte und entscheidende Schritt, der schließlich zur endgültigen Gestalt des alttestamentarischen Bibelberichts führte, ist der Exil der tragenden Schichten nach der Eroberung Jerusalems und des Reiches Juda durch die Babylonier (597 v.Chr.). Das Exil dauerte bis 539, als der persische König Babylon eroberte. In diesen 60 oder 70 Jahren 11 hatte sich einerseits die jüdische Theologie unter dem Einfluss der Kultur Babylons und auch in Abgrenzung zu ihr verändert; in den früheren Teilreichen Juda und Israel war die Religion durch Vermischung mit anderen Bevölkerungen eher verblasst. Die Rückkehrer hatten somit nicht nur die Aufgabe den Tempel neu zu bauen, auch die Festigung der Theologie sollte durch eine verbindliche “ Neufassung ” der Traditionen und der endgültigen Fixierung des Pentateuchs gesichert werden. Wir finden also eine dritte Innovations- und Konservierungs-Dynamik vor. Sie bereicherte nicht nur die Kosmogonie des Pentateuchs durch Elemente, die klar auf babylonische Schöpfungsberichte (z. B. das Gilgamesch-Epos und andere Quellen) verweisen; es findet auch eine radikale Abgrenzung statt. Im babylonischen Kultus werden die Abbilder von Göttern durch Riten des “ Mund-Waschens ” und des “ Mund-Öffnens ” (vgl. Herring, 2013: 26ff) geheiligt, d. h. der Gott bezieht diese Gegenstände. Er kann sie auch wieder verlassen. Insofern ist er nicht mit ihnen identisch, sie leihen ihm quasi ihre Gestalt, so dass die Gläubigen den Gott darin “ sehen ” können. Semiotisch liegt hier die Problematik der absoluten Referenz am Horizont der Zeichenbeziehung vor. Das Götzenbild ist ein Zeichen, das dem Gott eine kollektiv wahrnehmbare Gestalt gibt und ihm damit einen konkreten Platz im Tempelkult zuweist. Die Investition des Bildes mit dem göttlichen “ Geist ” erfolgt in einem jährlich bei der Neujahrsfeier wiederholten Ritual; sie bleibt aber immer unsicher, da die Präsenz des Gottes nicht indexikalisch (d. h. raum-zeitlich und kausal) gesichert ist. Dagegen ist dieser indexikalische Bezug, wenn Gott sich als Feuersäule, Blitz und Donner manifestiert, eher gesichert. Die Kritik, ja der Spott der jüdischen Theologen richtet sich gegen den Artefakt-Charakter des Götzen. Wenn er aus Holz ist, so wurde ein Teil des Holzes zum Feuermachen benützt, d. h. verbrannt, ein 11 Man geht davon aus, dass etwa 10.000 Personen in einzelnen Schüben nach Babylon gingen. Dort konnten sie eigene Gemeinden bilden und integrierten sich so erfolgreich, dass sie viele einflussreiche Positionen am Hof und beim Militär einnehmen konnten. Die weiter gewachsene jüdische Bevölkerung verteilte sich nach der Übernahme der Macht durch die Perser. Ein Teil blieb in Babylon und bildete eine starke jüdische Gemeinschaft, die bis in die Moderne großen Einfluss hatte und auf die der babylonische Talmud zurückgeht. Ein Teil wanderte entlang der Seidenstraße nach Osten und schuf dort langanhaltende Gemeinden. Etwa 1600 Personen kehrten nach Jerusalem zurück, in der Hauptsache Priester, Leviten und Tempelangehörige. Um 530 wurde der Tempel neu errichtet. Dynamische Religionssemiotik 165 anderer Teil vom Zimmerer zum Hausbauen verwendet, schließlich kann ein weiterer Teil zu einem Götzenbild verarbeitet worden sein. Dieses ist also deutlich erkennbar Menschenwerk. Als Repräsentation eines Gottes bleibt es ein willkürliches Zeichen. Diese Willkürlichkeit ist auch, wie Saussure am Beispiel der Sprache gezeigt hat, gerade ein Merkmal von (sprachlichen) Zeichen. Lehnt man diese (partielle) Arbitrarität grundsätzlich ab, ergibt sich in der Folge das Problem, wie man überhaupt Zeichen im religiösen Kontext verwenden kann (ohne Zeichen gibt es keine Kommunikation, also auch keine Religion). Insbesondere eine Religion, die über den Status einer Naturreligion, die sich ausschließlich auf als kausal interpretierte natürliche Zeichen beruft, hinausreicht, einen Ritus und Institutionen begründet (z. B. einen Tempel baut, in dem die Priesterschaft komplizierte Opfer und Anbetungen vollzieht) benötigt nicht nur spontane Zeichen, etwa Wunder, sondern ein konventionell etabliertes System von Zeichen. Das Bilderverbot scheint eine solche Komplexität und damit soziale und politische Stabilisierung auszuschließen. De facto wird das Bilderverbot (bzw. allgemeiner das Zeichenverbot) auch in keiner Religion konsequent umgesetzt. Stattdessen werden die Bilder in einem Abstraktionsprozess immer von neuem reduziert, ihrer konkreten Gestalt entkleidet. Bereits in paläolithischen Zeichnungen zeigt sich gegen Ende der Eiszeit eine Reduktion bildhafter Zeichen auf Konturen, schematische Figuren, gar auf schriftähnliche Linienzüge (vgl. Wildgen, 2004: Kapitel 5 und 2013: Kapitel 2). Im Fall eines Götzenbildes, das einen Menschen oder ein Tier darstellt, findet man häufiger den Übergang von der vollen Figur einer Bronzeplastik zur Benützung der Hörner (des Stiers) als religiöses Zeichen (siehe den Moses von Michelangelo) und schließlich die Transformation eines Bildzeichens für den Stier in den Buchstaben A in den Schriftsystemen Palästinas, Phöniziens, Griechenlands und heute. 12 Die menschliche Figur kann ebenfalls zur Teildarstellung von Kopf oder Rumpf, zum Pfahl (der auch die Darstellung eines Penis oder eines Baumes sein kann) reduziert werden. Schließlich kann ein Stein, auf dem ein Mensch ruhte, z. B. im Fall von Jakob, als er von der Himmelsleiter träumte, für Gott stehen. Ein Haus, das über dem Stein errichtet wird, ist dann ein Haus Gottes. Dieses Haus kann ein Ort sein, wo sich gelegentlich Gott aufhält; es ist dann geheiligt, “ konsekriert ” ; es kann entheiligt werden, z. B. als die französischen Revolutionstruppen Kirchen als Pferdeställe nutzten, und diese erneut konsekriert werden mussten. Die Bundeslade der Israeliten war ein Behältnis, das unbekannte heilige Objekte enthielt und später im Tempel dessen heiligen Kern darstellte. In diesen vielfältigen Transformationen mag der Bild- und Artefakt-Charakter immer undeutlicher werden, die semiotische Operation der ikonischen oder diagrammatischen Darstellung bleibt aber dieselbe. Es war deshalb naheliegend, dass das Bilderverbot auch auf die Sprache und die Schrift ausgedehnt wurde. 12 Siehe auch Friedrich (1966: 202) für die Transformation des Bildzeichens für Stier in den Keilschriften im Frühbabylonischen und Assyrischen und in den späteren Alphabeten. 166 Wolfgang Wildgen 2.2 Der Namen Gottes und die Benennung von Fauna und Flora Die Objekte der von Gott geschaffenen Welt, z. B. Himmel, Wasser und Erde, insbesondere die Tiere und Pflanzen haben in der jeweiligen Sprache Namen. In der Kosmogonie des Pentateuchs gibt Adam den Tieren und Pflanzen ihre Namen. Sie machen diese Wesen erst durch die Namensgebung zur Wirklichkeit (für den Menschen). Es handelt sich also um eine zweite Schöpfung, die Adam vornimmt. Sie bringt ihm auch die Herrschaft über die Dinge dieser Welt (indirekt durch seine Benennungsbefugnis) ein. Im Fall Gottes wird diese naive Zeichenlehre zum Problem. Wenn der Mensch Gott einen Namen gibt, erschafft er ihn quasi erneut, also hat er auch Herrschaft über ihn. In der Tat zeigt das Verhandeln von Abraham mit dem Gott Israels, dass Abraham zumindest ein Mitspracherecht hat, d. h. der Zugriff Israels auf seinen Gott ist durchaus im Bewusstsein der Israeliten vorhanden. Dieses Privileg unterscheidet Israel von allen übrigen Menschen, für die Jahwe als universaler Gott ebenfalls Geltung beansprucht. Trotz dieses Zugriffs in der Verhandlung Abrahams mit Gott stellt die Namensgebung ein Problem dar, denn im Namen wird Gott konkretisiert wie im Götzenbild. Es kommt also zu einer Ausweichbewegung wie im Falle der Bilder. In der Begegnung Gottes mit Moses frägt dieser ihn, wie er sich vor dem Volk als Gesandter Gottes legitimieren kann, falls sie fragen: “ Wie ist sein Name ” (2. Buch Mose 3: 33). Gott antwortet: “ Ich werde sein, der ich sein werde ” , d. h. er vermeidet eine konkrete Selbstbenennung. Aus dem hebräischen Verb “ sein ” werden bei der üblichen Nichtschreibung der Vokale YHWH, bei Einsetzung von Vokalen Jahwe (im Mittelalter irrtümlich zu Jehova ausbuchstabiert). Die Vermeidung des Namens wird später auf die Zuweisung von Eigenschaften ausgedehnt. Zumindest für Gattungsnamen, wie Baum, Pferd, Mensch gilt, dass man sie auch durch eine Liste von Prädikaten (Eigenschaften) definieren kann, z. B. Mensch = sprechendes, denkendes Wesen. Dies ermöglicht eine Darstellung Gottes durch die Menge seiner Eigenschaften oder in der negativen Theologie durch eine sukzessive Negation von Eigenschaften, womit er sich von alltäglichen Dingen abhebt. Auch diese indirekte “ Benennung ” Gottes kann unter das Bilderverbot fallen und damit abgelehnt werden. Im biblischen Kontext ergibt sich ein weiteres Problem. Insofern der Mensch ein Abbild Gottes ist (vgl. Gen 1: 26-28), kann man auch die Bilder von Menschen verbieten, da diese indirekt Gott, das Urbild des Menschen, darstellen. Insofern die Schriftzeichen historisch aus Bildzeichen entstanden sind, könnte man auch die Schrift als Bild des Menschen sowie der geschaffenen Wesen und damit indirekt Gottes betrachten und müsste sie danach ablehnen. In der Konsequenz wäre nur die mündliche Überlieferung vom Bilderverbot auszunehmen. Eine Skepsis gegenüber der Verschriftung von religiösen Inhalten ist historisch mehrfach belegt und die Religionsgründer Buddha sowie Jesus haben ihre Lehre ausschließlich mündlich verbreitet. 2.3 Weitere semiotische Aspekte des Bilderstreits Der Bilderstreit prägt insbesondere die Schriftreligionen. Im Islam ist er bis auf Ausnahmen in der persischen Buchmalerei weit verbreitet. Neben Abbildern Gottes sind auch solche des Menschen verwerflich. Auch das Schachspiel ist verboten, da die Figuren “ Schatten werfen ” , d. h. vollplastisch sind. Die Intention ist wie im Judentum zuerst gegen den Götzendienst Dynamische Religionssemiotik 167 gerichtet, wird aber dann verallgemeinert. In Moscheen und in Koranabschriften befinden sich in der Regel keine Bilder. Im Christentum wurde die ersten beiden Jahrhunderte das jüdische Bilderverbot beachtet. Danach kam es teilweise zu einer überwuchernden Verehrung von Bildern und Reliquien, so dass es im 8. und 9. Jahrhundert zum byzantinischen Bilderstreit kam. Kaiserin Theodora beendete 843 den Bilderstreit und ließ die Bilder in den Kirchen wiederherstellen. In diesem Konflikt zeigte sich auch eine Differenz zwischen Volksfrömmigkeit und der Religionspraxis der Eliten, insbesondere der Priester. In der byzantinischen Kirche sind letztere die Träger religiöser “ Geheimnisse ” und dürfen als einzige den sakralen Raum hinter der reich bebilderten Trennwand betreten. Für die einfachen Gläubigen sind die Ikonen, die auch im privaten Gebrauch verfügbar sind, der eigentliche Ansatzpunkt ihrer Frömmigkeit. In den Religionen, in denen ein weitreichendes Bilderverbot galt, waren davon meist die Abbilder charakteristischer Objekte ausgenommen, so der siebenarmige Leuchter für die Synagoge, die Verwendung geometrischer Muster und Figuren (so der Davidstern). Die Wanddekorationen im Islam verbinden komplexe geometrische Muster mit kaligraphisch gestalteten Schriften, die meist einen Verweis auf Suren des Korans enthalten. Insgesamt liegt eine Reduktion figurativer Bildstrukturen entweder auf wenige charakteristische Gebrauchsobjekte, so der Leuchter, auf abstrakte Bildmuster und kalligraphische Schriftzüge vor, d. h. die Bildsprache wird verarmt und abstrahiert. Das Bilderverbot im Islam richtete sich primär gegen den vom Islam abgelösten Götzendienst. So wird berichtet, dass Mohammed im Jahre 630 n. Chr. die Kaa ’ ba umreitend alle Götzenbilder umgestoßen habe. Im Inneren soll er nur das Bild von Maria mit dem Jesuskind verschont haben; vgl. Almir (2004: 97). Dieser Reinigungsakt, d. h. die Beseitigung der Symbole einer Vorgänger-Religion ist aber kein Bilderverbot. Als zusätzliche Motivation des Bilderverbots gilt, dass das menschengemachte Bild als Täuschung, Betrug angesehen und der von Gott gemachten Schöpfung gegenüber gestellt wurde. Eine solche Täuschung war insbesondere bei Skulpturen (die “ Schatten werfen ” ) und lebhaft darstellenden Menschenabbildern zu vermeiden. Gegen diese richtete sich deshalb auch das Verbot in erster Linie. Im Bereich der Ostkirche (Byzanz) kommt es nach der Aufhebung des Bilderstreits zu einer Kompromisslösung. Die Ikonen der griechischen und russischen orthodoxen Kirche sind nicht mehr der persönliche Ausdruck eines Künstlers, der sich ein Bild der religiösen Personen und Objekte macht; sie werden streng nach einem vorgegebenen Schema hergestellt und verdecken häufig die Körperteile der Figuren durch metallische Flächen, die auch von den Gläubigen berührt werden können. Bilder sind wie Rituale fest in einem Kanon verankert und kein Ausdruck individueller Anschauung. Die Ikonen werden unter kirchlicher Aufsicht (meist in Klöstern) hergestellt und geweiht. Sie gelten im orthodoxen Ritus nicht als bildhafte Darstellungen, sondern sind dem Wort gleichgestellt, durch das sich Gott dem Menschen mitteilt. Sie werden nicht gemalt, sondern geschrieben und die Künstler werden als “ Ikonenschreiber ” bezeichnet. Dies zeigt sich in der schemenhaften Gestaltung, die quasi die diskret kombinatorische Gestalt der Schrift nachahmt und im Verzicht auf die Dynamik der Bewegung, im Mangel an Kontextualität, an zeitlichräumlicher Verortung der Figuren. 168 Wolfgang Wildgen 3 Musik und Tanz als Zeichen für religiöse Inhalte Gesang und instrumentale Musik sind ein Menschheitserbe und wohl genau so alt wie die menschliche Sprache, mit der sie eng verbunden sind. Der Tanz ist das Bewegungs- Äquivalent der musikalischen Rhythmik und der emotionalen Inhalte der Musik (vgl. dazu Wildgen, 2018: 19 - 23). Ebenso universal ist auch die Verbindung von Musik und Religion. Wie im Fall der visuellen Semiotik gab es in den Schriftreligionen sowohl Einschränkungen (vergleichbar mit dem Bilderverbot) als auch eine begeisterte Frömmigkeit ausgedrückt in musikalischen Formen. Ich will dies exemplarisch an einigen Momenten der Musikgeschichte in den drei Schriftreligionen zeigen. Im Judentum gab es sicher bereits vor der Landnahme in Palästina, also in den Hirtenstämmen der Halb-Wüste, einfache Formen des religiösen Gesangs und einfache Instrumente. Aber erst aus der Zeit des Tempels, d. h. unter David und Salomon gibt es Berichte über die musikalische Gestaltung. In der Zeit des babylonischen Exils waren jüdische Musiker in den Chören und Orchestern Babylons tätig und diese Erfahrung konnten sie nach der Rückkehr in den jüdischen Tempeldienst einbringen. Mit der Zerstörung des Tempels durch Titus wurde diese Tradition jäh abgebrochen und die Synagogen übernahmen nur die Lehr-Funktion des Tempels, d. h. ohne Opfer und Priesterschaft. Der Schwerpunkt lag auf dem Vortrag der Schriften (der Thora); diese Lesung wurde intoniert, d. h. mit musikalischen Akzenten und einer einfachen Melodieführung versehen. Die Musik war dabei streng der Sprache/ Schrift untergeordnet. Sie durfte nur unwesentlich verziert werden, da der Text und dessen Verständlichkeit im Vordergrund standen. Diese Beschränkung, die in ähnlicher Weise für den christlichen Gottesdienst gilt, kann man als eine Art des musikalischen “ Bilderverbots ” , bzw. der Einschränkung der musikalischen Kommunikation mit dem Transzendenten auffassen. Den Gegensatz zu dieser Verbotstendenz bildet die durch eine jüdische Mystik motivierte Hervorhebung der Musik im Chassidismus. Musik und Tanz und eine “ fröhliche Seele ” werden als Kern des Gottesdienstes betrachtet. Der dem Gesang zugrunde liegende Text wird dramatisch reduziert, oft zur musikalischen Silbe, und die emotionale Bewegung aus Tanz und Musik gilt als der adäquate Ausdruck religiöser Begeisterung. Neben der religiösen Musik entsteht auch eine Volksmusik, bis heute im Klezmer sehr beliebt, die auf die Traditionen der religiösen Musik im Judentum aufbaut. Religion und mystische Vertiefung, ja Ekstase sind in vielen alten Religionskulturen, so auch in den polytheistischen Religionen zentrale Elemente und es ist eher ein Alleinstellungsmerkmal der Schriftreligionen, dass die Relevanz musikalischer Zeichen und Zeichengebung zurückgedrängt, ja stigmatisiert wird. Die mystische Bewegung des Sufismus führt auf dem Hintergrund zuerst des schiitischen Islams, die Poesie, Musik und Tanz als religiöse Praxis ein. 13 Nicht das Gesetz, nicht die Theologie der Imane, sondern das nichtrationale religiöse Erlebnis bilden die Substanz der Gotteserfahrung. Der Tanz verweist auf die Bewegung der Engel, die Musik erinnert uns an das Leben im Paradies. Im 13. Jahrhundert n. Chr. gründete Rûmî in der Nähe von Konya (heutige Türkei) einen Orden, dessen 13 Éliade (1983: 133) schreibt: “ De toute manière, les expériences mystiques et les gnoses théosophiques s ’ inséraient difficilement dans l ’ Islam orthodoxe. Le musulman n ’ osait pas concevoir un rapport intime, fait d ’ amour spirituel, avec Allah. Il lui suffisait de s ’ abandonner à Dieu, d ’ obéir à la Loi, …” Dynamische Religionssemiotik 169 Mitglieder Derwische genannt wurden und die in ekstatischen Tänzen begleitet von Rohr- Flöten und Trommeln den Namen Allahs oder des Propheten sangen (vgl. Éliade, 1983: 155 - 158). Wie im bereits erwähnten Chassidismus, gab es auch im Christentum immer wieder mystische Bewegungen, die mit Poesie und Musik ihre religiösen Intuitionen artikulierten. In Nord-Amerika kam es zu einer Verbindung des Kirchengesangs evangelischer Kirchengemeinden (z. B. schottischer Presbyterianer) und schwarz-afrikanischer Landarbeiter (Sklaven) im Süden. Es entstanden die Gospelchöre in den Kirchen. Die Pfingstler- Bewegung (Anfang des 20. Jahrhunderts) beruft sich auf das Pfingst-Ereignis im Evangelium, bei dem der Hl. Geist die Gläubigen heimsuchte und sie in allen Sprachen redeten. Diese Geist-Erfüllung kann in Musik und Tanz liturgisch umgesetzt werden. Eine besondere Erscheinung bildet die Person von Johann Sebastian Bach (1685 - 1750), der in seinen Kantaten, Oratorien und Passionen eine musikalische Form fand, in der die Aussage der in der Liturgie verwendeten heiligen Texte und eine kongeniale Musik zur Synthese gebracht wurden. Albert Schweitzer (1909/ 1988: 44) sagt dazu: Sein Bestreben geht darauf aus, das was der Text für die Anschauung enthält, durch die Symbole, die die Tonsprache dafür besitzt, auszudrücken. Wo es angeht, sucht er in den Worten das Bild, um es wiederzugeben. [ … ] Er hat eine ganz auf bildliche Wurzeln zurückgehende Tonsprache geschaffen. Gleichzeitig soll aber die Musik bei aller Passung zum Text, das zum Ausdruck bringen, was die Wortsprache eben nicht ausdrücken kann. Semiotisch hieße dies, dass es hinter der Laut- oder Schriftsprache und den Bildern, den visuellen Gestalten eine tiefere Ebene der Phantasie, der inneren Anschauung gibt, die durch Sprache und Bild nicht vermittelt werden kann. Auf dieser Ebene kann die Musik ein Verstehen und eine Verständigung bewirken. Der tief gläubige Komponist Bach ging davon aus, dass die Gotteserfahrung in besonderer Weise auf dieser tieferen Ebene mitteilbar ist, so dass Wort, Bild und Musik erst in ihrer Synthese einen Zugriff auf das religiöse Grunderlebnis gewähren. 4 Die Ordnung der religiösen Vorstellungen im Erzählen Es ist kein Zufall, dass die großen religiösen Texte die Form von Epos (Illias), Geschichte (die Bibel), Gesängen (Rigweda), Reden des Gründers (Evangelien und Koran) haben, d. h. es handelt sich durchwegs um sprachliche Kunstformen, die ihre Überlieferung zumindest über längere Zeit einer möglichst exakten mündlichen Weitergabe verdanken. In vielen Ethnien wurden die Texte von Sängern, Erzählern auswendig vorgetragen. Für die Brahmanen galt auch in neuerer Zeit der mündliche Vortag aus dem Gedächtnis als die eigentliche und angemessenste Form ihrer heiligen Texte. Ähnliches gilt für andere Kulturen, für die professionelle Erzähler historisch gesichert sind oder die Verschriftung erst durch die Zusammenführung der mündlichen Wiedergaben mehrerer Erzähler erfolgte (vgl. die Tradition der “ Guslaren ” im Balkan und die Heldenepik der Kirgisen). Wie die Beschreibung der Mythen in den vier Bänden der “ Mythologiques I, II, III, IV ” von Lévi- Strauss zeigt, gibt es meist einen Komplex aus Erzählungen, Ritualen und Bildwerken, in dem sich das religiöse Denken einer Kultur manifestiert. Hinzu kommen Alltagspraktiken wie Anrufungen, Gebete, medizinische und magische Glaubensinhalte. Letztere bilden den 170 Wolfgang Wildgen Hintergrund für die Wirkung der Handlungen von Magiern und Medizinmännern, denn ohne die Verankerung dieser Praktiken in den Glaubensvorstellungen der Betroffenen, z. B. der Kranken, würde sich wenn überhaupt nur eine ephemere Wirkung einstellen. Ich will mich vorerst nur mit der narrativen, epischen Formgebung des Religiösen befassen, obwohl Poesie/ Gesang und Drama/ Schauspiel in sehr effektiver Weise religiöse Inhalte vermitteln können. Das Erzählen als sprachliche Form prägt dem Erzählten gewisse Strukturen auf; man kann von einer Logik des Erzählens sprechen. Dabei sind zwei Dimensionen besonders relevant: 1. Die berichteten Geschehnisse ergeben eine zeitliche und eine kausale Ordnung, d. h. das Vorher und das Nachher, eventuell das Gleichzeitige an verschiedenen Orten, stellen die Basis der narrativen Ordnung dar. Dazu gehören Handelnde, die zentral das Geschehen bestimmen, und Nebenpersonen, sowie die Zuschauer, das Publikum. Dieses kann betroffen sein, z. B. bei einer Heilung, zustimmen, massenhaft folgen oder das Erlebte als Täuschung ablehnen. Zur Ablauf-Struktur gehören auch Orte und Wege, wiederkehrende Ereignis-Strukturen wie Geburt und Tod, Ankunft und Abschied. Kausale Beziehungen, d. h. Ursache und Wirkung, verbinden die einzelnen berichteten Handlungen, wobei zwischen Zeit, Ort und Kausalität komplizierte Innenbeziehungen existieren. Diese Bedingungen des Erzählens erfordern eine Formung der erinnerten oder imaginierten Inhalte. Im Fall von kulturell zentralen Texten kann man sogar von einer Optimierung dieser Anpassung an die narrativen Rahmen und die Gedächtniskunst ausgehen. 2. Der Erzähler verfolgt meist ein globales Ziel, will eine Meinung, Einstellung, eine Bewertung des berichteten Geschehens beim Zuhörer, Lesenden evozieren. Die Handelnden sind gut oder böse, stark oder schwach, göttlich oder menschlich usw. Diese Evaluation kann innerhalb der Wortbildungen oder Sätze zum Ausdruck kommen oder durch spezielle Sätze und Textpassagen herausgehoben sein. Die Erzählgestalt kann durch einen speziellen Absatz geschlossen werden, z. B. durch eine “ Moral der Geschichte ” . Aus dem Gesagten geht hervor, dass unabhängig davon, welche religiösen Inhalte bereit stehen bzw. durch die Tradition zur Verfügung gestellt werden, die epische Form diesen eine allgemeine Systematik oder Logik aufzwingt, die jenseits der religiösen Inhalte im kommunikativen Verhalten und den Gesetzmäßigkeiten des Diskurses ihren Ursprung hat. Durch die narrative Vermittlung wird der religiösen Substanz eine Struktur aufgeprägt, die durchaus als fremd, verfälschend empfunden werden kann. Die religiöse Überlieferung beschränkt sich aber meist nicht auf eine einfache erzählende Wiedergabe. Zum Leben und zur Lehre von Jesus Christus gibt es vier anerkannte Evangelien und zahlreiche weitere Schriften, die entweder in den Kanon aufgenommen wurden (so die Briefe des Apostels Paulus) oder abgelehnt wurden (so die Apokryphen). Innerhalb der vier Evangelien gibt es Basistexte, so das Evangelium des Markus (oder einen verloren gegangener Basistext) und Ausgestaltungen, so etwa die Ergänzungen zur Kindheit Jesu bei Matthäus (1 - 2) und Lukas (1.5 - 2.5.3). Diese drei Evangelien zeigen Überschneidungen von 40 bis 50 % und werden deshalb als synoptisch bezeichnet. Das Johannesevangelium erscheint demgegenüber als relativ eigenständiges Werk, was zu Dynamische Religionssemiotik 171 vielfältigen theologischen und bibelkritischen Deutungen geführt hat. Da die frühesten Textfragmente aus dem 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert stammen, muss mit einer je nach Entstehungskontext und Zeit modifizierten Tradition (mündlich und schriftlich) gerechnet werden, d. h. es gibt eine Schichtung der Überarbeitung, evaluativen Neuorientierung usw. Neben den ursprünglichen Anpassungen an die Erzähl-Logik (siehe oben) muss also von einer Dynamik der Überarbeitung, Neufassung unter veränderten Bedingungen ausgegangen werden. Da die Texte, selbst nachdem sie einmal in einem Kanon fixiert wurden 14 , Gegenstand theologischer Interpretationen und Kontroversen waren, kann man einen kontinuierlichen Prozess der Umformung (zumindest in der Deutung) der Texte annehmen, wobei die jeweiligen Lebensumstände eine gewichtige Rolle spielen. Dies mag man als eine Korruption des Textes ansehen, es kann aber auch als eine natürliche Aneignung und notwendige Fortschreibung betrachtet werden. Der religiöse Inhalt könnte aus dieser Perspektive im Kontext der historischen und kulturellen Veränderung ausgestaltet, angereichert, letztlich verbessert worden sein. Dem steht natürlich entgegen, dass die kanonischen Texte theologisch als von der Hand Gottes stammend interpretativ “ eingefroren ” wurden. Diese theologisch-dogmatische Problematik ist aber für unsere semiotische Analyse unerheblich. Wie die Klassifikation der Märchenmotive und deren Distribution zeigt, sind Erzählmotive historisch sehr langlebig und sie können große Distanzen überwinden, wobei sie sich einerseits mit der Migration der Erzähler ausbreiten, andererseits auch die Handelsrouten und den Warenverkehr als Wegbereiter nützen. In dieser Dynamik der Diffusion kommt es in natürlicher Weise zu Kontakten, Übernahmen, Anreicherungen oder Reduktionen. Aus der Sicht der sprachwissenschaftlichen Erzählforschung kann ein religiöser Textkanon nur das komplexe Produkt der Erzähl- und Nacherzähldynamik sein, das zu einem gewissen Zeitpunkt fixiert, eingefroren wurde. Da vorgängige mündliche Tradierungen, die in einigen Religionen sogar Jahrtausende zurückreichen, historisch nicht fassbar sind, müssen notgedrungen die Schriftquellen (neben den visuellen Zeichen in Kunst und Architektur) als wesentliche Quelle genützt werden. Insgesamt zeigt die Problematik des Bilderverbots (in der Konsequenz des Verbot einer anschaulichen Sprache und des musikalischen Ausdrucks des Glaubens), dass den religiösen Inhalten und Prozessen unausweichlich semiotische Konzepte und Vorgänge zu Grunde liegen; sie sind durch keine Form der unmittelbaren, zeichenlosen Kommunikation zu ersetzen. Gleichzeitig unterliegen religiöse Inhalte als zeichengebundene Formen der normalen Dynamik der Formbildung (Morphogenese), der Selbstorganisation zu komplexen Systemen, der Gestaltung durch quasi-formale Organisationsprinzipien (siehe die narrative Umformung). Die Religionsgeschichte beweist außerdem die teilweise dramatische Abhängigkeit der Religion von Kontexten (sozialen Bedingungen, Institutionen) und der sekundären Funktionen von Religion für die Abstützung von Gesetzen und für politische Strukturen. Im Sinne von Cassirer sind Mythos und Religion ein Typus von 14 Die 27 in griechischer Sprache verfassten Schriften des Neuen Testaments wurden spätestens mit dem 39. Osterfestbrief des Athanasius (367 n. Chr.) von fast allen damaligen Christen als gültiger Teil des Bibelkanons anerkannt. Siehe https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bibelkanon 172 Wolfgang Wildgen symbolischen Formen, für den ähnliche Bedingungen gelten wie für andere (Sprache, Technik, Wissenschaft usw.) und die als gemeinsame Basis die Fähigkeit des Menschen zum symbolischen, d. h. zum zeichenschaffenden und zeichennutzenden Verhalten haben. 5 Der dynamische Ansatz in den Religionswissenschaften Charakteristisch für den dynamischen Ansatz sind die folgenden Richtlinien: • Den Ausgangspunkt der Analyse bilden Kontinua und kontinuierliche Skalen, sowie Bewegungen und Übergänge. Grenzlinien oder -flächen sind die primär zu erklärenden Phänomene. • Wesentliche Elemente jeder Erklärung sind Kräftefelder, Vektoren, Gradienten usw., und die Prozesse, die durch sie ermöglicht werden. • Alle dynamischen Systeme sind durch Stabilität oder Instabilität, durch die Wege ihrer Stabilisierung, durch Landschaften der stabilen Entfaltung (epigenetische Landschaften) charakterisiert. Die formalen Mittel, mit denen die Kinematik (Lehre der Bewegungen) und Dynamik (Lehre der Kräfte und ihrer Wirkungen) arbeiten, führen zu Modellen der Selbstorganisation. Man muss die ursprüngliche Genese religiöser Formen von der dynamischen Fortentwicklung solcher Formen in gesellschaftlichen und politischen Kontexten unterscheiden. Unter semiotischen Gesichtspunkten sind erstere vorrangig und bieten unter glücklichen Umständen die Möglichkeit, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, d. h. allgemeines Wissen zu gewinnen. Letztere müssen erst von einer Unzahl historisch kontingenter Einflüsse, z. B. von machtpolitischen Zufällen und deren Folgen, insgesamt von ihrer sozialen Dynamik befreit werden, damit die Eigendynamik des Religiösen sichtbar wird. Erst bei Kontrolle dieser außerreligiösen Faktoren wird eine wissenschaftliche Aufklärung des religiösen Moments möglich. Die sozialen Gesetzmäßigkeiten sind keineswegs primär religiöser Natur und deshalb nur sekundär relevant. 15 Man mag im Zusammenhang einer “ Morphogenese ” des Religiösen zuerst an die Religionsgründer denken, etwa den legendären Moses und die historisch verbürgten Gestalten von Buddha, Jesus oder Mohammed, in dieser historischen Abfolge, oder an Gestalten wie Thomas von Aquin oder Luther, die wichtige Phasen der Umgestaltung des Christentums beeinflusst haben. Ähnliches gilt für die anderen Religionen. Es gibt sehr viele Aufspaltungen, Sekten innerhalb oder am Rande der großen Religionen. Schließlich macht sich jeder Theologe, und noch mehr jeder religiöse Laie sein eigenes Bild Gottes oder der transzendenten Mächte und dieses Bild mag sich selbst im Laufe der Biographie jedes Einzelnen verändern. In diesem Ozean der Unterschiede muss sich die Analyse im Rahmen einer dynamischen Semiotik zuerst auf die lokalen Prozesse konzentrieren, also auf das religiöse Individuum in einer räumlich und zeitlich begrenzten Situation. Die globale 15 In dieser Beziehung teile ich nicht die Tendenz der Religionssoziologie von Durkheim, Mauss und (teilweise) Lévi-Strauss, das Religiöse auf das Soziale zu reduzieren. Als Brücke zwischen dem Sozialen und dem Religiösen leistet die Semiotik und die implizite Transzendenz des Zeichenverweises einen entscheidenden Beitrag. Dynamische Religionssemiotik 173 Koordination individueller Formgebung in Familie, Gruppe, Dorf, Land usw. ist ein eigenes Problem, wobei sekundäre Funktionen des Religiösen, wie kollektive Emotionen, Hoffnungen und Ängste in den Vordergrund treten. Die institutionelle Verfestigung führt schließlich zu einem Kanon von Ritualen und Schriften, sowie zu den Organisationsform von Kirchen, Klöstern, Pfarr-Gemeinden, Schulen usw. Sie bringen etwas zum Vorschein, das die Strukturalisten ein “ System der Differenzen ” genannt haben. Mit Bezug auf die Sprache, nannte Ferdinand de Saussure dieses System eine “ langue ” (gemeint ist das Sprachsystem im Gegensatz zu Sprachgebrauch, der “ parole ” ). Man könnte aus dieser Sicht die Religion als geteiltes System von Glaubensinhalten und Verhaltensregeln und den Glauben als die individuelle Ausprägung bzw. die Umsetzung der durch die Religion gegebenen Anregungen und Forderungen verstehen. Auf der Ebene der Religion wären lediglich die “ arbiträren ” Konventionen eines gemeinschaftlich genützten Systems relevant. Das individuelle religiöse Leben, der Glauben, wäre aus dieser Sicht entweder die quasiautomatenhafte Umsetzung des Systems der Religion oder eine nur partielle Realisierung oder gar eine mangel- und fehlerhafte Abweichung. Eine Erklärung, d. h. eine Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten, die dem Phänomen Glauben zugrunde liegen und damit die Entstehung und den Erhalt der Religion betreffen, bliebe damit auf der Systemebene unerreichbar, d. h. Religion ließe sich nur beschreiben aber nicht erklären, in einem tieferen Sinn verstehen. Man kann sich natürlich damit behelfen, dass man die kombinatorischen Beschränkungen des “ arbiträren ” Systems und damit die Abweichung von einem Zufallsgenerator als Gesetzmäßigkeiten einstuft, denen man dann eine (kollektive) Intention zuspricht. 16 Im Kontext der Selbstorganisations-Algorithmen kann man aber zeigen, dass kombinatorische Abweichungen von Zufallsfolgen, die man dann Strukturen nennt. auch ohne Sinn oder Intention durch Optimierung und Stabilisierung entstehen können. Insofern liefert der strukturalistische Ansatz nur eine Scheinerklärung. Wie sieht es aber mit den Möglichkeiten einer kausalen, die natürlichen Kräfte und Intentionen wiedergebenden dynamischen Analyse, die primär auf eine Erklärung von Religion und Glauben abzielt, aus? Da die Beobachtbarkeit des Moments der Genese, quasi des religiösen Urknalls, sehr beschränkt ist, ja in vielen Fällen unmöglich ist, muss eine abduktive Strategie verfolgt werden, d. h. man verbindet allgemeinere Prinzipien, die auch aus anderen Bereichen bekannt sind und sich dort bewährt haben, mit induktiven Folgerungen aus Beobachtungen 16 Das Prinzip der Arbitrarität bei Saussure betrifft in erster Linie die scheinbar unbegrenzte Variation von lexikalischen Kategorisierungen für Objekte, Ereignisse, Eigenschaften in den Sprachen der Welt und die nur begrenzt erfolgreichen etymologischen “ Erklärungen ” der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Motivationen, d. h. partielle Bezugsnahmen auf außersprachliche Phänomene, werden von Saussure nicht geleugnet, aber auf die marginale Erscheinung der Lautmalerei begrenzt. Bereits die Wortarten wie Präpositionen, die morphologischen Konstruktionen (siehe die Kasus oder die Pluralbildung), dann die Wortkomposition und schließlich die Konstruktion von syntaktischen Phrasen, Sätzen und Texten sind in der Forschung inzwischen so plausibel durch Motivationen bzw. Kriterien der Natürlichkeit erklärt worden, dass das Prinzip der Arbitrarität keine allgemeine Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Auch der Ansatz der generativen Grammatik, die in der Grammatik eine regelgesteuerte Beschränkung der freien Kombinatorik (des freien Monoïds) auf der Basis eines Vokabulars sieht, konnte keine Erklärung anbieten, Er musste schließlich am Riff der Universalgrammatik und der “ angeborenen Ideen ” zerschellen. Die dynamische Linguistik hat aus diesem Scheitern und dem Angebot des morpho-dynamischen Erklärungsansatzes in Thom (1972 und 1988) die Konsequenzen gezogen. 174 Wolfgang Wildgen oder Messungen im Phänomen-Bereich. 17 Wegen der Vielfalt religiöser Formen sind induktive Folgerungen entweder statistischer Natur oder bei eher qualitativen Daten “ verstehend ” im Sinne von Max Weber, d. h. man versucht grundlegende Typen herauszuarbeiten. Der deduktive Anteil kann z. B. von allgemeinen Gesetzen der Morphogenese ausgehen. Solche sind sowohl aus der unbelebten als auch aus der belebten Natur bekannt und sie lassen vorsichtige Verallgemeinerungen zu. Beim derzeitigen Wissensstand sind dies: 1. Evolutions- und Emergenz-Gesetze. Sie betreffen z. B. die Entstehung der Arten (vgl. Darwin), die Entstehung von Leben (vgl. die Hyperzyklen von Eigen und Schuster, 1979) oder im Detail die Übergänge zum Homo sapiens, die Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaften, die Entstehung der menschlichen Sprache und der visuellen und musikalischen Kommunikationsformen, der Technik und anderer Weiterentwicklungen des menschlichen Geistes und seiner Hilfsmittel. 2. Morphogenetische Modelle auf topologischer Basis. Grundtypen hat René Thom (1972) vorgeschlagen. Dazu gab es aber schon seit der Antike, in der Moderne bei Goethe (Urpflanze und Basisformen des Skeletts der Wirbeltiere) vielversprechende Ansätze. Thom bezog das anschauliche Material aus der Embryogenese und der Geologie. 3. Modelle der Selbstorganisation in komplexen Systemen. Es gibt ein Netzwerk von Subsystemen und Ebenen, die voneinander abhängig sind und untereinander koordiniert sind. Ein globales und stabiles Systemverhalten wird durch die Hervorhebung (Selektion) einzelner Komponenten und die Verdrängung kleinerer, destabilisierender Kräfte oder Subsysteme erreicht. Weitere charakteristische Eigenschaften sind: Autoreferenz, Rückkoppelung, prospektive Gestaltung u. a. Es können selbstähnliche Muster, eine Form von Periodizität entstehen, die relativ unabhängig vom Substrat und der Größenordnung der Prozesse sind. Diese Erscheinungen sehen aus wie regelgeleitete “ Strukturen ” , sind aber das Ergebnis eines komplexen dynamischen Prozesses, der keine Planung und Regelbefolgung kennt. Der induktive Weg geht von lokalen, aber folgenschweren Formgebungen aus, wie sie im Falle der Religion anhand historischer Personen und relevanter Kontexte darstellbar sind. Man kann auf Szenarien der Emergenz des Religiösen eingehen und eine Stufenlehre in der räumlichen und zeitlichen Verallgemeinerung der primären Emergenz entwickeln. Später kann die Entfaltung und Umwandlung vorhandener religiöser Systeme anhand von historisch gesicherten Figuren beschrieben werden. Bibliographie Almir, Ibri´c 2004: Das Bilderverbot im Islam. Eine Einführung, Marburg: Tectum Verlag. Cassirer, Ernst 1925/ 1987: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, 8. Auflage, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987. Eco, Umberto 1992. Interpretation and Overinterpretation, Cambridge: Cambridge U. P. 17 Siehe Peirce (1901/ 1986: 393f), der eine Kombination von deduktiven Prinzipien, d. h. allgemeinen Annahmen, und induktiven Analysen fordert. Das Zusammenspiel der beiden eigentlich konträren Strategien ist natürlich ein nicht zu unterschätzendes Problem. Dynamische Religionssemiotik 175 Eigen, Manfred und Peter Schuster1979: The Hypercycle. A Principle of Natural Self-Organization, Berlin: Springer. Éliade, Mircea 1983 : Histoire des croyances et des idées religieuses, Bd. 3 : De Mahomet à l ’ âge des Réformes, Paris: Payot. Friedrich, Johannes 1966: Geschichte der Schrift, unter besonderer Berücksichtigung ihrer geistigen Entwicklung, Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Fromm, Erich 1966: You Shall be as Gods, New York: Holt. Herring, Stephen L. 2013: Divine Substitution. Humanity as a Manifestation of Deity in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lévi-Strauss, Claude 1964 - 1971: Bd. I : Le Cru et le Cuit, 1964; Bd. II : Du miel aux cendres, 1967; Bd. III : L ’ Origine des manières de table, 1968 ; Bd. IV : L ’ Homme nu, 1971, alle Paris: Plon. Luther-Bibel 1985 : Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Peirce, Charles 1901/ 1986: “ Minutiöse Logik. Aus den Entwürfen zu einer Logik ” , in: Idem, Semiotische Schriften (hrsg. von Christian Kloesel und Helmut Pape), Suhrkamp,1986: 376 - 408. Thom, René 1972 : Stabilité structurelle et morphogenèse, Paris : Interéditions. Thom, René 1988 : Esquisse d ’ une Sémiophysique, Paris : Interéditions. Schweitzer, Albert 1909/ 1988: “ J. S. Bach ” , in: Idem, 1988. Aufsätze zur Musik (hrsg. von Stefan Hanheide), Kassel: Bärenreiter. Weber, Max 1922 [2005]: Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Lizenzausgabe, Frankfurt am Main: Verlag Zweitausendeins, 2005. Wildgen, Wolfgang 2005: Das dynamische Paradigma in der Linguistik, elektronische, mit einer aktualisierten Bibliographie versehene Version einer Publikation von 1987, im Internet unter http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: gbv: 46-ep000100286 (29.01.2024). Wildgen, Wolfgang 2009: “ Die Prägnanztheorie als Basis der Semiotik René Thoms ” , in: Zeitschrift für Semiotik 31 (1-2): 87 - 104. Wildgen, Wolfgang 2013: Visuelle Semiotik. Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild bis zur modernen Stadt, Bielefeld: transcript-Verlag. Wildgen, Wolfgang 2018: Musiksemiotik: Musikalische Zeichen, Kognition und Sprache, Würzburg: Königshausen & Neumann. Wildgen, Wolfgang 2021: Mythos und Religion. Semiotik des Transzendenten, Königshausen & Neumann, Würzburg. Wildgen, Wolfgang, 2022. The Morphogenesis of Religion and Religious Self-Organization (with a Focus on Polytheism and Christianism), in Cognitive Semiotics, 15, 1. online: https: / / doi.org/ 10.1515/ cogsem-2022-2010 Wildgen, Wolfgang 2023: Morphogenesis of Symbolic Forms: Meaning in Music, Art, Religion, and Language, Springer Nature, Cham (C. H.). 176 Wolfgang Wildgen K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Farben und andere Qualizeichen in Objektgestaltung, Sprache, Literatur, bildender Kunst und im nichtsprachlichen Verhalten Götz Wienold (Tokyo/ Berlin) Abstract: Material properties are basic to all signs, be they visual, auditive, taktile, or else. In Peircean semiotics they are called qualisigns, and there are no signs which are not made of qualisigns. All their uses function in historical and social contexts. The best analyzed qualisigns are the distinctive features of phonology, just as linguistics has become an epitome of semiotics. Here I try to follow qualisigns in several other sign practices: nonverbal behaviour, object design, clothing, photography, sculpture, painting, and literature, and I select colours, the qualisigns foremost appealing to our senses, as primary examples. Like the distinctive features of phonology, qualisigns of various kinds are bound to one another, but a binary manifestation is not assumed here. The presentation is selective and in no way meant to be comprehensive. Metonymic relationships of qualisigns to higher semiotic entities, such as arguments in Peircean terminology, appear to have special relevance. Keywords: qualisigns, distinctive features, Barthes ’ semiotics, Peirce ’ s semiotics, structure of arguments, ornament, non-mimetic signs, historical and social context of all semiotic practices, Bourdieu ’ s critique of structural linguistics, object design, clothing, photography, sculpture, painting, literature, loading of qualisigns Zusammenfassung: Materielle Eigenschaften sind grundlegend für alle Zeichen, visuelle, auditive, tactile und andere. In der Peirce folgenden Semiotik werden sie Qualizeichen genannt. Es gibt keine Zeichen, die nicht aus Qualizeichen gebildet sind. Ihr Gebrauch ist durch historische und soziale Kontexte bestimmt. Die distinktiven Merkmale der Phonologie sind die am besten analysierten Qualizeichen wie die Linguistik Vorbild für semiotische Analysen überhaupt geworden ist. Ich verfolge beispielhaft Qualizeichen im nichtverbalen Verhalten, in der Objektgestaltung, in Kleidung, Fotografie, Skulptur, Malerei und Literatur. Qualizeichen treten typisch in Verbindungen auf, eine binäre Manifestation wie in der Phonologie wird aber nicht angenommen. Metonymische Beziehungen von Qualizeichen zu höheren semiotischen Einheiten erscheinen als von besonderer Relevanz. Schlüsselbegriffe: Qualizeichen, distinktive Merkmale, Barthes ’ Semiotik, Peirce ’ s Semiotik, Struktur von Argumenten, Ornament, nichtmimetische Zeichen, historischer und sozialer Kontext aller Zeichenpraktiken, Bourdieus Kritik der strukturalistischen Linguistik, Objektgestaltung, Kleidung, Fotografie, Skulptur, Malerei, Literatur, Aufladen von Qualizeichen 1 Qualizeichen als semiotische Kategorie 1.1 Qualizeichen, fundamental für alle Zeichen Braun, schwarz, blau, grün, rot, grau, orange - Farben von Hemden von Männern einer politischen Formation in nur einer Farbe. Sie werden meist offen getragen, zeigen Zugehörigkeit der Hemdenträger und ihre Kampfbereitschaft in öffentlichen Auseinandersetzungen an. Die Rothemden Garibaldis in Italien um 1860 (Mann 2003, 94) waren wohl die ersten, ab 1920 proliferieren die politischen Farben in Männerhemden. Mussolinis Faschisten trugen schwarze, so auch die Kittelbach-Piraten, eine Gruppierung der rechten bündischen Jugend in Deutschland (Kämper 2015, 53) und Himmlers SS, Hitlers und Röhms Sturmabteilungen (SA) braune, genauso die mit Nazi-Deutschland sympathisierenden Schweizer Frontisten (Schenk 2003,194) 1 , grüne trugen in den 30ern in Frankreich die Männer Henri Dorgères (Goodfellow 2013, 98) sowie Joseph Bilgers Bauernbund im Elsass, in ihnen führte Bilger seine Männer in die Nazi-Partei, während die klerikalen Autonomisten graue Hemden trugen (Goodfellow 1999, 39 - 41, 92 - 99, 152 f.), es gab auch eine “ Jungmannschaft ” in braunen (Goodfellow 2013, 95). Die irischen, von Jesuiten geförderten Faschisten des General O ’ Duffy, 1933 verboten, im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite Francos kämpfend, trugen blaue Hemden (Pittler 2022, 52 f.) genau wie die Nationalisten des Diktators Chiang Kai-shek in China (Grasso/ Corrin/ Kort 1997, 103 f.), mit blau identifiziert sich noch heute die ihm nachgefolgte taiwanesische Kuomintang, während grün nun wieder die Farbe der DDP ist, die die Unabhängigkeit der Insel propagiert (Copper 2007, 137, 205). Blau waren die Hemden der FDJ in der DDR, die Pfadfinder tragen beige-braune Hemden, die Mitglieder der Kolping-Jugend schließlich orangene, zu Beginn der Nazi-Zeit wurden diese auch zu Zeichen des Kampfes. 2 Orange war auch die Farbe der bulgarischen Orangenen Garde, mit offiziellem Namen die Bulgarische Agrarische Nationale Union (BANU) (Detrez 1997, 242 f.). In den 30ern des vergangenen Jahrhunderts waren, so Goodfellow 2013, die politische Formationen auszeichnenden Farben vor allem Zeichen für einer Identität bedürftige Männer einer Klasse, die sich sozial benachteiligt fühlte. Solche Hemden waren primär nicht als Hemden, sondern durch ihre Farben Zeichen. Die Farben zeigten an, für welche Gruppen und sozialen Kräfte die Träger der Hemden antraten. Die Charles Sanders Peirce folgende Semiotik nennt solche Zeichen Qualizeichen. Ein Qualizeichen ist eine Qualität von etwas, das als Zeichen fungiert, ohne dieses kann ein Qualizeichen nicht in Erscheinung treten, Farben nicht, ohne die Farbe von etwas zu sein. Auch wenn einer Farbe zugeschrieben wird, sie drücke etwas Bestimmtes aus, grau etwa 1 So nannte man die Mitglieder der “ Kampfgemeinschaft neue Nationale Front ” , kurz auch “ Nationale Front ” genannt (Lachmann 1962, 80 f.). 2 Alfons Barth berichtet, am 8. Juni 1933 hätten in München SA-Leute in braunen Hemden Mitglieder der Kolping-Jugend zusammengeschlagen und ihnen die orangenen Hemden ausgezogen: vor-ort.kolping.de/ kolpingfamilie-muenchen-zentral/ vor-85-jahren-kolpingtag-1933, eingesehen am 24.11.2023. 178 Götz Wienold Traurigkeit oder Alter oder Weisheit oder Intelligenz (Gallienne 2017, 59), so kann sie das nur als Farbe von einem Etwas. Mit diesem Etwas, dessen Qualität sie sind, werden Farben als Zeichen wahrgenommen. 3 Peirce schreibt: “ It cannot actually act as a sign until it is embodied, but the embodiment has nothing to do with its character as a sign. ” (Peirce 1903, 142) Qualizeichen haben, da sie unselbständig sind, für sich keine Kraft, können aber, wenn sie das dominierende Element sind, z. B. Uni-Farben von Hemden in politischen Formationen, die Kraft des Zeichens bestimmen. Eine Person, die ein solches Hemd in der Öffentlichkeit trägt, erklärt sich selbst als Angehöriger einer Bewegung und handelt für sie. Zeichen haben am Ort und zur Zeit ihres Auftretens, d. h. in entsprechender Semiose, Kraft, ähnlich wie die Sprechakttheorie von der Kraft von Illokutionen spricht. 4 Kraft von Qualizeichen kann, wie an den Hemdfarben und anderen politischen Farben zu sehen, körperliche Gewalt werden. Wie stark die Interpretation eines Zeichenkomplexes nach Farben und anderen Qualizeichen ausschlägt, werden wir an vielen Beispielen erfahren. Wie jedes Zeichen an einem Ort und innerhalb einer Zeitspanne auftritt, so bedarf gleichfalls also jedes Zeichen einer physischen Beschaffenheit. Indexikalität und Materialität sind allen Zeichen fundamental. Die Differenz zwischen Zeichen zeigt sich zuerst in ihren Qualitäten. Ins Auge fallen am ehesten Farben und Gestaltmerkmale von Objekten wie deren bildlichen Repräsentationen. Obwohl Qualizeichen grundlegend für alles Zeichenhafte sind, scheint ihnen wenig gründliche Aufmerksamkeit gegolten zu haben, vor allem nicht in verschiedene Zeichenpraxen übergreifender Weise. Sie sind so selbstverständlich, dass man sie weiter nicht beachtet. Am besten untersucht sind dank der Entwicklung der Linguistik seit dem 18. Jahrhundert die Qualitäten der phonischen Repräsentation von Sprachen, ihre allgemeinen Funktionen, semantische und pragmatische Differenzen zu tragen, wie ihre von Sprache zu Sprache unterschiedlichen Ausprägungen. Seit Morris Halle und Roman Jakobsen werden diese als Qualitäten von “ Bedeutungen ” tragenden lautlichen Einheiten (Phonemen) verstanden und distinktive Merkmale (distinctive features) genannt (Halle/ Jakobson 1954, vgl. Chomsky/ Halle 1968 und Clements/ Hume 1995). Der Begriff der Differenziertheit geht auf Ferdinand de Saussure zurück, ohne bei ihm mit dem Begriff des Qualizeichens oder einem Äquivalent verbunden zu sein. Die von de Saussure angestoßene, in der Prager Schule (Muka ř ovsky und andere), bei Louis Hjelmslev und seinen Nachfolgern sowie bei den französischen Semiologen ausgebildete und, so auch besonders von Roland Barthes, weitergeführte Semiotik folgte de Saussures zweipoligem Zeichenbegriff mit der bekannten Unterscheidung von signifiant und signifié. Im zweibegrifflichen Zeichenmodell werden die Zeichen bestimmenden materiellen Qualitäten nur als Differenziertheiten des signifiant greifbar. 5 In seinen Éléments de sémiologie entwickelt 3 Der Qualizeichencharakter von Farben geht in manchen pychologischen Experimenten zur Farbwirkung, z, B. denen von Alleschs zur “ Wohlgefälligkeit ” von Farben, verloren. Als “ physikalisch festgelegtes Licht oder Lichtgemisch ” werden Farben im Vergleich zu anderen Farben von den gleichen Versuchspersonen bei unterschiedlichen Gelegenheiten oft unterschiedlich beschrieben und eingestuft (von Allesch 1925, 32). Hier sind die Farben entsprechend nicht als Qualizeichen sondern als Sin-Zeichen zu kategorisieren. Von Allesch nennt selbst seine Versuche “ lebensfern ” (ebd., 32). 4 Vgl. Wienold 1995, 54 ff. zur Kraft von Inschriften, weiter Wienold 2017, 390; 2024. 5 Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung müsste die Ergebnisse von semiotischen Analysen der Tradition de Saussure wie der Tradition von Peirce hinsichtlich der Qualizeichen vergleichend aufarbeiten. Farben und andere Qualizeichen 179 Roland Barthes eine Perspektive, wie er sich die Übertragung von de Saussures speziell für die Linguistik erarbeiteter Begrifflichkeit auf die Analyse anderer menschlicher Zeichenpraxen vorstellt (Barthes 1964 = Barthes 1985, 17 - 84). Als er schrieb: “ Discuté en phonologie, inexploré en sémantique, le binarisme est la grande inconnue de la sémiologie. ” (1985, 72), tat er das wohl ohne genauere Kenntnis der distinctive feature - Theorie in Halle und Jakobsons Fundamentals of Language, obwohl diese seit 1954 vorlag, und mit noch rudimentärerer Vorstellung, wie eine binäre Analyse semantischer Eigenschaften angelegt sein könnte, obwohl hier, allerdings für höchst eingeschränkte Bereiche, Vorschläge vorlagen (Lyons 1977, 317 - 335, Geeraerts 2010, 70 - 80, Goddard 2011, 51 - 63, fassen die Forschungen hierzu zusammen). Barthes forderte, die Semiologie solle ein “ système complet des ressemblances et de différences ” anhand einer Stichprobenerhebung (échantillonage) aus einem “ gesättigten ” Korpus erstellen (1985,82). 6 Das heißt in Peircesche Terminologie übersetzt: für jede Zeichenpraxis ein System der Qualizeichen erarbeiten. Barthes selbst hat aber, soweit ich sehe, eher beispielhafte Proben seines Verständnisses gegeben, z. B. wie er Haar- und Barttracht eines öffentlich auftretenden französischen Priesters interpretiert oder Frisuren und schwitzende Gesichter von Schaupielern in einem Film (Barthes 1982, 30 - 32, 43 - 46), an anderer Stelle die Austattung des Ambientes in Filmen, zum Beispiel des Umgangs mit dem Telefon (Barthes 1985, 252 f.) oder den Reichtum der Zeichenwelt in Japan (Barthes 1970). Eine Zusammenstellung von Rhemata traditioneller japanischer Gärten (Wienold 2015, 25 - 29; zuerst Wienold 1991, 127 - 129) erfüllt beispielhaft Barthes ’ Forderung. Hjelmslev und Barthes haben sich durch den zweipoligen Zeichenbegriff gedrängt gefühlt, zwei Stufen der Beziehung von signifiant und signifié anzusetzen. Ein Beispiel aus Barthes ’ Mythologies: Auf einem Titelbild von Paris Match grüßt ein farbiger Soldat in französischer Uniform die französische Flagge. Über der ersten Stufe eines solchen Verständnisses ist in zweiter Stufe das Bild in dem Sinne zu lesen: “ daß Frankreich ein großes Imperium ist, daß alle seine Söhne ohne Unterschied der Hautfarbe treu unter seiner Farbe dienen und daß es kein besseres Argument gegen die Widersacher eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer dieses jungen Negers, seinen angeblichen Unterdrückern zu dienen. ” (Barthes 1982, 95) Hjelmslev und seine Nachfolger unterscheiden, um Medien wie Literatur, Film oder Werbung semiotisch analysieren zu können, von einem “ denotativen ” ein “ konnotatives ” Zeichensystem, das auf dem ersteren operiert. Das denotative Zeichensystem wird zum signifiant des konnotativen (Hjelmslev 1961, 16 - 18). Im Begriff signifié fällt Peirces Unterscheidung von Objektbezug und Interpretant zusammen. Der dritte Pol im Peirceschen Modell von Zeichenträger, Objektbezug und Interpretant macht die Zweistufigkeit überflüssig. Erst der Interpret vollzieht eine Interpretation, es gibt kein der Interpretation vorgängiges “ Bedeutetes ” (signifié). (Interpretationen mögen selbstverständlich in der jeweiligen Semiose früher vollzogene Interpretationen nachvollziehen.) Die Identifikation des Zeichenträgers, die Erkenntnis seines Objektbezugs und die Festlegung der Interpretation vollziehen sich in der Semiose des Teilnehmers (vgl. Wienold 6 Barthes folgt allerdings diesem Prinzip in seinem Buch über die Photographie explizit nicht (Barthes 1983, 16 f.). 180 Götz Wienold 1972, 16 - 21). 7 Vermutlich ist überdies das Bild von Paris Match gar nicht aus seinem “ eigentlichen ” Kontext abgezogen, sondern für das Titelbild hergestellt oder mindestens dafür bearbeitet worden. Die Semiotik vollzieht schon bei de Saussure den Übergang von der Einzelwissenschaft der Linguistik zur Wissenschaft aller Zeichenpraxen; sie unifiziert wie diversifiziert gleichermaßen. In diesem Aufsatz möchte ich vorführen, wie das Konzept des Qualizeichens dazu taugt, von seiner Ausarbeitung in der Linguistik ausgehend ein analytisches Instrument weiterer Zeichenpraxen zu entwickeln. Das Spektrum der Zeichenpraxen und die Fülle der Qualizeichen überwältigt, sobald man Genauigkeit anstrebt und der Vollständigkeit sich auch nur annähern möchte. Hier und jetzt geht es nur darum, einer Analyse von Qualizeichen den Weg zu bahnen. Ich wähle im Teil II dieses Aufsatzes die Zeichenpraxen des nichtverbalen Verhaltens, der Objektgestaltung, der Kleidung, der Fotografie, Skulptur und Malerei sowie der Literatur aus. Zuvor sollen noch einige weitere allgemeine Aspekte von Qualizeichen angesprochen werden. 1.2 Qualizeichen in Peirces Triaden Das Qualizeichen gehört in Peirces Zeichenklassifikation 8 zu den Kategorien der ersten Triade, den drei Kategorien des Zeichenträgers. Unselbständig, wie gesagt, wird es realisiert in einem auftretenden, d. h. als Zeichen verstandenen Zeichen, von Peirce Sin-Zeichen ( “ singuläres Zeichen ” ) genannt. Hat dieses dank einer Konventionalität einen fest bestimmten, in diesem Sinne “ gesetzmäßigen ” , Charakter, nennt Peirce es ein Legi-Zeichen. Jeder Zeichenträger, ob Sin- oder Legi-Zeichen, hat ihn differenzierende Qualitäten. 9 So sind die Qualizeichen allen Zeichen fundamental. Für Index, Ikon und Symbol, die Kategorien der zweiten Triade, der des Objektbezugs, seien jeweils einige Beispiele genannt. Qualizeichen von Indizes wie denen der Verkehrszeichen sind die Farben weiß, schwarz, rot, blau, gelb und orange, geometrische Gestalten wie Quadrat, Dreieck, Kreis und Linie. Quadrat und grün finden wir neben dem Ikon eines Laufenden im bekannten Fluchtwegzeichen wieder. Durch Abstraktion stark reduzierte Ikone von Bäumen oder Hecken als Abgrenzungen von Trottoirs gegenüber Fahrbahnen in Japan tragen die Farbe Grün und setzen sich aus wenigen senkrechten, schrägen und gebogenen Linien zusammen. Die Farbe Grün löst sich gar von der ikonischen Gestalt und erscheint als grüner Streifen auf den Längsstäben der Abgrenzungen (Wienold 2015, 90 - 94, Abb. 28, 29, 31). Farben erscheinen häufig wie schon in den eingangs genannten Hemdfarben als Symbol. Judas als Verräter versinnbildlichten Gemälde des Kusses vor den Häschern oder beim letzten Abendmahl in einem ganz gelben Gewand. Auf Giottos Bild des Judaskusses in der Arenakapelle von Padua umfängt im Zentrum Judas in einem weiten, 7 Zur Kritik an de Saussures vom Wort der Sprache ausgehenden Zeichenbegriffs vgl, auch Wienold 1972, 20 f. Bei Muka ř ovsky entspricht der Zweistufigkeit Barthes ’ und Hjelmslevs die Unterscheidung von “ autonomous sign ” und “ informational sign ” , statt “ communicability ” wäre, Peircisch gesprochen, “ interpretability ” zu sagen (Muka ř ovsky 1976a). 8 Vgl. Fisch 1978, Walther 1979, 56 f., 62 ff., Nöth 2000, 65 f. 9 Nöth (2000, 65) nimmt einen Gedanken von Jakob Liszka auf, der Gesang einer Vogelart sei Legi-Zeichen, entbehre aber der Konventionalität. Das kann aber nur für Menschen zutreffen, die Vogelstimmen hören. Sie zählen nicht zu den Teilnehmenden, denen die jeweiligen Vogelstimmen gelten, d. h. den Vögeln der jeweiligen Art. Für diese muss man, denke ich, auf jeden Fall Konventionalität annehmen. Farben und andere Qualizeichen 181 hellgelben Gewand Jesus so gewaltig, dass von diesem nur Kopf mit Heiligenschein und ein Stück Schulter zu sehen sind (vgl. Monstadt 1995, 82; Banzato 2003, 95 mit Abb.). Auch auf einer Folge von fünf Passionsbildern aus der Basler Werkstatt Hans Holbeins des Jüngeren ist Judas in tiefem reichem Gelb gewandet und wie bei Giotto im Zentrum des Bildes. Gelb trägt auch der Mann, der Pilatus das Wasser reicht, um seine Hände in Unschuld zu waschen und des Soldaten mit Lanze unter dem Kreuz (Hans Holbein der Jüngere 2006, 138 - 145; vgl. 324 - 327). 10 Kerschbaum (1968 - 76, II, 95) führt die gelbe Farbe des Gewands als eines der Judas “ degradierenden ” Zeichen an, Riese (2007, 114, 212) “ gelbes Gewand und rotes Haar ” . Die als Frau dargestellte Synagoge des Judentums, das sich dem Christentum entzog, war ebenso oft gelb gekleidet (Pastoureau 2019, 130 f.), der gelbe Stern verfolgte das gleiche Ziel der Ausgrenzung. Die gelben Winkel in den KZs sind wie die anderen farbigen Winkel, die Insassen der nationalsozialistischen Konzentrationslager klassifizierten - rot für Kommunisten, rosa für Homosexuelle, grün für Kriminelle, violett für die den Kriegsdienst verweigernden Zeugen Jehovas - , Indizes der Unterscheidung wie der Ausscheidung und gleichzeitig Symbolträger. 11 Gelb hat wie jede Farbe selbstverständlich nur in einem Kontext eine Funktion. Wie die distinktiven Merkmale der Phonologie “ Bedeutungen ” unterschiedlich machen, jedoch nicht selbst “ bedeuten ” , so die Qualizeichen aller Zeichenpraxen. Sie zeigen “ Bedeutung ” an, “ bedeuten ” nicht selbst. Wie die phonologischen distinktiven Merkmale treten sie in Verbindungen auf. Gelb verbindet sich in Giottos Bild vom Judaskuss mit der oben runden Form, die im Kontext als Umhang gelesen wird, und der Position in der Bildmitte (genau gesehen, befindet sich der Kopf des Judas tatsächlich exakt in der Mitte zwischen links und rechts über der runden Form und ganz wenig oberhalb der Mitte in der Vertikalen). Schauen wir zum Vergleich auf Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Goethe in der Campagne (Hagen/ Hagen 2005, 518 f.). Die sitzende Figur Goethes streckt sich von links nach rechts und nimmt sowohl in der Breite wie in der Höhe etwa zwei Drittel ein. Unter einem sehr hellen, bequemen Umhang sind, abgesehen vom Kopf in Dreiviertelprofil, nur die rechte Hand und das rechte, über das linke geschlagene Bein ab leicht über dem Knie zu sehen. Das Knie steckt in einer aristokratischen Kniehose, ihre Farbe helles, warmes Gelb. In der Breite befindet sich das Knie genau in der Mitte, in der Vertikalen auf der Höhe des unteren Drittels. Abstrahierend gesprochen, verbinden sich wie bei Giottos Judaskuss in der Bildmitte die Qualizeichen gelb, runde Form und zentriert. Die zentrale Position in Tischbeins Goethe-Bild wird noch dadurch hervorgehoben, dass auf dem Oberschenkel die 10 In gelbem Gewand erscheint Judas auch auf Giottos Bild des Judaspaktes, auf Justus van Gents der Apostelkommunion in Urbino, auf Peruginos Abendmahl in S. Onofrio (Florenz), auf Andrea del Sartos Abendmahl im Refektorium von San Salvi (Monstadt 1995, 77, 192, 287, 292), auf Ghirlandaios in San Marco in Florenz (Cadogan 2002, 217 - 220), auf Tintorettos in San Marcuola und in der Scuola Grande di San Rocco, beide Venedig (Villa/ Villa 2012, 60 f., 222) auf dem Abendmahl von Philippe de Champagne (Pastoureau 2019, 136 - 138), und weiteren. - Tintoretto malte in immer wieder neuen, oft hochdramatischen Versionen dieses Thema (auf manchen ist Judas nicht eindeutig zu identifizieren (Villa/ Villa 2012, 176 f.). Auf Taddeo Gaddis Abendmahl im Refektorium von Santa Croce (Florenz) ist Judas ’ Gewand lila (ebd., 143). Vgl. auch Gallienne 2017, 69. Einen gelben Mantel trägt Judas in einem Judasspiel von 1552 (Goetz 1950, 129f,). 11 Rousset 2022, 38 f. schreibt zur Kraft des grünen Winkels in KZs: “ Grün gibt den Ton an. ” Grasso/ Corrin/ Kort 1997, 104 f.: “ the Guomindang ’ s 10 000 Blue Shirts made a point of harassing people who publicly violated its dictums. ” 182 Götz Wienold linke Hand ruht, der Mittelfinger deutet geradezu auf die Rundung des Knies. Im Kontext des Judaskusses kann man die Verbindung der Qualizeichen ‘ gelb, runde Form, zentriert ’ als auf den zentralen Inhalt des Gemäldes weisend verstehend: der im üblichen Verständnis der überlieferten Erzählung welthistorische Verrat, auf ihn weisend, nicht ihn “ bedeutend ” . Im Kontext von Tischbeins Goethebild das Bündel ‘ gelb, runde Form, zentriert ’ schlage ich vor, die Verbindung als auf einen Moment der Muße bei gleichzeitiger Konzentriertheit der dargestellten Person weisend zu sehen. 12 Bei den eingangs erwähnten Uni-Hemden erkennt man die Bündelung der Merkmale der jeweiligen Farbe, Männer kennzeichnend und politische Funktion. Der Aufsatz würde viel zu lang werden, an jedem Beispiel die Bündelung von Qualizeichen und ihre distinguierende, aber nicht selbst “ bedeutende ” Funktion zu explizieren. Als These formuliere ich hier: Qualizeichen treten wie die phonologischen distinktiven Merkmale in Verbindungen auf und distinguieren, was in einer jeweiligen Interpretation erfasst werden kann. Anders als in der Phonologie fasse ich die hier behandelten Qualizeichen aber nichts als binär auf. Rhema, Dizent und Argument, Peirces Kategorien des Interpretanten, stammen, wenngleich als allgemeine semiotische Begriffe gemünzt, aus einer Analyse menschlicher Sprachen, die Wörter, Sätze und Texte unterscheidet; Peirce ging vom logischen Schluss aus und kam so auf die Bezeichnung ‘ Argument ’ . Linguisten bezeichnen das mit Rhema Gemeinte heute meistens als Lexem, das mit ‘ Argument ’ Gemeinte als Text. Es braucht nicht ausgeführt zu werden, dass die drei Kategorien ganz hoffnungslos jeder ausgearbeiteten linguistischen Analyse von Sprachen gleich welcher Theorie unterlegen sind. Ein analytisches Instrumentarium, um Zeichenpraxen detailliert zu beschreiben, lag, wenn ich ihn recht verstehe, Peirce nicht im Sinn. Wenn es wie in diesem Aufsatz gerade um die Arbeit an einem analytischen Instrumentarium einzelner Zeichenpraxen geht, braucht es vor allem eine Konzeption von Struktur, auf menschliche Sprachen bezogen, wie sie die Linguistik entwickelt hat, die phonologische und morphologische Struktur von Lexemen, die syntaktische und semantische von Lexemen und Sätzen und die heute immer noch in Ausarbeitung befindliche von Texten geht. Ich werde im folgenden Peirces Kategorien Rhema, Dizent und Argument immer wieder aufgreifen, doch vor allem versuchen zu zeigen, wie Qualizeichen verschiedener Zeichenpraxen in Strukturen funktionieren. Ich bin weit davon entfernt, für andere Zeichenpraxen hier etwas anzubieten, wie es die Linguistik erarbeitet hat. Zunächst ist es das einzelne Element, von Peirce nach dem altgriechischen Wort für ‘ Wort ’ Rhema benannt, das Qualizeichen trägt. Bündel von distinktiven Merkmalen unterscheiden Wörter (Wortformen). Die fünf Vokalphoneme des Standardjapanischen teilen miteinander die Merkmale [+vokalisch], und [-konsonantisch] und sie differenzierend: / a/ [-hoch, +niedrig, -vorn], / i/ [+hoch, -niedrig, -vorn] / u/ [+hoch, -niedrig, -vorn], / e/ [-hoch, -niedrig, +vorn], / o/ [-hoch, -niedrig, -vorn] (Irwin/ Fisk 2019, 17 f.), zum Beispiel ka ‘ Mücke ’ , ki ‘ Baum ’ , ku ‘ Bezirk ’ , ke ‘ Haar ’ , ko ‘ Kind ’ , ha ‘ Zahn ’ , hi ‘ Tag ’ , ‘ Sonne ’ , fu 12 Analysiert man das Bild weiter würde man z. B. von den Verhältnissen von rechts und links sowohl beim dargestellten Körper (rechte und linke Hand lässig und in Distanz, rechtes Bein über das linke geschlagen, das selbst nicht zu sehen ist), als auch in der Anlage des ganzen Bildes sprechen (der menschliche Körper von links nach rechst gelagert und auf der linken Seite und nach oben den Blick auf Objekte der Geschichte und der Kultur freigebend) usw. Farben und andere Qualizeichen 183 ‘ Weizenkleie ’ 13 , he ‘ Furz ’ , ho ‘ Segel ’ , naru ‘ einen Laut von sich geben ’ , niru ‘ kochen ’ , nuru ‘ streichen ’ , neru ‘ kneten ’ , noru ‘ ein Fahrzeug besteigen ’ . 14 Die Suffixe -er, -e, -es zeigen im Deutschen morphologisch den Genusunterschied im Nominativ Singular an, sehr relevant, wenn von Fleisch-und Haustieren die Rede ist: weißer Ziegenbock, weiße Ziege, weißes Zicklein. In figurativer wie abstrakter Malerei sind Farben selbstverständlich Qualizeichen gegenständlicher oder gestalthafter Elemente, in der figurativen differenzieren Kleidung, Gesichtszüge, Körperhaltung und -stellung und vieles mehr Personen, die tragenden Elemente der Historienmalerei. Wir haben schon gesehen, dass Qualizeichen auch anderer Zeichenpraxen als Sprache miteinander verknüpft auftreten und so Interpretanten distinguieren. Klaus Oehler meint sogar, das Qualizeichen könne im Interpretantenbezug nur am Rhema auftreten (Oehler 1986). Ein besonderes Wort zur Kategorie ‘ Argument ’ oder, wie ich häufig statt dessen sage, Arrangement (Wienold 2001, 2015, 2017, 2024, 2024). Wenn man, wie üblich geworden und wie ich es auch schon getan habe, Peirces Argument-Begriff, der vom logischen Schluss her stammt, also einem recht kurzen sprachlichen Gebilde, auf umfangreichere sprachliche Texte, auf solche der Literatur, oder auf Werke anderer Künste wie Gemälde und Statuen, Gebäude, Musikwerke, Gärten, gar Bühnenaufführungen bezieht, fällt störend auf, dass für die komplexe und mannigfaltige Struktur solcher Argumente in der Peirce folgenden Semiotik keine allgemeine, die vielfältigen Erscheinungen übergreifende Begrifflichkeit zur Verfügung steht. Für so etwas Einfaches und Übliches wie, dass ein Bild einen Rahmen, ein Foto einen z. B. wellenartigen Rand, ein Denkmal einen Sockel, ein Buch einen Einband, eine Aufführung eine Spielebene (z. B. Podest oder Bühne) hat, gibt es keine übergreifende begriffliche Grundlegung und keine die genannten Fälle genuin erfassende Terminologie. Rand, Einband, Sockel, Podest markieren die Abgeschlossenheit des Arguments. Dabei, deshalb gehe ich hier darauf ein, sind sie oft durch spezifische Qualizeichen vor allem ornamentalen Charakters ausgezeichnet, einem Bucheinband eingeprägte Bilder und Ornamente, Figürchen in Girlanden auf dem Rahmen eines Gemäldes, Girlanden auf dem Sockel eines Denkmals. Das sind Qualizeichen, die Girlande kann ohne den Sockel nicht auftreten, das Ornament nicht ohne Rahmen, doch sie gehören zu einer Struktur, die mehr als Rhemata und Dizenten ausmachen. Michelangelos Doni tondo hat einen reliefartigen Rahmen, der knaufartige Köpfchen in elaborierten Ornamenten einschließt (Franceschini 2010, 139, 141 mit Abb., Schottmüller 1928). Der sprachliche Text einer Ehrenurkunde kann in einer ornamentierten Rahmung eingefasst sein; der Text für sich kann bereits als Argument betrachtet werden, die Rahmung macht die Ehrung augenfällig, die Ornamente weisen auf die Ehrung und mittelbar auf die geehrte Person. In Zeremonien wird dem Argument ein besonderes Zeichen hinzugefügt, z. B. beim Totengedenken der Fotografie ein schwarzes Band, in früheren Zeiten hängte man um sie einen aus getrockneten Blüten und Blättern geflochtenen Kranz (Brändle 2007, 97 mit Abb. 4). Damit, Qualizeichen übergreifend zu behandeln, sie nicht nur als differenzierendes Merkmal von Rhemata, sondern auch von höherstufigen Einheiten zu begreifen, können 13 Im Japanischen kann / h/ nur als / f/ realisiert werden, so auch in Entlehnungen wie in fuudo ‘ Kapuze ’ ‹ engl. hood. 14 Zu einer Reihe der genannten Lexeme gibt es Homonyme. 184 Götz Wienold wir also ein Stück weit in die komplexe semiotische Struktur von Argumenten bzw. Arrangements eindringen. In gegebenen Fällen mag es beispielhaft gelingen, Rhemata und Dizenten in der Analyse von Gemälden oder Gärten oder Denkmälern 15 anzunehmen, ich arbeite also tentativ weiter mit ihnen, doch gibt es meines Wissens keine allgemein akzeptierte Praxis dafür. Schon Rafael Alberti parallelisierte bei Betrachtung der Komposition von Gemälden Figuren mit Sätzen und untergliederte sie weiter, Körperflächen setzte er z. B. gleich Wörtern (vgl. Baxendall 1972, 135 ff.). Kandinsky führte in Punkt und Linie zu Fläche (1926) die Komposition nichtfigurativer Malerei auf einige wenige Elemente, die sich in primitiven Formen wie Kreis, Dreieck, Quadrat manifestieren, sowie auf Farbe und Faktur (Anlage des Bildes nach Art der Grundfläche, des Malgeräts und des Farbauftrags) 16 zurück (vgl. Thürlemann 2007; Bätschmann 1992, 105 - 110, exemplifiziert das am Punkt). Ohne die Beschreibung von Werken der bildenden Kunst, wie sie Heinrich Wölfflin, Erwin Panofsky und andere entwickelt haben, dafür gründlich aufzuarbeiten, wird die Verbindung Pericerscher Semiotik mit der anvisierten Analyse nicht angegangen werden können. Hier will ich nur einen Punkt ausführen. In folgenden Beispielen möchte ich vorschlagen, bestimmte Einzelelemente nicht als Rhemata in Dizenten, sondern als Qualizeichen des ganzen Arguments, das das Gemälde ausmacht, anzusehen. Der Schmetterling mit aufgespannten Flügeln auf Anselm Feuerbachs Iphigenie (in der zweiten Fassung: Kupper 1993, 72 - 76), die “ Seele ” andeutend, mit der nach Goethes Worten Iphigenie “ das Land der Griechen sucht ” , denke ich, sollte nicht als Rhema eines, wenn man ihn in Worte fassen will, Dizenten ‘ Ein Schmetterling setzt zum Fluge an ’ betrachtet werden, sondern als Qualizeichen des ganzen Arguments. Erst der sehr kleine Schmetterling ergibt diese Interpretation, ohne ihn legt sie sich sicher weit weniger nahe. Die schwarze Katze am rechten Rand von Edouard Manets seinerzeit das Publikum erregender Olympia, als Zeichen des Versprechens auf sexuelle Lust, half neben anderen Zeichen zum Skandal, Manet habe mit malerischer Pracht und in großem Format der Öffentlichkeit eine Prostituierte an die Wand gemalt. 17 Das weiße Hündchen auf Manets Bezugsbild Tizians Venus von Urbino, deutet dagegen auf Treue in der Liebe (Rubin 2010, 85 - 93), so lagert auch in Jan van Eycks Arnulfini-Hochzeit vor dem Paar ein kleiner Hund (Hagen/ Hagen 2005, 50 f.). Einzelelemente werden also, so meine These, von Rhemata herabgestuft zu differenzierenden Zeichen, Qualizeichen. So auch eine Spindel in der Hand eines Mannes in Frauenkleidung: Herkules bei Omphale (auf dem in Beirut zerstörten, dann wieder restaurierten Gemälde Artemisia Gentileschis oder dem Gemälde Lucas Cranachs d. Ä., dem Frauen gerade eine Haube aufsetzen, während eine ihm die Spindel hinhält: Walther 2003, 197), Symbol seiner Demütigung; so ein Buch mit dem griechischen Titel “ Mühen des Herkules ” , auf das auf Holbeins des Jüngeren Darstellung Erasmus seine Hand legt, den ersten kritischen Herausgeber der griechischen Bibel damit auszeichnend (Margolis 2018, 99, Abb. 1). 18 15 Beispiele entsprechender Analysen von Denkmälern in Wienold 2001. 16 Vgl. Kandinsky 1926, 52 - 56. 17 Zur Skandalisierung durch Manets Olympia vgl. auch Calasso 2014, 314 - 317, Farago 2023. 18 Vgl. Veltruský 1976, 254 f., über “ codified contiguity ” . Farben und andere Qualizeichen 185 1.3 Qualizeichen und Sinnesqualitäten Vor allem visuelle, auditive und taktile Qualitäten, aber auch Geruchs- und Geschmacksqualitäten sowie Wahrnehmung von Wärme und Position des menschlichen Körpers in seiner Umgebung bilden die Grundmenge, aus denen Qualizeichen gebildet werden. Solche Sinnesqualitäten werden in der Zeichenbildung bereits zu Komplexen und Strukturen aus solchen transformiert. Die phonologischen distinktiven Merkmale funktionieren in der Transformation artikulatorischer Eigenschaften über physikalische der bewegten Luft zu auditiv wahrgenommenen und vom Gehirn entsprechend verarbeiteten, die graphische Repräsentation von Sprachen in der Transformation von durch Schreib- oder Druckgeräte produzierten Gestaltmerkmalen über physikalische zu visuellen, die gelesen werden, ein von einem Klangkörper erzeugter Ton über Schallwellen zum gehörten Ton, der Auftrag von Farbe durch ein Malgerät auf einem Träger durch die spezifische Färbung und Konturierung der Oberfläche ( “ Pinselstrich ” ) zur visuell wahrgenommenen und verarbeiteten Farbe. (Das gilt selbstverständlich auch für die Zeichenhaftigkeit der Wahrnehmung und der davon angeleiteten Tätigkeit von Tieren.) 19 Farben, Laute, Töne, Gestaltmerkmale, Stoffe wie Stein, Holz, Ton, kurzum alle Materialitäten 20 sind in der sinnliche Wahrnehmungen verarbeitenden Semiose also bereits Komplexe von Qualitäten. So treten sie in bildender Kunst, in Architektur und Umweltgestaltung, in Kleidung, Theater, Fotografie, Film, Spiel und in der Gestaltung von Objekten auf. Objekte sind Zeichen in einem Gebrauchszusammenhang (Wienold i. E.). Ornamente auf Objekten stechen dabei als eine spezielle Sorte von Qualizeichen hervor. In den Künsten spielen, wie bereits angedeutet, Qualizeichen eine besondere Rolle in Ikonisierung und Symbolbildung auf dem Wege von Abstrahierungen. Sprache und damit gleichfalls Literatur sind darin besonders, dass sie materielle Qualitäten haben und Benennungen und Beschreibungen von Qualizeichen ermöglichen. Damit entsteht eine Art der der Literatur eigenen Qualizeichen. Die die Qualizeichen konstituierenden Sinnesqualitäten wirken zusammen. “ It is not only the shape of the material that is decisive, so are its other properties. The hardness or softness of stone, the frangebility of stone in comparison with the suppleness of metal, the shining qality of marble, the luster of metal, the pliability of wood …” (Muka ř ovsky 1976b, 243). Das gilt insbesondere für visuelle und taktile Qualitäten. Barthes liefert ein instruktives Beispiel am Citro ē n D. S.19 (im Französischen als Femininum behandelt): “ Die D. S.19 erhebt keinen Anspruch auf eine völlig glatte Umhüllung, wenngleich ihre Gesamtform sehr eingehüllt ist, doch sind es die Übergangsstellen ihrer verschiedenen Flächen, die das Publikum am meisten interessieren. Es betastet voller Eifer die Einfassungen am Fenster, es streicht mit den Fingern den breiten Gummirillen entlang, die die Rückscheibe mit ihrer verchromten Einfassung verbinden. ” (Barthes 1982, 77) Wie beim Alltagsobjekt Barthes ’ so im Kunstobjekt, im Arrangement von Steinen und Pflanzen in einem zum Anschauen bestimmten Zen-Garten Kobori Enshuus in Kyoto: “… die Qualitäten der Elemente suggerieren auch taktile Wahrnehmbarkeit, zwar nicht direkte, weil wir nicht an sie herankommen, jedoch 19 Zu Geruchs - und Geschmacksqualitäten als Zeichen vgl. Schön 2016, 70 f. 20 Alexander Heilmeyer spricht von der “ Mannigfaltigkeit der Ausdrucksmittel ” in der Bildhauerei: “ Stein, Holz, Terrakotta, Elfenbein, verschiedene Metalle ” (Heilmeyer 1902, 6). Gips, Modellierton und Kork möchte man hinzufügen. 186 Götz Wienold von Fingern und Händen imaginiert, weiche Blütenblätter, wenn die Kamelie blüht, oder harte grüne Blätter bzw. Nadeln der Kiefern, Glätte von Blättern gegenüber rissiger Rauheit von Steinen, oder von Füßen bei imaginiertem Laufen über Moos gegenüber Kieseln. Wie die visuelle Wahrnehmung Gestalt, Färbung, Material differenziert, so die Imagination einer Berührung Weichheit und Härte, Glätte und Rauheit, Schmiegsamkeit und Widerstehen. ” (Wienold 2024, 130) In der Kunstgeschichte wird seit Hildebrand und Wölfflin das Zusammenspiel von visuellen und taktilen Qualitäten bearbeitet (Bryson 1991, 62). Niklaus Largier argumentiert sogar, der Tastsinn sei das “ Fundament aller Sinne ” (Largier 2010, 111). 21 Die Fühler am Kopf der Wespe dienen dem Tastsinn und dem Geruchssinn. Der Bär erkennt Pflanzen, die für ihn essbare Wurzeln, Zwiebeln oder Knollen haben, visuell an der Gestalt, mit der Schnauze am Geruch und gräbt sie mit dem Tastsinn der tief eindringenden Krallen der Nägel seiner Pfoten aus (Sokolova 2018, 116 f., 10 f.). Mehrere Sinne wirken zusammen, um Wahrnehmung und Handlung von Tieren, Menschen eingeschlossen, miteinander zu koppeln. Jean Piaget hat ausführlich beschrieben wie Saugen, Tasten, Sehen und Hören bei Kindern im allmählichen Aufbau der Wirklichkeit ineinandergreifen (Piaget 1975). Ohne dass ich in der Lage bin, das genau und gründlich zu entwickeln, denke ich, dass hier die biologischen und psychologischen Grundlagen der semiotischen Funktion der Qualizeichen zu verorten sind (vgl. immerhin Tønnessen 2023). Was wir visuell wahrnehmen und ästhetisch schätzen, wird immer auch taktil wahrgenommen und erlebt, visuell wie taktil Kleidung, Möbel, die Ausgestaltung des Wohnbereichs wie begehbare Flächen ausserhalb. Teppiche und Bodenbelag werden vom Körper, besonders von Händen und Füßen, über die Haut direkt oder vermittelt durch Fußsohlen, Schuhwerk, Innenhandflächen, in Fahrzeugen über Sitzflächen sinnlich verarbeitet, auditiv die gesamte unbearbeitete wie bearbeitete Objektwelt im täglichen Umgang. 1.4 Qualizeichen in sozialer Zeichenpraxis Alle Zeichenpraxis ist gesellschaftlich und historisch bestimmt. Von den Hemdenfarben zu Beginn an sind wir immer wieder auf soziale und politische Funktionen von Qualizeichen gestoßen. Sie wirken in gesellschaftlichen Strukturen im Kampf um Macht und Herrschaft, sie funktionieren zur Erhöhung oder wie die Farbe gelb zur Ausgrenzung und Unterdrückung von Juden. ‘ Weiß ’ wird immer wieder neu anders identifizierend und symbolbildend aufgeladen. Weiße Kleidung trugen die Frauen der Suffragettenbewegung. Um die Öffentlichkeit über den Mord an Nahel Merzouk durch einen französischen Polizisten im Juni 2023 in Nanterre zu sensibilisieren, wurde eine marche blanche veranstaltet. 22 In der Ukraine wird eine Polizeieinheit “ weiße Engel ” zur Abwehr militärischer Aktivitäten Russlands eingesetzt. 23 Mit deutlicher sozialer Kritik warnte Leo Tolstoi: “ Weiße Hände 21 ” Alle übrigen Sinne, selbst Sehen und Hören, sind ihm gegenüber in dieser Hinsicht sekundär, da es die Blindheit und Dunkelheit des Tastens und der Berührung sind, die den Raum der Möglichkeit abgeben, den Sehen und Hören, Riechen und Schmecken in je eigener Weise zu gestalten vermögen. Damit befinden wir uns … in einem Schema der Konvertibilität, in dem der Tastsinn, der als Sinn die Berührung verkörpert, gleichzeitig alle Sinne begleitet, in diese eingeht und aus ihnen wieder zurückkehrt. ” (ebd. 111) Vgl. auch Böhme 1998. 22 Nachrichten in France Deux 20 heurs, 27. 6. 2023. Der volle Name des Getöteten nach New York Times International Edition 8./ 9. 7. 2023.. 23 “ heute ” im ZDF 29.11. 2023, 19 Uhr. Farben und andere Qualizeichen 187 lieben fremde Arbeit. ” (Tolstoi 1991, I 190) In Deutschland wurde, schreibt Anne Sudrow, für Männer gegenüber dem Halbschuh der Weimarer Zeit nach 1933 bald der Marsch- oder Militärstiefel des SA-Mannes “ der Inbegriff des Standardschuhs ” (Sudrow 2010, 432). Ein normalerweise von außen nicht sichtbar getragenes Kleidungsstück außen zu tragen wird zum Qualizeichen, das demütigt: 1259 mussten in St. Vincent-en-Caen vier Ordensbrüder, die einen Laienbruder getötet hatten, “ zu vier Terminen barfuß und nur mit einer Bruche bekleidet erscheinen und wurden dort öffentlich ausgepeitscht. ” (Kania 2010, 111) 24 In den 20ern des vergangenen Jahrhunderts galt ein Flachdach an Gebäuden als progressiv. Friedrich Wolf, sozialistischer Arzt und Autor, bekannt u. a. durch Der arme Konrad, ein Stück aus den Bauernkriegen, oder Cyankali, ein Stück im politischen Kampf gegen das Verbot der Schwangerschaftsunterbrechung (§ 129), hatte in Stuttgart ein Haus mit Flachdach gebaut. 1933 musste er emigrieren, sein Haus wurde verkauft, beim folgenden Umbau setzte die Baubehörde - Flachdach galt als “ undeutsch ” - ein Spitzdach durch (Kienle/ Mende 1992). In der DDR wurde in Herbert Henselmanns Stalinalleebauten das Flachdach vorbildlich wie in Eisenhüttenstadt, Planstadt nach den 16 Grundsätzen des Städtebaus für die neu und modellhaft errichteten Arbeiterwohnungen, wenn auch nicht durchgängig, eingesetzt (zahlreiche Abbildungen in Maleschka 2023). Ein “ harmloseres ” Bespiel: In einer Madonna am Springbrunnen eines “ süddeutschen Malers nach Jan van Eyck ” wurden nachträglich der Maria ein Heiligenschein und ein Schleier hinzugemalt, “ vielleicht um das Bild als ein Werk der italienischen Frührenaissance erscheinen zu lassen. ” 25 . Uns näherliegend und historisch gravierender der Skandal um Max Liebermanns Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Jesus als barfüßigen Jungen mit dunklem Haar und eher ärmlichem Kleid gemalt zu sehen, empörte öffentlich Maß Setzende so sehr, dass Liebermann ihn übermalte. Der Jesusknabe war nun blond, trug ein leuchtend schönes und wohl gegürtetes Gewand und Sandalen (Boskamp 1994, 74 - 115; Faass 2009). 26 Blondes vs. dunkles Haar, ärmlicher Kittel vs. leuchtendes Kleid, barfuß vs. beschuht: Die Qualizeichen leiten die Interpretation und ihre Folgen. Liebermanns Jesus steht mit dem Rücken zu uns, andere Bilder zeigen Jesus blauäugig. Der Prozess, Jesus zu einem “ Weißen ” zu machen, begann, schreibt Richard Dyer, mit der europäischen Expansion, speziell mit den Kreuzzügen (Dyer 1997, 67). 27 Pierre Bourdieu hat die strukturalistische Analyse menschlicher Sprachen der Traditionen Ferdinand de Saussures und Noam Chomskys scharf kritisiert, ebenso die Sprechakttheorie Austins (Bourdieu 2005). Seine Kritik betrifft auch die distinktiven Merkmale. Immerhin, er übernimmt diesen Begriff aus der strukturalistischen Linguistik. Er akzeptiert also eines ihrer grundlegenden Konzepte und arbeitet selbst damit. Strukturalistische linguistische Analyse vernachlässige, schreibt Bourdieu, völlig, wie in einer Klassengesell- 24 Bruche ist ein ältere Bezeichnung einer männlichen Unterhose (mhd. bruoch), Abb. 43 (Kania 2010, 121 - 128). 25 Erläuterung zum Bild in Zoom auf Jan van Eyck, Ausstellung in der Gemäldegalerie Berlin 2023 - 24. 26 Als Gegenbild zur angefeindeten früheren Fassung vgl. Adolf Menzel, Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Es zeigt einen blond gelockten, blauäugigen, weißen Jungen in schönem, hellem Gewand und mit Sandalen (Grebe 2014, 24 f.). 27 Dyer 1997, 68: “ The gentilising and whitening of Christ was achieved by the end of the Renaissance and by the nineteenth century the image of him as not just fair-skinned but blond and blu-eyed was fully in place. ” Vgl. ebd., 118. 188 Götz Wienold schaft, in der soziale Kämpfe auch mit Mitteln der Sprache ausgetragen würden, sprachliche Eigenschaften als solche Mittel darzustellen und kenntlich zu machen. Die relevanten Distinktionen in geläufigen strukturellen linguistischen Untersuchungen unterscheiden sich in seiner Sicht stark von den Distinktionen, die eine soziologische Analyse der Sprache herauszuarbeiten habe. “ Tendenziell entsteht ein System soziologisch relevanter Gegensätze, das mit dem System der sprachlich relevanten Gegensätze nichts zu tun hat. … Im Bereich von Aussprache, Wortschatz und sogar Grammatik gibt es … einen ganzen Komplex von Unterschieden mit einer signifikanten Beziehung zu sozialen Unterschieden, die aus der Sicht des Sprachwissenschaftlers uninteressant, vom Standpunkt des Soziologen aber relevant sind, weil sie zu einem System sprachlicher Gegensätze gehören, das die Rückübersetzung eines Systems sozialer Unterschiede ist. ” (Bourdieu 2005, 59 f.) 28 , “… die Diskurse sind nicht nur (oder nur ausnahmsweise) sprachliche Zeichen, die dechiffriert und verstanden werden sollen; sie sind auch Zeichen des Reichtums, zu taxieren und zu bewerten, und Zeichen der Autorität, denen geglaubt und gehorcht werden soll. ” (ebd., 73). Sozial relevante distinktive Merkmale werden durch Erziehung und Bildungsinstitutionen durchgesetzt und weitergegeben. “ In diesem Sinne ist die Sprachwie die Kultursoziologie nicht von der Bildungssoziologie zu trennen. ” (ebd. 69) Bourdieu gibt eine ganze Reihe von Beispielen, etwa die sozialen und regionalen Varianten der phonetischen Realisation von r und l im Französischen oder den Gebrauch des Dialekts des Béarn. Er avisiert eine “ strukturale Sprachsoziologie ” , die die sozialen Werte sprachlicher Eigenschaften darstellt (ebd., 60). 29 Eine entsprechende Beschreibung von Sprachen bis in die Qualizeichen hinein gibt es meines Wissens bislang allenfalls in Ansätzen. Wie sich unter sich ändernden historischen Bedingungen der Umgang mit einem Qualizeichen wandelt, soll ein letztes Beispiel zeigen. Jacques Amans, einem im 19. Jahundert in Louisiana wirkenden französischen Porträtmaler, wird ein jetzt Bélizaire and the Frey Children genanntes Gemälde zugeschrieben. Es zeigte und zeigt heute wieder zusammen mit drei Kindern der Familie Frey, dreieckförmig im Vordergrund in die Mitte gesetzt, rechts hinter ihnen, höher gestellt und gegen einen Baum lehnend Bélizaire, einen jungen Mann afrikanischer Herkunft mit dunkler Hautfarbe, Haussklave der Familie Frey. Laut Nachforschungen von Betsy Kornhauser, Kuratorin für amerikanische Kunst am New Yorker Metropolitan Museum of Art, wurde vermutlich gegen 1900, als die Afro- Amerikaner in New Orleans schärfer segregiert wurden, die Figur Bélizaires übermalt, sie verschwand aus dem Bild. Erst kürzlich reinigte die Konservatorin Katja Grauman das Bild und entdeckte dabei die Figur Bélizaires. Ein mit der Black Lives Matter-Bewegung gestiegenes neues Bewusstsein brachte Bélizaire jetzt ins New Yorker Met (Eaton 2023). 28 “ aus der Sicht des Sprachwissenschaftlers uninteressant ” : hier würden sicher heute viele Linguisten Bourdieu nicht zustimmen. 29 Zu einer Konzeption einer umfassenden linguistischen Beschreibung sprachlicher Eigenschaften (hier für die fachdidaktischen Zwecke des unterrichtlich gesteuerten Zweitsprachenerwerbs) vgl. Wienold 1975, besonders 244 - 247. Gegen sie würden sicher auch die Bedenken erhoben, die Bourdieu 2005 darstellt. Farben und andere Qualizeichen 189 2 Qualizeichen in verschiedenen Zeichenpraxen 2.1 Qualizeichen im nichtverbalen Verhalten “ Die Sprache ist eine Technik des Körpers. ” (Bourdieu 2005, 94) Das lässt sich gut am nichtverbalen Verhalten demonstrieren, ob es mit Sprechen einhergeht oder für es eintritt. Hier will ich nur ein anekdotisches Beispiel aus eigener Beobachtung vorführen. Qualizeichen der Proxemik, der Mimik, Gestik und des Körpereinsatzes verbinden sich darin. In der Cafeteria einer öffentlichen Bibliothek lehnt sich ein Mann in einer Sitzbank zurück, ein Zweiter, an einem Laptop beschäftigt, sitzt mit dem Rücken zu ihm an einem kleinen Tisch davor. Zwischen beiden besteht kein für den Beobachtenden erkennbarer Kontakt. Ein Dritter nähert sich dem Ersten mit einem Knick und einem leichten Wippen in den Hüften, spricht, gleichzeitig lächelnd, ihn an. Nach ein paar Reden und Gesten zwischen beiden, erhebt sich der Erste, sie bewegen sich zusammen am Tischchen des Zweiten vorbei und drehen sich ihm zu. Mit einer ähnlichen Hüftbewegung wie vorhin klopft der Dritte auf das Tischchen, lächelt und redet den daran sitzenden Zweiten an. Nach einigen Wechseln von Reden und Gesten zwischen allen dreien, gibt Nr. 2 Nr. 1 ein Geldstück, 1 und 3 gehen zusammen zur Bedienungstheke, während 2 sich wieder dem Laptop zuwendet. Bald sitzen sie zu dritt am Tisch des Zweiten, Finger-, Hand-, Kopf- und Schulterbewegungen, Blickwechsel usw. Im Handlungsablauf, dessen ihn begleitende Reden für den Beobachter nicht zu hören waren, spielen als nichtverbale Qualizeichen Annäherung zur Kontaktaufnahme, die vom Ersten registriert wird (Proxemik), leichter Knick in den Hüften und Wippen (Körpereinsatz), Klopfen auf den Tisch (Gestik) und Lächeln (Mimik) so miteinander, dass der Ablauf im Groben verständlich wird. 30 Neben dem meist behandelten nichtverbalen Verhalten, das Reden und Zuhören begleitet, gibt es ein anderes, das zu innerem Sprechen gehört und, wenn andere zugegen sind, vor ihnen nach Möglichkeit verborgen wird, bei Gesprächen im Sitzen z. B., indem Hände oder Finger unter dem Tisch oder im Rücken aktiv sind. Solche Verhaltenszüge habe ich Kinästheme genannt (Wienold 2005). Kratzen am Hinterkopf, das nicht einem Gesprächspartner gilt, ist eines davon. Solche Kinästheme schlage ich vor gleichfalls als Qualizeichen des nichtverbalen Verhaltens zu betrachten. 2.2 Qualizeichen in der Objektgestaltung Bauchig die Teekanne, geradestämmig die für den Kaffee, der Henkel rund geschwungen oder eckig, verziert oder nicht, der Deckel flach oder sich wölbend, mit dem Kannenkörper verbunden oder abzuheben. Neben den im einzelnen noch diverseren Materialien, aus denen Objekte gemacht sind, und den Farben ihrer Oberflächen, auf die gesehen und gefasst wird, zeichnen Gestaltmerkmale wie die eben genannten, schließlich Ornamente auf den Oberflächen und in der Gestaltformung, die Objekte des alltäglichen Gebrauchs eines gegen ein anderes aus. Alle zusammen bestimmen mit den Warencharakter der Objekte, Preis und Wertschätzung. Alle sind Qualizeichen, gebunden an sie, unlösbar von ihnen. Diese Qualizeichen lenken die Aufmerksamkeit auf die Objekte. Bei alltäglichen Objekten sind die 30 Die zahlreichen weiteren Gesten liefen viel zu schnell und verwickelt ab, als dass sie unter den gegebenen Bedingungen hätten aufgenommen werden können. 190 Götz Wienold Personen, die sie hervorgebracht haben, meist unbekannt, in der Warenwelt allenfalls die Marke der herstellenden Firma. Edwards nennt unbenannte Formen, die über eine sich lange hinziehenden Zeitraum entstehen, “ vernacular ” (2006, 59). Objekte sind Zeichen im Gebrauchszusammenhang (Wienold 2024a, Abschnitt 2). Die Objekte selbst sind die Zeichenträger, der ihnen bestimmte Gebrauch ihre Referenz, die Schätzung oder Bewertung im Gebrauchszusammenhang ihr Interpretant. Manche sprechen von “ Ausdruckswert ” (vgl. Breuer/ Eisele 2018: 62 - 66), Thomas Dexel stellt “ Gebrauchsgerät ” gegen “ Repräsentationsgerät ” (Dexel 1986, 11). Wie wir Objekte schätzen und was wir an ihnen schätzen, zeigt sich im Erwerb, Gebrauch, im Empfehlen, im Verschenken, also auch, was manche die “ Bedeutung ” ( “ meaning ” ) von Objekten nennen: “… any item of nature, technology, or everyday use can become a sign whenever it acquires meaning beyond the bounds of its individual existence as a thing of and in itself. ” (Bogatyrev 1976, 14) Mir scheint es besser, statt “ Bedeutung ” zu suchen, Objekte im Gebrauchszusammenhang zu betrachten und in dessen vielseitigen Realisationen, die wie gerade gesagt Kauf und Schenken einschließen, den Interpretanten der Objekte manifestiert zu sehen. Das Zeichenhafte der Objekte sieht man gut an den sie wechselseitig untereinander auszeichnenden Merkmalen, besonders deutlich an Ornamenten. Der frühere Präsident der Philippinen Rodrigo Duterte und der neu gewählte Ferdinand Marcos Jr. standen bei der Amtseinführung des letzteren auf knapp bemessenen, niedrigen, mit einem leichten Schritt betretbaren Podesten und vollzogen den üblichen militärischen Gruß. Die Podeste, nach dem Foto zu urteilen vermutlich aus Holz, trugen an den Seiten reliefartige Ornamente, die Ornamente also geschnitzt, nicht aus alltäglicher Produktion (Abb. Heydarian 2023). Die Ornamente gelten den Personen, ihrem Amt und der Gelegenheit, der politischen Zeremonie. 31 Sie ziehen die Augen an und können in die Interpretation eingehen. Ornamente wirken quasi wie das Gesicht eines Gegenstandes. Nach ihren Qualizeichen, speziell ihren Ornamenten, sind Objekte metonym zu den Menschen, die sie gebrauchen, mit ihnen wirken, Handlungen vollziehen, wie alles Indexikalische metonym zu dem ist, wozu es als Index funktioniert. Wie eingangs bereits bemerkt, sei hier noch einmal hervorgehoben: Indexikalität und Materialität, d. h. alles, was als Qualizeichen wirkt, sind allem Zeichenhaften fundamental. Bei Bildern dienen, wie bei dem bereits erwähnten reich dekorierten Rahmen von Michelangelos Doni tondo, ornamentierte oder geschmückte Einfassungen und Rahmen der Verehrung der Dargestellten. In Dostojevskijs Roman Der Jüngling (Podrostok) heißt es einmal: “ In demselben Zimmer hing in einer Ecke ein großer Heiligenschrein mit altertümlichen, schon lange im Besitz der Familie befindlichen Heiligenbildern, von denen das eine (alle Heiligen) eine große vergoldete Silbereinfassung hatte und ein anderes (das Bild der Muttergottes) eine mit Perlen gestickte samtene. ” (Dostojewski 1961, 100) Gemalt finden wir Ornamente auf Objekten in Bildern wieder. Jan van Eyck malte auf den Außenflügeln eines Triptychons von Maria und Kind die Verkündigung als Statuen einmal des Engels, dann der Jungfrau mit Kind und herabsteigendem Geist in Vogelgestalt. Er malte die Statuen als auf sechseckigen Podesten stehend, die Podeste tragen auf den Seitenflächen 31 Zu Zeremonien vgl. Wienold 2017, 390. Farben und andere Qualizeichen 191 schlichte Ornamente. Ähnlich finden wir Engel und Jungfrau in einem Diptychon der Verkündigung van Eycks als zwei Statuen auf ornamentierten Podesten gemalt (Borchert 2022, 62 - 67 mit Abb.). Cosimo Rosselli malte das Letzte Abendmahl in der Sixtinischen Kapelle innerhalb einer gemalten Architektur, über die Szene des Mahls mehrere andere biblische Themen, die er in Säulen einrahmte und voneinander abgrenzte, die Säulen jeweils mit Ornamenten geschmückt (Gilbert 1974, Abb. 5). Holbein malt links von Erasmus eine ornamentierte Säule (Margolis 2018, 99). Die Kartusche in der linken oberen Ecke der Karte der Niederlande auf Vermeers Kunst der Malerei ist von einem ornamentalen Band eingerahmt (Alpers 1983, Tafel 2 und Abb. 70). Farben weisen wie Ornamente gleichfalls auf eine besondere Rolle eines Objekts. In einem Ritus der Ahnenverehrung in Japan wird den Ahnen Wasser auf einem Altar aus weißem Holz dargeboten (Hardacre 1984, 35). Neben der Farbe wirkt sicher gleichermaßen das Material ‘ Holz ’ . 32 Der Anführer einer paramilitärischen Organisation während der militaristischen Periode Japans erregte die Öffentlichkeit dadurch, dass er bei einer Zeremonie auf einem weißen Pferd auftrat, wie es eigentlich für den Kaiser reserviert war (Garon 1986, 287 ff.). 33 Farben, die einem inschriftlichen Hinweis unterlegt sind, sollen Beachtung bewirken. So war während der Hoch-Zeit der Corona-Epidemie in Moskau in einem Impf-Kabinett ein Spruch “ Gemeinsam besiegen wir Covid 19 ” in weißen Buchstaben auf tief himbeerroten und hellblauen Streifen aufgetragen. 34 Rot und blau, wenn auch abgetönt, ergeben zusammen mit den weißen kyrillischen Buchstaben die russischen Nationalfarben, mögen also das ‘ Gemeinsam ’ zusätzlich andeuten. Rot, weiß und grün, eine Scheibe Tomate, eine Scheibe Mozzarella auf einem grünen Blatt, als Gericht Capresi benannt, signalisieren ‘ aus Italien ’ . 2.3 Qualizeichen und Kleidung Bei Kleidungsstücke fällt, besonders wenn sie von Menschen getragen werden, der Zeichencharakter sofort ins Auge. Klassische Texte einer Semiotik der Kleidung sind Bogatyrevs Buch zu traditionellen slowakischen Trachten (Bogatyrev 1971) und sein Aufsatz zum gleichen Thema: (Bogatyrev 1976): “ Costume is both material object and sign. ” (ebd., 13) Wenn Ethnologen Kleidung analysieren, geht es allermeist um volkstümliche Trachten, die zu festlichen Gelegenheiten angelegt werden, also reich geschmückt sind mit Borten und anderem Besatz, geschnitzten Knöpfen, Stickerei, z. B. um Knopflöcher, Spitzen und Bändern. Solche Qualizeichen wirken wie Ornamente, zeichnen Personen, ihr Geschlecht, ihren Stand usw. aus. Trachten und damit ihre Qualizeichen haben, wie Bogatyrev schreibt, neben praktischen und ästhetischen erotische, magische und moralische Funktionen. Allgemein teilt Kleidung solche Funktionen, so auch die Auffassung Bogatyrevs (1971, 33). Was zur Metonymie von Ornamenten auf Objekten gesagt wurde, gilt vorzüglich von der Kleidung. Alltägliche Hülle zeigt Menschen im Alltag, die nicht weiter auffallen wollen: “ Ich 32 Zu ‘ Holz ’ vs, ‘ Stein ’ in einem japanischen Tempel vgl. Wienold 2017, 382. 33 Der Kanzler Ludwigs XIV. reitet auf einem Bild von Charles Le Brun auf einem Schimmel in Paris ein (Hagen 2005. 433 f.). 34 Vesti v 20 č asov ( “ Nachrichten um 20 Uhr ” ), 5.7.2021. 192 Götz Wienold bin so wie jede(r) andere. ” Junge Männer in Japan tragen vor allem schwarze Kleidungsstücke welcher Art auch immer, Farben und auffällige Gestalt und Muster zeigen bemerkenswerterweise nur ihre Sneakers. Schaut man entgegen kommenden Personen, wie in Japan üblich, nicht ins Gesicht, blickt man auf ihre Füße. Im Sommer 2023 trug die Großzahl der jungen Männer in Japan in der Freizeit ein weißes T-Shirt und eine schwarze Hose. Weiß und schwarz sind dann (fast) die einzigen Qualizeichen ihrer Kleidung. Lederjacken sind bei Männern üblicherweise schwarz oder braun, in anderen Farben stechen der Mann oder die Frau in ihnen ab. Schulterklappen und ihre Art, Zahl und Anbringung von Reißverschlüssen, Kettchen und andere Paraphernalia differenzieren, Bilder oder Sprüche findet man eher auf dem Rücken, vor allem von Sportjacken (Wienold 1995, Abb. 29). Das ist genderspezifisch. Bunte Farben und Muster stehen vor allem Frauen zu, in Japan allerdings nicht Frauen, die in Büros tätig sind. Adolf Loos wetterte in seinem Essay Ornament und Verbrechen (1908), der seinerzeit genauso wie das von ihm entworfene Haus auf dem Michaelerplatz ohne Ornamente an den Fassaden direkt gegenüber der reich geschmückten Hofburg in Wien große Aufregung verursachte, gegen die aus “ zacken und löchern ” gebildeten Ornamente auf den sogenannten Budapester Schuhen (Loos 1931, 87; Abb. 16 in Sudrow 2010, 178). Schulterklappen und Reißverschlüsse wurden schon erwähnt. Alle Accessoires an Kleidungsstücken, Knopfleisten und ihre Knöpfe, Zupfer an den Reißverschlüssen, Gestalt und Zuschnitt der Taille, von Kragen, Revers und Manschetten, Koppel von Gürteln, alle Arten von Besatz, früher Posamente genannt, gehen wir schließlich ins Feinere, die Art und Prononciertheit von Nähten, wirken als Qualizeichen, die differenzieren, anzeigen können, dass die Personen, die die Stücke gewählt haben, sie individuell gewählt haben und deshalb sie tragen. Dicke Kreppsohlen zu Knickerbockers fielen mir in meiner Jugend an Altersgenossen auf, die etwas darstellen wollten. Je genauer hingeschaut wird, um so mehr wird geachtet: Das ist sie, das ist er. Muster auf Potaschen von Jeans wirken in ihrer Schlichtheit - vermutlich - gerade so. In Kleidung im Mittelalter beschreibt Katrin Kania “ textilbildende Techniken ” wie die Fadendichte des Gewebes von “ sehr grob ” bis “ sehr fein ” , die Garnfeinheit, die Bindung, d. h. “ das Muster, in dem Kett- und Schussfäden über- und untereinander verlaufen ” (49 - 69), die Verarbeitung des Stoffes durch Fälteln oder Plissieren (73 - 86), Stichtypen, Nahtarten, Saumtechniken, Steppung und Wattierung und viele weitere Charakteristika der Herstellung, die Wert und Wertschätzung von Kleidung bestimmen. Anne Sudrow führt zu Schuhen, vor allem nachdem der Schuh in den 20ern des 20. Jahrhunderts “ zum modischen Produkt wurde ” (Sudrow 2010, 173) an: “ Ornamente, Schnallen, Zierleisten, Material und Farben ” (ebd., 168), dazu treten noch die Ausgestaltung von Sohlen, Absätzen, Schnürbändern. Farben von bei Zeremonien getragener Kleidung wird oft eine eigene, in Worte fassbare Rolle beigelegt, so den Paramenten, die katholische Priester bei der Messe tragen, schwarz bei Totenmessen oder am Karfreitag, rot bei Märtyrerfesten usw. In der Shichimenzan- Pilgerfahrt der japanischen buddhistischen Sekte Reiyukai tragen die Pilger weiße Kleidung, die Reinheit anzeigt (Hardacre 1984, 78), bei der Rezitation von Sutren in der Ahnenverehrung wird eine weiße Schärpe getragen (ebd., 35). Ähnlich funktionieren Gender differenzierende Farben, z. B. bei den Mohave-Indianern: “ An infant, swathed in cloth, is tied into the cradle with two bands of woven bark. The bands for a boy are black and Farben und andere Qualizeichen 193 white, for a girl red or any other color. ” (Wallace 1948, 25) So gilt es selbstverständlich auch für andere Qualizeichen: “ Young boys wear their hair straight and short, girls long and loose. ” (ebd., 29) Hertha BSC Fans tragen, wenn sie zu einem Spiel ihrer Mannschaft unterwegs sind, blau-weiß längs gestreifte Hemden, Schals usw., Fans anderer Mannschaften Entsprechendes. Getragen sind solche Kostümteile Indizes der Zugehörigkeit, die Qualizeichen der Färbung (blau-weiß) und der Musterung (Längsstreifen) referieren auf die jeweilige Mannschaft ( “ Träger(in) ist Anhänger(in) der X-Y-Mannschaft ” ). Werden sie im öffentlichen Verkehr bemerkt, ist als zusätzliche Interpretation erschließbar: “ Heute findet/ fand ein Spiel der X-Y-Mannschaft statt. ” , in Stadien: “ Wir unterstützen die X-Y-Mannschaft. ” Als solche sind die mit den Qualizeichen gekennzeichneten Kleidungsstücke Symbole. Einzelne Kleidungsstücke können getragen wie Qualizeichen wirken. Bei den sprichwörtlich wie symbolisch gewordenen “ Vier im Jeep ” , den Offizieren der vier Besatzungsmächte im viergeteilten Wien, trugen die britischen, französischen und amerikanischen Offiziere jeweils leicht unterschiedliche Stahlhelme, der sowjetische eine Militärmütze (Stelzl-Marx 2012, 63 mit Abb. 4). Die Spindel in der Hand des Mannes im Frauengewand auf Artemisia Gentileschis Bild sagt ‘ Herakles bei Omphale ’ an, die Militärkappe hebt den sowjetischen Offizier von den westlichen drei ab. 2.4 Qualizeichen von Fotografien Gemälde und Zeichnungen werden aufgebaut, Fotografien dagegen durch den Ausschnitt aus dem Sichtfeld gebildet (Edwards 2006, 105). “ With the choice of the frame, the photographer actively makes the picture rather than simply recording pre-existing things. ” (ebd., 107) Erst durch den Bildausschnitt entstehen Formen, so auf den Wolkenfotografien von Alfred Stieglitz (Edwards 2006, 105 f.). Anders als dass, wie Barthes 1983 behauptet, ein Foto zeigt, was einmal war, wissen wir aus vielen kritischen Diskussionen: Was auf einem Foto zu sehen ist, ist nicht nur arrangiert, sondern dem Ereignis, das, wie es geschah, das Foto zeigen soll, nachgestellt oder überhaupt gestellt. So sehr wahrscheinlich Robert Capas berühmter Sterbender Milizionär aus dem spanischen Bürgerkrieg (vgl. z. B. Edwards 2006, 30 f., Stiegler/ Thürlemann 2011, 202 f.). Wenn das Foto gestellt war, ist der fotografierte Soldat nicht gestorben. Statt von Qualizeichen an auf dem Foto zu sehenden Personen, Gegenständen, Landschaften oder Situationen, den Rhemata und Dizenten, auszugehen, will ich deshalb vor allem eine Reihe von Qualizeichen des aus dem Sichtfeld geformten Ausschnitts zusammenstellen. Diese Qualizeichen sind alle Qualizeichen des Arguments. Sie wirken - mit einem Ausdruck von Irene Bruderer-Oswald - als “ Wahrnehmungshinweise ” (Bruderer-Oswald 2007, 136). Die Höhe des Blickwinkels, erkennbar an den Linien, die zum Fluchtpunkt führen, kann geradeaus sein, die Linse befindet sich auf der Höhe des fotografierten Objekts, bei Menschen der Augen, des Gesichts. Von unten fotografiert man auf den Knien oder gar liegend, leicht von oben erscheint die Distanz mehr oder weniger geradeaus, das weitere Feld wird sichtbar, Sicht von oben ( “ Vogelperspektive ” ) ergibt einen zusammenfassenden Blick. Hubert van Es hat auf einem Foto, das etwas reißerisch “ Der letzte Hubschrauber aus Saigon ” betitelt werden kann, von einem oberen Stockwerk das flache Dach des gegenüberliegendes Gebäudes und einen Aufbau darauf aufgenommen. Vom Dach steigen auf 194 Götz Wienold einer Leiter Menschen eng aufgereiht zum Hubschrauber auf dem Aufbau hoch. Den Hochsteigenden streckt sich oben ein Arm helfend entgegen (Roth 2001, 41 mit Abb.). Der Blickwinkel befindet sich unterhalb von Dach und Aufbau, die Menschenreihe und erst recht der Hubschrauber werden von unten gesehen. So lässt sich das Bild als Rettung in der Not von oben lesen. 35 Diese Interpretation bestimmen Qualizeichen des Arguments. Das Hauptobjekt von vorne gesehen, thematisiert das wesentliche Rhema im Dizenten, bei einer Gruppe von Personen, als Fächer arrangiert, ihr Gemeinsames: “ alle sind versammelt ” , als Reihe eher ein unbestimmtes Zusammengekommensein (Beispiele: Wienold 2023, 102), als “ Haufen ” eine Gruppe, die sich nicht recht zum Fächer formen lassen will. Aus dem Winkel gesehen, erscheint das wesentliche Rhema in Form einer Raute, z. B. eine Gruppe von Personen in Bewegung, eine Truppe im Marsch. 36 Die Umrisse des Objekts im Ausschnitt sind gekappt oder nicht gekappt. Nicht gekappt erscheint es in gewisser Distanz, gekappt sind wir nahe dran. Bei Capas “ sterbendem ” Milizsoldaten ist dem Kolben des nach hinten gestreckten Gewehrs am Bildrand ein Stück abgeschnitten: Wir sind dem dramatischen Tod eines gerade von einer gegnerischen Kugel getroffenen Soldaten ganz nahe. Nick Ut fotografierte das Mädchen Kim Phuc, wie sie am 8. Juni 1972, getroffen von einer Napalmbombe, sich die brennenden Kleider vom Leib riss und völlig nackt und vor Schmerzen schreiend mitten auf einer Straße in Südvietnam ihm entgegen lief, rechts davor ihren Bruder, dem der untere Bildrand seine Beine unterhalb der Knie kappt. Wieder sind Betrachtende dem Leid nahe. Das Foto soll dazu beigetragen haben, den Vietnamkrieg zu beenden (Chong 2000, 17). Hat das Qualizeichen ‘ (Objekt zum Teil) gekappt ’ dabei mitgewirkt? Der Ausschnitt kann ein Objekt breit horizontal oder in seiner Länge nach oben darstellen. Auf van Es ’ Foto von der Flucht aus Saigon erscheint im unteren Drittel das Dach horizontal und breit als Bühne des Geschehens, in den zwei Dritteln darüber vertikal und trägt so zur Lesart “ Rettung von oben ” bei. Die Fläche des Ausschnitts kann ungeteilt sein oder geteilt. Capas sterbender Milizsoldat nimmt nur die linke Hälfte des Fotos ein, die rechte zeigt ein weites, nur von Gras bewachsenes Feld: Tod - einsam, ohne Hilfe, ohne Beistand. Der Grad der Schärfe liefert weitere Qualizeichen. Van Es ’ Foto ist leicht unscharf (Roth 2001, 41). Die einer letzten Fluchtgelegenheit zuströmenden Menschen erscheinen eher als Menge denn als Individuen. Ein Photo Robert Capas bei der Landung amerikanischer Truppen am Omaha Beach zeigt recht verschwommen Stahlhelm, Gesicht und Schultern eines Soldaten im Meer. Aus niedriger Position aufgenommen - nur das obere Fünftel des Fotos über der Horizontlinie des Meeres, Fotograf und Betrachtende unmittelbar dabei: Schafft der Soldat es in der unklaren, gewissermaßen “ nebelhaften ” Situation bis zum 35 Anders als oft gesagt, handelt es sich bei dem Gebäude nicht um die Botschaft der USA in Saigon. “ The apartment building (its top floor occupied by the CIA deputy chief for Saigon) was about half a mile away from the embassy, and those escaping are not Americans, but senior South Vietnamese politicians, generals, and police officers who had aided the CIA, and their families. ” (Roth 2001, 41) Vgl. https: / / en.wikipedia.org/ wik/ Hubert ‗ van ‗ Es, eingesehen 17.10.2023. 36 “ Haufen ” : Lagerpersonal des KZ Auschwitz, das sich im Juli 1944 zur Verabschiedung des Kommandanten Rudolf Höß mit Akkordeon-Unterhaltung zusammendrängt (Busch/ Hördler/ van Pelt 2016, 17, 138); “ Raute ” : ebd, 255. Farben und andere Qualizeichen 195 Strand? Das Foto wirkte gerade mit seiner Unschärfe in der Presse (Life Magazine 19.6.1944). Dabei soll es diesen Charakter erst durch einen Fehler beim Entwickeln erhalten haben (Lethen 2014, 115 - 127 mit Abb.). Wie sind Objekte in Vordergrund und Hintergrund arrangiert? Der Mount McKinley in Alaska erscheint auf Aufnahmen von Ansel Adams als breites Massiv, die Sicht nach oben wie in der Distanz begrenzend, auf ihn blickt man über einen gleißenden See. Vermutlich befinden sich See und Berg viel weiter auseinander als es auf dem Foto erscheint. Der Berg wirkt erhaben, majestätisch (Szarkowski 2001, 109 und 110). Das Arrangement im Blickwinkel, wie gerade auf den Aufnahmen des Mount McKinley, ergibt insbesondere bei Aufnahmen von Personen im Verhältnis zu anderen Objekten oder in Tätigkeiten miteinander weit komplexere Gestalten als die bereits genannten Rauten und Fächer. Ich gebe nur zwei Beispiele. Auf Heimkehrer, Wien 1945 von Ottto Croy schneiden sich senkrechte, gerade Linien eines Gebäudes mit durch das einfallende Licht gebildeten, schräg von links oben nach rechts unten verlaufenden, der Heimkehrer im Zwielicht der Ungewissheit (Abb.: Petschar 2005, 272). Staudamm und Berg bilden ein Kreuz aus zwei Schrägen auf Bauarbeiten in Kaprun (1950) von Lothar Rübelt (ebd., 273), die enorme Anstrengung des Projekts. Alle bisher genannten Merkmale der Gestaltung des Sichtfeldes einer Fotografie sind nicht-mimetische Zeichen, wie sie Meyer Schapiro an Malerei beschrieben hat (Schapiro 1970). Schließlich noch ein Beispiel, wie auf Fotografien ein Rhema, hier ein Gewehr, zu einem Qualizeichen wird. Alexander Gardner, Fotograf des amerikanischen Bürgerkriegs, setzte für die Aufnahme eines gefallenen Soldaten, wie Vergleiche mit Aufnahmen Gardners von derselben Person zeigen, das “ Gewehr eigens malerisch ” an eine Stelle (Stiegler 2015, 50 mit Abb. 4 und 5; vgl. Stiegler/ Thürlemann 2011, 92 f.). Wieder einmal zeigt ein Foto, anders als Barthes meint, nicht was war. Hätte wohl, wie man sonst vermuten müsste, der Soldat erst sorgfältig seine Waffe abgestellt und wäre dann getroffen worden und umgekommen? Wäre es unwahrscheinlicher Weise so, bildete das Gewehr ein Rhema in den Dizenten des Fotos. Gardner hat erst das Gewehr in den aufzunehmenden Ausschnitt eingefügt. Zum Soldaten, insbesondere dem, der mit dem Tod rechnen muss, gehört als Symbol das Gewehr (vgl. Wienold 2023. 109 f.). Das Gewehr ist ein Qualizeichen des Arguments, das es erst voll lesbar macht. 37 René Magritte malte auf Le survivant einzig ein Gewehr, gegen eine tapezierte Zimmerwand gelehnt und einen Schatten werfend (Sylvester 1992-7, III 150 f.). 2.5 Qualizeichen an Skulpturen In der Darstellung des mythischen Kampfes zwischen Göttern und Giganten auf dem Relief des Siphnierschatzhauses in Delphi sehen wir die Figuren in den Qualizeichen schlanker vs. gedrungener Figur, mit freiem Haar vs. behelmtem Kopf, in fein ausgearbeiteter Kleidung vs. ungeschmückten Körpern und den Rhemata mit Pfeil und Bogen vs. Schwert und Schild kämpfend siegen (Eller 1961, Brinkmann 1994): Das feine Menschliche siegt über das ungeschlachte Grobe. In Franz Kämpfers Analysen sowjetischer Kriegsdenkmäler stehen 37 Ähnlich auf Boris Nemenskijs Gemälde Auf der namenlosen Höhe (1961) neben einem auf dem Bauch liegenden Jungen ein junger Mann hingestreckt, in der Hand nach vorne weisend ein Gewehr, beide wie tot (Neue Nationalgalerie Berlin). Beide in ziviler Kleidung, auch Ambiente und Titel zeigen nicht an, dass es sich um Tod nach Kämpfen handelt, nur das Gewehr. 196 Götz Wienold sich mit rotem Granit vs. weißem Marmor Qualizeichen der Farbe und des Materials gegenüber. 38 Auf einem Friedhof bei S ł o ń sk in Polen steht gleich hinter einer niedrigen Mauer, sie überragend, auf schlichtem Sockel die dunkel bronzene Statuette eines nackten Mannes ohne Kopf. Die Oberfläche der Statuette ist leicht rau. Erst wenn man den Friedhof betritt und die Statuette von vorne betrachtet, sieht man, dass der Mann kein Geschlecht hat, sondern anstelle des Geschlechts ein einfaches Kreuz. Das Kreuz reicht von der Brust bis in den Schritt. Der Friedhof gilt vor allem luxemburgischen Widerständlern, die im Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg bei Küstrin (heute S ł o ń sk) eingekerkert waren und kurz vor Anrücken der Roten Armee zusammen mit vielen anderen Schicksalsgenossen in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 in einem vom Reichssicherheitshauptamt angeordneten Massaker ermordet wurden. Die Rote Armee befreite Sonnenburg am 2. Februar 1945 (Coppi/ Majchrzak 2015, vor allem 49 - 61; Gmina S ł o ń sk 2023). Die Genitalien, die an Statuen nackter Männer wie in Donatellos David (Randolph 2004, 48) das Männliche ausmachen, sind in der Statuette von S ł o ń sk durch das Kreuz ersetzt, Symbol von Opfer und Tod. Statt glatter, heller oder glänzender Oberfläche der Statuen nackter Männer, Symbol idealer männlicher Schönheit (Himmelmann 1990), 39 dunkle und raue, ein Kopf kühnen und selbstbewußten Blicks fehlt. Qualizeichen der Bildnisse nackter Männer sind ins Gegenteil gekehrt. Ähnlich die Einfriedung des Ganzen. Auf einer niedrigen Ziegelmauer eine Darstellung von Stacheldraht aus schwarzem Eisen, drei wie Stricke geformte Stangen mit Stacheln, Ikon und gleichzeitig Symbol der Einsperrung. Die Qualizeichen ‘ schwarz ’ und ‘ aus Eisen ’ bestätigen: Kerker und Tod. Insgesamt ergibt sich die Interpretation wesentlich aus den Qualizeichen: “ Junge Männer starben einen Opfertod. ” 40 Anders wird man die Nacktheit von Jacques Lipchitz ’ Badendem lesen (1917). Die Skulptur, bronzen und schwarz, in Kuben, Platten und anderen Formen gestaltet, die gar noch eckig vorspringen, ist gedrungen, nicht schlank, wie ein Muskelmann aus Massen gepackt, nicht ebenmäßig, nicht der feingliedrige weiße, junge Mann der griechisch antikisierenden Tradition, wie ihn Adolf von Hildebrands Stehender Junger Mann (1881 - 84) in der Berliner Alten Nationalgalerie noch repräsentiert, 41 hier steht ein Sportstyp des 20. Jahrhunderts, einer anderen Zeit, gar ein vorwärts drängender Kämpfer, dazu schwarz. Er könnte gerade aus dem Wasser getreten sein, das noch von ihm abtropft. Man darf den Mann sich nackt denken, doch nicht idealisierend attraktiv (Le Corbusier and the Age of Purism 2019, 138 mit Abb.). Alberto Giacomettis Mann einen Platz überschreitend, auch Statue eines nackten Mannes, von karger Materialität, lädt erst recht kaum zur Berührung ein. Die schmale, vertikal gestreckte Statue ist ganz auf einen exemplarischen Zug 38 Kämpfer 1994, 332 : “ Die Grundmotive des sowjetischen Heldendenkmals bis 1965, einschließlich des Farbkontrasts roter Granit - weißer Marmor sind hier bereits voll präsent. ” 39 Himmelmann versteht “ Idealisierung ” als “ Verpflanzung in eine ideale Sphäre ” , auch als “ Verjüngung, Verklärung und Entrückung ” schließlich “ Heroisierung ” (1990, 26, 47, 102 - 120). 40 Rodins nackter L ’ homme qui marche, ebenfalls ohne Kopf, die Arme nur im Ansatz angedeutet, lenkt dagegen das Auge ganz auf den kraftvollen männlichen Körper (Néret 1994, 21). 41 Die “ weiße ” Welt erlitt einen Schock zu erfahren, dass die ihr weiß erscheinenden antiken griechischen Skulpturen einst bemalt waren (Jenkyns 1980, 146 - 154, nach Dyer 1997, 148). Farben und andere Qualizeichen 197 konzentriert, einen weiten Schritt, der symbolisch gelesen werden darf, ein anderes Bild eines “ neuen Sehens ” (Bruderer-Oswald 2007, 140 mit Abb.). Erwähnen wir kurz noch Qualizeichen von Sockeln. Etienne-Maurice Falconets Reiterstatue Peters I. in Petersburg, 1782 im Auftrag Katharinas II. geschaffen, ist vom Typ des sich auf den Hinterbeinen aufrichtenden Pferdes im Sprung nach vorn, dem betont absolutistischen Typ von Reiterstatuen. So war auch Louis XIV. bis zur Revolution von 1789 zu sehen. Der Sockel bietet der Statue keine ebene Fläche, sonder biegt sich vorn nach oben auf und bildet so in starker Abstraktion das Aufspringen des Pferdes ikonisch nach. 42 Der Sockel akzentuiert den absolutistischen Herrschaftsanspruch. Ganz entgegen steht Auguste Rodins Skulptur der Bürger von Calais, wie sie in demütiger Unterwerfung dem englischen König Edward III. entgegentreten. Rodin hat sie auf eine ganz flache Platte gestellt, sie anschauend, steht man, Bürger wie sie, auf gleicher Höhe. 43 2.6 Qualizeichen in Gemälden Farben als Qualizeichen zu betrachten hat uns so bald zur Malerei geführt, dass bereits im ersten Teil eine ganze Reihe von Gemälden Beispiele wurden. Farben werden nicht selten symbolisch gelesen. In Asmus Jakob Carstens Die Nacht mit ihren Kindern stellen zwei Kinder, im Schlaf oder wie im Schlaf, eines weiß, das andere schwarz, Schlaf bzw. Tod dar (von Einem 1958, 14). Grün wird zur Farbe der Tugend im Sinne sexueller Zurückhaltung oder Enthaltsamkeit, wenn Paolo Veronese in Allegorie von Tugend und Laster (Die Wahl des Herakles) die traditionelle Erzählung von Herakles am Scheideweg die Tugend als Frau in grünem Kleid darstellt, Herakles selbst bezeichnenderweise ganz weiß gekleidet (Abb. in Walther 2003, 136). Ein grünes Kleid tragen auch Margarete, die sich “ der Keuschheit verschrieben hatte ” auf Tizians Hl. Margarete mit dem Drachen (Pedrocco 2000, 246 f.) und Lucretia auf Tizians Tarquinius und Lucretia (ebd., 101). Ein leuchtendes Lapislazuli-Blau galt zu einer Zeit dem Gewand einer Person von hohem Rang, etwa wenn Giovanni Bellini den Evangelisten Markus bei einer Predigt in Alexandrien darstellt (Hagen/ Hagen 2005, 160). Maria erhält oft ein blaues Kleid oder einen blauen Umhang über einem roten Kleid. Selbstverständlich ist die Symbolik von Farben an einen historischen Kontext gebunden (vgl. Thürlemann 1990, Kap. III). Immer gehören, damit eine Lektüre zustande kommen kann, Qualizeichen der Farbe, der Form und der Stellung im Bild zusammen. Die Farbe einer Figur im oder nahe dem Zentrum wie das Gelb des Mantels in Giottos Judaskuss oder das von Goethes Knie in einer Kniehose zieht die Augen zum Thema, so auch das Zinnoberrot zweier Boote und der Spiegelung des größeren im Wasser rechts und leicht unterhalb der Mitte auf Claude Monets Rote Seegelboote in Argenteuil (Abb. Walther 2003, 498). Das geschieht nicht unabhängig von Gestaltmerkmalen sowohl der dargestellten Phänomene selbst wie der Art ihrer Darstellung. Wassily Kandinsky lenkte in Über das Geistige in der Kunst als auffälliges Beispiel den Blick auf Dreiecke in der Bildstruktur, allesamt zentral, so in Cézannes Les Baigneuses (1912, 70, 73, 11, Abb. V), in Raffaels Die 42 Puschkin hat in seiner Verserzählung Der eherne Reiter (Mednyj vsadnik) beschrieben, wie sich ein Bürger durch die Statue bedroht und verfolgt fühlt. In diesen Abschnitten nennt er den Reiter kumir ‘ Götze ’ . Die Statue wurde, auch wenn andere beseitigt wurden, 1917 und danach nicht angetastet (Stites 1989, 65; ders. 1985, 7 f.). 43 Vgl. Néret 1994, 50 f. Vgl. auch Rilke, Auguste Rodin, Rilke 1902, 442 f., 947. 198 Götz Wienold heilige Familie aus dem Haus Canigiani (Abb. IV) und in Dürers Beweinung Christi, wo der Maler zwei Dreiecke, durch Köpfe von Figuren gebildet, ineinander gearbeitet hat (Abb. III). In Amans ’ Bélizaire and the Frey Children (vgl. oben 1.4) bilden die drei Geschwister ein Dreieck im Zentrum, der mittlere Kopf höher als die beiden anderen, es zeigt die Familie an, - Bilder solcher Struktur sind zahlreich genug 44 - , auf Leonardos Abendmahl bildet die Figur Jesu ein deutliches Dreieck im Zentrum, von ausgeglichener Stille zwischen je zwei Dreiergruppen von Aposteln in bewegtem Miteinander. Lyonel Feiningers Kathedrale (Abb. in Blase 2019, 10) zeigt ein Objekt in Dreiecksfigur. Die Beispiele lassen sich unschwer vermehren. Solche Dreiecksgestalten gehören zu den nicht-mimetischen Bildelementen Meyer Schapiros, auf die wir schon bei Fotografien aufmerksam wurden. “ The picture-sign seems to be through and through mimetics, and this is the source of many misreadings of old works of art. Taken out of the image, the parts of the line will be seen as small material components: disks, curves, dots which, like the cubes of a mosaic, have no mimetic meanings in themselves. ” (Schapiro 1970, 499 f.) Schapiro führt u. a. an: Rahmen, Rechteck, klar definierte glatte Oberfläche, nicht bemaltes Feld um eine Figur, Stellung einer Figur im Bild, der Gebrauch von rechts und links im Bild, die relative Größe von Figuren. Weiter wird man an die Vertikale nach Siegfried Giedion denken (Bruderer-Oswald 2007, 347) oder die Spirale (ebd. 377 - 380) oder daran, wie Abfolgen von Farben im Bild arrangiert werden, so von links nach rechts gelb, orange, rosa in Francisco de Zurbarans Stilleben mit Zitronen, Orangen und einer Rose (Alpers 1983, S. 91 f.; Abb.: Walther 2003, 264). Früchte und Blume bilden den Vordergrund des Gemäldes, ihre Farben heben sich gegen die weniger die Augen ansprechenden im hinteren Teil ab, ein weiteres der nicht-mimetischen Elemente Schapiros (1970, 487 f.). Giottos Judas im gelben Umhang rahmen Figuren in blauer (links) und roter Gewandung (rechts) ein. Giorgiones La Tempesta zeigt ganz links einen jungen Mann, stehend, bekleidet, ganz rechts eine Frau, sitzend bis auf einen Schulterumhang nackt, dessen weiße Farbe korrespondiert dem weißen Hemd des Mannes (Ferino-Pagden/ Nepi Sciré 2004, 188 f.). Giorgiones Drei Philosophen stellt sie in Dreiecksgruppierung in hellem Gelb-Rot-Grün rechts einer dunklen Höhle links gegenüber (ebd., 181). Die nicht-ikonischen (= “ nicht-mimetischen ” ) Elemente können nur Qualizeichen sein und führen alle zur Struktur von Bildern. Schauen wir die Stellungen der thematischen Figur und ihnen zugeordneter Figuren in Gemälden an Beispielen des weiblichen Akts an. Der weibliche Akt liegt seit der italienischen Renaissance oft quer und fast über die ganze Bildbreite. Velázquez ’ Rokeby Venus liegt mit dem Rücken zu uns, ein weißes Tuch, zum Teil sichtbar, macht auf den Ort des Begehrens aufmerksam (Kientz 2015, 222 f.). Tizian lagert in Venus und der Orgelspieler (in mehreren Versionen) die Frau von vorn; der Orgelspieler links wendet während des Spiels den Blick von den Tasten zum vor allem begehrten Ort, ähnlich der Lautenspieler in den entsprechenden Versionen (Pedrocco 2000, 218 f., 220 f., 235, 259). Die Hand im Schoß, die Schamhaare ganz oder fast ganz zudeckend, zeigte wohl zuerst Giorgiones Schlafende Venus, die Tizian vollendete (Ferino-Pagden/ Nepi Sciré 2004, 35). In 44 Nur Hans von Marees ’ Fresko Pergola (Abb. 27 in Hofmann 2010, 97) und Luca Signorellis Die Lehrer der Kirche (Baxendall 1972, 22, Abb. 10) seien hier noch genannt. Louis Leopold Robert arrangiert in Die Ankunft der Schnitter in den Pontinischen Sümpfen vier Figuren in der Mitte so, dass die Spitze des Dreiecks über den beiden mittleren zu denken ist (Abb. 18 in Hofmann 2010, 75). Farben und andere Qualizeichen 199 der Venus von Urbino lässt Tizian den Ort - fast - sehen, die Frau hält ihre Hand darüber, nur ein Teil der Schamhaare ist sichtbar. Manets Variation Olympia spreizt sogar die Finger so, dass die Scham ganz verdeckt ist (Rubin 2010, 85 - 93), doch ist sie, nur wenig von der geometrischen Bildmitte verrückt, dadurch nur deutlicher angezeigt. Ganz ähnlich funktioniert es, wenn auf Tintorettos Vulkan überrascht Venus und Mars Vulkan ein durchsichtiges Schamtuch lüftet und auf die Scham blickt, während das Schamtuch den Betrachtenden gilt (Villa/ Villa 2012, 96). Egon Schieles Weiblicher Akt (1910) liegt in der Bildvertikalen und rückt die Scham ohne Scham direkt vor den Blick (Steiner 1999, 44 f.), sein Schwarzhaariger Mädchenakt (stehend) (1910) brachte Schiele vor Gericht (ebd., 40 f.). Trägt die vertikale Lage zur Provokation bei? 45 Pablo Picassos Liegende Frau mit Blumenstrauß (1958; Neue Nationalgalerie Berlin) zeigt die Scham genauso offen, doch in abstrakter Gestalt. Gustave Courbets stehender Akt rechts der Bildmitte in Das Atelier, das meiste Licht empfangend, verdeckt die Scham fast ganz durch ein Tuch (Hofmann 2010, 10 f.). Schräg in der Vertikale und voll unverstellter Sinnlichkeit und Sinnenfreude sehen wir sie in Courbets L ’ origine du monde (1866) (Chirat 2007, 379, Abb. 187; Hofmann 2010, 87). 46 Das Original war lange Zeit unzugänglich (vgl. Hentschel 2004, mit deutlicher feministischer Kritik gerade an Courbets Bild). 2.7 Farben als Qualizeichen in literarischen Texten The white face of the winter day came sluggishly on, veiled in a frosty mist; and the shadowy ships in the river slowly changed to black substances; and the sun, blood-red on the eastern marshes behind dark masts and yards, seemed filled with the ruins of a forest it had set on fire. Lizzie, looking for her father, saw him coming, and stood upon the causeway that he might see her. (Dickens 1952, 74) Lizzie hat gerade ihren Bruder für immer aus dem Haus geschickt, weil sie am Abend vorher erfahren hat, der Vater werde verdächtigt, einen Menschen getötet zu haben. Sie steht in der Kälte vor dem Haus und erwartet den Vater. Diesen Moment erfasst der Absatz aus Charles Dickens ’ Roman Our Mutual Friend. In der folgenden Szene wird sie erleben, wie der Vater, erbost über den Weggang des Jungen, ein Messer mit der Klinge immer wieder so auf den Tisch stößt, als könnte er einen Menschen umbringen. Der Absatz lässt in der Beschreibung dessen, was sie sieht, Lizzies Desolatheit und die Angst, die sie gleich erfassen wird, anklingen, unterstützt durch die Farbwörter white, black und red, letzteres deutlicher noch in der Qualifikation blood-red. Die Farbwörter und die Passage stehen metonym zur vor und nach ihr erzählten Handlung. Metonymie von Qualizeichen haben wir schon an Objekten, an Kleidung und an Ornamenten bemerkt. 45 Das Gesicht, die Augen halb geschlossen, ist den Betrachtenden zugewandt. Amedeo Modiglianis Akt (1917) in den Courtauld Institutes, London, ebenfalls schräg in der Senkrechten, legt den Kopf auf die Schultern und hält wie schon Giorgiones Schlafende Venus die Augen geschlossen. 46 Hofmann 2010, 79: “ Die Frau als Metapher der Natursinnlichkeit und ihre Empfängniserwartung bindet das ganze Lebenswerk von Courbet zusammen. ” Unter den sehr zahlreichen Abbildungen der Malerei des sowjetischen sozialistischen Realismus in Morozov 2007 habe ich nur zwei weibliche Akte gefunden, darunter nur einen von vorne, liegend: G. Kor ž ev, Marusa (1976). Die Frau klemmt die Oberschenkel um die Schamhaare zusammen (Morozov 2007, 252). 200 Götz Wienold In der zitierten Passage funktioniert das ganz lokal gegen Ende des laufenden Kapitels. 47 In Virginia Woolfs To the Lighthouse kehren green und blue immer wieder, ich schätze, sie sind die häufigsten Farbwörter im Roman. Sie stehen für die Isle of Skye, auf der der größte Teil spielt, und das Meer um die Insel, zu der am Ende die Fahrt zum Leuchtturm führt. Über den Text verstreut, können sie Leser nach und nach auf die Grundierung der Thematik stoßen. Noch anders ein Farbwort in ein einem Titel. In Konstantin Paustovskijs Erzählung Belaja Raduga ( “ Weißer Regenbogen ” ) zeigt russ. belyj in unüblicher Verwendung einen Hoffnungsschimmer in sehr schwieriger Situation an (Paustovskij 1958, 3, 111 - 118). Ein Soldat hat im Zweiten Weltkrieg im abfahrenden Zug die Stimme einer Frau gehört, wie sie zu einem anderen spricht, beide ihm unsichtbar. Die Stimme scheint ihm das Glück seines Lebens zu versprechen, er hört und notiert sich ihre Telefonnummer. Verwundet, ruft er auf dem Weg über Moskau ins Sanatorium sie an, sie treffen sich, nicht ohne Hindernisse, kurz in der Nacht. Im sibirischen Sanatorium im altaischen Gebirge tönen ihre Worte ihm nach, dass sie sich, vielleicht gar für immer, wieder treffen werden. Im Winter, tief im sibirischen Schnee und mitten im Krieg die Hoffnung eines weißen Regenbogens. Das Farbwort im Titel erhält seine Lesart am Schluss. Die Farbe eines Gegenstands, der in der Thematik eines Texts eine gewisse Rolle spielt, wird nicht ganz selten nicht bei dessen erster Erwähnung, sondern erst, wenn ein wichtiger Akzent gesetzt werden soll, genannt. In Paustovskijs Erzählung Anglijskij britva ( “ Das englische Rasiermesser ” ) quält der deutsche Leutnant Friedrich Kolberg in der Sowjetunion zwei jüdische Jungen unter brutalem Hohn zu Tode (ebd. 3, 12 - 15). Er hat die Wohnung eines Zahnarztes in Mariupol ’ okkupiert, die Fensterrahmen sind zu Sperrholz gemacht worden. Wenn diese das zweite Mal erwähnt werden, wenn nämlich der Leutnant ein weiteres Stück in den Ofen stößt, werden sie golden (zolotoj) genannt, auf die Zerstörung einstigen Wohlstands durch die Invasoren jetzt, wenn der Deutsche mit der Spitze des Stiefels seine Verachtung bezeugt, eigens aufmerksam machend. In John Dos Passos ’ The 42nd Parallel geht Alice zweimal um ein Denkmal für Andrew Jackson. Erst beim zweiten Mal erhalten es und die Situation Farben, als würde jetzt genauer hingesehen, ein schärferer verächtlicher Blick auf den Präsidenten in großer Pose: “ She walked once more round the statue of Andrew Jackson rearing green and noble on a greennoble horse in the russet winter afternoon sunlight ” (Dos Passos 1996, 254 f.). Im Roman Kak zakaljalas ’ stal ‘ ( “ Wie der Stahl gehärtet wurde ” ) von Nikolaj Aleksejevi č Ostrovskij (1904 - 1936) erfahren wir, dass der Proletarierjunge Pavel Kor č agin ein rotbraunes Hemd trägt zum ersten Mal, als Tonja, ein Mädchen aus reicher Familie, mit der er anfängt sich einzulassen, auf seine verschlissene Kleidung aufmerkt und er seinerseits das bemerkt (2021, 59 f.) Er bittet seine Mutter, ihm ein blaues Satinhemd zu kaufen und arbeitet bis zum Umfallen zusätzlich. Wenn er sich Tonja das nächste Mal präsentiert, trägt er das blaue Hemd und schwarze Hosen (ebd., 61). Er wird seiner Klasse nie untreu und als Tonja seine politische Arbeit nicht teilen will, verlässt er sie. So spiegeln die Farben von Pavels Hemden einen Teil der Handlung vorher, viel weiter führend als die in der Passage aus Our Mutual Friend. 47 Die Enden der Kapitel in Our Mutual Friend bringen häufig einen überraschenden, die Handlung direkt oder in späteren Kapiteln weiterführenden Moment. Farben und andere Qualizeichen 201 Gleicherweise werden auch andere thematikrelevante Qualizeichen erst an späterer Stelle im Text angesprochen, z. B. Züge des Gesichts. Dostojevskij beschreibt in Die Erniedrigten und Beleidigten das Aussehen einer Frau erst beim zweiten Zusammentreffen (Fusso 2006, 18 - 20). Gegen den Strich des literarisch Üblichen spricht in Ryunosuke Akutagawas Erzählung Kesa und Moritomo Moritomo, der Liebhaber Kesas, von den Eindrücken der Gesichtszüge der Geliebten das erste Mal, wenn die Liebe abgekühlt ist, ja ihm fragwürdig erscheint und jetzt die bloße sexuelle Eroberungslust ihn dominiert. Als ich mit Kesa zusammen auf den Tatimimatten eines Zimmers saß, schien ihre Anziehung schon verloren zu haben. Da war ich schon nicht mehr sexuell unerfahren, und das hatte mein Begehren abgeschwächt. Doch der Hauptgrund war mehr noch, dass die Schönheit der Frau geringer geworden war. Tatsächlich war die jetzige Kesa nicht mehr die Kesa von vor drei Jahren. Ihre Haut hatte an Glanz verloren, um die Augen herum hatten sich schwärzliche Ringe gebildet. Um die Wangen und unterm Kinn war die Fülle des Fleisches verschwunden, als wäre sie eine Lüge gewesen. Einzig verblieben waren die jung und frisch glänzenden großen, schwarzen Augen. ” (Akutagawa 1980, 80 f.) 48 Gehen wir einer Farbe mit Symbolcharakter noch näher nach: golden mit der Spannbreite ‘ goldfarben ’ , ‘ mit Gold überzogen ’ , ‘ aus Gold ’ . Dostojevskij lässt in Der Jüngling einen Weisen sagen, Gold erhöhe, doch Menschen brauchten es nicht (1961, 551). In Puschkins Versmärchen Skazka o rybake i rybke ( “ Das Märchen vom Fischer und dem Fischchen ” ) ist der zaubermächtige Fisch golden. 49 Die Frau steigert ihre Wünsche immer höher. Wenn der Mann dem Fisch ihren letzten Wunsch überbringt, Herrin der Meere zu werden und den goldenen Fisch in ihrem Dienst zu haben, dreht er sich wortlos ab, und sie sitzt wieder vor ihrem zerbrochenen Trog (razbitoe koryto). In Puschkins Versmärchen Skazka o zolotom petu š ke ( “ Das Märchen vom goldenen Hahn ” ) erhält Zar Dadon von einem Weisen einen goldenen Hahn, der ihn vor seinen Feinden schützt. Doch der Zar hält das dafür gegebene Versprechen nicht, der goldene Hahn hackt ihn dafür zu Tode. Das Gold nicht versuchen! scheint die Lehre in beiden Märchen (Pu š kin 1975, 3, 304 - 309, 324 - 330). Realistische Literatur zeigt goldene Farbe entsprechend nur als schönen Schein. In Konstantin Paustovskijs Erzählung Zolotoj lin ‘ ( “ Der goldene Schlei ‘ ) fängt der Junge Ruvim einen riesigen Schlei, seine Schuppen funkeln und glitzern wie die goldene Kuppel eines über 30 km weit sichtbaren ehemaligen Klosters. Die Angler, die vorher beim unumgänglichen Gang an Frauen bei der Heumahd vorbei gehänselt worden waren ( “ Wer angelt, aus dem wird nichts ” , im Russischen reimt sich der Spruch), empfangen jetzt von ihnen Respekt und Anerkennung (Paustovskij 2017, 10 - 17). Die menschliche Wertschätzung überstrahlt den Schein von Gold. Immer wieder steuert das Qualizeichen der Farbe die Interpretation. Wollte man Qualizeichen in literarischen Texten gründlicher angehen, wären wohl als erstes die von Vers und Reim, von Laut und Klang überhaupt vorzustellen. 50 Da ich in diesem Aufsatz insgesamt Farben den Vorzug gegeben habe, habe ich mich auch hier auf sie konzentriert. Im Märchen vom Fischer und dem Fischchen bildet Ausgangs- und Endpunkt 48 Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. 49 Im Märchen der Brüder Grimm heißt es nur: “ der große Butt ” . 50 Man beachte an der Passage aus Our Mutual Friend auch die Rhythmik der syntaktischen Phrasen. 202 Götz Wienold der Handlung der zerbrochene Trog, am Ende des letzten Verses in einem (unreinen) Reim: razbitoe koryto. 3 Aufladen von Qualizeichen Der unreine Reim razbitoe koryto rückt die Armseligkeit des Fischerpaares ganz entsprechend dem foregrounding der Prager Schule in Zentrum der Aufmerksamkeit, bildet die Pointe von Puschkins Märchen. Wenn Qualizeichen bemerkt werden, sind sie aus dem dauernden Strom bereits herausgehoben. Ein langer Schal in von Jacke oder Mantel abstechender Farbe über die Schulter nach vorn geworfen, langes, glattes Haar nur auf einer Seite des Gesichts nach vorn gestreift, dicke schwarze Sohlen unter schwarzen, eng anliegenden Stiefelchen, die ihre Träger tatsächlich ein Stück emporheben: Wechselnde Moden geben immer wieder Gelegenheit zu sagen: Ich bin dabei, ich bin anders, oder das kümmert mich alles nichts. “ Neu ” steht in sich abhebender Farbe und Type auf einer Werbung, “ NEW ” in Japan auf Englisch und in Großbuchstaben im japanischen Text. Ein an besondere Stelle gesetzter Reim, ein überlebensgroßer, 42 Tonnen schwerer Kopf Lenins auf noch einmal doppelt so hohem Sockel auf dem Hauptplatz der sibirischen Stadt Ulan-Ude (Abb. in Cohen 2023, 4): Jeweils werden Qualizeichen aufgeladen, verlangen geradezu, dass eine Semiose stattfindet, die sie beachtet. Wohl gemerkt: Nicht der Schal ist das Qualizeichen, nicht das Haar, nicht das typographisch hervorstechende Wort, nicht der Kopf Lenins, das sind in Peircescher Auffassung alles Rhemata der Kleidung, der Selbstdarstellung, eines Werbetextes, einer Skulptur: dass der Schal von abstechender Farbe und aus hochwertigem Material ist und wie er getragen wird, die Länge des Haars, seine Frisur, die dunkle Bronze des Kopfes auf hellem Sockel, die Stellung in der Mitte des Platzes und seine Größe über alles Maß, das sind die Qualizeichen, die so aufgeladen erscheinen, dass wir hinschauen. Qualizeichen sind in aller Zeichenpraxis allgegenwärtig, sie sind immer da, werden in jeder Semiose verarbeitet. Literatur Akutagawa, Ryunosuke 1968. Rashoomon Hana ( “ Rashoomon, Die Nase ” ), Tokyo: Shinchosha Alpers, Svetlana 1983. The Art of Describing Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago: Chicago University Press Banzato, Davide 2003. Giotto et l ’ art à Padoue au XIV e siècle. 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Similar objects abound in Japan. A number of such objects are described and their interpretants discussed in the framework of Peircean semiotics. To prepare the discussion the article takes up, first, the semiotics of objects in general, their quali-signs and ornaments and, secondly, of objects marking public places, particularly in Japan. A special way of marking a public place in Japan is an oval area with a traditional symbol, an indeciduous tree in one focus and a novel object accompanied by an interpretant in the other. Incidentally, ways of symbol formation, augmentation, miniaturization, deiconization and abstraction are touched upon. Keywords: interpretant, attribution, rhema, dicent and argument in peirce ’ s semiotics, arrangement, Objects as signs, qualisign, ornament, marking of public localities, symbolism of trees, turtle and crane in Japan, augmentation, miniaturization, deiconization, abstraction Zusammenfassung: Jewelry Bridge ist ein Interpretant, der einer Plastik auf einem erhöhten Fußgängerüberweg vor dem Bahnhof Ueno in Tokyo beigegeben ist. Doch der Interpretant bedarf indessen selbst einer Interpretation. Ähnliche Objekte sind im heutigen Japan vielfach anzutreffen. Eine Reihe solcher Objekte werden in der Folge beschrieben und ihre Interpretanten werden im Rahmen der Peirce folgenden Semiotik erörtert. Zur Vorbereitung werden zunächst die Semiotik von Objekten im allgemeinen, deren Qualizeichen und Ornamente aufgegriffen, danach Objekte, die öffentliche Örtlichkeiten in markanter Weise auszeichnen. Eine besondere Art der Auszeichnung besteht in einem Oval mit dem traditionellen Symbol eines Laubbaums in einem der Brennpunkte und einem neuartigen Objekt mit Interpretanten im anderen. Dabei werden Verfahren der Zeichenbildung wie Augmentierung, Miniaturisierung, Deikonisieung und Abstraktion besprochen. Schlüsselbegriffe: Interpretant, Zuschreibung, Rhema, Dizent und Argument in Peirces Semiotik, Arrangement, Objekte als Zeichen, Qualizeichen, Ornament, markante Auszeichnungen von öffentlichen Örtlichkeiten, Symbolik von Bäumen, Schildkröte und Kranich in Japan, Augmentierung, Miniaturisierung, Deikonisierung, Abstraktion 1 Gegenstand Über den Vorplatz vor dem Bahnhof Ueno, einem der größten in Tokyo, spannen sich erhöhte Fußgängerüberwege, von ihren Kreuzungen geht es hinab zu Straßen und zu Eingängen über- und unterirdischer Bahnen. Von weitem schon sieht man eine - geschätzt - zehn Meter hohe Plastik: Vier rote rechteckige Säulen, zwei niedriger, zwei höher, aus bemaltem Stahl, biegen sich oben gegeneinander und münden in zwei goldene Halbkreise. Je nach Perspektive schließen die Halbkreise sich zu einem Ring (Abb. 1), formen ein massives Band (Abb. 2) oder verbleiben als zwei getrennte sich gegenüberstehende Rundungen (Abb. 3). Die Säulen ruhen auf zwei niedrigen Sockeln, zwischen denen man hindurchgehen kann, oben auf den Sockeln Tafeln, die in Schreibschrift einmal auf Englisch, einmal in japanischen Silbenzeichen (Katakana) sagen: Jewelry Bridge. Der Name leitet an, das Objekt als eine Art Brücke zu sehen, eine, die eines der üblichsten und symbolträchtigsten Schmuckstücke trägt. Doch es ist nur ein Schmuck, der Schmuck selbst ist keine Brücke, verbindet nichts. Ohne die Tafeln würde man wohl nicht leicht darauf kommen, das Bildwerk als eine Brücke zu sehen und so zu bezeichnen. Wenige hundert Meter von der Schmuck-Brücke entfernt laufen von Norden nach Süden zwei Straßen ineinander. So entsteht ein Dreieck, es wird durch ein Stück Querstraße unterteilt. Der nördliche Teil bietet zum Verweilen eine steinerne Sitzbank und vor ihr, im Sitzen anzuschauen, eine niedrige Plastik: die obere Hälfte eines aufgeschnittenen Apfels mit Stil, sein Fruchtfleisch ein buntes Mosaik. Neben der Sitzbank eine Tafel mit der Überschrift: ringo to kotoba “ Apfel und Wort ” , auch, da Japanisch keinen grammatischen Numerus kennt, als “ Äpfel und Worte ” zu übersetzen. Sie zitiert ein bekanntes englisches Sprichwort ( “ An apple a day keeps the doctor away “ ) und preist ausführlich die Wohltat der Äpfel. Nach dem schmalen Zwischenstück engen sich die ineinanderlaufenden Straßen zu einem mit Sträuchern dicht bewachsenen Dreieck (Abb. 4). Man blickt zunächst auf eine Skulptur aus glänzend poliertem dunklem Stein 1 , ein Stamm ist in zwei eng aneinandergedrängte, stumpf endende Äste gespalten. Dahinter wächst mit einer hohen reichen Krone ein Kampferbaum, an ihm ein Schild mit seinem japanischem Namen kusunoki. Vor der Skulptur liegt tief in den Sträuchern eine steinerne Tafel mit sino-japanischen Zeichen: kiro “ Wegscheide, Scheideweg ” , darunter der Name Miura Yoshiyuki. Die gut einen Meter hohe Skulptur steht in einer Wegscheide, sie selbst ist, ohne an diesem Ort zu stehen, wohl nicht leicht als Abbild einer solchen Gabelung zu verstehen. Die Plastiken ‘ Apfel ’ und ‘ Schmuck- Brücke ’ zeichnen für sich je eine Örtlichkeit aus, die breitere Dreieckshälfte und eine Kreuzung der Fußgängerüberwege. Die Skulptur kiro bildet zusammen mit den Sträuchern, inmitten derer sie gesetzt ist, und dem Kampferbaum ein Arrangement, das sich ganz von der Umgebung abhebt. In einer grünen Anlage im Tokyoter Stadtbezirk Chiyoda stößt man auf die goldfarbene Skulptur eines affenartigen Tiers. Die Skulptur ist aus Messing und steht auf einem menschenhohen Sockel mit zwei japanischen Inschriften. Eine schreibt dem Tier den 1 In der Unterscheidung von Plastik und Skulptur folge ich dem von Werner Hofmann dargelegten Sprachgebrauch: Resultate eines “ modellierenden ” versus eines “ bildhauerischen Gestaltungsaktes ” (Hofmann 1958: 18 f.). Vgl. auch Reuße 1995: 160. 210 Götz Wienold Namen kanemushi ‘ Goldkäfer ’ zu, die zweite bietet zur Reflexion an: hootenkanshuuzoo ‘ Statue (zoo) von Entwicklung (ten) von Gedeihen (hoo) sehen (kan) und beschützen (shuu) ’ , 2 oder etwas freier übersetzt: ‘ Die Entwicklung von Gedeihen sehen und beschützen, als Statue dargestellt ’ . Als Bild eines Käfers ist die Skulptur durch Linien auf dem Rücken, wie auf dem Panzer eines Insekts, zu erkennen, doch hat das Tier auch weibliche Brüste, diese und die Stellung der Gliedmaßen verleihen ihm den Charakter einer allegorischen Personifikation. 3 Auch diese Skulptur befindet sich in einer Anlage mit Bäumen und Pflanzen, einem Arrangement. Vor dem französischen Kulturzentrum im Shiodome Media Tower nahe dem Bahnhof Shimbashi auf halbhohem Sockel eine Skulptur von drei überaus schlanken, nackten, jedoch entsexualisierten Figuren, nur aus der Gestaltung des Kopfes als zwei Frauen und ein Mann zu erkennen (Abb. 5). Mit ganz nach oben gestreckten Armen halten sie eine Art Trommel, die Wände der Trommel tragen ein Relief von drei Vogelpaaren, oben auf ihr sitzt die Skulptur eines Vogels. Eingraviert liest man in japanischer Silbenschrift, diesmal Hiragana: todoke und in lateinischer Schrift den Namen: K. Shigeoka. ‘ Sende hin ‘ , mag man todoke, Imperativ des Verbs todoku, übersetzen, ausgedeutet: ‘ sende dem Himmel entgegen ’ , das Ziel der Anstrengung der sich reckenden Menschen angebend. 4 Wie kiro in Ueno bildet die Skulptur ein Ensemble mit einem Baum, mit einem Shirakashi, einer in Tokyo in vielen Anlagen und Parks zu findenden immergrünen Eichenart, ein Arrangement wie auch das von kanemushi. Am südlichen Ende der Nihonbashi ‘ Japanbrücke ’ ruht auf drei niedrigen Stützen eine runde Kugel aus Stein, ein breites, schwarzes Band um seine Mitte. Ein beigegebener Text nennt sie taimukapuseru ‘ Zeitkapsel ’ (in Katakana). Die Kapsel, heißt es weiter, enthalte eine Botschaft, in die Zukunft gesandt, im Jahre 2036 bei Öffnung der Kapsel zu lesen. Eine Nihonbashi bestand an gleichem Ort bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Diese hölzerne Brücke, den meisten Japanern wohl durch Ukiyoe bekannt, wurde 1913 durch die jetzige steinerne ersetzt. Die Geländer schmücken aus Kupfer gegossene Laternen und kirin, geflügelte Vierbeiner der chinesischen Mythologie. Tafeln geben die Entfernungen zu japanischen Städten in verschiedenen Richtungen von diesem genpyoo ‘ Ausgangszeichen, Nullpunkt ’ aus an. Die Brücke war einstmals das symbolische Zeichen des Landes Japan, zur Zeit ihrer Setzung war Japan durch die Diktatur der Tokugawa gerade als einiges Land konstituiert worden. Wieder haben wir ein Arrangement mit einer Skulptur mit unerwarteten Namen. Der Dreifuß, auf dem die Zeitkapsel ruht, lässt an den Dreifuß der Pythia in Delphi denken, und so mag die für 2036, 125 Jahre nach Errichtung der Brücke aus Stein, bestimmte Botschaft jedenfalls bis dahin ein Rätsel aufgeben. 2 Japanische Ausdrücke und Namen werden, um dem Japanischen als Morensprache gerecht zu werden, in einer modifizierten Hepburnumschrift wiedergegeben, dabei erscheinen anderswo mit einem Querstrich oder einem Zirkumflex bezeichnete Vokale außer in bei uns eingebürgerten Begriffen und Namen als Doppelvokale. 3 Diese Anlage wurde ein erstes Mal mit Abbildungen von Anlage, Skulptur und Inschriften in Wienold 1998: 191 f. vorgestellt, wieder aufgenommen in Wienold 2015: 83 f. 4 Auf der Internetseite aato no kaze - Wind of the Art kann man zahlreiche Skulpturen sich ähnlich streckender Figuren von Kenji Shigeoka (*1936) sehen, zum Beispiel daichi kara oozora e ‚ ‚ von der weiten Erde zum großen Himmel (im Olympic Museum, in Lausanne). Vgl. auch www.anshindo-grp.co.jp/ art/ sculpture/ shigeokakenji. html, eingesehen am 8.12.2022. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 211 Auf einem hohen, weiten Rund, in das sogar eine Einfahrt in den Untergrund führt, ein Café, vor ihm posiert ein schwarzes, metallenes Monster, es reckt sich, wie es sich für diese einem Filmmythos des 20. Jahrhunderts entstammende Figur gehört, auf, und wird für den, der sie nicht wiedererkennen will, auf der Tafel Godzilla Square namentlich identifiziert. Der Film ist von 1954. Gegenüber dem Ungeheuer, das von der Leinwand drohte (Abb. Reischauer/ Katoo 1993: 459), wirkt dieser Godzilla (jap. gojira) wenig bedrohlich. Im Gebäude hinter dem Rund, ganz nahe dem Bahnhof Yurakuchoo, ist schicklich ein Kino untergebracht. Auch hier also finden wir Name und Figur beieinander. In der Südwestecke des Vorplatzes vor dem Bahnhof Tokyo steht auf einem zunächst aus drei stufenförmig aufeinander gelegten, granitenen Quadern, sodann aus einem bronzenen, zusätzlich mit Girlanden geschmückten Zylinder gebildeten Sockel, beide Sockelteile jeweils für sich bereits übermenschenhoch, die mächtige Statue einer Frau in züchtiger, westlicher Kleidung. Auf dem obersten granitenen Quader des Sockels gibt eine zweisprachige Inschrift ihr einen Namen, sino-japanisch ai, altgriechisch he agape ‘ die Liebe ’ . 5 Der griechische Name bestimmt sie als die spirituelle Liebe, wie sie der 1. Korintherbrief des Paulus preist, das japanische Wort entspricht dem, die erotische Liebe würde japanisch koi heißen. 6 Auf dem westlichen Vorplatz des Bahnhofs Ebisu in Tokyo ein Oval. Im rechten der beiden Brennpunkte zwei immergrüne Bäume, im anderen eine auf einen begehbaren Sockel aus drei Stufen gesetzte niedrige Kuppel, ein halbdurchsichtiger Bogen, in dem Wasser fließt. Die Kuppel ist in der Mitte zweigeteilt, ein sehr schmaler Gang führt hindurch. Weitere metallene Bögen und Wasserspiel umgeben eine schwarze Tafel mit den Versalien EBISU (Abb. 6). Ebisu heißt einer der sieben aus China überkommenen Glücksgötter (shichifukujin), unter diesen der Gott reichen Fischfangs, für die Fischereination Japan ein naheliegendes mythologisches Symbol, zu dem auch die Spiele mit Wasser stimmen. Direkt am Bahnhof eine Skulptur des Gottes in traditioneller Gestalt. Er sitzt, lächelt übers pausbäckige Gesicht mit knubbligen Ohrläppchen und hält in der linken Hand eine Meerbrasse. Auf der schwarzen Tafel mit dem Namen kehrt das Gesicht in einfacher Zeichnung wieder. So scheint die Plastik in abstrakter Form ebenso dem Gott zu gelten. In der Folge werden noch eine ganze Reihe weiterer öffentlich aufgestellter Objekte mit und ohne explizite Interpretanten auftreten. Tatsächlich finden sich allein in Parks wie an Straßen Tokyos weit über 100 solcher Objekte in überwältigender Vielfalt und unterschiedlichsten Appeals, einige mit erläuternden Tafeln wie bei ringo to kotoba. 7 Die bisher beschriebenen Objekte befinden sich alle in einem durchgehend westlichen, das heißt nach europäischen und nordamerikanischen Vorbildern und Praktiken gestaltetem Stadtbild. Englisches wie Jewelry Bridge oder - japanisiert - taimukapuseru entspricht der in der Welt 5 Japanisch kennt keine Artikel, ai darf man deshalb wie altgriechisches he agape mit bestimmtem Artikel als Titel einer Statue gleichermaßen mit “ die Liebe ” übersetzen. 6 Die lange westliche Fassade des Bahnhofs Tokyo selbst bildet heute ein sorgfältig konserviertes architektonisches Museumsstück. Das Eingangstor in der Mitte war einst dem Kaiserpaar reserviert, ist heute jedoch geschlossen und durch eine Gruppierung sorgfältig beschnittener Kiefern zugestellt, die quasi eine Dekoration bilden. Ein mächtiger steinerner Quader trägt die sino-japanische Inschrift ‘ Bahnhof Tokyo ’ . Die Inschrift steht so tief wie oft die Information über den Namen eines Ausstellungsgegenstandes. 7 Vgl. locahan.com/ 3obuje.html (Stand vom 14.12.2022). Eine ganze Reihe der bisher wie unten in Abschnitt 3 besprochenen Objekte werden auf der Web-Seite nicht erwähnt. 212 Götz Wienold der Waren und Märkte, besonders im Design von Mode und Accessoires mit Englischem durchsetzten heutigen japanischen Kultur. 8 Die Plastiken und Skulpturen folgen in westlichen Ländern entwickelten Kunsttraditionen. Viele der Objekte stehen in einem Arrangement mit Pflanzenwuchs. sie setzen Akzente im Stadtbild. Ich behandele an öffentlichen Orten aufgestellte Objekte, nicht Werke der bildenden Kunst in Freilichtmuseen, und die ihnen beigegebenen Interpretanten. 9 Die Objekte sind in der Öffentlichkeit im Freien aufgestellt, so dass sie bemerkt, beachtet, betrachtet werden. Sie sind keine Gebrauchsobjekte. Sie sind für ‘ Sinn ’ frei, die beigegebenen Worte schreiben ihnen einen Sinn zu. Dass sie benannt sind, bestärkt darin, sie wie Worte, die etwas benennen, als Zeichen zu betrachten. Die Zeichenklassifikation von Charles Sanders Peirce unterscheidet nach dem Interpretantenbezug (Sinnbezug) der Zeichen Rhema, Dizent und Argument. Peirce hat diese Begriffe aus einer Analyse der menschlichen Sprache, speziell einer logischen Analyse der Sprache, der Unterscheidung von Wort, Satz und Schlussbildung, gewonnen, so in seiner Schrift Elements of Logic (Peirce 1903, §§ 250 - 253) und im Letter to Lady Welby (Peirce 1904, 337 - 339): Rhema, ein Einzelelement, Dizent eine für sich erfassbare und beurteilbare Verbindung von Einzelelementen, Argument schließlich eine abgeschlossene Folge von Dizenten, die für sich bestehen kann. 10 Als solche bereiten Peirces Begriffe für die Beschreibung einer zeichenhaft verstandenen Objektwelt gewisse Schwierigkeiten, weil deren Klassifizierung weniger eingeübt ist als die umgangssprachlich akzeptierte Einteilung von sprachlichen Zeichen in Wort, Satz und Text und man nicht davon ausgehen darf, die von einer Konzeption von Sprache ausgehende Klassifikation von Zeichen ohne weiteres auf Verhältnisse einer nichtsprachlichen Objektwelt übertragen zu dürfen. 11 Die Elemente, aus denen die Objekte zusammengefügt sind - die Halbringe, die Säulen, die Sockel der Jewelry Bridge, die Figuren, die Trommel, der Vogel oben auf ihr von todoke, die Stützen, die Kugel, der schwarze Reif um die Zeitkapsel - sehe ich als Rhemata. Aus ihnen werden Dizenten, die - mit Bedeutungszuschreibungen versehenen - Objekte wie Jewelry Bridge oder kiro gebildet. Werden sie wie kiro zusammen mit dem Kampferbaum inmitten von Sträuchern gesetzt, die Skulptur todoke einem shirakashi-Baum gegenübergestellt, wird ein geschlossener Zusammenhang hergestellt. Bei kiro ist er klar markiert (Abb. 4), auch todoke hebt sich von der Umgebung ab (Abb. 5). Sprachliche Texte als abgeschlossener Zusammenhang sind ein Fall von Argumenten in diesem Sinn. Bei visuellem Material sage ich statt Argument “ Arrangement ” . Der Begriff ‘ Arrangement ’ zielt auf die Art und Weise, wie Objekte als Zeichenelemente in einer Anlage verteilt und einander zugeordnet sind, so dass wir sie als zusammenhängenden Komplex, unabhängig von der Umgebung, betrachten und aufnehmen können. 12 Sprachliche Texte signalisieren häufig erkennbar Anfang und Ende, genauso Filme, Musikwerke; 8 Vgl. Wienold 1993, 1995, 2015: 151 - 167. 9 Zum Tempel Choosen-in in Nakameguro gehört die auf vier knapp bemessenen Stellflächen im Freien aufgestellte Watanabe Collection, über 50 Skulpturen aus Stahl, Bronze, Aluminium, Granit, Andesit usw. ( “ Museum für gegenwärtige Skulptur ” ). 10 Vgl. dazu Walther 1979: 73 ff. 11 Vgl. dazu auch Barthes 1985: 256 f. 12 Zum Begriff des Arrangements vgl. Wienold 2015: 7 - 11, 22 - 25, 75 - 78 und öfter, weiter Wienold 2017 und 2023. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 213 die Abgeschlossenheit in Arrangements zeigt sich häufig durch Rahmung, etwa durch Einschließung mit Mauern an, Bilder haben Rahmen, bei theatralischen Aufführungen staffeln sich oft sogar die Rahmen. Der Triade Rhema - Dizent - Argument entspricht in der semiotischen Analyse von kulturellem Verhalten durch Jurij M. Lotman die Triade Geste - Akt - Verhaltenstext. Auch Lotman betont die Abgeschlossenheit des dritten Glieds, des Verhaltenstexts: “… should be understood as a completed chain of conscious action located between intention and result ” (Lotman 1995: 109). 13 In Alltagssituationen mag ein Argument oder ein Arrangement an den Rändern ausfransen, es mag nicht genau anzugeben sein, wo es beginnt und aufhört. Unter den bisher genannten Objekten gilt das für die Fußgängerüberwege vor dem Bahnhof Ueno. Die beschriebenen Objekte sind neuartig, viele von ihnen sind, mit einem Ausdruck von Werner Hofmann, “ freie Gegenstandserfindungen ” (Hofmann 1958: 81). Der zugeschriebene Sinn ist vom bloßen Anschauen her keineswegs offenkundig, die Zuschreibung bedarf eines Kommentars. Die Zuschreibung Jewelry Bridge scheint angesichts des Objekts ungenügend, man fragt, was hat hier eine Skulptur kiro ‘ Wegscheidung ’ zu suchen, eine Statue der “ Liebe ” , altgriechisch in griechischer Schrift an diesem Ort? Worum es solchen Zeichen geht, soll uns also beschäftigen (4). In zwei vorbereitenden Schritten gehe ich dem Zeichencharakter von Objekten (2) nach und der Markierung von öffentlichen Örtlichkeiten durch Zeichen (3). Abb. 1: Jewelry Bridge: Ring geschlossen (Satoo Ken ’ ichi) 13 Die Parallelisierung mit der Peirceschen Triade steht nicht bei Lotman. Zum Zeichenbegriff Lotmans vgl. Fleischer 1998, zur sowjetischen Semiotik insgesamt Eimermacher 1984. 214 Götz Wienold Abb. 2: Jewelry Bridge: Ring massiv (Satoo Ken ’ ichi) Abb. 3: Jewelry Bridge: Ring offen (Satoo Ken ’ ichi) Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 215 Abb. 4: kiro (Satoo Ken ’ ichi) 216 Götz Wienold Abb. 5: todoke (Satoo Ken ’ ichi) Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 217 Abb. 6: EBISU (Abb. v. Verf.) 218 Götz Wienold 2 Objekte als Zeichen Objekte sind Zeichen in einem Gebrauchszusammenhang. Traditionell werden Objekte in der Semiotik als etwas, auf das Zeichen sich beziehen können, angesehen; der Objektbezug ist eine Funktion von Zeichen, Objekte selbst liegen außerhalb. Objekte in Gebrauch oder, wie man auch sagen kann, in Funktion, sind nun an einen Lebenszusammenhang gebunden: “ l ’ objet est une sorte de médiateur entre l ’ action et l ‘ homme ” (Barthes 1985: 251). Objekte funktionieren in raumzeitlicher Kontiguität, darin haben sie den grundlegenden Charakter alles Zeichenhaften, Indexikalität. Das gilt jedenfalls für von Menschen hervorgebrachte Objekte, Artefakte menschlicher Kulturen, und Naturobjekte, die durch menschliche Tätigkeiten affiziert sind. Praktisch die gesamte Pflanzenwelt außerhalb unberührter Urwälder macht heute solche Naturobjekte aus. 14 Grundsätzlich und grundlegend ist die gesamte Objektwelt zeichenhaft geprägt, ohne dass das im allgemeinen den Teilnehmern bewusst ist (vgl. Nöth 2000: 526 - 528). 15 “ Tous les objets qui font partie d ’ une société ont un sens ” (Barthes 1985: 252). 16 Sieht man Objekte als Zeichen, sind die materiellen (und in ihrer Materialität wahrgenommenen) Objekte selbst die Zeichenträger, der ihnen bestimmte Gebrauch ihre Referenz, die Bewertung der Objekte im Gebrauchszusammenhang ihr Interpretant. Eine Klinke erlaubt, eine Tür zu öffnen und zu schließen, ein Riegel sie zu verriegeln und zu entriegeln. Eine Treppe verbindet zwei Flächen so, dass man von der unteren zur oberen und umgekehrt gelangen kann. Treppe, Klinke und Riegel an Ort und Stelle zeigen, wozu sie da sind, darin sehe ich, semiotisch gedacht, ihre Referenz, der Gestaltpsychologe Kurt Lewin hat vom “ Aufforderungscharakter der Dinge ” gesprochen (Lewin 1982: 64 f., 176 f., 395 ff.). 17 Wir erkennen an ihnen, wozu wir sie benutzen können. Eine bei Abbruch eines Hauses herausgebrochene, auf den zum Abtransport bereitstehenden Laster geworfene Treppe hat ihre Referenz verloren. Wie die Treppe betrachtet wird, sehe ich als ihren Interpretanten. “ Die Form hat nicht nur funktionelle Bedeutung, sie hat auch einen Ausdruckswert ” , schreibt Wilhelm Braun-Feldweg in Normen und Formen industrieller Produktion, Form “ drückt allgemein Menschliches aus und will gefallen ” . 18 John Heskett nennt es “ product semantics ” (2002: 22). Roland Barthes exemplifiziert seine “ Semantik der Objekte ” an Gestaltungen eines Gegenstandes, der selbst Zeicheninstrument par excellence ist, dem Telefon (Barthes 1985: 252 f.). Er arbeitet mit dem zweigliedrigen Zeichenbegriff de Saussures, der Unterscheidung von signifiant und signifié, und schlägt vor, Objekte als Zeichen nach ihrem Gebrauch in Theater, Film und Werbung zu untersuchen. Ich folge der Klassifikation von Zeichen von Charles Sanders Peirce. Mir schwebt vor, sie nach dem Umgang von Teilnehmern mit ihnen zu betrachten. Unsere Vorstellungen von Objekten sind stark durch unsere heutige Lebenswelt wie aus uns leichter zugänglichen, weniger lang vergangenen Zeiten oder auf Reisen leicht 14 In anderer, hier nicht zu erörternder Perspektive lassen sich selbstverständlich auch vom Menschen unberührte Pflanzen, ja grundsätzlich alles in der materiellen Welt als Zeichen betrachten. 15 Zum Begriff des Teilnehmers ( “ participant ” ) s. Pike 1967: 78 f., Koch 1971: 18 f. 16 Die zitierten Aussagen von Roland Barthes stehen in einem Essay “ Sémantique de l ’ objet ” , der zuerst bereits 1966 erschien, auch enthalten in Barthes 1994 - 1995: II 65 - 73 17 Zu den Beziehungen zwischen Gestalttheorien und Semiotik vgl. Stadler/ Wildgen 2003. 18 Ravensburg: Otto Maier, 1954, hier zitiert nach Auszüge in Breuer/ Eisele 2018: 62 - 66, hier 62, 65, 66 dort genauer zum “ Menschlichen ” . Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 219 erreichbaren Kulturen bestimmt. Eine allgemeine Theorie muss ihr Netz so weit wie möglich auswerfen und, wie Heskett es tut, im Begriff selbstverständlich Kajaks der Eskimo und Bumerangs der Ureinwohner Australiens einschließen (Heskett 2002: 8 - 16; vgl. Hofmann 1958: 11). Künstler und ästhetische Bewegungen haben seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, verstärkt um den Beginn des 20., auf die Gestaltung von Objekten besonderen Einfluss gewonnen, in England das Arts and Craft Movement, in Frankreich Art Nouveau und Art Déco, in Österreich die Wiener Sezession, in Deutschland Jugendstil und der Deutsche Werkbund, später das Bauhaus, in den Niederlanden De Stijl, in Russland um 1900 Künstler um die Zeitschrift Mir iskusstvo ( ‘ Welt der Kunst ’ ) (Bowlt 1982: 39 ff., 97 ff.), dann der revolutionäre Konstruktivismus (Kashiwagi 1984, 88 - 98). Oota 2011 stellt die Ausgestaltung von Häusern, Innenräumen und Gärten in Japan in Tradition und Gegenwart unter dem Begriff ‘ Design ’ dar. Man bildete die Begriffe ‘ Kunstgewerbe ’ und ‘ Angewandte Kunst ’ , errichtete Kunstgewerbeschulen, Museen für Kunstgewerbe, Schulen und Akademien für Angewandte Kunst und Hochschulen für Gestaltung, begründete eine neue Disziplin ‘ Designtheorie ’ (Heskett 2002, Breuer/ Eisele 2018, Yoshikawa 2020) und entwickelte eine postmoderne und politische Kritik des Designs (Breuer/ Eisele 2018, 183 - 218). Konstruktivisten vertraten die “ Auffassung, daß Gebrauchsgegenstände als Erzeugnisse echter Kunst zu erachten sind ” (Hofmann 1958: 127), Malewitsch entwarf 1924 für die Leningrader Porzellanmanufaktur Teegeschirr, Rodchenko Möbel für einen Arbeiterklub (Kashiwagi 1984. 88 - 98 mit Abb.). All das hat insgesamt zu stärkerer Bewusstheit des Zeichencharakters von Objekten beigetragen. Die Design-Theorie wirkt recht normativ. Für die Semiotik der Objekte ist aber eine Theorie nötig, die eine differenzierte Beschreibung ermöglicht, wie in der Linguistik Phonetik und Phonologie die physiologische und physikalische Materialität sprachlicher Zeichen der Analyse zugänglich machten. Die gegenständliche Gestaltung der jeweiligen Lebensumwelten der Gesellschaften bildet ihre semiotische Grundsprache. Was unspezifisch benannt “ Ausdruckswert ” oder “ das allgemein Menschliche ” der Objekte ausmacht, das sind im wesentlichen visuelle und taktile Qualitäten, Qualitäten der Materialität und der Formung. Peirce hat dies Quali-Zeichen genannt. Ein Quali-Zeichen ist eine Qualität von etwas, das heißt, es kann nicht ohne dieses Zeichen sein: “ It cannot actually act as a sign until it is embodied, but the embodiment has nothing to do with its character as a sign. ” (Peirce 1903: 142). In ein Beispiel übersetzt: Braune und schwarze Hemden zeigten Mitglieder deutscher und italienischer faschistischer Organisationen an, doch ein Hemd zu tragen allein macht nicht den Faschisten aus. Bei den Quali-Zeichen von Objekten handelt sich im wesentlichen um Farben, Stoffe (Stein und seine Arten, Keramik, Metalle, Glas, Holz, Felle, Leder, Gewebe, Kunststoffe) und ihre Bearbeitung, vor allem der Oberfläche (glänzend - matt, glatt - rau, fein - grob, geschliffen - aufgeraut, geriffelt, gerillt, kanneliert, ziseliert, bei Holz: roh, gebeizt, lackiert usw.), schließlich die Formung und Gliederung und Applikationen (wie Ornamente). Im Abschnitt 4 versuche ich, die Funktion der Quali-Zeichen für die Interpretation von Objekten an Beispielen deutlich zu machen. Statt von Mode, Möbeln, Geschirr, Besteck, die oft durch Material, Formung, Ornamente, auch Aufschriften bereits hervorgehoben sind, spreche ich, um das Grundsätzliche der hier 220 Götz Wienold eingenommenen Position klar zu machen, vom Alltäglichsten. 19 Sehen wir uns deshalb Gehflächen an. In Berlin wie in Tokyo finde ich sie aus einer Masse wie Asphalt oder aus Steinen gebildet. (Wege, Pfade aus Erde, Sand usw. sind abgelegen, oft als Behelfe, Abkürzungen von Fußgängern aus nicht zum Gehen bestimmtem Rasen herausgetrampelt.) Die Pflastersteine, Platten, Fliesen von Gehflächen sind genau aneinandergefügt, haben oft besondere Gestalt und Färbung, sie dürfen in ganz einfacher Weise ornamental genannt werden. Die Fliesen, Ziegel oder Steine haben etwa eine besondere, nicht einfach quadratische oder rechteckige, sondern z. B. gezackte Form, oder sie werden in Winkeln zueinander verlegt, sie bilden in mehreren Farbtönungen wiederkehrende Muster usw., während auf angrenzenden Flächen, für Gerätschaften oder Gestelle oder zum Abstellen von Gegenständen bestimmt, kleinere, ungleich geformte Pflastersteine oder Steinchen liegen, zwischen denen Gräser wachsen oder Erde liegt. Aus- oder Einfahrten sind wieder in anderer Art gepflastert und kenntlich, anders wieder Plätze für Fahrräder oder Parkplätze. Davon, dass Gehflächen für Menschen bestimmt sind, rührt die Tendenz zum Ornamentalen. Im Wohnbereich sind Räume durch Bodenbelag (Fliesen, Linoleum, Bretter, Parkett, Teppichware) unterschieden, Räume je nach Bestimmung mit Teppichen, Läufern, an besonderen Stellen Vorlegern; Matten und so weiter ausgestattet, Wände mit Tapeten, Behängen, Spiegeln, Regalen, alle nach Formqualitäten und Farben, häufig mit Ornamenten. Der jeweilige so bestimmte und durch weitere Objekte hergestellte Komplex, Situationskontext, dient Handlungen und Verhaltensweisen von Menschen (und Haustieren: wohl erzogene Katzen erkennen ihr Klo). Teppiche oder Läufer zum Bespiel zeichnen in Räumlichkeiten Flächen für Zwecke aus. Die gesamte private wie öffentliche Lebenswelt mit ihren Aufenthalts-, Bewegungs-, Tätigkeitsräumen besteht aus Objekten mit Zeichencharakter. Unter den Quali-Zeichen scheint die Zeichenhaftigkeit von Objekten besonders deutlich in Ornamenten auf. Es gab eine Zeit, da ritten Kavalleristen auf bestickten Sätteln (Babel 1992: 109), die reichen Aristokraten der Fujiwara, die in der Heian-Zeit (794 - 1185) über Jahrhunderte den Ton angaben, schmückten ihre Sättel mit Perlmutter (raden) (Akutagawa 1967: 43). Beschlagenes, kostbar geschmücktes Zaumzeug zierte das geschätzte Pferd und den, der das Pferd ritt. 20 Die nach oben ausschwingenden Rückenlehnen repräsentativer Sessel, auf denen sich bedeutende Persönlichkeiten niederlassen, werfen in Fernsehberichten um ihre Köpfe und Schultern Glanz. Dort wo die Stadtplanung Tokyos heute auf einem breiten Bürgersteig Flächen für Fußgänger von denen für Fahrradfahrer abteilt, sind 19 Zum Alltäglichen bzw. Alltagsleben in der Semiotik vgl. Nöth 1998, 2000. 20 Babel 1992: 110: “ Neben ihm blinkte das Geschirr des toten Pferdes, die kunstvolle, vielfältige Rüstung eines Kosakenrenners: Brustleder mit schwarzen Quasten, geschmeidige Schweifriemen mit bunten Steinen, Zügel mit eingeschmiedetem Silberschmuck. ” Babels Reiterarmee (Konarmija) reflektiert Erfahrungen des Autors während des Krieges zwischen der Sowjetunion und Polen 1919 - 1921 (vgl. Lehnstaedt 2019, der Babel mehrfach anführt). Deshalb halte ich seine Darstellung für verlässliche Beschreibungen einer erlebten Wirklichkeit. (Das russische Original erschien zuerst 1926, die Übersetzung von Umanski zuerst Berlin: Volk und Welt, 1964.) Akutagawas Erzählung verarbeitet Material aus den Konjaku Monogatari ( “ Erzählungen als lang vergangener Zeit ” ) einer Sammlung von Erzählungen aus dem 12. Jahrhundert (vgl. Keene 1984: 558 - 565), Details der in Akutagawas Quelle beschriebenen Realien nehme ich hier deshalb für historisch korrekt. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 221 die für Fahrradfahrer eintönig asphaltiert, die für Fußgänger mit bunten Ornamenten ausgelegt. Beteiligte Personen und Institutionen werden sich wohl partiell über das, was sie planen und tun, untereinander abstimmen. Doch dafür, dass in der Objektgestaltung in Deutschland und Japan gleiche oder ähnliche Ergebnisse zustande kommen, braucht es keine generelle Absprache. Alles Ornamentale ist Menschen zugeordnet. Ornamente sind metonym zu den Menschen, die die Objekte gebrauchen. Das heißt auch: Ornamente an Objekten sind Klassen- oder Standeszeichen. Ornamente gelten Menschen, sie ziehen Augen an. Menschen schauen auf Ornamente und schauen sich in ihnen an 3 Markante Auszeichnungen öffentlicher Örtlichkeiten Die zu Beginn beschriebenen Objekte, wiewohl im Alltag befindlich, sind nicht alltägliche, stehen nicht in einem Gebrauchszusammenhang. Sie zeichnen Örtlichkeiten in auffälliger, unerwarteter Weise aus. Sie sind so aufgestellt, dass sie oft schon von weitem ins Auge fallen, Jewelry Bridge in Ueno, die Siegessäule in Berlin, der Obelisk auf dem Oval innerhalb der Kolonnaden des Petersplatzes in Rom. Im Westen kennen wir als markante Auszeichnungen öffentlicher Örtlichkeiten, meist bereits aus der Antike stammend, Obelisk, Standbild, Säule (mit oder ohne Statue), Uhrturm, Bogen, speziell als Triumphbogen, Fontäne, Denkmal (Bauer 1996). Siegessäulen, Obelisken, Triumphbögen sind Überreste aus Zeiten römischer Vorherrschaft in Westeuropa, Nordafrika und Vorderem Orient, und ihrer Tradierung im Imperialismus und Kolonialismus. Sie sind uns in genügender Zahl erhalten, werden heute aber kaum neu errichtet. Immerhin hat man in die Mitte des Strausberger Platzes in Berlin in Zeiten der DDR eine Fontäne gesetzt. Einen besonderen Platz als Zeichen absoluter Herrschaft nehmen vom römischen Kaiser Marcus Aurelius bis zum spanischen Diktator Francisco Franco Reiterstatuen ein (Wienold 2001). 21 Wenn solche markante Auszeichnungen öffentlicher Örtlichkeiten Texte in Gestalt von Inschriften tragen sind dies nicht Zuschreibungen der Art von Jewelry Bridge, todoke, taimukapuseru. Inschriften auf Triumphbögen, auf Denkmälern verkünden. Auch der Obelisk auf dem Petersplatz trug ehemals wohl eine Inschrift, heute sind ihm an der Basis Inschriften beigegeben (Cassanelli 2013: 64). Auf der Wasserkuppe in der Rhön wurde 1923 ein Denkmal für die im Ersten Weltkrieg umgekommenen Piloten aufgestellt, auf einem Sockel ein “ nach Westen blickender Adler ” mit dem Text: “ Wir toten Flieger blieben Sieger durch uns allein, Volk, flieg du wieder und du wirst Sieger durch dich allein. ” (Medicus 2013, 55) So neu dies noch im 20. Jahrhundert, so aus Imperiumswillen entstanden wie die aufgeführten aus der Antike herrührenden Auszeichnungen. Zu Inschriften treten Reliefs, Ornamente, um die Zeichen herum nicht selten Rasen und Gitter, die abgrenzen und den Raum zusätzlich markieren. Typischerweise nehmen solche Auszeichnungen die Mitte von großen, oft runden Plätzen ein. Michelangelo, Künstler der Herren seiner Zeit, ließ 1538 die Reiterstatue Mark Aurels in die Mitte der von ihm geplanten Piazza del Campidoglio stellen (Kähler 21 Die Neue Zürcher Zeitung meldete am 24. 3. 2005, in Madrid sei eine Reiterstatue Francos abgebaut worden (Internationale Ausgabe, Nr. 70, S. 2). 222 Götz Wienold 1963: 167). 22 Daneben erhalten Statuen vor Tor, Eingang, Aufgang eines besonderen, dadurch weiter hervorgehobenen Gebäudes Prominenz. Vor der Signoria in Florenz stehen zwei Statuen, links der David des Michelangelo, rechts, ein Werk Baccio Bandinellis, Herkules mit dem von ihm gebändigten Monster Cacus zu Füßen,. Beide, David wie Herkules, stehen auf hohen, besonders gestalteten und ornamentierten Sockeln. 23 Vor dem Treppenaufgang zum Ernst-Ludwig-Haus auf der Mathildenhöhe in Darmstadt auf hohen gestuften Sockeln rechts die Statue einer Frau, links die eines Mannes von Joseph Maria Olbrich, beide Jugendstil, beide - gleich David und Herkules - ganz nackt. 24 Auf der Ebisu Garden Plaza im Tokyoter Stadtteil Ebisu hat man ein Schloss nach Art der Loire-Schlösser nachgebaut, an die Treppen, die zu ihm hinaufführen, Statuen der Art, wie sie wohl im 18. Jahrhundert in Frankreich zu finden waren, gestellt, rechts einen Mann, links eine Frau, beide nackt. Die Nacktheit an öffentlichem Ort erhöht die Besonderheit der Markierung. Sockel heben die Markierung hervor. Zu einem hohen Sockel muss man sich recken, um zu sehen, was auf ihm steht. Hohe Sockel sind nicht selten zusätzlich gestuft wie der der Statue der ai - agape vor dem Bahnhof Tokyo. Ein hoher Sockel trägt oft zusätzlich Ornamente, der obere runde der ai - agape ist von Girlanden umwunden. 25 Heute ist der Sockel aus moderner Plastik für öffentliche Orte fast verbannt. 26 Die üblichste Art, einen Ort auszuzeichnen, ist in Japan ein hoher immergrüner Baum mit breiter, dichter Krone. Man setzt ihn in eine eingegrenzte, oft begrünte Fläche. So findet man Bäume schon auf sehr begrenztem Raum von vielleicht noch nicht einmal 20 m 2 . Gleich wenn man den Campus der Universität Tokyo in Komaba durch ein Tor betritt, sieht man vor dem Uhrturm des Hauptgebäudes in einem Rund einen mächtigen Kampferbaum und nur ein wenig weiter rechts vor dem Museum der Universität wieder in einem Rund einen noch gewaltigeren, eine Himalaya-Zeder. Ähnlich steht vor dem Eingangsgebäude (mit Uhrturm) der Universität Kyoto ein Kampferbaum mit breiter Krone. Auf dem Vorplatz des Bahnhofs Tokyo stand mitten in einem grünen Rund ein immergrüner Baum (Kajima 1979: 8, Foto aus dem Jahr 1932). Ein immergrüner, weit ausladender Baum ist so selbstverständlich Symbol, dass jeder Zusatz, es sei denn eine botanische Bezeichnung wie kusunoki ‘ Kampferbaum ’ bei kiro, überflüssig ist. Größere Firmen setzen ebenfalls gern auf den Vorplatz ihres Gebäudes einen Baum, seltener eine Plastik (ohne Zuschreibung) dazu. 27 Steht mehr Raum zur Verfügung, pflanzt man eine Gruppe von Bäumen und Sträuchern, einen Mini-Park mit Bänken zum Sitzen, einen solchen zum Beispiel vor dem Verwaltungsgebäude des Bezirks Meguro. Aus dem zerstörten Hiroshima hat man eine Platte 22 Heute steht sie auf dem Platz vor dem Capitolinischen Museum. 23 Vgl.Sinkiewicz 2019, 263 f. mit Abb. 11.5 24 Kubota/ Kietzmann 2022, Abb. S. 101 25 Gestufte und besonders elaborierte Sockel werden an zahlreichen Beispielen in Wienold 2001 analysiert. 26 Vgl. die Diskussion des Sockels von Denkmälern in Reuße 1995, 95 - 98, 308. Statuen von Personen (mit Sockeln) gibt es in Japan erst seit der Meijizeit (Saaler 2006). Viele von ihnen sind heute aus Tokyo verschwunden. Ein Foto aus dem Jahr 1921 zeigt vor dem heute nicht mehr existenten Bahnhof Manseibashi auf einem mehrfach gegliederten Sockel die Statue des Fregattenkapitäns Hirose, der im Russisch-Japanischen Krieg 1904 - 1905 eine Rolle spielte. Die Statue wurde nach dem Pazifischen Krieg entfernt (Kajima 1979: 28). 27 Nahe dem Yamatani-Museum stellt eine Firma in die Fassade eine Kopie von Michelangelos David in Originalgröße in eine entsprechend hohe Nische mit einem steinernen Baldachin über seinem Kopf. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 223 hergebracht, einen “ Stein des Friedens ” (heiwa no ishi). Der Park selbst wird nakayoshikooen genannt, “ Park des Gutmiteinander-Auskommens ” . Die Anlage vor dem Verwaltungsamt des Stadtbezirks Shibuya ist etwas breiter gestaltet, die Motivik ähnlich. Eine Skulptur dreier Reigen tanzender Kinder trägt den Namen nakayoshi ‘ gut miteinander auskommen ‘ , in einem hohen, innen bunt geschmückten, runden und sich nach vorn öffnenden Gebilde hängt eine “ Glocke des Friedens ” (heiwa no kane). 28 Die Interpretanten nakayoshi und heiwa benennen und betonen Prinzipien der Erziehung in Japan. Nakayoshi nennt ein Prinzip der Erziehung in den Familien, im Kindergarten, in der Nachbarschaft; Friede ist seit dem Ende des pazifischen Krieges mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und der Kapitulation und Okkupation des Landes Japanern ein Herzensthema. Die Nachkriegsverfassung Japans wird auch heute noch als pazifistisch bezeichnet, auch wenn sie durch Interpretation und Gesetzgebung schon seit mehreren Jahrzehnten, besonders unter den Premierministern Koizumi und Abe, mehr und mehr ausgehöhlt worden ist. Eine Statue des Friedens von Kitamura Seiboo in Nagasaki gedenkt der Opfer der Atombombe (Abb. in Reischauer, Katoo u. a. 1993: 1032). 29 Vor dem Verwaltungsgebäude des Bezirks Minato in Tokyo steht eine heiwa-no megami “ Göttin des Friedens ” benannte Skulptur (Wienold 2015: 78 - 83 mit Abb. 20), im Setagaya-Park eine Skulptur heiwa-no tomoshibi “ Friedenslicht ” . Auf einer Plattform hoch oben über der Bucht von Tokyo steht eine 56 m hohe Statue der Kannon, einer buddhistischen Darstellung der Barmherzigkeit, zum Gedenken an die Toten der Flächenbombardements auf Tokyo, um sie herum mehrere Tafeln mit der Inschrift “ Für den Frieden der Welt ” , genauso im Tempel der Kannon im Stadtbezirk Setagaya (Wienold 2017: 392 f.). Ein Baum in einem Rund als einfachste Auszeichnung einer Örtlichkeit braucht keine Sinnzuschreibung. Eine Erweiterung zum Rund ist ein Oval, in das wie in die beiden Brennpunkte einer Ellipse zwei Objekt gesetzt werden, im einfachsten Fall zwei Bäume (Wienold 2015: 78 f. mit Abb. 17). Ein “ Brennpunkt ” des Ovals vor dem westlichen, kleineren, Vorplatz des Bahnhofs von Sooka, einer Stadt wenig nördlich von Tokyo, ist mit einem aus Metall gestalteten Objekt, einem Uhrturm, der Mittelpunkt mit einem Baum besetzt, dauernde und vergehende Zeit, wenn man das Arrangement in Worte umsetzen will. Bei der Plastik EBISU haben wir ein weiteres Oval kennengelernt, dessen rechter Brennpunkt mit immergrünen Bäumen besetzt ist. Vertraute Symbole brauchen ebenfalls keine Erklärung. In der Mitte eines Ovals auf dem östlichen Vorplatz des Bahnhofs von Sooka, die Plastik einer Schildkröte. Ihr Buckel ist übermenschengroß und mehrere Meter lang. Vor ihm streckt sich ein weit kleinerer Kopf. Beige, flache Steinplatten in schräger Lage, wie man Schiefer an den Tag treten sieht, bilden die Körper. Als Darstellung einer Schildkröte wirkt die Plastik fast abstrakt. Abstraktion und Augmentierung sind Verfahren der Symbolbildung (Wienold 2023), die Schildkröte ist in Japan ein altbekanntes Symbol langen Lebens. In traditionellen japanischen Gärten tritt sie 28 Zwei Skulpturen zum Thema nakayoshi finden sich in einem Park im Bezirk Kootoo. Eine “ Glocke des Friedens ” ist in Kyobashi in ein spitzes Dreieck, im Hibiya-Park in einen Glockenstuhl gehängt, in Kameto gibt es eine Plastik heiwa-no inori ‘ Friedensgebet ’ (alle Orte in Tokyo), eine andere Form der Erinnerung an Hiroshima findet man in Oofuna unweit Tokyos (Wienold 2017: 392) 29 In Hiroshima gilt den Toten der Atombombe ein Kenotaph, ein geschwungener Bogen, der sich gegen die unteren Enden verjüngt (Abb. in Reischauer/ Katoo 1993: 541). 224 Götz Wienold zusammen mit dem Kranich, seinerseits ebenfalls Symbol langen Lebens, immer wieder auf (Wienold 2023). Im Kumogataike ( ‘ Teich in Wolkengestalt ’ ) im 1903 angelegten Hibiyapark in Tokyo steigt aus der Skulptur eines zum Flug abhebenden Kranichs eine Fontäne. Schildkröte wie Kranich sind so selbstverständlich Symbole, sie brauchen keine Zuschreibungen bei sich. Symbol “ langen Lebens ” ist Übersetzung eines Zeichens in ein anderes, eines plastisch-visuellen in ein sprachliches. Das soll nicht so verstanden werden, als würde der sprachliche Ausdruck, die mit der Plastik gegebene “ Bedeutung ” angeben. Für bildliche Zeichen darf durchaus dasselbe gelten, was Wittgenstein für sprachliche sagt: “ Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ‘ Bedeutungen ’ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens ” (Wittgenstein 1960: 411 (§ 329)). So bitte ich auch alle Angaben des Sinnes von bildlichen Zeichen im Folgenden zu verstehen (vgl. Wienold 2023). Keinen Namen braucht ebenfalls ein meist übermannshoher schwarzer Stein, shumisen (aus sumeru, im Sanskrit Name des Weltbergs) genannt, an hervorragende Stelle gesetzt, so im Saigoo-Park im Stadtteil Aobadai, Bezirk Meguro, dort wo die Anhöhe steil zum Tal des Flusses Meguro abstürzt. Ein shumisen wird, Gründungssymbol der Welt, auch zum Gedenken an die Gründung eines Tempels oder einer Institution gesetzt und findet sich oft in buddhistischen Gärten (Abb: Nitschke 1991: 25). Schildkröte und Kranich haben ihre Symbolik vorgegeben wie die hohen, mächtigen immergrünen Bäume. Auch Markierungen, die nur einmal vorkommen, können durchaus wie selbstverständlich funktionieren. Kap Sooya (Hokkaido), den nördlichsten Punkt Japans, markiert ein Mal aus zwei dreieckigen Platten, so gegeneinander gestellt, dass sie ein spitzes Dreieck ergeben. Um es herum wie durch es hindurch blickt man aufs Meer. Wenige Stufen führen zu einem schwarzen Quader innerhalb des Mals, auf ihm ein Ständer mit Pfeilen nach Nord und Süd. Auf dem Quader heißt es, hier sei der Ort des nördlichen Endes von Japan. Bis zum Ende des Pazifischen Kriegs gingen von hier die Transporte zur Insel Sakhalin (Reischauer/ Katoo 1993: 1453 mit Abb.). 30 Die Spitze, die sich gegen den Himmel richtet, kann man nach Norden projizieren. So funktionieren schließlich auch aus dem Westen übernommene Symbole, die sich traditionellen anschließen können. Der Fußgängern reservierte Vorplatz vor dem Startbahnhof der Setagaya-Linie und dem 26stöckigen Carrot Tower, so seiner roten Klinker wegen genannt, im Tokyoter Stadtteil Sangenjaya trägt in der Mitte in den Boden eingelassen ein metallenes Relief des westlichen Tierkreises mit den im Englischen üblichen lateinischen Namen (Aries, Taurus usw.). Um den Kreis herum in alle Richtungen ausstrahlend zwölf mit Fliesen in mehreren Farben belegte Dreiecke. Die zwölf Dreiecke wiederholen die Zwölfheit des Tierkreises, sie sind ein abstrahierendes, auf diese Form reduziertes Ikon zu ihm. 31 Der Tierkreis vor dem Carrot Tower ist der im Westen geläufige, ursprünglich aus Babylonien stammende, nicht, wie man in Japan vielleicht erwarten könnte, der ebenfalls aus zwölf Tierbildern gebildete chinesische, der der Stunden- und Jahreszählung, nicht der Jahreseinteilung dient. Drückt sich darin Anerkennung aus, dass 30 Die Fußgängerfläche vor dem Mal ist ornamental mit Fliesen belegt. 31 Ein ähnlicher Fall durch Abstraktion ein Ikon zu bilden, wird in Wienold 2015: 68 beschreiben. Zu Abstraktion als Verfahren der Zeichenbildung vgl. auch Wienold 2023. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 225 eine ältere, in ihrer Symbolik aus China überkommene Sicht der Erde im Raum durch eine westliche, dort allerdings ebenfalls überkommene, in alte Symbolik getauchte Sicht der Erde im Raum abgelöst worden ist? Wir werden gleich neue, der heutigen Kosmologie entsprechende Zeichen kennenlernen, 4 Explizite Zuschreibung von Interpretanten Die eingangs beschriebenen Objekte sind alle einzigartig, singulär, Sin-Zeichen im Sinne von Peirce: “ an actual existent thing or event which is a sign ” (Peirce 1903: § 245). Sie sind neuartig, nicht eingeführt. Sie scheinen weder einem Gebrauchszweck zu dienen noch der Information wie das Mal am Kap Sooya. Sie erscheinen wie Zeichen, ohne dass man sagen könnte, wofür. So sind sie offen, in gewissem Sinne unvollständig. Peirce schreibt im Brief To Lady Welby: “ It appears to me that the essential function of a sign is to render inefficient relations efficient - not to send them into action, but to establish a habit or general rule whereby they will act on occasion. ” (Peirce 1904: § 392) In einem posthum publizierten Text A Survey of Pragmatism formuliert Peirce: “ interpretants, or proper significate effects, of signs ” (Peirce 1965: § 475). Peirces Forderung scheinen die neuartigen Objekte durch die Zuschreibungen zu erfüllen, doch muss man meist nach ihnen suchen. Die Zuschreibung Jewelry Bridge endeckt man nur, wenn man sich über einen der Sockel bückt. Bei kiro muß man sich, um sie zu finden, sogar in die Büsche hinein beugen. Die Zuschreibung todoke ist klein gehalten, von gleicher Farbe wie die Skulptur, in sie hineingepresst. Das Auffälligste jedoch: der Sinn der Zuschreibungen ist nicht leicht zu erfassen. Warum wird ein goldener Ring, ein Ehering, “ Jewelry ” genannt, und warum nennt man die Plastik eine Brücke? kiro als Hinweis auf eine Gabelung der Straßen, die, wenn man auf Objekt und Kampferbaum blickt, hier gerade zusammenlaufen (Abb. 4), macht kaum Sinn. 32 Nur bei kanemushi gibt es einen Zusatz, bei taimukapuseru wird erklärt, dass in einer Zukunft, die viele gar nicht erleben werden, etwas mit dem Objekt geschehen soll. EBISU als Name einer Plastik wird allenfalls durch das beigegebene Gesicht, das als das des Ebisu erkannt werden kann, verständlich. Was hat am Bahnhof Tokyo eine Statue christlicher Liebe zu suchen? Das Objekt Jewelry Bridge lässt sich schwerlich als Brücke auffassen, wenn es auch an einem Ort steht, der Brückenfunktion hat: auf erhöhten Fußgängerüberwegen. Ein Schmuckstück ist dargestellt, doch in Augmentierung, was, wie bereits gesagt, auf Symbolhaftigkeit hindeutet, was kann das Schmuckstück aber für etwas, das eine Brücke sein soll, selbst eine metaphorisch verstandene, erbringen? Da lohnt es, das Objekt noch einmal genauer zu betrachten. Die roten Säulen sind nicht gleich hoch, die beiden niedrigeren wie die beiden höheren nicht. Oben beugen sie sich jeweils zueinander. Fassen wir sie als abstrakte Ikone zweier Menschen mit Armen auf, die greifen und halten, können wir in ihnen Mann und Frau sehen. Traditionell in Japan wie auch anderswo sind viele Paare ungleich groß (sicher nicht natürlich gegeben, sondern durch gezielte, gesellschaftlich bestimmte Selektion so geworden). Die beiden Hälften eines goldenen Rings, die je nach Blickpunkt getrennt, wenn auch einander zugewandt (Abb. 3), sich zu einem geschlossenen Ring verbindend (Abb. 1), schließlich als massiver Ring, den die 32 Über Hinweise als Funktion von Inschriften vgl., Wienold 1994. 226 Götz Wienold Figuren festhalten, erscheinen (Abb. 2) würden vom Weg zur Ehe (oder auch aus ihm hinaus) erzählen. Der goldene Ring stellt, so verstanden, die gesellschaftlich vorgegebene und von vielen tatsächlich gesuchte und vollzogene Verbindung dar, ein gesellschaftlicher Wert wie der nakayoshi-Reigen vor dem Bezirksamt Shibuya. Auf Abb. 1 ist ganz rechts das Verwaltungsgebäude des Bezirks Taitoo, in dem wir uns hier befinden, zu sehen, wo Paare eine Eheschließung (oder Scheidung) registrieren lassen können. 33 Jewelry Bridge steht in Metonymie zum Ort, an dem sich seine Symbolik erfüllen kann. Das Quali-Zeichen ‘ nicht zusammengefügt ’ in der Sicht von Abb. 3 und das Quali-Zeichen ‘ massiv ’ , besonders wirkungsvoll in Abb. 2 zu sehen, lassen erkennen, dass es sich nicht um ein Ikon des Eherings, sondern um ein Symbol der Lebensform Ehe handelt. Auch das Quali-Zeichen ‘ goldfarbig ’ wirkt in Richtung ‘ Symbol ’ . Viele Japanerinnen und Japaner tragen heute am linken Ringfinger schlichte, schmale Ringe, die nicht aus Gold sind. Das Quali-Zeichen ‘ hoch über die Köpfe erhoben ’ schließlich betont den hohen gesellschaftlichen Wert, dem das Symbol gilt. 34 Obwohl das Wort kiro eine Wegscheide bezeichnet, ist das so bezeichnete Objekt kaum als Ikon einer solchen zu sehen. Warum sollte es einen Hinweis auf die Gabelung brauchen, die man direkt vor sich sieht? Sieht man vom Objekt und der Tafel in den Sträuchern vor ihm auf die Weggabel hinter dem Kampferbaum, sieht man zudem die Straßen zusammenlaufen, nicht sich trennen. Ein genauer Blick auf das Objekt scheint auch in diesem Fall zu seinem Verständnis als Symbol, zu einer Interpretation über den gegebenen sprachlichen Interpretanten hinaus zu führen. Die beiden oben abbrechenden Säulen sind eng aneinander gedrängt, nur durch einen Einschnitt voneinander gehalten. Sie laufen nicht auseinander, sondern parallel. Die rechte ist oben wie verstümmelt, als wäre sie angerostet und das obere Ende dadurch ins Abbröckeln geraten (Abb. 4). Statt einer glatten, eine rauere Fortsetzung des Lebensweges, auf die man sich einstellt, die man annimmt? Im Westen ist die aus der griechischen Stoa, von Prodikos stammende Erzählung von Herkules am Scheideweg geläufig, der Entscheidung zwischen einem angenehm scheinenden Weg, der ins Böse, und einem harten, der zum Guten führt (Anagnostou-Laotides 2019 a, b). In Japan ist es eher die Scheide im Schicksalsweg, die die Annahme von einem nicht erstrebten, aber einem Menschen zugefallenem Leben erzwingt, was freilich eine Entscheidung zwischen Gut und Böse implizieren kann. Weggabel genannt, ist sie keine, es sei denn eben symbolisch gedeutet. Das Quali-Zeichen ‘ dunkelgrau ’ indiziert das Symbolische, das Quali-Zeichen ‘ (nur) eingeschnitten ’ , dass es sich um einen Einschnitt im Leben handelt. Das Quali- Zeichen ‚ aufgeraut, gleichsam angerostet ’ am Kopf der rechten (Lebens-)Säule entspricht der in Japan verbreiteten Ästhetik von sabi ( “ Rost ” ) und wabi ( “ Einsamkeit ” ), dem Hinnehmen, auch positivem Akzeptieren eines karge(re)n Daseins (Reischauer/ Katoo 1993: 1289, 1677). “ Wir Japaner können auch die Trauer genießen ” , formulierte das einmal ein japanischer Kollege im Gespräch über die in Wind und Regen fortstiebenden Kirschblüten. Jewelry Bridge und kiro sind nur einige hundert Meter voneinander entfernt, man könnte sie in Entsprechung zueinander sehen. 33 Zur Auflösung einer Ehe per Registrierung vgl. Fuess 2004: 8 34 Ein ortskundiger Japaner, der mit mir das Objekt ansehen ging, schlug vor Jewelry Bridge als ‚ bridge (leading) to jewelry (shops) ” zu lesen, doch die nächsten Juwelierläden sind mindestens 1 km entfernt. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 227 Die Zuschreibung auf der Plastik todoke lässt sich eher wörtlich nehmen. Die Figuren sich streckender Menschen rufen mit der Trommel, auf der sie ihn halten, die Aufforderung aus: “ Sende hin! ” 35 Die Syntax des Japanischen ist freizügig, sie erlaubt wegzulassen, was man aus sprachlichem oder situationellem Kontext ergänzen kann. Näher betrachtet, fragt man aber doch: Wem gilt die Aufforderung, was betrifft sie, wer soll was “ zusenden ” ? Der Vogel etwas, das nicht ausgedrückt ist, oder die Figuren den Vogel, etwa dem Himmel entgegen? Während die Vögel der drei Paare auf dem Relief tatsächlich fliegend dargestellt sind, sitzt der Vogel oben ruhig da, er scheint nicht dabei, zum Flug abzuheben, um eine Gabe oder eine Botschaft davonzutragen. Die Plastik steht mitten im dichtesten Gewirr, zwischen den Hochhäusern, von denen es wie in New York und Hong Kong in Tokyo wimmelt, seit Japan sich versichert hat, heutige Statik ließe auch Kolosse von 50 und mehr Stockwerken zu, ohne ihren Einsturz bei einem nächsten Erdbeben der Stärke des Bebens von 1923 befürchten zu müssen. Wollte man hier gleich einem Vogel die Weite des Himmels genießen, sich aus der Eingezwängtheit und dem Lebensdruck des Molochs Millionenstadt auf engem Grund befreien, müsste man sich viel höher strecken können, als die beiden Frauen und der Mann. Auf Abb. 5 sieht man hinter dem Arrangement aus Plastik und immergrünem Baum die hochgelegte Trasse des Shinkansen, geht man auf die andere Seite der Trasse, was für Fußgänger an dieser Stelle reichlich mühsam und umständlich ist, sähe man sich gleich am Hibiya Jinja, einem Shinto-Schrein, der einmal groß erschienen sein mag, heute wie einer aus der Puppenstube wirkt, so muss er sich mühen, bis an die Schnellzugtrasse zu reichen. In solcher Enge recken sich also die Figuren mit einer Botschaft, die man sich hinzudenken muss. Das Quali-Zeichen ‘ entsexualisiert ’ zeigt an, dass es sich um Menschen allgemein, nicht konkrete Personen handelt, das Quali-Zeichen der Dreiheit (zwei Frauen, ein Mann), dass es nicht um etwas geht, das nur ein Paar von Mann und Frau betrifft, die Opposition der Quali-Zeichen ‘ fliegend ’ der Vögel auf dem Relief gegen ‘ sitzend ’ des Vogels oben drauf, dass die erwünschte Handlung nicht realisiert ist. Dieser Vogel fliegt nicht, er soll fliegen. Vögel, die auffliegen, stehen in der bildenden Kunst wohl oft für Wünsche und Hoffnungen. Immergrüne Bäume, Symbole, die für den Ausdruck eines akzeptierten Lebenswerts an einer öffentlichen Örtlichkeit traditionell verlässlich scheinen, kein Zusatz nötig, bilden mit kiro, todoke und EBISU jeweils ein Arrangement. So könnte man sie für den jeweiligen, absichernden Kontrapunkt zu neuartigen Symbolen halten, gefunden, um in einer Welt weniger gesicherter Deutung einen Ausdruck zu finden, was sich nicht einfach zu einem bündigen Ausdruck binden lässt. Der kleine Park vor dem Bezirksamt Meguro knüpft mit dem Namen nakayoshi und dem Wunsch nach Frieden nach verwüstendem Krieg an gesicherte Vorstellungen und ihre Ausdrucksweisen an, genauso der Reigen der Kinder vor dem Bezirksamt Shibuya. So lässt sich in einer Metropole von großem öffentlichen Luxus bei gleichzeitig verbreiteter privater Enge und sogar Erbärmlichkeit - Besucher Tokyos aus Berlin mögen nur die reiche Ausstattung und Zuverlässigkeit seiner U- und S-Bahnen gegen die zu Hause halten - das Lob auf das Aufblühen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Macht in Japan ab 1960 im kanemushi ‘ Goldkäfer ’ auffassen. Diesem Symbol ist anders als bei den drei bisher besprochenen der wie ein Titel wirkenden Zuschreibung eine ausdeutende Inschrift beigegeben: hootenkanshuuzoo ‘ Statue (zoo) von Entwicklung (ten) 35 todoke lässt sich auch als Nomen ‘ Benachrichtigung ’ verstehen. Ich verfolge dies hier nicht weiter. 228 Götz Wienold von Gedeihen (hoo) sehen (kan) und beschützen (shuu) ’ . Der erreichte Wohlstand möge uns erhalten bleiben! Die Quali-Zeichen ‘ grün, immergrün ’ und ‘ goldfarben ’ brauchen keine weitere Erläuterung. Die Skulptur taimukapseru benützt wie Jewelry Bridge englisches Sprachmaterial, bildet daraus aber, wohl in Analogie zu space capsule, ein neues Wort. Die Nihonbashi nahm einst ihren Namen von dem das Landes her, markierte den Nullpunkt der Erstreckung des Inselstaats nach Norden und Süden, der damals aber weder Hokkaido, die nördlichste der vier Hauptinseln, noch die sich an Kyuushuu, deren südlichste, anschließende Inselkette, vor allem die Ryuukyuu-Inseln mit Okinawa, umfasste. Das im 20. Jahrhundert aufgestellte Zeichen weist nicht in den Raum, sondern in die Zeit, in eine unbekannte Zukunft, der man sich wohl, wie immer unbekannt und ungeahnt, versichern will. Man gibt an, eine Botschaft an die Menschen im Jahre 2036 zu senden. Tatsächlich möchte man sich aber wohl versichern, dass es für das Land Japan eine solche Zukunft gibt, ein Symbol auch des Stolzes über das, was das Land in Industrie und Technologie erreicht hat, wie der Name Nihonbashi ‘ Japanbrücke ’ Symbol einst des Stolzes der (militärisch durchgesetzten) Herrschaft über das geeinigte Land war. Die Kugel lagert auf dem Dreifuß gleichsam schwebend, sie kann sich vom “ Boden ” der Zeit lösen. Zwei weitere Quali-Zeichen der Form, Kugel und Reif, lassen sie als Erde im Kosmos erscheinen, das des Granits als von Dauer. 36 Das Objekt des aufgeschnittenen Apfels mit dem Text ringo to kotoba benötigt nach dem Bisherigen wohl keinen Kommentar, der gegenüber dem Kinomonster miniaturisierte Godzilla indiziert, hier geht es nicht um drohende Katastrophe, sondern hier geht es um das Kinoland Japan, die Statue mit dem sino-japanischen ai und dem griechischen he agape “ die Liebe ” mag darauf verweisen, dass die japanische Kultur sich seit der Meiji-Zeit allem, was es in der irdischen Welt und ihrer Geschichte gibt, geöffnet hat, auch dem Christentum, obwohl es hier, gleichviel in welcher seiner Denominationen, nur eine geringe Rolle spielt. Die doppelten übermenschenhohen Sockel zeigen den Wert des Ideals an. Die serifenlose Kapitale von EBISU auf der schwarzen Tafel - neben dem Gesicht der Name des Gottes - folgen moderner Typografie und stimmen darin gut zu einer völlig abstrakten Darstellung (Abb. 6), einer Plastik “ von einander treffenden und schneidenden Linien und Flächen ” , wie sie Hofmann am Werk von Naum Gabo erläutert hat (1958, 129). Nur die Rundungen der Kuppel und der weiteren Bögen - Ebisu wird oft mit einer hohen Mütze dargestellt - und das Wasserspiel halten als Quali-Zeichen Züge von ihm fest. Vom Gott und vom Bahnhof Ebisu ein gutes Stück entfernt finden wir auf der Ebisu Garden Plaza - unter anderem Heim des Museums für Photographie, die Nachbildung eines Loire-Schlosses ebenda wurde bereits erwähnt - recht in der Mitte einen Kubus aus Glas, der einen riesigen kristallenen Kandelaber mit sechs Kreisen von Glühbirnen beherbergt, dazu als Titel Baccarat Eternal Lights und die Erklärung, er würde im Winter auf fast zwei Monate - Eternal ist also hyperbolisch! - angezündet, 2022 schon im 23. Jahr, um an die im 18. Jahrhundert im französischen Baccarat begonnene Kristallherstellung zu erinnern. Japan spielt mit einer Vielfalt von Symbolen. 36 Eine unbenannte Plastik auf den Fußgängerüberwegen vor dem Bahnhof Ueno spielt auf andere Weise mit der Vorstellung des Erdballs im Kosmos. Zwei schwarze Us ragen senkrecht hoch und halten wie Magneten oben eine silbrig glänzende, im Sonnenlicht gar golden schimmernde Kugel, die im Raum fliegende Erde, für uns ein ruhender, unbewegter Ort. Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 229 An der Komagata-Brücke am Fluss Sumida aus rostfarbenem Eisen ein schräg auf ein ebensolches Pedestal abgestützter, zugespitzter Pfahl in einem eingegrenzten Geviert, das mit hellen und dunklen Steinchen gefüllt ist. Runde, steinerne, mit Blumen bepflanzte Becken und eine Sitzbank ebenfalls aus Stein ergänzen das Arrangement. Im Geviert eine Tafel: ombashira vom Künstler Andoo Yutaka. Der Name bezieht sich auf das Fest “ Ombashira Matsuri ” , bei dem alle sechs Jahre vier frisch gefällte und geschälte Stämme von Tannen in die vier Ecken eines Shinto-Schrein in Suwa (Präfektur Nagano) als Pfeiler (hashira) eingerammt werden (Reischauer/ Katoo 1993: 1487; Hakomori 2002: 80). Im Arrangement von Andoos ombashira besetzen die vier Ecken Gefäße, in denen sich Regenwasser sammelt, und die Skulptur zeigt keinen Pfeiler, sondern einen Pfahl. Wie wir in der abstrakten Gestalterfindung vor dem Bahnhof Ebisu ohne den ihr beigegebenen Namen des Gottes nicht eine Figur der Tradition wiederfinden könnten, so bei der modernen Eisenskulptur ohne ihren Namen nicht den Ritus. 5 Ergänzendes zu Zuschreibungen Der Reichtum und die Vielfalt der Zeichen in Japan wie die Offenheit für die Aufnahme und Einbindung neuer und neuester haben schon oft Erstaunen und Bewunderung hervorgerufen (Ikegami 1998: 1898 f.). Roland Barthes ’ Buch L ‘ Empire des signes ( “ Das Reich der Zeichen ” ) ist dafür geradezu sprichwörtlich geworden (Barthes 1970). Die heutige Verliebtheit in obuje (< frz. objet), die Freude an Capricen, ist ein neuer Zug in der von Barthes beschriebenen Kultur. Das gegenwärtige Japan könnte eine neue Grammar of Ornament gebrauchen. 37 Japan verwendet nicht nur eine Vielfalt unterschiedlicher Zeichen, die Öffentlichkeit ist nicht nur voll Zeichen, es herrscht ein Zeichenüberfluss, eine Zeichenflut, schriftlich an Hinweisen, Erklärungen, Verhaltensanweisungen, sogar Ermahnungen, hörbar in Ansagen. In den Stadtteilen Tokyos geben Lausprecher Durchsagen durch, um 5 Uhr nachmittags rufen sie, es sei Zeit, für Kinder nach Hause zu gehen usw., in Kaufhäusern so zahlreich und nahe beieinander, dass sie sozusagen miteinander kämpfen, gehört und verstanden zu werden. In den 80ern des vergangenen Jahrhunderts hingen vielfach noch Spruchbänder quer über Straßen. Hierher gehören auch die manaa-posutaa, aus engl. manner und poster gebildet, Plakate, die zu gewünschtem Verhalten in Bahnen, auf Bahnsteigen, aber auch in öffentlichen Gebäuden anleiten sollen (Pollock 2020: 289 mit Abb.). Die Zuschreibungen von Interpretanten zu Objekten, die ich behandelt habe, mögen sich also der Freudigkeit verdanken, mit Zeichen umzugehen. Das allein würde die trotz beigegebener Interpretanten bestehende Interpretationsbedürftigkeit nicht nur der Objekte, sondern eben auch der beigegebenen sprachlichen Interpretanten selbst aber nicht erklären. Sie dienen, habe ich versucht zu argumentieren, dazu, neue, neu erfundene, bisher 37 Audsley/ Cutler 1989 ist eine Kompilation aus George Ashley Audley, The Ornamental Art of Japan, Marston: Sampson Law 1882, Thomas W. Cutler: A Grammar of Japanese Ornament and Design, London: Batsford, 1880, und Estoffes de Soie du Japon, Paris: Henri Ernst, c. 1900. Bereits 1856 erschien Owen Jones, The Grammar of Ornaments, London: Day and Son, Neuausgabe London: Studio Editions, 1986, dt. Die Grammatik der Ornamente, Stuttgart: Parkland, 1987. 230 Götz Wienold nicht gebrauchte Zeichen in die Öffentlichkeit zu bringen, und, so habe ich weiter nahezulegen versucht, in einer Zeit starker historischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, technologischer, politischer Veränderungen in sie hinein zu wirken, allerdings nicht mit Slogans, spruchbandhaft, sondern eher andeutend, Rätsel aufgebend. Zuschreibungen werden selbstverständlich von Fall zu Fall auch anderswo gegeben, man sucht sogar nach solchen. Die Fernsehnachrichten von TVB Hong Kong 7: 30 abends berichteten am 24. 10. 22, dass zum Lichterfest Diwali (auch Divali geschrieben) im indischen Ayodha entlang dem Fluss Satya über anderthalb Millionen Lichter entzündet worden seien, dazu hieß es: “ The Diwali festival symbolises triumph of good over evil ” . Beschreibungen des Festes, meist als Fest der Lichter bezeichnet, sind in religionswissenschaftlicher Literatur zu finden (Gonda 1960/ 1963: I 205, II 273 f.; Knott 1998: 61), doch ohne jede Zuschreibung eines Interpretanten. Die Nachrichtenredaktion fügte also anscheinend die Zuschreibung hinzu. Im während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen betriebenen Kriegsgefangenenlager von Salapils nahe Riga in Lettland befindet sich seit 1967 eine Gedenkstätte. “ Sieben monumentale, weithin sichtbare menschliche Gestalten aus Beton repräsentieren Leid und Kampf im Lager … Aus einem viereckigen Marmorblock ertönt das Geräusch eines menschlichen Herzens, eine weiteres Mahnmal erinnert an die ermordeten Kinder. ” (Jahn 2009: 555). In einer anderen Beschreibung derselben Gedenkstätte heißt es: “ Gebogene Platten verwiesen auf die Massengräber, eine gerade Stele symbolisierte Standhaftigkeit, eine gebogene Erniedrigung. Inschriften und Symbolik benannten die Gruppe, die hier gelitten hatte, eindeutig und waren in ihrer Klarheit für die Sowjetunion einmalig. ” (Meier/ Winkel 2021: 235). Die zitierten Zuschreibungen zu Objekten in der Gedenkstätte von Salapils werden von Forscherinnen gegeben, sind nicht den Objekten beigegebene Zuschreibungen. Zwei Beispiele aus Berlin, eines ohne Zuschreibung, eines, das sie nur in Klammern gibt. Auf den Gehflächen vor den Eingängen zu den unterirdischen Bahnsteigen des Bahnhofs Potsdamer Platz ragen, unterschiedlich hoch, schräg drei Säulen auf. Sie sind ein Stück weit durchsichtig, zwei stehen näher beieinander als die dritte. Oben auf ihnen sind Spiegel angebracht; dem, der sich dicht an sie drängt und den Kopf weit in den Nacken legt, spiegeln sie die Umgebung des gerade eigenommenen Standorts. Die Säulen setzen sich unter dem Boden fort und werfen jeweils einen dünnen, dank der ovalen Spiegel, ovalen Schein auf die unterirdische Gehfläche oder auf einen Bahnsteig. Dies ist zweifellos ebenfalls ein Objekt, bei dem man sich fragt, was es sei, ob es auf etwas aufmerksam machen solle. Eine Zuschreibung eines Interpretanten habe ich nicht gefunden. Geht man vom Potsdamer Platz zur Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße findet man an einem Wasserbecken eine Plastik einer roten und einer blauen männlichen Figur aus bemalten Stahl; sie strecken Arme und Hände durch ovale Öffnungen in Kopf und Rumpf des Gegenüberstehenden. Ein Schild gibt an: “ Untitled (Boxers) ” von Keith Haring (USA 1987). Hier wird einem Wunsch nach Zuschreibung sozusagen halbwegs nachgegeben. Wenn jemand erfahren möchte, was dargestellt sei, dann Boxer, eher verfährt man jedoch nach einer nicht seltenen Praxis gegenwärtiger Kunst, dem Werk keinen Titel zu geben. Interessant und in Parallele zu den japanischen Objekten ist die Zuschreibung durch den in Klammer gesetzten - wenn man den Untitel Untitled des Arguments wegen als Titel nimmt - alternativen Titel ja auch einer Interpretation bedürftig, etwa der, Boxer seien hier nicht Jewelry Bridge: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan 231 als Kämpfer, die den Gegner möglichst zu Boden schlagen möchten, dargestellt, sondern als Männer, die das Gegeneinander in einem gewünschten und geschätzten Miteinander verbindet. Es ginge, so würde man weiter ausführen, nicht um Kampf, sondern um Sport und Sportlichkeit als Wert. Keinen Titel zu geben, entspricht einer Tendenz in nichtfigurativer Kunst, Phelps sagt “ non-objective art ” (Phelps 1994: 268, Anm. 69), doch sowohl bei Hartleys Werk als bei den Objekten aus Japan handelt es sich nicht um nicht-figurative Kunst. Die beiden Beispiele aus Berlin können nur belegen, dass auf Zuschreibungen zu öffentlich aufgestellten Objekten durchaus verzichtet wird, sie sollen keinen Gegensatz zwischen heutigem Japan und heutigem Deutschland behaupten. Auch für Japan ist, was ich dargestellt habe, viel zu unzulänglich, um Verallgemeinerungen wagen zu dürfen. Ich wünsche mir einen möglichst umfangeichen Katalog von Örtlichkeiten auszeichnenden Objekten in Japan, darunter besonders solche mit expliziter Zuschreibung von Interpretanten. Ich wünsche mir eine Erhebung, welche Personen auf welche Weise mit welchen Intentionen zur Aufstellung beigetragen habe, welche Institutionen daran beteiligt sind und wie Entscheidungen in ihnen darüber getroffen werden. Ich wünsche mir, wenigstens zu einer gewissen Zahl von Objekten Japanerinnen und Japaner unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Lebensweise zu befragen. 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Eco ’ s early semiotic writings were deeply indebted to the conceptions of structure of the founders of 20 th century semiotic structuralism F. de Saussure and L. Hjelmslev, but as early as in 1968, Eco distanced himself from a variant of structuralism that he criticized as “ ontological ” and that he confronted with another structuralism with which he identified his own position and which he defined as “ methodological ” . The roots of this conception of structure are in the semiotics of Scholastic nominalism. Equally early, Eco began to adopt poststructuralist elements within his semiotics, especially from Derrida. From 1975 to 2007, these elements prevailed more and more in his writings, although Eco never distanced himself entirely from the classics of structuralism that were the point of departure of his semiotic theory. From 1985 (Semiotics and the Philosophy of Language) to 2007 (Dall ’ albero al labirinto), Eco applied the poststructuralist method of deconstruction to those structures that formed a “ tight system ” in Saussure ’ s conception of structure, until he finally applied this method to his own early theory of the “ absent structure ” of 1968. In his revision of his early theory, he came to the conclusion that the notion of absence presupposes the metaphysics of presence. Without saying so explicitly, Eco thus links up again with the fundamental tenet of Saussure ’ s structuralist semiotics according to which a structure is constituted through its opposition to another structure. Keywords: Umberto Eco; structure; semiotics; structuralism; nominalism; difference; opposition Zusammenfassung: U. Ecos frühe semiotische Schriften waren wesentlich den Strukturkonzeptionen der Begründer des semiotischen Strukturalismus im 20. Jh. F. de Saussure und L. Hjelmslev verpflichtet. Aber schon 1968 distanzierte sich Eco von einer Variante des Strukturalismus, die er “ ontologisch ” nannte, um ihr eine andere, “ methodologische ” Konzeption von Struktur und Strukturalismus gegenüberzustellen, mit der er sich identifizieren konnte und deren Wurzeln in der Semiotik des scholastischen Nominalismus zu finden sind. Schon früh machte sich Eco auch Elemente des Poststrukturalismus insbesondere von J. Derrida zu eigen. Von 1975 bis 2007 gewannen diese eine immer größere Bedeutung in seiner Semiotik, ohne dass sich Eco je vom der Semiotik der Begründer des Strukturalismus im 20. Jh. distanzierte, auf deren Lehren seine frühen Schriften fußten. Von seinem Werk Semiotik und Philosophie der Sprache (1985) an bis hin zu seinen semiotischen Analysen zur Logik des Porphyrianischen Baums (zuletzt in Dall ’ albero al labirinto, 2007) wandte sich Eco mehr und mehr der poststrukturalistischen Methode der Dekonstruktion zu, mit der er jene semiotischen Strukturen, die bei Saussure noch ein “ festes System ” bildeten, “ aufzuheben ” suchte, bis er diese Methode schließlich auch auf seine eigene frühe Theorie von der “ abwesenden Struktur ” (1968) anwandte. In seiner Revision dieser frühen Theorie gelangte Eco zu der Schlussfolgerung, dass die Idee von der Abwesenheit nicht ohne die Idee von der Anwesenheit denkbar sei. Mit diesem Argument kehrt Eco, ohne es so zu begründen, zu einem Grundgedanken des Strukturalismus zurück, wonach sich eine Struktur aus ihrem Gegensatz zu einer anderen konstituiert. Schlüsselbegriffe: Umberto Eco; Struktur; Semiotik; Strukturalismus; Nominalismus; Differenz; Opposition 1 Umberto Eco: Strukturalist und Nominalist Struttura assente, ‘ Die fehlende ’ oder ‘ abwesende Struktur ’ , war im Jahre 1968 der Titel von Umberto Ecos erster programmatischer Darlegung seiner später zu einer Theorie der Zeichen weiter entwickelten Semiotik (Eco 1968; 1975). Das Schlagwort von der “ fehlenden ” oder “ nicht vorhandenen ” oder Struktur ist charakteristisch für Ecos damaliges Verständnis von Struktur und Strukturalismus. In jenen Jahren, in denen der Strukturalismus seinen Höhepunkt erreichte, die Existenz von Struktur überhaupt schon im Titel eines Buches in Frage zu stellen, musste wie das Einstimmen in einen Abgesang auf den Strukturalismus klingen. Grit Fröhlich kommentiert denn auch: “ Ecos Verhältnis zum Strukturalismus ist ambivalent ” (2009: 174 - 75). Um Ecos Strukturalismuskonzeption genauer zu untersuchen, ist es erforderlich, sowohl mit Ecos Struttura assente aus dem Jahr 1968 als auch mit seiner Einführung in die Semiotik aus dem Jahr 1972 zu beginnen, denn letzteres Werk, das oft als Übersetzung des ersteren bezeichnet worden ist, unterscheidet sich in etlichen Passagen von ersterem gerade hinsichtlich der Konzeption von Struktur und Strukturalismus in einigen Punkten, entweder weil Passagen aus dem Buch von 1968 auf Wunsch des Autors nicht mehr in das Werk von 1972 mit aufgenommen oder weil sie vom Autor umformuliert worden sind. Einerseits entwickelt Eco in Struttura assente Prinzipien einer strukturalen Semiotik und stützt sich dabei auf die Semiologie von Klassikern des Strukturalismus wie Ferdinand de Saussure (1857 - 1913), Louis Hjelmslev (1899 - 1965), Roman Jakobson (1896 - 1982), Roland Barthes (1915 - 1980), Luis Prieto (1926 - 1996), Algirdas Greimas (1917 - 1992) u. a. (vgl. Nöth 2002). Andererseits wendet er sich gegen die Annahme von “ objektiven ” oder universellen Tiefenstrukturen des menschlichen Geistes, die Eco der Generativen Grammatik von Noam Chomsky (Eco 1972: 363 - 64), der semiotischen Psychoanalyse von Jacques Lacan (Eco 1968: 329 - 344; 1972: 403 - 4, 407; vgl. Nöth 2013), dem marxistischen Strukturalismus von Lucien Sebag, Louis Althusser und Étienne Balibar (Eco 1968: 319 - 322; 1972: 393) sowie vor allem dem Begründer der strukturalen Anthropologie Claude Lévi-Strauss unterstellt (Eco1968: 295 - 316; 1972: 365 - 387). Der Strukturalismus dieser Autoren sei ein ontologi- 236 Winfried Nöth scher. Der ontologische Strukturalismus betrachte die erforschten Strukturen als von Natur aus gegeben, als “ objektiv existent ” und “ nicht vom Forscher gesetzt ” . Dabei postuliere er ein “ Ur-System, das, weil in jeder semiotischen Manifestation anwesend, deren geheimes Prinzip immer wieder bestätige ” (Eco 1972: 396). Andererseits bekennt sich Eco zu einem Strukturalismus, den er als methodologisch definiert. Er beruft sich dabei auf die strukturale Semantik Louis Hjelmslevs (Eco 1972: 362), auf die Glossematik von Hans Christian Sørensen (Eco 1972: 426), auf den Strukturbegriff, den Merleau-Ponty (1960) in seiner Schrift über Zeichen entwickelt (Eco 1968: 377; 1972: 427 - 31; vgl. dazu Waldenfels 1975), auf die Strukturalismustheoretiker Lucien Sève (1967) und Lucien Goldman (Eco 1968: 263 - 64) sowie auf Piagets genetischen Strukturalismus (Eco 1972: 428 - 29, 435 - 36). Kennzeichen für die Strukturauffassung dieser Autoren sei die Ablehnung der Auffassung von Struktur als einer objektiven Realität, die in der Natur der Zeichen und der semiotischen Systeme läge. Der methodologische Strukturalismus verfolge demgegenüber die Annahme, dass jede Struktur nur vorläufig gegeben, weil stets historischen Veränderungen unterlegen sei. Statt von “ Struktur ” spreche der methodologische Strukturalismus von “ Strukturen ” . “ Indem er die Struktur verneint, bejaht er die Strukturen ” , so Eco (1968: 10), der sich diese Struktur- und Strukturalismuskonzeption zu eigen macht. Hinter der Strukturauffassung, die Eco im Titel von Struttura assente kritisiert, indem er die Struktur als abwesend charakterisiert, steht mithin eine gewissermaßen fundamentalistische Auffassung von Struktur. Der Autor wirft den ontologisch-strukturalistischen Denkern vor, universell gültige Tiefenstrukturen des menschlichen Geistes zu suchen, deren Existenz nicht erwiesen sei. Eco wendet ein: “ Was jede Untersuchung über die Struktur der Kommunikation aufdeckt, ist [ … ] keine zugrundeliegende Struktur, sondern die Abwesenheit der Struktur ” . Struktur zeige sich allenfalls “ im Feld eines ständigen ‘ Spiels ’” (Eco 1972: 410). Mit dieser Formulierung zitiert Eco Derrida, der im Kapitel “ Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen ” seines Werkes Die Schrift und die Differenz die Strukturauffassung, die Eco als “ ontologisch ” kritisiert, wie folg ablehnt: Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde [ … ] immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum [ … ] sollte vor allem Sorge dafür tragen, dass das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen könnten (Derrida 1967: 422). Und was für die Struktur gilt, gilt auch für das System oder den Code, denn “ wenn am Ursprung der Kommunikation ein ursprüngliches Spiel steht, dann kann dieses Spiel nicht unter Zuhilfenahme der Kategorien der strukturalistischen Semiotik definiert werden. Der Begriff des Codes selbst z. B. bricht dann zusammen. Das bedeutet, dass es an der Wurzel jeder möglichen Kommunikation keinen Code gibt, sondern die Abwesenheit jeden Codes ” , folgert Eco (1972: 410). Dabei unterstellt der methodologische Strukturalist Umberto Eco den ontologischen Strukturalisten, in Strukturen etwas Reales, Objektives oder Universelles zu sehen. Wer aber von solchen Annahmen ausgehe, erkenne nicht, dass Strukturen stets bloße Hypothesen, immer nur vorläufige Modelle und bloße “ Operationsverfahren ” seien, schreibt Eco Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 237 (1972: 361). Strukturen seien nämlich immer nur bloße “ Verfahrenskonzepte ” (Eco 1972: 367). Überhaupt zieht der methodologische Strukturalist Eco gerne Parallelen zwischen Strukturen und Modellen, um das Wesen einer Struktur zu erklären: Wenn ich weiß, dass die Struktur ein Modell ist, so weiß ich auch, dass sie, im ontologischen Sinn, nicht existiert. Aber wenn ich sie als ontologische Realität postulieren würde, so würde sie [ … ] als Struktur dennoch nicht existieren. In jedem Fall ist die Struktur abwesend. Ich kann nicht anders, als sie als Abwesenheit zu preisen, die meine Beziehung zum Sein konstituiert, oder als Fiktion (Eco 1968: 355, übersetzt von Fröhlich 2009: 178). Strukturalisten, die diese Prämisse nicht akzeptierten, unterlägen der “ ontologischen Versuchung ” (Eco 1968: v), die Struktur zu einem “ Substanzkonzept ” zu machen und zu glauben, “ dass das, was das Funktionieren des Modells ermögliche, dieselbe Form habe wie das Modell ” oder die Struktur selbst (Eco 1972: 367 - 68). Der ontologische Strukturalismus gründe sich mit solchen Annahmen auf einer Metaphysik, wie sie Eco Heidegger unterstellt und so kritisiert: (a) Sobald man versucht, den Begriff der Struktur objektiv und unzeitlich zu machen, kommt man zwangsweise zu einer Ontologie des Ursprungsortes; (b) eine Ontologie des Ursprungsortes zwingt dazu, wenn man korrekt alle Folgerungen zieht, den Begriff der Struktur zu zerstören; (c) diese Zerstörung der Struktur [ … ] macht einer “ Ontologie der Abwesenheit ” Platz [ … ]; (d) im westlichen Denken repräsentiert die Philosophie Heideggers diese Ontologie. Der Kern unserer Hypothese: der ontologische Strukturalismus zerstört sich als Strukturalismus und wird Heideggerismus. [ … ] Eine Vorwegnahme unserer Schlussfolgerungen könnte folgende sein: Die strukturale Ontologie führt dazu, als “ Ursprungsort ” ein Sein anzuerkennen, das sich, verborgen und heimlich, in Form von strukturierenden Ereignissen manifestiert, wobei es - Es - sich aber jeder Strukturierung entzieht (Eco 1972: 394). Wenn Eco nach diesen Prämissen fragt, “ Kann die Dialektik zwischen Anwesenheit und Abwesenheit als bloßer Gliederungsmechanismus verstanden werden oder ist sie ein metaphysisches Prinzip? ” (1972: 399), so darf die Antwort nur heißen, dass mit “ Struktur ” ein bloßer Gliederungsmechanismus gemeint sein kann, dem keine metaphysische Begründung zukommt. Ecos “ Ambivalenz ” gegenüber dem Strukturalismus impliziert mithin keine Ablehnung des Strukturalismus überhaupt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Ecos Theorie von der abwesenden Struktur von strukturalistischen Prämissen ausgeht und solche bekräftigt. Wenn Eco die Möglichkeit des Gegenteils andeutet, indem er die rhetorische Frage, ob sein Buch strukturalistisch oder antistrukturalistisch sei, damit beantwortet, dass er selbst “ beide Etikette dankend annehmen ” könne (1968: 11), so überzeugt seine Antwort nicht ganz. Schließlich hat Eco noch 1980 anlässlich einer Neuauflage seiner Struttura assente den Untertitel dieser Einführung von Introduzione alla ricerca semiologica zu La ricerca semiotica e il metodo strutturale abgeändert und sich damit noch einmal ausdrücklich zum Strukturalismus bekannt. In Ecos Strukturalismusrezeption zeigt sich keine Infragestellung des Strukturalismus an sich. Vielmehr geht es Eco lediglich darum, sich von den Prämissen einer Strukturauffassung zu distanzieren, der er eine andere gegenüberstellt, um sich diese zu eigen zu machen. Kennzeichnend für Ecos Verwurzelung im Strukturalismus ist nicht zuletzt, dass der Autor der Struttura assente sich bei der Begründung seiner eigenen Position als me- 238 Winfried Nöth thodologischer Strukturalist und in vielen anderen seiner Schriften immer wieder auf den Hyperstrukturalisten Louis Hjelmslev beruft (Eco 1972: 361 - 362; Eco 1973). Aus dessen Aufsätzen zitiert Eco etwa die These, dass unter einer strukturalen Wissenschaft von der Sprache die “ Gesamtheit der Untersuchungen ” zu verstehen sei, “ die auf einer Hypothese beruhen, der zufolge es wissenschaftlich legitim ” sei, “ die Sprache so zu beschreiben, als ob sie eine Struktur wäre ” . Eco merkt dabei an, dass sich Hjelmslev bei dieser Begründung “ sehr wohl davor hüte ” , von einer Struktur an sich zu sprechen, um auf diese Weise der Gefahr zu entgehen, sich in metaphysischen Reflexionen zu verlieren (Eco 1972: 361 - 62). Ebenfalls von Hjelmslev stammt der Verweis darauf, dass der Gegensatz zwischen dem methodologischen und dem ontologischen Strukturalismus, wie Eco diese beiden Richtungen des Strukturalismus bezeichnet, seinen Ursprung im Streit zwischen den Realisten und den Nominalisten in der mittelalterlichen Scholastik hat. Diese These bekräftigt Eco mit dem folgenden Zitat aus dem Werk des dänischen Glossematikers: “ Damit ist man wieder bei dem alten im Mittelalter diskutierten Problem, ob die Begriffe [ … ], die aus der Analyse hervorgegangen sind, aus der Natur des Gegenstandes selbst stammen (Realismus) oder ob sie aus der Methode stammen (Nominalismus) ” (Hjelmslev, in Eco 1972: 362). Es scheint somit, dass Eco seinen Begriff des methodologischen Strukturalismus von genau jenem Zitat abgeleitet hat, in dem Hjelmslev die Semiotik der Scholastik so interpretiert, dass die Nominalisten die Realität der Begriffe in der Methode der logischen Forschung begründet sehen, also in den Begriffen die die Instrumente der Forschung sind, aber nicht in der Realität der Sachen. In seiner Struttura assente vertieft Eco solche mittelalterlichen Wurzeln des methodologischen Strukturalismus im Nominalismus und solche des ontologischen Strukturalismus im scholastischen Realismus nicht weiter. Dass Eco aber die Semiotik der scholastischen Nominalisten derjenigen der Realisten vorzieht, lässt sich seinem Roman Der Name der Rose entnehmen (Eco 1980). Dort tritt nämlich der Protagonist William von Baskerville in der Rolle des kongenialen Zeichendeuters Sherlock Holmes (in Begleitung seines Gehilfen Adson, alias Watson) und zugleich in der Rolle eines nominalistischen Philosophen auf. Der Nominalist, für den William von Baskerville als Philosoph steht, ist William von Ockham (1285 - 1349), und die Dialoge, in welchen der fiktionale William nominalistische Thesen vertritt, handeln zum Beispiel davon, dass Wörter bloße Zeichen seien und dass Allgemeinbegriffe wie “ Rose ” oder “ Pferd ” unabhängig von der Welt der bezeichneten Dinge bloße Namen seien, die so beschaffen seien wie sie sind, ohne dabei von den Dingen beeinflusst zu sein, welche diese Namen bezeichnen. Der Name der Rose sei beispielsweise allein dafür verantwortlich, dass wir Rosen als Rosen bezeichnen, nicht die botanische Realität der Flora im Allgemeinen oder diejenige der Rosen im Besonderen (vgl. Schreiber 1991). Die semiotische Position, die Eco als methodologischen Strukturalismus beschreibt, ist mithin eine nominalistische. Ecos These von der abwesenden Struktur und dem Strukturalismus, der ein methodologischer zu sein habe, erklärt dessen Sympathie für die Semiotik der scholastischen Nominalisten. Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 239 2 Wie Eco die Abwesenheit der Struktur mit Saussures strukturalistischer These vom Differenzcharakter und von der “ reinen Negativität ” der Zeichen begründet Der Begriff der Struktur selbst war noch kein Schlüsselbegriff in den Vorlesungen des Begründers des Strukturalismus Ferdinand de Saussure, weshalb Mounin (1968) ihn auch einen “ Strukturalisten, ohne es zu wissen ” nannte. Statt von Strukturen, spricht Saussure vom System der Sprache, und was die Strukturalisten später “ Struktur ” nannten, bezeichnete er als Differenz, Opposition und gelegentlich allgemeiner als Form. Strukturen konstituieren sich für einen Strukturalisten, ganz gleich ob der ontologischen oder der methodologischen Prägung, aus Differenzen und Oppositionen zwischen Elementen eines Systems. Differenzen betreffen nach Saussure die Unterschiede zwischen den Elementen auf der Ausdrucksseite des Systems (den Signifikanten) oder auf der Inhaltsseite (den Signifikaten), jeweils für sich betrachtet. Die Relation zwischen zwei Ausdruckselementen wie etwa / maus/ und / laus/ ebenso wie diejenige zwischen zwei Inhaltseinheiten (Semen), etwa ‘ weiblich ’ und ‘ männlich ’ , konstituieren demnach Differenzen. “ Die Bedeutung einer jeden Form kommt der Differenz zwischen diesen Formen gleich. [ … ] Wir müssen als erstes Prinzip anerkennen, dass jede Form auf zwei negativen Tatsachen beruht: die allgemeine Differenz zwischen Lautkonfigurationen UND die allgemeine Differenz zwischen den Bedeutungen die mit diesen Formen verbunden sind ” , schreibt Saussure (2002: 29). Als Oppositionen sind dagegen diejenigen Relationen definiert, die zwischen den Zeichen in ihrer Gesamtheit, also zwischen Einheiten bestehen, die einen bestimmten Signifikanten mit einem bestimmten Signifikat verbinden, wie z. B. “ Mutter ” vs. “ Vater ” (Saussure 1916: 129). Die strukturalistische These von der Opposition als dem konstitutiven Merkmal semiotischer Strukturen und Systeme findet ihren ersten programmatischen Ausdruck im Cours de linguistique générale: “ Die Sprache [ … ] ist ein System, das auf psychischen Oppositionen zwischen akustischen Wahrnehmungen beruht, ebenso wie ein Wandteppich ein Kunstwerk ist, welches aus visuellen Oppositionen zwischen den unterschiedlichen Farben der Fäden beruht. Was für die Analyse wichtig ist, ist das Spiel dieser Oppositionen; es sind nicht die Verfahren ihrer Herstellung ” , schreibt Saussure (1916: 40). Oppositionen konstituieren das System als solches und bestimmen dabei den Wert der einzelnen Strukturen, die das System bilden. Der Wert der Strukturen im System der Sprache sei wie der Wert der Figuren eines Schachspiels zu begreifen, argumentiert Saussure: Unter allen Vergleichen, die man sich vorstellen kann, ist derjenige zwischen dem Sprach- und dem Schachspiel am treffendsten. Hie und da geht es um Systeme von Werten und um deren Veränderung. Eine Schachpartie kommt der künstlichen Verwirklichung dessen gleich, was die Sprache in natürlicher Form ausmacht. [ … ] Der Wert der einzelnen Figuren hängt von ihrer jeweiligen Position auf dem Schachbrett ab, ebenso wie in der Sprache jeder Begriff seinen Wert aus seiner Opposition zu anderen Begriffen erhält (Saussure 1916: 96). Das dritte Kapitel von Teil II des Cours führt unter der Überschrift “ Das Zeichen in seiner Gesamtheit betrachtet ” (§ 4), den Begriff der Differenz als Schlüsselbegriff der Analyse des Sprachsystems ein. “ Im System der Sprache gibt es nichts als Differenzen [ … ] ohne positive Begriffe, denn weder, was die Signifikate noch was die Signifikanten angeht, gibt es 240 Winfried Nöth irgendwelche dem System der Sprache vorausgehende Ideen oder Laute ” , erklärt Saussure (1916: 128). Weder die Ausdrucksnoch die Inhaltselemente, die Signifikanten oder Signifikate der Sprache, haben irgendeinen substanziellen semantischen bzw. lautlichen Eigenwert, denn für beide gilt, sie sind “ negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Elementen des Systems bestimmt. Ihre genaue Beschreibung lautet, sie sind das, was die anderen nicht sind ” (Saussure 1916: 125). An die so definierten Begriffe der Differenz und der Opposition sowie an Saussures Theorie von der Negativität der Werte des Systems allgemein knüpft Eco in seiner Theorie von der abwesenden Struktur an. Saussures These, dass es in einer Sprache keine substanziell “ positiven Begriffe ” gebe, passt zu Umberto Ecos Theorie von der substanziell abwesenden, weil fehlenden Struktur. Eco schreibt: Saussure [ … ] bekräftigt entschieden den Systemcharakter der Sprache ( “ die Sprache ist ein System, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem ich Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen ergeben ” [Saussure 1916: 88]). Es bedeutet folglich einen großen Fehler, zum Beispiel einen Begriff als die Einheit eines gewissen Lautes mit einer bestimmten Bedeutung zu betrachten [ … ] und zu glauben, man könne mit den Begriffen beginnen und aus ihnen das System konstruieren, indem man deren Summe ermittelt, statt von der Gleichzeitigkeit des Ganzen auszugehen, um so im Verlaufe der Analyse zu den Elementen zu gelangen, welche sie enthält. Aber vom Ganzen auszugehen, um die Beziehungen zwischen den Begriffen zu beleuchten, um zum Beispiel eine gewisse Bedeutung im Gegensatz zu einem anderen kopräsenten Begriff zu definieren, bedeutet, Differenzen im System zu ermitteln (Eco 1968: 259 - 60). Saussures These von der Sprache, in der es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder gibt, ist die These vom Differenzcharakter und der reinen Negativität der sprachlichen Zeichen. In dieser These, wonach ein sprachliches Zeichen weder auf seiner Ausdrucksnoch auf seiner Inhaltsseite einen positiven oder substanziellen Wert hat, findet Eco ein strukturalistisches Fundament für seine Theorie von der abwesenden Struktur. Wenn nämlich die Struktur der Zeichen weder in seiner Ausdrucks noch in seiner Inhaltssubstanz begründet ist, sondern allein in einer Form, die so ist, wie sie ist, aber durchaus anders sein könnte, dann kann die semiotische Struktur eben kein ontologisches Fundament haben. Saussures These von der Negativität der Werte, welche eine Struktur bestimmen, macht sich Eco zu eigen, wenn er schreibt: “ In einem strukturierten System hat jedes Element insofern einen Wert, als es nicht das andere oder die anderen ist, die es ausschließt und gleichzeitig evoziert ” (1972: 399), aber Umberto Eco wäre nicht Umberto Eco, wenn er diesen Saussureschen Prämissen nicht noch eigene Gedanken hinzufügte. Am Beispiel der Differenzen, die nach der Saussureschen Prämisse den Wert eines Phonems ausmachen, fügt Eco den Prämissen Saussures die folgenden Überlegungen hinzu, die darauf abzielen, die Saussuresche These von der reinen Negativität der Differenzen, die das System konstituieren, im Lichte eines Ecoschen Dualismus von der Anwesenheit und der Abwesenheit der Struktur zu deuten: Das phonematische Element gilt nicht wegen des Vorhandenseins einer physischen Substanz des Ausdrucks, sondern wegen des an sich leeren Stellenwerts, den es im System einnimmt. Damit aber der Sinn entstehen kann, muss einer der Ausdrücke der Opposition erscheinen und da sein. Wenn er nicht da ist, wird auch die Abwesenheit des anderen nicht bemerkt. Die oppositionelle Abwesenheit gilt nur angesichts einer Anwesenheit, die sie offenbar macht. Die Evidenz der Anwesenheit wird eben von der Ausdruckssubstanz gegeben [ … ]: der leere Raum zwischen den zwei Größen, die nicht da Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 241 sind, gilt nur, wenn alle drei Werte (Ja, Nein und der leere Raum zwischen beiden) in Spannung zueinander stehen. Die Abwesenheit, von der der Strukturalist spricht, betrifft zwei Tatsachen: 1) Es zählt nicht, was an der Stelle des Ja und des Nein steht, sondern, dass die Größen, die deren Stellenwert einnehmen, eben in Spannung zueinander stehen. 2) Sobald das Ja (oder das Nein) ausgesprochen ist, bedeutet die ausgesprochene Größe dadurch, dass sie sich von der Abwesenheit der anderen abhebt. Aber was letztendes in der Mechanik der signifikativen Oppositionen zählt, ist, dass die systematische Möglichkeit gegeben ist, dass etwas da ist, indem es sich von etwas unterscheidet, was nicht da ist. Die strukturalistische Abwesenheit zählt, insofern etwas nicht da ist und an dieser Stelle etwas anderes erscheint (Eco 1972: 399 - 400). Diese Passage steht symptomatisch dafür, wie Eco in seinem Strukturalismus unorthodox sein kann, ohne dabei dem Strukturalismus gänzlich abzuschwören. Unorthodox, wenn nicht sogar schon poststrukturalistisch, ist Ecos Umdeutung der Saussureschen Theorie von der Negativität der differenziellen Werte des Systems zu einer Theorie der An- und Abwesenheit der Strukturen bei gleichzeitiger Erweiterung der binären Form des Saussureschen Arguments von der Opposition von etwas Anwesenden zu etwas Abwesendem zu einer triadischen Konzeption von Struktur, in der als drittes Element der “ leere Raum ” zwischen den beiden Polen der Opposition hinzukommt. Eco verlässt allerdings in diesem Zitat die Pfade des Strukturalismus dann doch nicht, wenn er im Folgenden “ letztendlich ” das strukturalistische Denken in binären Oppositionen bekräftigt, indem er zu binären Reflexionen über anwesende und abwesende Strukturen zurückkehrt. Nur am Rande sei hier vermerkt, dass der Nominalist Eco, wenn er sich auf Saussures Theorie von der reinen Negativität der Strukturen beruft, nicht die Auffassung eines Nominalisten teilt, für den wissenschaftliche Modelle und Theorien bloße methodologische Instrumente sind, deren Vorläufigkeit es zu unterstreichen gälte. Saussure selbst war kein methodologischer Strukturalist im Sinne Umberto Ecos, denn für ihn war es nicht die Aufgabe der Linguisten oder Semiologen, bloß vorläufige wissenschaftliche Modelle des zu erforschenden semiotischen Feldes zu erarbeiten. Vielmehr ging es ihm darum, nachzuweisen, dass die semiologische Theorie ein Spiegel ihres Gegenstandsbereiches sein müsse, ebenso systematisch wie der Gegenstand der Analyse, das semiotische System selbst. “ Die Sprache ist ein fest geschlossenes System, und die Theorie muss ein ebenso geschlossenes System sein wie die Sprache ” , schreibt Saussure in einem Manuskript aus dem Jahr 1909 (Quijano 2005: 63). 3 Eco über Strukturen, Oppositionen und Differenzen Auch wenn Eco weiß, dass der Strukturalismus ein Forschungsprogramm des 20. Jahrhunderts ist, verortet er dessen geistesgeschichtliche Wurzeln sehr früh in der Geschichte der Philosophie. Als “ Vater des strukturalistischen Denkens ” habe Aristoteles zu gelten, schreibt Eco, und fügt hinzu, dass “ die Idee eines strukturierten Ganzen die philosophischen Reflexionen in allen Jahrhunderten bestimmt hat ” (1968: 255 - 57). Nach Aristoteles schreibt Eco der Scholastik Affinitäten zum Strukturalismus zu. Eines der Charakteristiken, welche das scholastische dem strukturalen Denken verwandt macht, sei das besondere Interesse der scholastischen Logiker für binäre Unterscheidungen (wahr/ falsch, sic et non) (Eco 1970: 259). Nach der Scholastik findet Eco ein solches Interesse wieder in der neuplato- 242 Winfried Nöth nischen Idee vom Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) des Nikolaus von Kues (Cusanus) und Giordano Brunos. Eco vertieft diese Themen in seiner Theorie der Interpretation und in seinem Werk Suche nach der vollkommenen Sprache (1990: 18 - 27; 1993). Spuren seiner Faszination für Gegensätze finden sich auch in Ecos literarischem Werk. “ Wenn ich einen Roman schreibe, inszeniere ich ein Stück von Widersprüchen ” , erklärt Eco (1992: 140). Schon in der Liste seiner Aufsatz- und Buchtitel gibt es zahllose Beispiele für die sprichwörtliche Anziehungskraft zwischen Gegensätzen und Widersprüchen in Ecos Denken (z. B. Eco 1983: “ Der Antiporphyrios ” ; 2006: Im Krebsgang voran; 2007: Vom Baum zu Labyrinth). Nachdem er in den 1960er Jahren über die Ästhetik des Scholastikers Thomas von Aquin diachron geforscht hatte (später auch Eco 1987), wandte sich Eco unmittelbar dem auf Synchronie eingeschworenen Strukturalismus zu. In seiner Einführung in den Strukturalismus definiert er, wie oben gezeigt, die Struktur im Sinne des Strukturalismus und stellt ihr zugleich seine Theorie von der Abwesenheit derselben gegenüber. Eco schreibt einerseits kenntnisreich über die Gedächtniskunst der mittelalterlichen Rhetoriker (1992) und reflektiert andererseits über die Möglichkeit einer Kunst des Vergessens (1988a). Seiner Geschichte der Schönheit (2004) lässt er bald auch eine Geschichte der Hässlichkeit (2007) folgen. Einige seiner Bücher oder Kapitel künden schon im Titel an, dass sie von Gegensätzen handeln, andere sind sogar in Form von Oxymora formuliert, z. B. Apokalyptiker und Integrierte (1964, dt. 1978), “ On truth: a fiction ” (1988b), Interpretation und Überinterpretation (Zwischen Autor und Text, dt. 1992) oder Woran glaubt, wer nicht glaubt (Eco und Martin, dt. 1998). Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der semantischen Oppositionen und Differenzen durch Ecos semiotische Schriften. Die Inhaltsoppositionen Louis Hjelmslevs werden für Eco zum Baustein seiner Kultursemiotik. “ Eine kulturelle Einheit [ … ] ist definiert insoweit, als sie innerhalb eines Systems weiterer kultureller Einheiten platziert ist, die in Opposition zu ihr stehen oder sie umschreiben, ” führt Eco in seinem Entwurf einer Theorie der Zeichen aus (1976: 108) und folgert: “ Eine kulturelle Einheit ‘ existiert ’ und wird insoweit erkannt, als es eine andere gibt, die in Opposition zu ihr steht. Es ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Elementen eines Systems, die jedem dieser Elemente das wegnimmt, was das andere übermittelt ” (ibid.). Oppositionen und Differenzen bestimmen auch für Eco semiotische “ Werte, die ausschließlich aus dem System stammen ” (1976: 109). Diese Werte entsprechen zwar kulturellen Einheiten, lassen sich aber definieren als bloße Differenzen; sie werden nicht nach ihrem Inhalt [ … ] definiert, sondern danach, in welcher Weise sie zu anderen Elementen des Systems in Opposition stehen und welche Position sie innerhalb des Systems einnehmen (ibid.). Zum Kern seiner semiotischen Theorie macht Eco ein in Form einer semantischen Opposition konzipiertes Argument, wenn er in seiner Semiotik und Philosophie der Sprache die Möglichkeit, Wahres zu sagen, von der Bedingung abhängig macht, mit dem gleichen Ausdrucksmittel auch Falsches sagen zu können: Die Semiotik befasst sich mit allem, was man als Zeichen betrachten kann. Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auffassen lässt. Dieses andere muss nicht unbedingt existieren oder in dem Augenblick, in dem ein Zeichen für es steht, irgendwo vorhanden Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 243 sein. Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann. Wenn man etwas nicht zum Aussprechen einer Lüge verwenden kann, so lässt es sich umgekehrt auch nicht zum Aussprechen einer Wahrheit verwenden: Man kann es überhaupt nicht verwenden, um ‘ etwas zu sagen ’ . Ich glaube, dass die Definition einer ‘ Theorie der Lüge ’ ein recht umfassendes Programm für eine allgemeine Semiotik sein könnte (Eco 1975/ 1987, dt. 26). Mit diesem Argument schreitet Eco von der strukturalen Semantik Hjelmslevs und Saussures zu einer strukturalen Semiotik fort, denn es geht nun nicht mehr allein um die semantischen Werte von Wörtern, wie sie die Linguistik untersucht, sondern um diejenigen der Argumente, die Eco dann in seiner Theorie der Interpretation vertiefen wird. 4 Wie Eco Oppositionen mit poststrukturalistischen Argumenten aufzuheben sucht Schon früh fließen in Ecos Reflexionen zum Wesen der Strukturen und des Strukturalismus poststrukturalistische Elemente mit ein. Ein erstes Beispiel für diesen Übergang zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus fand sich oben, wo Eco in seiner Einführung den Dualismus von Anwesenheit und Abwesenheit durch Reflexionen über den “ leeren Raum ” zwischen beiden erweitert. Eco erweist sich an solchen Stellen als Strukturalist und Poststrukturalist zugleich (Nöth 2017). Nicht immer ist es leicht zu erkennen, wo zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus Ecos Position zu verorten ist. Symptomatisch für die gelegentliche Ambiguität seiner Position zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus sind Gedanken, die er in Kapitel 1.5.3 seiner Semiotik und Philosophie der Sprache unter der Überschrift “ Das Zeichen als Differenz ” entwickelt (1985: 42 - 44). Ausgehend von Hjelmslevs Definition des Werts eines Wortes als die Form, in der es eine Inhaltssubstanz segmentiert, gelangt Eco nun zu einem recht anderen Schluss: Die Korrelation zwischen Ausdrucksebene und Inhaltsebene ist ebenfalls durch einen Unterschied gegeben: die Zeichenfunktion existiert durch eine Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit als ein gegenseitiger Austausch zwischen zwei Heterogenitäten. Von dieser strukturellen Prämisse ausgehend, kann man das gesamte Zeichensystem in ein Netz von Frakturen auflösen. Die Natur des Zeichens ist in der ‘ Wunde ’ oder ‘ Öffnung ’ oder ‘ Spaltung ’ zu finden, die es konstituiert und gleichzeitig annulliert (Eco 1985: 43). Während die Prämissen von Ecos Argumentationslinie strukturalistisch sind, klingt seine Konklusion posstrukturalistisch, denn nun spricht Eco von der Auflösung jener Strukturen, die zuvor als Differenzen und Oppositionen definiert waren, in einem Netzwerk von Frakturen, in denen sich Wunden, Löcher oder Spalten zeigen. Eine solche Konzeption der Strukturen eines Systems steht in krassem Gegensatz zu der Saussureschen Konzeption eines semiotischen Systems, “ in dem alles zusammenhält ” ( ‘ ou tout se tient ’ ; cf. Koerner 1996). In den Verletzungen und Verformungen, die Eco schließlich in den Differenzen eines semiologischen Körpers bemerkt, werden poststrukturalistische Gedankensplitter sichtbar, deren Ursprung in Deleuzes poststrukturalistischer Theorie von den Wunden und Narben (vgl. Reynolds 2007) liegen dürfte, auch wenn Eco selbst sie an dieser Stelle “ insbesondere Derrida ” zuschreibt (Eco 1985: 43). Ecos detaillierteste kritische Untersuchung eines semantischen Universums nach den Prinzipien der strukturalen Semantik findet sich wohl in seinem Aufsatz “ Antiporphyrios ” 244 Winfried Nöth (1983), einer Untersuchung zur Semantik des Baums des Wissen des antiken Aristoteles- Kommentators Porphyrios von Tyros (auch in: Eco 1984: 92 - 107). Als Buchtitel und inhaltlich erweitert ist das Thema in Ecos Dall ’ albero al labirinto: Studi storici sul segno e l ‘ interpretazione ([ ‘ Vom Baum zum Labyrinth …’ ] 2007) thematisiert. Schritt für Schritt untersucht Eco hier die Möglichkeiten und deren Grenzen, das Universum des Wissens nach strukturalistischen Prinzipien in Form eines Baumdiagramms zu analysieren, um schließlich das logische Scheitern dieses Unterfanges aufzuzeigen, weil die Zahl der Probleme dieses Versuches größer ist als diejenige der Möglichkeit, das Universum des Wissens nach diesem Prinzip zu gliedern. Am Ende gibt Eco auf: Der Baum der Gattungen und Arten, der Baum der Substanzen löst sich in einen Staubregen von Differentiae, in einen Tumult von unendlichen Akzidenzien, in ein nicht-hierarchisches Netzwerk von qualia auf. Das Wörterbuch wird in eine potentiell ungeordnete und begrenzte Galaxis von Stücken von Weltwissen aufgelöst. Das Wörterbuch wird so zu einer Enzyklopädie, weil es ohnehin eine verkleidete Enzyklopädie war (Eco 1984, dt. 1985: 107). Überhaupt ist bei der Lektüre des Abschnitts 1.5.3 von Semiotik und Philosophie der Sprache unter dem Titel “ Das Zeichen als Differenz ” (1985: 42 - 44) zu beachten, dass dieser ein Unterkapitel des Kapitels 1.5 ist, welchem Eco den poststrukturalistischen Titel “ Die Dekonstruktion des sprachlichen Zeichens ” gegeben hat. Die Dekonstruktion der Struktur, wie sie ja schon in Struttura assente Programm war, wird hier radikaler. Eco scheut nun nicht einmal davor zurück, sein eigenes Argument von der fehlenden Struktur (Struttura assente) neu aufzugreifen, um es dialektisch aufzuheben. Dabei gelangt er zu der folgenden Einsicht: Um jedoch ein System von Oppositionen überhaupt denken zu können, in dem etwas als abwesend wahrgenommen wird, muss etwas anderes als zumindest potentiell anwesend behauptet werden. Die Anwesenheit des einen Elements ist notwendig für die Abwesenheit des anderen. Alle Beobachtungen, die die Wichtigkeit des abwesenden Elements betreffen, gelten symmetrisch auch für das anwesende Element. Alle Beobachtungen, die die konstitutive Funktion des Unterschieds betreffen, gelten für beide Pole, aus deren Opposition der Unterschied erzeugt wird. Das Argument beißt sich daher in den Schwanz (Eco 1985: 43). Den letzten Satz dieser Ausführungen formuliert Eco (1984: 18) im Original so: “ L ’ argomento è quindi autofago ” - ‘ Das Argument ist mithin autophag ’ , also ‘ sich selbst verzehrend ’ , was wohl als eine Metapher für “ paradox ” zu verstehen ist. Damit deckt Umberto Eco aber, ohne dies sehr deutlich zu sagen, auf, dass seine eigene Theorie von der Abwesenheit der Struktur auf einem Paradox beruhte. Dem zitierten Abschnitt des Kapitels 1.5.3 über “ Das Zeichen als Differenz ” , in dem er dieses Paradox formuliert, lässt Eco im italienischen Original seines Buches, Semiotica e filosofia del linguaggio, einen weiteren Absatz folgen, der sowohl in der englischen Übersetzung (Semiotics and the Philosophy of Language) als auch in der deutschen fehlt. Der letzte Satz dieses Abschnittes beendet das Kapitel mit einer weiteren Reflexion über die Paradoxie von der Abwesenheit, die sich nur durch eine Anwesenheit konstituieren kann. Er lautet: “ Così il segno come pura differenza si contraddice nel momento in cui, per nominarlo come assenza, si producono segni percepibili ” (1984: 18): ‘ So widerspricht sich das Zeichen als reine Differenz, wenn es als Abwesenheit definiert wird, in dem Moment selbst, in welchem wahrnehmbare Zeichen produziert werden ’ . Mit dieser Formulierung des Gedankens von der Selbstaufhebung der Struktur als Abwesenheit durch die Notwendigkeit einer Anwesenheit bedient sich Eco Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 245 schließlich doch wieder eines strukturalistischen Argumentes, denn wenn das Zeichen in absentia des Zeichens in praesentia bedarf, um wahrnehmbar zu werden, dann zeigt sich doch, dass seine Struktur nicht als bloße Abwesenheit definiert werden kann, weil sich diese aus der Opposition von Anwesenheit und Abwesenheit konstituiert, die sich gegenseitig bedingen. Literatur Derrida, Jacques (1967). Écriture et la différance. Paris: Seuil. - Deutsch von Rodolphe Gasché: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. Eco, Umberto (1968). La struttura assente, nuova edizione 1980. Paperbackausgabe Milano: Bompiani/ Tascabili 2002. Eco, Umberto (1970). Il problema estetico in Tommaso d ’ Aquino. Milano: Bompiani. Eco, Umberto (1972). Einführung in die Semiotik. 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Hans Giessen (Kielce) Abstract: The article describes the results of two quantitative surveys (with high school students and with university students). They referred to the different media in which the Icelandic artist Björk distributed a song: first as (the) simple song, then as a music video, and finally as an app. Neither the song nor the music video Crystalline could convince the majority of the students. It turns out that the app was independently appreciated and thus perceived as an independent product; in some cases the app was even appreciated because it cognitively dominated over the song. The article shows how different media each have their own effects, which are not complementary, but might even contradict each other. Keywords: Apps, Björk, Christalline, media adequacy, music video, song Zusammenfassung: Der Artikel beschreibt die Ergebnisse von zwei quantitativen Erhebungen (mit Gymnasiasten und mit Universitätsstudenten), die sich auf die verschiedenen Medien bezogen haben, in denen die isländische Künstlerin Björk ihr Lied Crystalline verbreitet hatte: zunächst als reiner Audiodokument (das konkrete Lied), dann als Musikvideo und schließlich als App. Weder der Song noch das Musikvideo konnten die Mehrheit der Befragten überzeugen. Allerdings wurde die App, offenbar unabhängig vom konkreten Song, durchaus geschätzt. Sie wurde somit als eigenständiges Produkt wahrgenommen; in einigen Fällen wurde die App explizit sogar deshalb besonders geschätzt, weil sie kognitiv über den (in der Regel negativ bewerteten) Song dominierte. Der Artikel zeigt, wie unterschiedliche Medien jeweils eigene Wirkungen haben, die sich nicht ergänzen, sondern sogar widersprechen können. Schlüsselbegriffe: Apps, Björk, Christalline, Medienadäquatheit, Musikvideo, Song 1 Einleitung Ein zentrales Thema der Semiotik ist die Wechselbeziehung zwischen Inhalt und Code. Der jeweilige Code hängt dabei auch vom Publikationsmedium ab, das den Inhalt beeinflusst beziehungsweise gar verändern kann. Aus diesem Grund ist es besonders interessant, zu untersuchen, wie ein Inhalt wirkt, wenn er in unterschiedlichen Medien präsentiert wird. Dies soll im Folgenden anhand eines Songs der isländischen Sängerin Björk versucht werden. Björk ist eine international renommierte Künstlerin (Dibben 2009); von daher kann vermutet werden, dass die jeweiligen Medienprodukte jeweils professionellen Ansprüchen genügen und daher medienadäquat erstellt worden sind (Giessen 2004). Da den Medienprodukten - einem Musikvideo wie auch einer App - jeweils der selbe Song von Björk zugrunde liegt und mithin ein jeweils dominierendes künstlerisches Konzept Björks, die auch die Auftraggeberin der beiden Medienprodukte war, so dass die inhaltliche Variable zunächst und grundsätzlich identisch war, kann die Auswirkung des Mediums gut beobachtet werden. Im Folgenden sollen nicht der Inhalt beziehungsweise die künstlerischen Konzepte untersucht werden, sondern die Wirkung der unterschiedlichen Medienprodukte. Björk ist diesbezüglich auch deshalb besonders interessant, weil sie eine der ersten Künstler: innen war, die nicht nur Musikvideos erstellen ließ, sondern auch mit Apps experimentierte. Vor Björks App-Serie gab es zwar bereits vereinzelte künstlerische Versuche mit Apps, aber noch kaum vergleichbare Produktionen von kommerziell erfolgreichen Musikern. Zu den wenigen Ausnahmen zählen Brian Eno (mit der App “ Bloom ” ) oder die Gruppe Gorillaz (mit der App “ The Fall ” ), die bereits 2008 beziehungsweise 2010 entstanden sind. Im Jahr danach erschienen dann Björks Album “ Biophilia ” , zu dem sie mit Scott Snibbe eine komplette App-Serie erstellt hat. Dazu zählt auch der Song “ Christalline ” , zu dem zusätzlich noch ein Musikvideo unter der Regie von Michel Gondry produziert wurde. Die Tatsache, dass hier ein trimedialer Vergleich möglich ist, war Anlass dieser Untersuchung. Björks frühe Hinwendung zur App ist sicherlich einem für die Künstlerin charakteristischen innovativen Impuls zu verdanken. Dabei spielt wohl der Wunsch eine Rolle, ihre großen Themen wie die Synthese von Innen nach Außen, von Individuum und Universum wie von Natur und Technik auch durch die Nutzung neuer technischer Errungenschaften zu erproben und realisieren (Dibben 2009: 72 ff.). Zwangsläufig sind aber auch finanzielle beziehungsweise ökonomische Implikationen bedeutsam. Die App erschien als neue Vertriebsform, die auch finanziell interessant zu sein schien, nachdem Musiktitel regelmäßig (raub-)kopiert wurden. Björk selbst beklagte dies in einem “ Wired ” -Interview mit Charly Burton (2011); dazu kam, dass auch Radiosender wie Fernsehmusikkanäle zunehmend mainstreamiger wurden, wie Derek Birkett, der Mitbegründer und -besitzer von Björks Londoner Plattenlabel “ One Little Indian Records ” in einem Interview mit Nicola Dibben bestätigt hat (Dibben 2009: 161). Aus diesem Grund schien die App eine neue, vielversprechende Distributionsform zu sein, die zudem Innovationskraft zum Ausdruck bringt. Scott Sona Snibbe, der Designer der Crystalline-App, betonte daher im Gespräch mit Eliot van Buskirk, dass eine App Nutzerzahlen erreichen könne, die so hoch oder gar noch höher als diejenigen eines Musikvideo sein können; im Gegensatz zum Musikvideo lasse Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 249 sich mit einer App aber auch noch Geld verdienen. Warum sollte dieser Weg also nicht eingeschlagen werden (van Buskirk/ Snibbe 2011)? 1 Vor diesem Hintergrund entstehen jedoch neue Irritationen. Denn: Eine Reaktion auf Snibbes oben zitierte und von ihm offenbar nur rhetorisch gemeinten Frage, warum man angesichts potenziell hoher Nutzerzahlen und der zusätzlichen Möglichkeit, im Gegensatz zum Musikvideo Geld verdienen zu können, darauf verzichten sollte, Apps zu Musiktiteln (in Ergänzung zum Musikvideo oder gar anstelle des Musikvideos) zu produzieren, könnte in Gegenfragen bestehen: Selbst wenn mit einer App Geld verdient werden kann, nützt sie dem Künstler oder der Künstlerin? Wie gehen die Nutzer damit um? Diesen Fragen widmet sich dieser Beitrag. Zumindest ist angesichts der finanziellen Erwartungen (beziehungsweise fast Versprechungen des Designers an die Musikerin) überraschend, dass Björk, Snibbe (und andere App-Produzenten bei weiteren Biophilia- Titeln) offenbar keine Markt- oder Usability-Forschung betrieben haben, um das kommerzielle wie auch das künstlerische Potential der Apps bewerten und eventuell gezielter nutzen zu können. Vielleicht war eine explizite Marktforschung in der Tat nicht möglich, da es sich ja um eine der ersten entsprechenden künstlerischen Produktionen handelte, ein “ Markt ” also noch gar nicht vorhanden war. Eine Usability-Studie wäre aber zweifellos sinnvoll und wichtig gewesen. Selbst wenn strategische Überlegungen solchen Untersuchungen vor der Produktion entgegengestanden haben sollten (etwa: Björk wollte entsprechende Apps auf jeden Fall, aus künstlerischen beziehungsweise innovatorischen Erwägungen, veröffentlichen und sie nicht durch möglicherweise kritische Fragen aufwerfende Usability-Studien gefährden, indem sich dann Geldgeber zurückgezogen hätten), verwundert, dass Björk kein Interesse daran hatte, zumindest im nachhinein die Wirkungen ihres innovativen Produkts analysieren zu lassen. Zweifellos sind entsprechende Untersuchungen für die Abschätzung des kommerziellen Erfolgs wie der künstlerischen Wirkung bedeutsam; zudem hätte man gerade von einer innovationsfreudigen und daher zwangsläufig auch neugierigen Künstlerin wie Björk erwartet, dass es sie interessiert, ob ihr Experiment ankommt, und natürlich auch, warum dies dann der Fall ist - oder, warum es letztlich vielleicht doch nicht funktioniert hat. 2 Die qualitative Befragung: Rahmenbedingungen Dies ist nun die Frage der im Folgenden vorgestellten Untersuchung. Die trimediale Untersuchung erfolgte im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts, dessen primäres Ziel die Untersuchung der ästhetischen Umsetzungsformen von Musikvideos gewesen war (Universität des Saarlandes/ Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg). Dazu wurde Probanden unter anderem das von Michel Gondry produzierte Musikvideo gezeigt. Anschließend wurde ihnen die App von Scott Sona Snibbe zur Verfügung gestellt. Das Video zeigt keine Geschichte, sondern eine Bilderfolge, die mit einem Meteoritenschauer auf den Mond beginnt; die einschlagenden Meteoriten erzeugen die Geräusche, 1 “ [A] video doesn ’ t make any money, and reaches a modest-sized audience. An app can generate revenue and reach as large or larger of an audience. So I ’ m not sure why people wouldn ’ t be doing it. ” 250 Hans Giessen aus denen sich der Song entwickelt. Dazu kommen weitere visuelle Effekte, etwa die Idee, dass ein Lichtstrahl zu Objektbewegungen führt. Andere visuelle Effekte zeigen Regentropfen oder Blasen. Die App hingegen besteht im Kern aus einem Spiel, bei dem es darum geht, mit Bewegungen des Handhelds im Raum schwebende Kristalle zu berühren und damit , einzufangen ’ . Ziel ist es, möglichst viele Kristalle zu sammeln und so das eigene Kristall wachsen zu lassen, aber es gibt keinen ,Sieg ’ (gegen andere oder gegen eine vorgegebene Zeit). Diese App veränderte das Nutzerverhalten erneut, denn es fordert zu spielerischer Interaktion auf. Die Frage war, wie die Probanden mit der App umgingen und wie vor diesem Hintergrund die Wirkung des (selben) Songs war. Bemerkenswert ist, dass sich hier umgekehrt auch der Musiktitel an die App anpasst und unterschiedlich lang ist, so dass stetig Musik zu hören ist, so lange die Probanden beziehungsweise die Probandinnen noch spielen. Die Teilnehmer wurden dabei beobachtet und gefilmt, gaben direkt im Anschluss ihre Eindrücke schriftlich zu Protokoll und wurden in der Folge vom Projektteam interviewt. 3 Die qualitative Befragung: Sozialdaten und Mediennutzung Bezüglich der Sozialdaten war die Befragung nur teilweise ausgeglichen. Zunächst wurden vierzehn Studierende befragt. Es haben zehn weibliche, aber nur vier männliche Studierende an der Befragung teilgenommen. Dabei waren die männlichen Teilnehmer deutlich älter. Dies mag mit einem Ausreißer (ein Student war 44 Jahre alt: er studierte offenbar aus Interesse, möglicherweise ohne Immatrikulation, und akzeptierte für sich auch die Bezeichnung eines Privatgelehrten; er hat zweifellos auch den Alterschnitt der Befragten deutlich erhöht). Der Altersschnitt der Studenten lag bei 26,14 Jahren. Der jüngste Befragte war 20 Jahre alt (männlich). Die Studentinnen waren etwas homogener, hier war die jüngste Teilnehmerin 22 Jahre alt, die älteste Teilnehmerin 32 Jahre. Der Altersschnitt lag mithin bei den Studentinnen bei exakt 25 Jahren, bei den Studenten bei exakt 29 Jahren. Rechnet man den Ausreißer des untypischen Studenten heraus, liegt der Schnitt bei den Männern bei 24 Jahren. Damit herrscht bezüglich des Alters eine weitgehende Homogenität unter den Studierenden, nicht aber bezüglich der Geschlechterverteilung. Bei den Studierenden besteht eine fast exakt hälftige Zweiteilung bezüglich der Studienfächer. Die Studierenden verteilen sich auf die klassischen Geisteswissenschaften einerseits und die Sozial- und Naturwissenschaften andererseits. Insgesamt kann mit der Einschränkung des Geschlechts, aber sowohl altersmäßig, als auch aufgrund der Sozialzugehhörigkeit also demnach von einer recht homogenen Gruppe ausgegangen werden. Dies kann zunächst Vorteile haben: Als Studierende sind mit der akademisch-wissenschaftlichen Vorgehensweise und Terminologie vertraut und haben vermutlich ein aktuell trainiertes Reflexionsniveau. Zudem stand zu erwarten, dass sie auch eher bereit waren, sich auf eine etwas komplexere Musik (wie Björk sie produziert) einzulassen. Schließlich schien die Alterskohorte nahezulegen, dass die entsprechenden Medien bekannt sind. Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 251 Auch das Übergewicht weiblicher Studierender muss kein Nachteil sein, da Björk eher weibliche Interessenten anspricht (Whiteley 2005: 104 - 114)t, bezüglich ihrer Fans sogar ein repräsentativeres Bild besteht. In einer zweiten Befragungswelle wurden Oberstufenschüler und -schülerinnen angesprochen, also eine Gruppe, die fünf bis zehn Jahre jünger sind. Jüngere Probanden erschienen problematisch, weil solche Befragungen ein Reflexionsniveau benötigen, das ausgeprägt genug ist, um zu aussagekräftigen Aussagen zu kommen. In der zweiten Welle wurden sechs Schüler und Schülerinnen interviewt. Ihr Alter reichte von 16 bis 19 Jahren. Im Schnitt waren die befragten Schüler und Schülerinnen 17,16 Jahre alt. Selbst wenn die studentischen Ausreißer unberücksichtigt bleiben, ist der Unterschied zwischen fast exakt 17 und fast exakt 24 Jahren deutlich. Die Schüler beziehungsweise Schülerinnen sind also etwa sieben Jahre jünger als die Studenten beziehungsweise Studentinnen. Allerdings gab es bei den Schülern und Schülerinnen (ebenfalls) eine geschlechtsbedingte Zweiteilung: Zwei der Schüler waren die ältesten Probanden dieser Befragungswelle (18 und 19 Jahre); alle weiblichen Befragten waren dagegen (nur) 16 und 17 Jahre alt. Die Probandinnen und Probanden wurden zunächst gebeten, Leitfragen bezüglich ihrer Einschätzungen von Lied, Musikvideo und App zu beantworten. Anschließend wurden sie auf der Grundlage dieses Fragebogens interviewt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und dann verschriftet. Der folgende Artikel basiert im wesentlichen auf diesen Protokollen. 4 Ergebnisse der qualitativen Befragung Der Konsum von Musikvideos ist bei beiden Befragungsgruppen entweder Folge eines Hinweises oder, seltener, die Reaktion auf ein besonders eindrucksvolles Musikstück. Aktives Betrachten von Musikvideos, eventuell gar die intellektuelle oder ästhetische Neugierde auf neue, über YouTube gefundene Clips, die ein längeres Verweilen auf dieser Webseite nötig machen würde, findet sich dagegen eher selten; wenn, dann aus Langeweile. Dies gilt unterschiedslos für beide Befragungswellen. Die Erwartung, dass mit Hilfe des Smartphones sehr leicht vor allem die mobile Nutzung kurzer Bewegtbildmedien wie eben Musikvideos möglich ist, hat sich also eher nicht bestätigt. Als Grund dafür, warum dies dennoch nicht häufig genutzt wird, wurde immer wieder genannt, dass das Bild zu klein sei. Auch diesbezüglich ist die entsprechende Bewertung allgemein; die etwas Smartphoneaffineren Schüler und Schülerinnen sehen das nicht anders als die Studierenden. Die Befargung hat auch gezeigt, dass relativ selten neue Einzel-Apps heruntergeladen werden. Zudem musste festgestellt werden, dass sowohl Björk, als auch die CD oder die App Biophilia und mithin der Song Crystalline weitgehend unbekannt waren. Björk selbst ist offenbar rund der Hälfte der Befragten noch dem Namen nach; einige Probanden beziehungsweise Probandinnen betonten immerhin explizit, dass sie sie schätzten. Studentin 11 beispielsweise bestätigte, dass sie Björk “ gut ” fände. Das aktuelle Album kannte aber keine: r der Befragten. Eine weitere Beobachtung ist, dass der Song Crystalline offenbar überwiegend, zum Teil sogar heftige, Ablehnung hervorrief. Rund drei Vierteln der Befragten hat er nicht gefallen. 252 Hans Giessen So spricht Studentin 1 explizit von einer “ sehr monotonen Musik ” , Studentin 3 betont, dass Björk nicht ihr “ Musikstil sei ” , Studentin 10 nennt die Musik “ unmelodisch ” und Student 13 fand sie gar “ ein bisschen nervig ” . Auch Schülerin 2 bestätigte, dass Björk nicht die Musik mache, die ihr gefalle: “ Es war so ein bisschen das Gemisch einfach. Weil ich nicht finde, dass die Musik gut kombiniert war. ” Die Ablehnung war bei denjenigen Probanden beziehungsweise Probandinnen besonders ausgeprägt, die Björk nicht kannten. Hier konnte der Titel auch beim zweiten und dritten Hören keine Sympathie erringen. Dies ist vor dem Hintergrund der Diskussion, in wieweit Björk kommerzielle Kompromisse eingeht, durchaus bemerkenswert. Ganz eindeutig wendet sich ihre Musik nicht an ein breites Publikum, sondern an Rezipienten beziehungsweise Rezipientinnen mit einem spezifischen Geschmack, der auch unter Studierenden und Gymnasiast: innen nicht mehrheitsfähig ist. Ihr Publikum ist offenbar, global gesehen, noch immer groß genug, um ihr ein entsprechendes Auskommen zu garantieren, aber die Vermutung, dass kommerzielle Ziele für die Apps bedeutsam gewesen seien, relativiert sich insoweit, als es sich offenbar um ein “ Gesamtpaket ” für ein spezifisches Minderheitenpublikum handelt. Vor diesem Hintergrund ergibt die Nutzung von Apps aber möglicherweise einen weiteren Sinn, denn ein spezifisches, innovativ ausgerichtetes Publikum goutiert solch neue experimentelle Zusatzapplikation eventuell umso mehr. In jedem Fall evoziert die Ausgangsbasis des Pakets, eben der Song, bei den meisten der Befragten negative Reaktionen. Nur vereinzelt stieß er auf Wertschätzung. Dies kann ebenfalls anhand der Befragung dargestellt werden. Schüler 1, der, dem subjektiven Eindruck zufolge, der musikalischste Proband der gesamten Studie war, zeigte sich von dem Stück geradezu begeistert. Er analysierte mit Verve die Struktur des Titels, war sehr angetan von den “ Breakbeats und diesem Jungle-Artigen ganz am Ende ” . Obwohl auch er den Song zum ersten Mal gehört hatte, war er in der Lage, die seiner Meinung nach “ beste Stelle ” des Titels exakt zu beschreiben. Es handelt sich um den Moment, “ wo es quasi schon wieder aus ist das Lied, wo es normal noch mal richtig, ja Gas gibt ” . So suggeriert die Aussage von Schüler 1, dass das Minderheitenpublikum, das Björk schätzt, offenbar (musikalisch) besonders gebildet und innovationsfreudig ist beziehungsweise sein muss, obgleich die Kommentierung eines einzelnen Probanden in diesem Sample natürlich zu zufällig ist, um mehr als ein Indikator darzustellen. Zumindest ist deutlich, dass es sich bei Schüler 1 und seiner Einschätzung um eine vereinzelte Mindermeinung handelt. Die insgesamt starke Ablehnung des Songs hat möglicherweise Konsequenzen für die Forschungsfrage. So steht zu befürchten, dass es bei der Bewertung des Musikvideos und der App zu Ausstrahlungseffekten gekommen ist. Auch das Musikvideo von Michel Gondry wurde überwiegend negativ rezipiert. Rund zwei Drittel der Befragten bestätigten mehr oder weniger explizit, dass ihnen das Video nicht gefallen habe; rund ein Drittel äußerte sich nicht, neutral oder positiv. Immerhin ist die Ablehnung beim Musikvideo (leicht) schwächer, als wenn nur nach dem Musiktitel gefragt wird. Die grundsätzliche Einschätzung des Musikvideos kann anhand vieler Aussagen dargestellt werden. Studentin 2 fand “ das Video [ … ] nicht so angenehm ” . Student 8 fand es “ verwirrend ” , es habe sich ihm “ nicht erschlossen ” . Auch Studentin 12 hat “ das Video an sich nicht so zugesagt ” . Ähnlich fiel die Bewertung von Studentin 9 aus. Bereits in ihrer direkten Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 253 schriftlichen Reaktion machte sie deutlich, dass ihr das Video nicht gefallen habe. Sie fand es “ verwirrend ” und “ ein bisschen merkwürdig ” . In der Befragung bestätigte sie noch einmal diesen Eindruck: “ Das mit der Weltraumszene und der Frau, das fand ich am schlechtesten und auch nicht gut. Ich hätte es mir nicht freiwillig angeguckt oder hätte früher Schluss gemacht. ” Später ergänzte sie noch einmal, dass das Musikvideo aus ihrer Sicht “ keine Thematik ” gehabt habe. Student 13 bestätigte, dass er die Mondlandschaft im Clip “ einfach öde ” fand: “ Das war irgendwie langweilig ” . Er hätte dem Clip lediglich die Schulnote “ Fünf ” gegeben. Die Reaktionen verschiedener Schüler beziehungsweise Schülerinnen fallen ähnlich aus. Schülerin 3 und 2 äußerten sich fast wortgleich: Beide mochte den Clip “ nicht wirklich ” beziehungsweise er hat ihnen “ nicht wirklich gefallen ” . Schülerin 3 ergänzte, dass die visuelle Gestaltung des Musikvideo “ als vom Bild [ … ] so verwirrend ” gewesen sei: “ Meistens gibt es ja bei einem Musikvideo eine Geschichte oder einen Handlungsstrang, und der war für mich da nicht da. ” Es ist naheliegend, zu vermuten, dass es zu vielen Überschneidungen nicht nur bei den wenigen positiven, sondern auch bei den ablehnenden Bewertungen gekommen ist. So fanden die eher wenigen Probanden beziehungsweise Probandinnen, die Björks Musik schätzten, in der Regel auch den Clip gut, als kongeniale Ergänzung. Der bereits relativ ausführlich zitierte Schüler 1, der die musikalische Struktur des Songs Crystalline so intensiv und positiv bewertet, bestätigte auch bezüglich des Musikvideos von Michel Gondry: “ Ich finde das ist ein saugutes Musikvideo. [ … ] Ja, das hat mir gefallen, mit den Lichtfunken und den Kratern und was da alles wie Tasten rausfällt und alles dazu klingt. Das fand ich einfach super, das hat mir gefallen. ” Sowohl bei den wenigen positiven, als auch bei den negativen Aussagen könnten, wie vermutet, Ausstrahlungseffekte des Lieds eine Rolle spielen. Beispielsweise missfällt sowohl Studentin 10 wie auch Student 13 die Musik von Björk und das Video, mit ähnlich negativen (und etwas pauschalisierenden) Aussagen. Möglicherweise ergänzten sich Musik und Clip aber auch. Dies müsste allerdings noch einmal detaillierter untersucht werden. Allerdings gibt es auch mehrere Teilnehmer beziehungsweise Teilnehmerinnen, die sich negativ zur Musik äußerten, sich dann aber bei der Bewertung des Musikvideos zurückhielten oder es gar lobten. So bestätigte Schülerin 2, die Björks Song deutlich abgelehnt hatte, dass “ das Video [ihrer Meinung nach auch zur Musik] nicht gepasst ” habe. Das war, wie Mimik und Prosodie angedeutet haben, offenbar positiv zu verstehen. Auch Studentin 3, die zuvor betont hatte, dass Björk nicht ihr “ Musikstil sei ” , empfand das Musikvideo als “ schon gut gemacht und auch abwechslungsreich ” . Ähnlich äußerte Studentin 5, die Björk nicht erkannt hatte, aber bezüglich des Musikvideos sagte: “ Ja, der Clip hat mir [ … ] gut gefallen. ” Auch Studentin 10 lehnte den Song ab, empfand aber den Clip als “ Kunstwerk ” . Student 13 hat sowohl den Musiktitel, als auch das Video abgelehnt (dem er die Schulnote “ Fünf ” gegeben hätte), aber die App deutlich positiver bewertet: “ Das Spiel war für seine Art schon eine Drei plus. Es war nicht schlecht, aber es war auch nichts Besonderes. Etwas, das man zwischendurch kurz spielen kann, während man auf die Bahn wartet. ” Dies ist noch ein weiterer Hinweis auf ein entsprechendes Differenzierungsvermögen, selbst wenn in diesem Fall die Ablehnung von Song und Musikclip identisch sind und auch das Lob für die App nur verhalten ausfällt. Insgesamt kann festgehalten werden, dass auch bei identischen Urteilen bezüglich Song und Musikvideo der Grund nicht zwangsläufig in Ausstrahlungseffekten 254 Hans Giessen liegen muss (obwohl es natürlich auch Beispiele gibt, wo dies wahrscheinlich erscheint). Die meisten Befragten differenzieren so stark, dass der Eindruck gerechtfertigt erscheint, das Reflexionsvermögen sei für eine insgesamt doch realistische Einschätzung unterschiedlicher Medien und Genres groß genug. Wie erwähnt, wird dieser Eindruck verstärkt, wenn die Gesamtbefragung und mithin die Reaktionen bezüglich der App mitberücksichtigt wird. Rund zwei Drittel der Befragten lobte die App, nur rund ein Drittel lehnte sie ab. Zudem konnte bei verschiedenen Teilnehmern beobachtet werden, dass und wie sehr sie sich von der App gefangennehmen ließen. So war die Mehrzahl der Probanden beim Spielen sehr konzentriert und von der App absorbiert. Die meisten Einschätzungen waren demnach ausgesprochen positiv. Studentin 9 hatte bereits in der schriftlichen Kurzbefragung direkt nach Betrachten der App betont, es sei eigentlich “ ganz schön, damit zu spielen. ” Studentin 10, die von sich gesagt hat, dass die “ nie ” Apps benutze, spielte mit Begeisterung. Im Gespräch bescheinigte sie der App, dass sie “ Kunst ” sei. Vergleichbare Reaktionen gab es auch in der zweiten Welle der Schüler und Schülerinnen. Schülerin 2 lobte das “ Spiel selber, dass fand ich ganz interessant, weil es auch mal was Neues ist. Sowas hatte ich zumindest noch nicht gespielt. Nur man braucht dann halt einen Moment bis man raus hat, welche Kristalle man einsammeln soll oder wie man jetzt lenken muss. Also das Spiel an sich finde ich schon gut [ … ]. ” Aber es gab auch negative Bewertungen: Studentin 14 hatte “ das mit dem Spiel nicht so hinbekommen ” ; sie lehnt die App ab: “ Ich kann damit nichts anfangen. Mich langweilt das auf Dauer und ich beschäftige mich lieber mit anderen Dingen [ … ]. ” Ähnlich negativ ist die Bewertung durch Studentin 4: “ Wobei mir das Spiel auch relativ lang vorgekommen ist, das war immer das Gleiche. ” Studentin 12 hat “ die App von Björk nicht sehr gerne gespielt. ” Auch Studentin 5 sagte, dass sie “ das Kristallspiel sehr langweilig fand. ” Dennoch kam im Fall der App die große Mehrzahl der Probanden zu positiven Einschätzungen. Zwangsläufig haben mehrere von ihnen zuvor den Song und großteils auch das Musikvideo kritisiert. Fraglich ist, wie gesagt, ob und in wie weit die App in diesen Fällen unabhängig vom Musikstück erlebt und bewertet worden ist. Offensichtlich war dies häufig der Fall. So hat auch Studentin 2 zwischen Song, Video und App differenziert: “ Das Video [ … ] fand ich nicht so angenehm. Es lenkt deutlich ab. ” Zumindest im Gegensatz dazu erschien ihr die App “ nicht so schlecht ” . Die App scheint also, den Vermutungen Scott Sona Snibbes entsprechend, auf überraschende Zustimmung gestoßen zu sein. Insbesondere der Spielcharakter hat viele Probanden fasziniert und zur deutlich besseren Bewertung als beim Song oder beim Video geführt. Allerdings ist auch auffällig, dass die App nur selten mit dem Song (der ihr ja unterlegt ist) in Verbindung gebracht wurde. Nur in Einzelfällen wurden Song und App von den Probanden als Einheit erlebt. So lobte Studentin 3 die App, weil sie das Leitmotiv des Songs adäquat aufgegriffen habe. Die Studentin bestätigte beispielsweise, ihr sei aufgefallen, “ dass es gut gepasst hat. Der Text ging ja um Kristalle, das Kristalle-Sammeln war stimmig. ” Die Verbindung von App und Musik kann natürlich auch bemerkt werden, wenn der Song negativ gesehen wird. Aber auch in diesen Fällen wurde diese Beziehung nur selten thematisiert. Ein Beispiel ist der bereits genannte Student 13, der sagte: “ Bei dem Björk-Spiel hat die Musik, wenn man den Gesang noch ausgeblendet hätte, zu so einem ‘ spacigen ’ Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 255 Kristall-Spiel gepasst. Die Musik hat gepasst, nur der Gesang war ein bisschen nervig. ” Später begründete er die Einschätzung detaillierter: “ [D]ieses “ claustrophobia ” , das sie gesungen hat, dieses Gefühl, dass der Kristall immer riesiger wird, obwohl der Raum gleich groß bleibt, das hat wieder gepasst. Man muss immer schauen, dass man den nächsten Kristall noch sieht und wo man hinfliegt. Das hat ein bisschen korrespondiert. ” Die Aussage bezieht sich insbesondere auf eine Stelle im Text des Songs Crystalline, in der es heißt: “ I conquer claustophobia ” . In der Regel wurden Song und App aber nicht aufeinander bezogen (oder gegeneinander ausgespielt); vielmehr ist der Song in der Mehrzahl der Fälle fast ganz hinter die App zurückgetreten und mitunter buchstäblich verschwunden. Ein Beleg für die Aufmerksamkeitsabsorption durch die App stellt die folgende Beobachtung dar: Den allermeisten Befragten ist überhaupt nicht aufgefallen, dass die App nicht nur eine vom Musikvideo abweichende Version des Crystalline-Songs zu Gehör bringt, sondern sogar unterschiedlich an das Spielerverhalten angepasste Songs beziehungsweise Songteile und -längen und Instrumentierungen (gerade hinsichtlich der Rhythmussektion) aufweist. Beispielsweise musste Studentin 1 zugeben, dass sie “ nicht gemerkt ” habe, “ dass es etwas anderes ist, nein. ” Studentin 14 hat ebenfalls bestätigt: “ Ob das eine unterschiedliche Version war, kann ich jetzt nicht sagen. ” Auch Studentin 4 hat nichts dergleichen bemerkt: “ Ich muss ganz ehrlich sagen, mir sind keine Unterschiede aufgefallen. ” Studentin 5 sagte, sie habe bei dem Spiel “ gar nicht mehr auf die Musik geachtet. ” Studentin 7 hat ebenfalls keine Unterschiede bemerkt: “ Ich habe nur erkannt, dass es für mich grob das Gleiche war. Dann dachte ich, ‘ ja gut ’ und habe weitergespielt. ” Analog verlief das Gespräch mit Studentin 3 ( “ konkret ist mir nichts aufgefallen ” ) oder mit Studentin 14 ( “ ob das eine unterschiedliche Version war, kann ich jetzt nicht sagen ” ). Bei den Schülern beziehungsweise Schülerinnen der zweiten Welle gibt es eine ähnliche Tendenz. Schülerin 2, die das Spiel an sich schon gut fand, bilanzierte, auf die Musik habe sie “ da nicht mehr drauf geachtet. ” Noch deutlicher ist die Einschätzung von Studentin 4: “ Wenn ich mich auf das Spiel konzentriere, dann höre ich zwar die Musik, aber ich verbinde es nicht. Es ist für mich eine Musik, die nebenher läuft und ich beachte sie dann nicht so. Bei einem richtigen Video, bei dem etwas gezeigt wird, achte ich mehr darauf: Was wird jetzt gezeigt? Wie hängt es mit der Musik zusammen? Mit dem Inhalt? ” Lediglich Schüler 1, der vom Musikerlebnis ausging, sind die Unterschiede deutlich geworden: “ Ja klar. Das ist viel kürzer die Version. Und da fehlt auch das mit den Breakbeats und diesen Jungle-artigen ganz am Ende. Das ging vielleicht zweieinhalb Minuten und das Original ging viereinhalb, fünf Minuten. [ … ] Zuerst habe ich gedacht, dass es genau wie beim Musikvideo ist, denn da kommt auch nur noch der Beat und dann hort es direkt auf. Hier hat es mit der Melodie und nicht mit dem Beat aufgehört. ” Schüler 1 war in der Tat aber der einzige Teilnehmer der Befragung, dem dies aufgefallen war. Warum “ verschwand ” das Lied so sehr hinter der App? Die Wirkungsweise wurde von Studentin 3 so erläutert: “ Aber wenn man sich nur auf die Musik konzentrieren möchte, oder auf die Texte, würde das zu sehr ablenken. Gerade bei dem Kristallspiel muss man schauen, wo der Kristall ist. Wenn man gleichzeitig auf den Text achten wollte, wäre das ein bisschen zu viel. ” Studentin 2 haben Musik und Musikvideo ebenfalls nicht gefallen, sie empfand sie als nicht angenehm. Dagegen hat das Spiel so sehr dominiert, dass sie von die Musik nicht mehr “ gestört ” wurde ( “ was ich nicht schlecht fand ” ). Es habe deutlich abgelenkt: “ Die 256 Hans Giessen Musik rückt in den Hintergrund. Man hört sie trotzdem, aber vielleicht nicht mehr bewusst. ” Studentin 7 sagte: “ Wenn ich mich auf ein Spiel konzentriere, dann blende ich aus, was ich höre oder was um mich herum ist. Deswegen kommt da die Musik nicht so zur Geltung. ” , und Studentin 9, die in das Spiel der App vollständig eingetaucht war, bestätigte: “ Bei dem Spiel war es nur ein Hintergrund und ich habe es nicht als Lied [wahrgenommen], sondern eher als aneinandergereihte Hintergrundgeräusche, schon als Melodie oder Rhythmus, aber eher als eine Spiel-Hintergrundmusik. ” Offensichtlich war ihr nicht einmal bewusst, dass sie den Björk-Titel noch einmal gehört hatte. Umgekehrt ist die Bestätigung, dass die App sehr stark abgelenkt hat, von Studentin 14 formuliert worden: “ Ich habe das mit dem Spiel nicht so hinbekommen und habe dann irgendwann mehr auf die Musik gehört. ” In jedem Fall dominierte die App in der Mehrzahl der Fälle so stark, dass der Song keine Rolle mehr spielte. Die App wirkte also als eigenständiges Produkt. Damit ist aber fraglich, ob die App zu einer positiven (Um-) Bewertung des Songs beitragen kann: Dies war ja die zweite Implikation der Aussage Snibbes. Im Gegenteil scheint die App gar in überraschend hohem Ausmaß gegen Björks Lied zu wirken. Wenn die App gut funktioniert, dann auch deshalb, weil sie vom Song abgelenkt hat. Studentin 1, die sich über die Monotonie des Songs beklagt, die App aber gerne gespielt hatte, kommentierte diesen Sachverhalt folgendermaßen: “ Wenn das Musikvideo an sich spielt, dann fällt einem die sehr monotone Musik [auf]. Es ist irgendwie immer das Gleiche. Wenn man ein Spiel dazu spielt, fällt einem weniger auf, dass es wahnsinnig monoton ist, als wenn man das Musikvideo guckt und genötigt ist, diese Monotonie zu hören. Es ist wirklich verschieden. Während ich gespielt habe, habe ich weniger auf die Musik geachtet. ” Ähnlich sagte Studentin 10, die Björks Titel als “ anstrengend ” und “ unmelodisch ” eingeschätzt hatte: “ Im Hintergrund zu dem Videospiel fand ich es viel angenehmer als im Musikvideo. ” Analoge Aussagen kamen von Studentin 10, die kommentierte: “ Dadurch habe ich mich der Musik nicht so ausgeliefert gefühlt, sondern bin mit ihr mitgeschwommen. ” So werden im Rahmen der qualitativen Befragung die Grenzen der App im Kontext des genannten Gesamtpakets deutlich. Offenbar unterstützt sie den Song nicht. In der Regel der Fälle wirkt sie, obwohl ihr der Song “ unterlegt ” ist. In der Folge betont Schüler 6, er verstehe gar nicht, dass eine App auf einen Musiktitel aufmerksam machen soll oder auch kann: “ [I]ch [würde] nicht eine App spielen, um das Lied zu hören. ” Studentin 11 hat gar den Eindruck, dass vor diesem Hintergrund eine solche App ein Titel selbst gar “ entwertet ” wurde: “ Das hätte ich von Björk nicht erwartet. Sie ist hauptsächlich als Musikerin bekannt und man weiß nicht, warum sie ihre Musik so in den Hintergrund stellt. Ich habe zwar von Björk noch nie etwas gekauft, aber ich finde sie gut und finde es merkwürdig, dass sie die Musik dadurch ein bisschen entwertet. ” Fraglich ist, ob dies eine gesellschaftlich und kulturell geprägte Ansicht des Genres “ App ” darstellt (das sich also in einem kulturellen Prozess auch verändern kann), oder eine grundsätzliche Mediendivergenz darstellt. Die Aussagen insbesondere von Schüler 6 ( “ [I]ch [würde] nicht eine App spielen, um das Lied zu hören. ” ) unterstützen die zweite Erklärung. Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 257 5 Zusammenfassung und Kommentierung Tendenziell wurde mithin bestätigt, dass Björk als Künstlerin nur ein Minderheitenpublikum anspricht, das offensichtlich musikalisch wie künstlerisch eher gebildet und innovationsorientiert ist. Obwohl das Sample nur aus Oberstufengymnasiasten beziehungsweise -gymnasiastinnen und Universitätsstudenten beziehungsweise -studentinnen bestand (und es lediglich eine bezüglich des Publikums von Björk vermutlich nicht einmal untypische Verzerrung aufgrund des hohen Anteil weiblicher Probanden gab), tendenziell also in Richtung dieses spezifischen Publikums weist, haben die Probanden Björks Musik nur bedingt geschätzt; vielen war Björk nicht einmal bekannt. Der hier präsentierte Song Crystalline hat überwiegend Ablehnung provoziert. Die Befürchtung, dass dies für die Befragung problematische Ausstrahlungseffekte auch auf das Musikvideo von Michel Gondry und die App von Scott Sona Snibbe habe, kann nicht ausgeschlossen werden. Dem subjektiven Eindruck zufolge (und dies spricht ebenfalls dafür, dass die Teilnehmer einem eher intellektuellen Kreis angehören) waren die meisten Probanden aber zur Differenzierung in der Lage. Das Musikvideo fand eine höhere Zustimmung als der Song selbst, wurde aber trotzdem überwiegend abgelehnt. Immerhin gibt es insofern einen Zusammenhang, als diejenigen, die den Song mochten, überwiegend auch das Video lobten, beziehungsweise in der Mehrzahl der Fälle: diejenigen, die den Song kritisierten, überwiegend auch das Musikvideo ablehnten. Zudem gibt es offenbar aber auch einige Probanden beziehungsweise Probandinnen, die das Video als Kunstwerk schätzen, obwohl sie sich nicht mit dem Song anfreunden konnten. In jedem Fall wird das Musikvideo von den Probanden beziehungsweise Probandinnen in engem Zusammenhang mit dem Song gesehen. Bezüglich der am Anfang dieses Beitrags gestellten Frage, wie sinnvoll und nützlich die ergänzenden Produkte für Björks künstlerische und/ oder kommerzielle Ziele sind, kann immerhin bestätigt werden, dass der Clip eine ergänzende (und möglicherweise leicht verstärkende) Funktion hat oder zumindest haben kann. Michel Gondrys Musikvideo spricht ganz offensichtlich eine Klientel mit ähnlichen künstlerischen und innovationsorientierten Einstellungen an wie der Song (oder wird aus jeweils ähnlichen Einstellungen heraus abgelehnt). Im Gegensatz zum Song wie auch zum Musikvideo wurde die App von den meisten Probanden beziehungsweise Probandinnen gelobt. Gerade der Spielcharakter führte zu einer enormen Absorptionskraft beziehungsweise einem Immersionsgefühl. Diese Empfindungen dominierten allerdings so sehr über die Musik, dass sie gerade von denjenigen Probanden geschätzt wurde, die die Musik als unangenehm empfanden, denn dadurch verlor der Song an kognitiver Bedeutung. Umgekehrt hat die App bei denjenigen Irritationen evoziert, die mit Björk sympathisieren und die davon ausgehen, sie wolle, ähnlich wie mit einem Musikvideo, mit diesem Medienprodukt einen Werbe- oder zumindest Verstärkungseffekt erzielen. Die Absorptionskraft ist so stark, dass in der Tat nur diejenigen Probanden beziehungsweise Probandinnen (mit der einzigen Ausnahme des musikfokussierten Schülers 1) dem Song zuhörten, die mit dem Spiel nichts anfangen konnten. 258 Hans Giessen Insgesamt kann festgestellt werden, dass die App von Scott Sona Snibbe sehr wohl als eigenständiges Kunstwerk wahrgenommen wurde und diesbezüglich deutlich mehr Teilnehmer überzeugte und begeisterte als das Lied selbst oder als das Musikvideo. Die App löste sich aber so sehr aus dem Verbund mit der Musik, dass diesbezügliche Wechselwirkungen, Ausstrahlungs- oder gar Werbeeffekte so gut wie nicht existierten. Wenn eine App aber den Musiktitel ergänzen, verstärken oder promoten soll, hat zumindest dieses Produkt seine Funktion nicht erfüllen können. Dies wurde von verschiedenen Probanden so gesehen, die daher sogar vermuteten, dass die App den Song “ entwerte ” . Etwas pointiert muss daher festgestellt werden, dass beim Blick auf mediales Zusammenwirken diese App offenbar nicht zur Unterstützung des Musiktitels geeignet ist, im Gegenteil: Die App wurde trotz des Songs geschätzt; beziehungsweise gar, weil sie von Song abgelenkt hat. Die App von Scott Sona Snibbe stellt somit keine medienadäquate Unterstützung für den Song von Björk dar, im Gegensatz zum Musikvideo von Michel Gondry. Können sich hier unterschiedliche mediale Produkte in ihrer Wirkung ergänzen, überlagert im anderen Fall das eine mediale Produkt das andere, so dass ausgerechnet das Ursprungsprodukt (der Song) völlig an Bedeutung verliert. Damit hat die Untersuchung ein überraschend klares und deutliches Ergebnis erbracht. In wie weit es verallgemeinerbar oder doch von der spezifischen Crystalline-App bedingt ist, muss jedoch offen bleiben. Literatur Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] 2011, “ Crystalline ” , in: Biophilia. London: One Little Indian Records / Polydor [LP; CD; digital] Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] & Gondry, Michel 2011, “ Crystalline ” , in: https: / / www.youtube.com/ watch? v=MSV3ujF5uuc [Video, gesichtet am 23. August 2022] Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] & Snibbe, Scott Sona 2011, “ Crystalline ” , in: Biophilia. Apple: iTune Store [Mobile App, gesichtet am 23. August 2022] Burton, Charly & Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] 2011, “ In depth: How Björk ’ s ‘ Biophilia ’ album fuses music with iPad apps ” , in: Wired Magazine (UK), http: / / www.wired.co.uk/ magazine/ archive/ 2011/ 08/ features/ music-nature-science [Online-Ressource vom 26.07.2011, gesichtet am 23. August 2022] Eno, Brian & Chilvers, Peter 2008, Bloom. Generative Music / Apple: iTune Store [Mobile App, gesichtet am 23. August 2022] Dibben, Nicola 2009, Björk (Icons of Pop Musik 4). London: Equinox Giessen, Hans W. 2004, Medienadäquates Publizieren. Von der inhaltlichen Konzeption zur Publikation und Präsentation. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag / Elsevier 2004 Gorillaz 2010, The Fall. Apple: iTune Store [Mobile App, gesichtet am 23. August 2022] Van Buskirk, Eliot & Snibbe, Scott Sona 2011, “ Björk ’ s Lead App Developer Riffs on Music, Nature and How Apps Are Like Talkies ” , in: Wired Magazine (UK), http: / / www.wired.com/ underwire/ 2011/ 07/ bjork-app-part-1/ 2/ [Online-Ressource vom 26.07.2011, gesichtet am 23. August 2022] Whiteley, Sheila 2005, Too Much Too Young. Popular Music, Age and Gender. London: Routledge. Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 259 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse H. Walter Schmitz (Duisburg-Essen) Abstract: When Harvey Sacks and Emanuel A. Schegloff explored the possibility of a “ naturalistic observational discipline that could deal with the details of social action(s) rigorously, empirically, and formally ” (Schegloff/ Sacks 1973) it was not by chance that their attention was attracted by records of natural conversations and by conversation as an activity in its own right. For, in conversation every action, every speaking turn of its participants, presents itself as a clearly determinable unit with its outset and end, above all in the conversation ’ s transcript, all together in an apparent order, a sequence of turns. Sequence analysis developed for conversations from those observations, its prerequisites and its implications are examined critically and it is investigated whether sequence analysis is also applicable as a proof procedure to talk in interaction and multimodal faceto-face interaction. It is argued that unclearly determined non-verbal actions and multiple forms of simultaneous events may restrict or even prevent the applicability of sequence analysis. It is considered to be necessary to investigate empirically for different forms of (communicative) interaction and their constitutive conditions of perception the relation between simultaneity and sequentiality. Keywords: Ethnomethodology, conversation analysis, sequence analysis, conversation, talk in interaction, multimodality, non-verbal behavior, simultaneity Zusammenfassung: In Harvey Sacks ’ und Emanuel A. Schegloffs Erkundung der Möglichkeit einer “ naturalistic observational discipline that could deal with the details of social action(s) rigorously, empirically, and formally ” (Schegloff/ Sacks 1973) richtete sich ihre Aufmerksamkeit nicht von ungefähr auf Aufzeichnungen natürlicher Gespräche und auf das Gespräch als Aktivität eigenen Rechts. Denn hier bieten sich die einzelnen Handlungen, die Redebeiträge der Gesprächsteilnehmer, als klar bestimmbare Einheiten mit Anfang und Ende dar, erst recht im Transkript, und dies insgesamt in einer offensichtlichen Ordnung, einer Sequenz von Turns. Die hieraus für conversations entwickelte Sequenzanalyse, ihre Voraussetzungen und Implikationen werden kritisch beleuchtet, und es wird geprüft, ob die Sequenzanalyse als Prüfverfahren auch auf talk in interaction und auf multimodale Vis-à-vis-Interaktionen anwendbar ist. Es wird argumentiert, daß unklar begrenzte nonverbale Handlungen und vielfältige Formen simultaner Ereignisse die Anwendbarkeit der Sequenzanalyse stark einschränken oder unmöglich machen können. Es wird als notwendig erachtet, das Verhältnis zwischen Simultaneität und Sequentialität für unterschiedliche (kommunikative) Interaktionsformen und deren konstitutive Wahrnehmungsbedingungen empirisch zu prüfen. Schlüsselbegriffe: Ethnomethodologie, Konversationsanalyse, Sequenzanalyse, conversation, talk in interaction, Multimodalität, Nonverbalität, Simultaneität 1 Einleitung Aus der ursprünglichen ethnomethodologischen conversation analysis, wie sie von Sacks, Schegloff und Jefferson begründet und praktiziert wurde, haben sich in nunmehr über fünfzig Jahren Richtungen oder Strömungen von Konversationsanalyse entwickelt, die sich in ihren Annahmen und Vorgehensweisen, aber auch hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstands mehr oder weniger voneinander unterscheiden und von ihrem gemeinsamem Ausgangspunkt entfernen. Diese Entwicklung, in der manches von einigen gar als “ Häresie ” empfunden wurde (vgl. Stivers 2015; Kendrick 2017: 2), schritt in den letzten 30 Jahren stetig voran, obwohl Emanuel A. Schegloff seine Kollegen in zahlreichen kritischen Aufsätzen an die die Ethnomethodologie kennzeichnende Forschungsagenda in der Konversationsanalyse zu erinnern bemüht war (vgl. Lynch 2017: 4; 2019: 188 f.). Darüber sollte jedoch nicht übersehen werden, daß sich auch in den Studien von Sacks und erst recht in denen von Schegloff Verschiebungen in den Annahmen, in Begrifflichkeiten und in den Begrenzungen von Untersuchungsgegenständen ergeben haben, die bemerkenswert sind. Einigen dieser Veränderungen bei Sacks, Schegloff, Jefferson und ihren Nachfolgern möchte ich in dieser Studie nachgehen und sie daraufhin untersuchen, welche Folgen sich daraus für das Verständnis, die Anwendbarkeit und die Ergiebigkeit der Sequenzanalyse als der zentralen Methode der ethnomethodologischen Konversationsanalyse ergeben. Um zunächst die Voraussetzungen für eine Sequenzanalyse zu klären und deren Zusammenhang mit dem frühen Begriff der conversation als eines speech exchange system sichtbar zu machen, nehme ich als Ausgangspunkt meiner Überlegungen das von Schegloff und Sacks 1973 in “ Opening up Closings ” skizzierte Arbeitsprogramm. In einem zweiten Schritt untersuche ich die Anwendbarkeit der Sequenzanalyse auf die Phänomene, die Schegloff seinem erweiterten talk in interaction-Begriff subsumiert. Der dritte Teil dieser Untersuchung diskutiert Möglichkeiten und Grenzen einer Sequenzanalyse in einer Konversationsanalyse multimodaler Vis-à-vis-Kommunikation. In allen drei Schritten soll ein Schwerpunkt gelegt werden auf die genaue Bestimmung des veränderten Untersuchungsgegenstands, auf den jeweils die Sequenzanalyse als (Prüf-)Verfahren angewendet werden soll. 2 Sequenzanalyse und conversation In “ Opening up Closings ” stellen Schegloff und Sacks ihr Projekt der Untersuchung von Gesprächsbeendigungen vor als Teil eines vor ein paar Jahren begonnenen “ program of work ” , Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse 261 [ … ] to explore the possibility of achieving a naturalistic observational discipline that could deal with details of social action(s) rigorously, empirically, and formally. For a variety of reasons that need not be spelled out here, our attention has focused on conversational materials; suffice it to say that this is not because of a special interest in language, or any theoretical primacy we accord conversation (1973: 289; Hervorh. H. W. S.). Was denn, so läßt sich fragen, macht conversational materials so attraktiv und geeignet als Gegenstand einer naturalistischen, allein beobachtungsgestützten Disziplin, die sich streng, empirisch und formal mit den Details sozialer Handlungen befaßt? Wenn Schegloff und Sacks von “ materials ” oder “ conversational materials ” sprechen, meinen sie an dieser Stelle “ records of natural conversation ” (Schegloff/ Sacks 1973: 290), 1 im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch also “ Dokumente ” der ursprünglichen Gespräche. Die Autoren äußern sich meines Wissens an keiner Stelle über die Beziehung zwischen dem flüchtigen natürlichen Gespräch selbst und seiner Audioaufzeichnung, sie behandeln letztere jedoch so, als wäre sie - wie schon Bergmann (1985) allzu kühn behauptete - “ die registrierende Konservierung eines sozialen Geschehens ” dergestalt, daß sie das soziale Geschehen “ in seiner authentischen Ereignishaftigkeit zu bewahren ” (Bergmann 1985: 312) vermöchte. 2 Nun ist aber weder das natürliche Gespräch selbst - schon wegen seiner Flüchtigkeit - noch seine Audioaufzeichnung als solche ein geeigneter Gegenstand für die angestrebte Disziplin und ihre Verfahrensweisen, sondern erst das Gesprächstranskript (auf der Basis der Aufzeichnung), das offenbar ebenfalls zu den oben genannten “ materials ” gezählt wird: The materials with which we have worked are audiotapes and transcripts of naturally occurring interactions (i. e., ones not produced by research intervention such as experiment or interview) with differing numbers of participants and different combinations of participant attributes (Schegloff/ Sacks 1973: 291). Erst das Gesprächstranskript erfüllt alle Anforderungen der anvisierten empirischen Disziplin, und das höchst anschaulich. Denn erst in der schriftlichen Fixierung sprachlicher Äußerungen zusammen mit eventuellen symbolischen Notierungen prosodischer oder paralinguistischer Phänomene lassen sich eindeutig identifizierbare und von anderen abgrenzbare formale oder inhaltliche Einheiten bestimmen, die, soweit sie sich z. B. in der Zeit erstreckten, einen in der Transkriptfläche stets genau angebbaren Anfang und ein ebenso anzeigbares Ende haben, eine nur scheinbar triviale Voraussetzung, um überhaupt Einheiten genau angeben, von Abfolgen sprechen, Folgeverhältnisse analysieren oder generell Ordnung konstatieren zu können. Auf die Analysen solcher Transkripte - vornehmlich von Aufzeichnungen von Telefongesprächen - basieren Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) ihre Formulierung des Turn- Taking-Systems für conversation als einem Redeaustauschsystem neben mehreren anderen, und es ist diese Organisation der Turn-Folge, aus der sie die Möglichkeit der Sequenzanalyse 1 Bei Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) finden wir als Äquivalente “ audio recordings of naturally occurring conversations ” (1974: 697), “ tape recordings of natural conversation ” (1974: 698) oder auch “ audio materials ” (1974: 733). Vgl. auch Sacks (1972). 2 Was ja allenfalls für die Audioaufzeichnung eines Telefongesprächs Geltung beanspruchen könnte. - Der begrifflich wie theoretisch fragwürdigen Position Bergmanns folgen manche bis heute (vgl. z. B. Birkner 2020: 21). 262 H. Walter Schmitz als Prüfverfahren für die Analyse von Turns herleiten (1974: 728). Denn sie sehen es als eine systematische Konsequenz der Turn-Taking-Organisation an, daß sie die Gesprächsteilnehmer dazu verpflichte, sich mit ihrem jeweiligen Redebeitrag gegenseitig ihr Verständnis des vorangegangenen oder eines speziell angesprochenen anderen Redebeitrags anzuzeigen; und da diese Anzeigen ( “ displays ” ) auch dem professionellen Analytiker zugänglich seien, erhalte dieser ein Prüfkriterium und ein Suchverfahren an die Hand für die Analyse dessen, worum es in einem Redebeitrag gehe. Und weiter: Since it is the parties ’ understandings of prior turns ’ talk that is relevant to their construction of next turns, it is their understandings that are wanted for analysis. The display of those understandings in the talk of subsequent turns affords both a resource for the analysis of prior turns and a proof procedure for professional analyses of prior turns - resources intrinsic to the data themselves (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974: 729; Hervorh. im Original). 3 Aufgrund der Stellung dieser Überlegungen zum Turn-Taking-System für conversation 4 müssen wir uns natürlich als nächstes fragen, was genau die Autoren unter dem Redeaustauschsystem conversation verstehen, in dessen Analyse das Verfahren der Sequenzanalyse aus den angegebenen Gründen seinen berechtigten Platz haben soll. Dies ist umso notwendiger, als in der Literatur der terminologische Status von “ conversation ” häufig ignoriert und mit untauglichen, da irreführenden Übersetzungen wie “ Gespräch ” oder “ verbale Interaktion ” operiert wird. Wie ich an anderer Stelle hergeleitet und ausgeführt habe (vgl. Schmitz 2014: 140 f.), ließe sich die bei Sacks, Schegloff und Jefferson implizit bleibende Definition explizieren als: ‘ Conversation ’ heiße ein Redeaustauschsystem und jede seiner Realisierungen, in dem das Turn-Taking ausschließlich einem System folgt, das (wenigstens) die 14 Merkmale - von “ Speaker-change recurs ” bis “ Repair mechanisms exist ” (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974: 700 f.) - aufweist. Das aber heißt, daß solche Kommunikationen keine conversations sind, in denen längeres gleichzeitiges Sprechen, Phasen chorischen Sprechens oder längere Redepausen vorkommen und toleriert werden, oder in denen Statusunterschiede, institutionelle Rollenverteilungen oder allgemein Ungleichheiten der Rechte, des Wissens, des Könnens der Kommunikationsteilnehmer Einfluß auf die Sprecherreihenfolge, die Turn-Länge, die relative Verteilung der Turns etc. ausüben (könnten) (vgl. Schmitz 2014: 141). Entsprechend müssen für Fälle von conversation Gleichheit und gleiche (Sprecher)Rechte der Teilnehmer angenommen werden. Dafür aber werden kaum jemals in konversationsanalytischen Untersuchungen Belege erbracht; man begnügt sich stillschweigend mit der Annahme eines gemeinsam geteilten Turn-Taking-Systems ( “ for conversation ” ) (vgl. Billig 1999: 543, 550). Die Anwendbarkeit des Verfahrens der Sequenzanalyse ist also zunächst gebunden an das Redeaustauschsystem conversation; seine Verwendung zur Analyse anderer Redeaustauschsysteme, etwa moderierter Diskussionen, bedarf daher zuvor einer Prüfung, ob das dort geltende Turn-Taking-System die weiter oben beschriebenen Voraussetzungen 3 Ähnlich Schegloff/ Sacks (1973: 290): “ We have proceeded under the assumption (an assumption borne out by our research) that insofar as the materials we worked with exhibited orderliness, they did so not only for us, indeed not in the first place for us, but for the coparticipants who had produced them. ” 4 “ The turn-taking system has, as a by-product of its design, a proof procedure for the analysis of turns. ” (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974: 728) Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse 263 (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974: 728 f.) dafür erfüllt. Es kann jedenfalls nicht ungeprüft und von vornherein angenommen werden, daß jegliche Form verbaler Interaktion sinnvollerweise einer Sequenzanalyse unterzogen werden kann. In besondere Schwierigkeiten scheint die Sequenzanalyse dort zu geraten oder gar unmöglich zu werden, wo, wie einige empirische Untersuchungen von Mehrpersonengesprächen offenbar belegen können, 5 gleichzeitiges Sprechen über längere Zeit hinweg praktiziert und toleriert wird, wo also die für alle Redeaustauschsysteme als konstitutiv angenommene Regel “ one at a time ” aufgehoben ist, die als Voraussetzung für die Entstehung sozialer Ordnung in der Interaktion für unabdingbar gehalten wird. 6 Was nun die Durchführung von Sequenzanalysen in conversations angeht, so sind doch erhebliche Zweifel an dem Teil der display-These angebracht, der behauptet, die Teilnehmer zeigten mit und durch ihre Beiträge zugleich und gleichermaßen dem professionellen Analytiker auf, wie sie die vorangegangene Äußerung verstanden haben. Denn weder sind Gespräche oder ihre Transkripte “ selbsterklärend ” , was jedoch “ viele Konversationsanalytiker und Ethnomethodologen ” behaupten (Deppermann 1999: 50), noch läßt sich die zurückhaltendere Annahme Deppermanns (1999: 50) wirklich verteidigen, wenn Gespräche sorgfältig protokolliert würden, stünden die Aufzeigeleistungen den Gesprächsanalytikern in der gleichen Weise wie den Teilnehmern für die Interpretation der Gesprächsereignisse zur Verfügung. Denn die deutende Übernahme der Sprecherperspektive ( “ members ’ perspective ” ) setzt stets adäquates Situations- und Sachwissen voraus, 7 das aber in aller Regel weder im üblichen konversationsanalytischen Transkript enthalten ist noch eigens in ethnographischen Vorarbeiten gewonnen worden wäre. Zur Veranschaulichung erinnere man sich nur an die bekannte Untersuchung von Goodwin (1979) zum Zustandekommen des Satzes “ I gave, I gave up smoking cigarettes l-uh one-one week ago today, acshilly ” , für die Informationen über relevante Beziehungen zwischen den Gesprächsteilnehmern und über deren einschlägige Wissensbestände von ganz zentraler Bedeutung waren. Bei allem Verständnis für die skeptische Haltung der Konversationsanalytiker gegenüber der Verwendung von Kontextwissen (vgl. Deppermann 2014: 24) - gerade weil die Audioaufzeichnung nur einen Aspekt eines sozialen Geschehens “ registrierend konserviert ” und das Transkript sich der Aufzeichnung gegenüber stets nur selektiv verhalten kann, bedarf es - auch zur Stützung der Sequenzanalyse - in vielen Fällen einer ethnographischen Orientierung der Konversationsanalyse (vgl. dazu Grimshaw 1990: 308; Schmitz 1998; Deppermann 2000; 2010: 650; 2014: 44). Die klassische ethnomethodologische Konversationsanalyse glaubt also in ihrem ausschließlichen Interesse an der Organisation der Abfolge sprachlicher Handlungen auf alle Informationen verzichten zu können, die über ihre Audioaufzeichnungen und deren vergleichsweise einfachen Verbaltranskripte hinausgehen würden. Dabei ist es nicht so, daß sie nur das sprachliche Geschehen als Untersuchungsgegenstand zuließe, alles 5 Für eine Übersicht dazu mit zahlreichen Literaturverweisen vgl. Schmitz (2014: 146 f.). 6 Man beachte nur die Emotionalität, mit der Schegloff (2000: 47, Fn. 1) auf die Infragestellung dieser Regel reagiert hat: “ If not one-at-a-time, is it ALL-at-a-time? Some other limited number? Or are there no constraints or describable practices at all, as apparently claimed by Reisman (1974: 113 - 14)? ” 7 Wozu nicht selten auch eine gute Kenntnis der Interaktionsgeschichte der Kommunikationsteilnehmer gehört. 264 H. Walter Schmitz Nonverbale dabei schlicht übersähe oder gar ausdrücklich ausschlösse, sondern sie begreift conversation als ein reines Redeaustauschsystem und hält die jeweilige Organisation der Redebeiträge als sprachliche Handlungen aus sich heraus und aus den Details des rein sprachlichen Interaktionsgeschehens für hinreichend verstehbar und erklärbar. Die schon recht früh einsetzende Kritik an Aufzeichnungsverfahren und Transkription trifft allerdings zugleich das konversationsanalytische Verständnis der sprachlichen Handlung und den darauf zugeschnittenen Begriff der conversation, indem sie auf den Vorwurf hinausläuft, conversations insgesamt oder bestimmte Aspekte ihrer internen Organisation seien ohne Berücksichtigung von Blicken, Körperbewegungen, prosodischen oder paralinguistischen Phänomenen, und damit auch ohne Berücksichtigung der Hörerbeiträge zur Regulation und Gestaltung der Interaktion, konversationsanalytisch keineswegs hinreichend zu klären. 8 3 Sequenzanalyse und talk in interaction In “ Opening up Closings ” zeigen sich Schegloff und Sacks (1973: 323, Fn. 20) recht unberührt von dem Einwand eines Lesers des Manuskripts, sie seien wohl der Meinung, Gesprächsbeendigungen könnten alleine durch sprachliche Mittel und ganz ohne Beteiligung von “ non-verbal accompaniments ” vollzogen werden: Informal observation does not suggest that they [non-verbal phenomena] are incompatible with our analysis. Still, it should be pointed out that ‘ purely verbal means ’ DO work for at least one class of conversations, i. e., those on the telephone. Furthermore, they work fully or partially in others, though not necessarily in all others. [ … ] Clearly, our analysis does not deal with all possible cases; but its relevance should not be over-restricted. Die Autoren lassen erkennen, daß sie nicht nur, dem Einwand zum Trotz, auf der Gültigkeit des anhand von Telefongesprächen ermittelten Verfahrens zur Organisation von Gesprächsbeendigungen bestehen, sondern eine diesen empirischen Bereich weit überschreitende (allgemeine? ) Geltung dafür erwarten oder sogar beanspruchen. 9 Die Organisation der Produktion der Redebeiträge ist und bleibt für Sacks und Schegloff primär und leitend, das nonverbale Bewegungsverhalten sekundär und darauf bezogen. Daß es in der Folge dann doch zu gelegentlicher Beschäftigung mit nonverbalem Verhalten in der sozialen Interaktion kam, ging zunächst auf das durch die Begegnung mit Charles und Marjorie Goodwin und ihrem Videomaterial sozialer Interaktionen bei Harvey Sacks ausgelöste Interesse an Videoanalysen zurück. Ebenso bedeutsam dürfte aber auch Schegloffs allmähliche Lösung von dem engen conversation-Begriff gewesen sein, der in verschiedenen Publikationen 10 eine wachsende Bereitschaft zeigt, die Relevanz des Non- 8 Hierzu und für eine Übersicht über einschlägige Quellen vgl. Schmitz (2014: 142 f.). Vgl. auch die Warnung Ericksons (2004: 202 f.): “ When we look by comparison at what has come to be mainstream work in discourse analysis, it is fair to say that the analysis of talk has tended to be ‘ linguocentric ’ in ways which, in the long run, may prove to be misleading even for those whose primary research interest is in speech phenomena rather than in nonverbal aspects of communication. ” 9 Man darf hier wohl an eine Parallele zum Universalitätsanspruch des Turn-Taking-Systems für conversation ( “ in any conversation ” ) denken (vgl. dazu Schmitz 2014). 10 Man betrachte dazu den Weg von Schegloff (1995: 35) über Schegloff (2000: 8 ff.) bis hin zu Schegloff (2006: 90, Anm. 1). Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse 265 verbalen in der Kommunikation programmatisch anzuerkennen und schließlich umfassend seinem talk in interaction-Begriff zu subsumieren: It should go without saying (although the contemporary use of the term multimodal interaction suggests otherwise) that “ talk in interaction ” should be understood as “ talk and other conduct in interaction, ” that is, as including posture, gesture, facial expression, ongoing other activities with which the talk may be cotemporal and potentially coordinated, and any other features of the setting by which the talk may be informed and on which it may draw (Schegloff 2006: 90, Anm. 1). Wie schon in der ersten, gemeinsam mit Harvey Sacks durchgeführten Studie zu Aspekten nonverbalen Verhaltens in talk in interaction aus dem Jahr 1975 (vgl. Sacks/ Schegloff 2002: 136) nimmt Schegloff auch in zwei späteren Untersuchungen (1984; 1998) grundsätzlich an, daß körperliches Verhalten in der Interaktion sequentiell organisiert ist, daß aber ein Teil dieser sequentiellen Organisation daher rührt, daß es bezüglich der Rede geordnet ist, die ihrerseits sequentiell organisiert ist. Vor diesem Hintergrund geht es Schegloff wie Sacks a) um die Identifizierung von Klassen beobachtbarer Körperbewegungen, für die sich eine interne formale sequentielle Organisation nachweisen läßt; b) um die Details möglicher Beziehungen solcher intern organisierter Körperbewegungen zur sequentiellen talk-Organisation. In Beobachtungen anhand von Videoaufzeichnungen glauben sie genau identifizierbare Bewegungseinheiten mit zweifelsfrei angebbarem Anfang und Ende gefunden zu haben: A very large number of moves and sequences of moves in interaction end where they begin. That is, they end in the same place and regularly in the same position, which we are calling “ home position. ” The moves depart from home and return to home (Sacks/ Schegloff 2002: 137). Sogleich wird eine Analogie zur sequentiellen Organisation von talk-Segmenten hergestellt, in der schließlich auch der Anfang und das Ende bedeutende Stellen seien, der Beginn häufig auf das Ende bezogen und das Ende oft etwas vom Anfang wiederaufnehme. Ebenfalls parallel, nun zur Turn-Taking-Systematik (für conversation), werden größte Einfachheit des Organisationsformats, Systematizität der Organisation und der Hervorbringung sowie Formalität der Operation ( “ home ” als beliebiges Objekt) konstatiert (2002: 137). Und da man dieses Organisationsformat nicht nur bei Gesten feststellen kann, die angeblich an die Sprecherrolle und damit wie diese organisatorisch an das Turn-Taking- System gebunden sind, sondern ebenfalls an einer Vielzahl von körperlichen Bewegungen der unterschiedlichsten Art, glauben die Autoren, es mit einem Organisationsverfahren breitester Anwendung zu tun zu haben, das man selbst schon in ethnographischen Filmen entdeckt habe (2002: 141 - 144). 11 Doch lassen sich so einfach Anfang und Ende und dann Sequenzen von Bewegungen bestimmen? Warum sollte “ home ” in einem Einzelfall nicht auch Durchgangsstadium einer größeren Bewegungseinheit oder gar selbst eine Einheit sein? Adam Kendon spricht statt von “ home ” von “ rest position ” , 12 und das ist nicht nur eine vorsichtigere, offenere Bezeichnung, sondern läßt auch erkennbar, daß es sich dabei um eine für eine bestimmte Zeit gehaltene Position handeln kann, die dauert, und nicht einfach ein punktueller Anfang oder ein Ende in einem Zeitpunkt sein muß. 11 Hier liegt die Parallele zum Universalitätsanspruch für das Turn-Taking-System für conversation nahe. 12 Vgl. “ Note added by Adam Kendon ” in Sacks/ Schegloff (2002: 145). 266 H. Walter Schmitz Deutlicher wird das Problem der Bestimmung und genauen Begrenzung einer Bewegungseinheit vielleicht an Schegloffs Studie zu “ Body Torque ” , worunter er “ divergent orientations of the body sectors above and below the neck and waist, respectively ” (1998: 536) versteht. Innerhalb seines Versuchs, die als Ergebnis einer Bewegung, einer Körperdrehung, eingenommene Körperhaltung, die er einen “ body torque ” nennen möchte, möglichst genau zu bestimmen, heißt es schließlich: It seems clear that not all such divergent orientations should be understood as torque; for example, a twenty-degree deflection of the head or face from “ straight ahead ” position may not be understood usefully in this way. But at some point, a swivelling or twisting of the upper trunk relative to the planted position of the legs (or of the buttocks, if sitting), or a sharply craned neck or angled face relative to the trunk and shoulders, can constitute - can be taken by interactional coparticipants as an instance of - body torque (Schegloff 1998: 541; Hervorh. H. W. S.). Ob also schon eine Körperdrehung der Art vorliegt, die eine Beteiligung an mehreren Handlungen und eine Rangordnung der Beteiligung an diesen Handlungen anzuzeigen vermag, oder noch nicht, hängt letztlich von den Deutungen durch die Interaktanten ab. Neben dem Problem der Bestimmung und Abgrenzung von Einheiten nonverbalen Verhaltens oder Handelns bleibt als zweites zentrales Problem das der Beziehung zwischen nonverbalen Einheiten und sprachlichen Äußerungen. Es sei am Beispiel der Gestik der Kommunikationsteilnehmer erläutert. Bei Sacks/ Schegloff (2002: 141; zuerst: 1975) hatte es noch geheißen: [ … ] the domain “ gesture ” is a speaker ’ s domain. Speakers gesture, non-speakers don ’ t gesture. They do lots of other things, but they don ’ t gesture. Einige Jahre später engt Schegloff (1984: 271) diese Behauptung ein und formuliert vorsichtiger: Hand gesturing is largely, if not entirely, a speaker ’ s phenomenon. [ … ] hand movements by current nonspeakers are not, and are not seen to be, gestures. Von dieser, vor allem in ihrem zweiten Teil durchaus noch überraschenden Regel gibt es nach Schegloff (1984: 271) drei Arten von Ausnahmen: 1. Der gegenwärtige Nichtsprecher, der eine Handgeste initiiert, zeigt damit an, daß er beabsichtigt oder beginnt, Sprecher zu sein; seine Geste wird eingesetzt als ein Zug im Bemühen um den nächsten Redeturn. 2. Gesten können anstelle von Rede eingesetzt werden, wenn z. B., während andere miteinander sprechen, ein gegenwärtiger Nichtsprecher etwas mitzuteilen versucht, ohne die anderen zu unterbrechen. Der gestikulierende ‘ Nichtsprecher ’ ist dann dennoch “ a sort of covert speaker ” . 3. Wenn der gegenwärtige Sprecher unterbrochen wird und der Unterbrechung nachgibt, dann hält er nun als Nichtsprecher manchmal die gerade in Ausführung begriffene Geste an, um anzuzeigen, daß sein Turn noch nicht beendet ist und nach der Unterbrechung wiederaufgenommen werden soll. Wie sich schon in dieser Liste der Ausnahmen von der behaupteten Regel andeutet, betrachtet Schegloff allein die Beziehung zwischen der Ausführung sog. ikonischer Handgesten und der Äußerung der sprachlichen Einheiten, mit denen sie semantisch verbunden sind, indem nämlich diese meist präpositionierten Gesten einen Aspekt des Inhalts der zugehörigen Äußerungen zum Ausdruck bringen. Präpositioniert eröffnen sie einen sog. “ Projektionsraum ” (Schegloff 1984: 267 ff.), der im Prinzip nicht nur den Inhalt Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse 267 der folgenden Äußerung, sondern auch die als nächste folgende Aktivität, etwa die Übernahme des Rederechts, erwartbar oder gar vorhersehbar werden läßt (vgl. auch Müller 1998: 74). Ob und wie die Interaktionspartner damit umgehen, bleibt allerdings unthematisiert. Es geht also allein - und das zeigen auch die spärlichen Transkriptstücke - um die Analyse der redeinternen sequentiellen Organisation von gestischen und sprachlichen Anteilen ohne weitere Berücksichtigung eventueller interaktiver Aspekte. Dasselbe gilt für die Analyse von body torque, über die es heißt: [ … ], my own concerns focus not only on how the talk shapes the disposition of the bodies, but also on how the disposition of the bodies and the deployment of their parts in posture can serve to shape the course of the talk itself (Schegloff 1998: 538). Der Vorrang der sprachlichen Äußerung vor den nonverbalen Phänomenen, die eben nur “ talk-accompanying behavior ” darstellen, wird nirgendwo in Zweifel gezogen; ein eigenständiger Handlungscharakter des Nonverbalen wird nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen. Weit über die analysierten Handgesten hinausgreifend auf das nonverbale Geschehen insgesamt heißt es schließlich sogar: A great deal of the talk in interaction arrives on a prepared scene. [ … ] Posture, gesture, facial expression, preceding talk, voice quality, and the like all till the soil into which the words are dropped (Schegloff 1984: 291). Und unter Bezugnahme auf Adam Kendons Gestenforschung hält Schegloff (1984: 295) die Unterschiede zwischen ihren Grundpositionen so fest: Our interpretation of these findings is different - Kendon finding in them grounds for a claim of some sort of priority, precedence, anteriority, or more fundamental status for body behavior as compared to speech. I treat the production of the talk as organizationally more fundamental, the body behavior being generally temporally and sequentially organized with respect to it, and not the other way around. In Schegloffs konversationsanalytischen Studien finden wir zwar ein Interesse an und eine gewisse analytische Berücksichtigung einiger nonverbaler Phänomene in der Interaktion, doch im Unterschied zu jüngeren Ansätzen in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zählen für ihn als methodologisch zu berücksichtigende Konstitutionseigenschaften der Interaktion (vgl. Deppermann 2014: 24) Sequenzialität, Interaktivität und Methodizität des Handelns, nicht aber “ multimodale Konstitution ” . 13 4 Sequenzanalyse und Multimodalität Die einschneidendste Veränderung in der weiterhin fast ausschließlich empiriegetriebenen Forschung und Entwicklung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse ist der im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte von vielen vollzogene Wechsel des Untersuchungsgegenstands: von talk in interaction mit Sprache als alleiniger oder zumindest dominanter Kommunikations- und Handlungsressource hin zu multimodaler Interaktion, in der sich das Handeln Ressourcen verschiedener Modalität bedient. Als hier zu unterscheidende Ressourcen werden nach klassischem Muster genannt (vgl. z. B. Deppermann 2018: 58): 13 Das ist im Grunde schon der weiter oben zitierten Definition von “ talk in interaction ” (vgl. Schegloff 2006: 90, Anm. 1) zu entnehmen. 268 H. Walter Schmitz Vokalität (schließt Sprache, Prosodie und Parasprache ein), Gestik, Blick(en), Mimik, Körperhaltung, Handhabung von Objekten und Bewegung im Raum. Daneben gibt es allerdings auch noch Versuche (vgl. Loenhoff/ Schmitz 2015: 17), Multimodalität der Kommunikation etwa mittels solcher auf einzelne Sinne bezogener Termini zu fassen und zu begreifen wie “ Channel [lexico-syntactic channel, prosodic channel] ” (Stivers/ Sidnell 2005: 3), “ Ausdrucksebene [Stimme, Gestik, Blick, Körperhaltung etc.] ” (Schmitt 2005: 19, 21), “ Ausdrucksmodus ” (Deppermann/ Schmitt 2007: 23 - 27, 49) oder “ vocal/ aural ” versus “ visuospatial modality ” (Stivers/ Sidnell 2005: 2 ff.). Erstaunlich an dieser wesentlichen Veränderung in der Konversationsanalyse ist allerdings, daß einige Autoren die ‘ Entdeckung ’ der Multimodalität ebenso wie die neu erkannte Notwendigkeit ihrer Erforschung und Berücksichtigung auf die breite Verfügbarkeit und zunehmende Verwendung von Videoaufzeichnungen und -analysen interpersonaler Kommunikation zurückführen (vgl. Schmitt 2005: 18, 21, 23; Stivers/ Sidnell 2005: 16, n. 1; Deppermann/ Schmitt 2007: 15, 16; Stukenbrock 2009: 151). 14 Dementsprechend wird die frühere, ausschließlich auf das sprachliche Geschehen gerichtete Konzentration der Konversationsanalyse allein als Folge der damaligen “ technischen Bedingungen ” gedeutet: Die technischen Bedingungen (Restriktion auf die auditiven Informationen, das Hörbare) führten dabei zu einer - zwar nicht theoretisch motivierten, aber doch analysefaktisch folgenreichen - Priorisierung des Gesprochenen gegenüber anderen interaktionsrelevanten Formen körperlichen Ausdrucks (Schmitt 2005: 21; ähnlich Deppermann/ Schmitt 2007: 29). Die Einführung und Verfügbarkeit von Videokameras entsprach jedoch nicht der Erfindung des Fernrohrs oder des Mikroskops, die es erlaubte, nun erstmalig Dinge zu sehen, von denen man zuvor nichts hatte wissen oder auch nur erahnen können. Was in Videoaufzeichnungen sichtbar wurde, war auch vorher schon in gröberem Korn sichtbar und bekannt gewesen, von manchen sogar gefilmt und beschrieben worden. Und von “ Multimodalität ” der (kommunikativen) Interaktion war schon seit Mitte der 1950er Jahre die Rede. Die vielmehr entscheidende Bedingung für die Veränderung des Untersuchungsgegenstands der Konversationsanalyse war - um mit Charles Goodwin zu sprechen - das Bestreiten der hergebrachten “ professional vision ” durch Änderung der auf das Untersuchungsgebiet anzuwendenden Praktiken “ coding ” , “ highlighting ” und “ producing and articulating material representations ” (vgl. Goodwin 1994: 606). Das läßt sich geradezu exemplarisch an der Studie von Goodwin (1979) vorführen, die in der Literatur am häufigsten als Beginn der videogestützten Analyse multimodaler Interaktion genannt wird (vgl. Schmitz 2020: 110): Gail Jefferson wandte auf die von Goodwin verwendete Videoaufzeichnung das von ihr entwickelte und in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse bis dahin allgemein akzeptierte Transkriptionssystem an; das Resultat war ein Transkript bekannter Art und Form des Satzes: “ I gave, I gave up smoking cigarettes l-uh 14 Dies ändert sich erst mit einer Publikation von Mondada (2008), die der videogestützten Berücksichtigung von “ various multimodal resources ” in der Konversationsanalyse eine bis auf das Jahr 1970 zurückgehende Geschichte zu verschaffen sucht mit programmatischen und methodologischen Wurzeln in der Ethnomethodologie und mit Vorläufern im “ The Natural History of an Interview ” -Projekt Mitte der 1950er Jahre (vgl. dazu Loenhoff/ Schmitz 2015: 12, Fußn. 12). Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse 269 one-one week ago today, acshilly. ” Goodwin aber bestritt die empirische Adäquatheit dieses Transkriptionssystems, indem er es ergänzte durch die Kategorien “ gaze ” (Anblicken), “ mutual gaze ” oder “ eye contact ” (gegenseitiges Anblicken, Blickkontakt), “ Zuwenden ” und “ Abwenden ” sowie durch Transkriptionssymbole für diese Kategorien. 15 Dies erlaubte es Goodwin, zwang ihn sogar, anderes zu sehen und zu zeigen, als bis dahin in der Gruppe der ethnomethodologischen Konversationsanalytiker qua Festlegung auf Jeffersons Transkriptionssystem als sehenswert galt, gesehen (oder gehört) werden konnte und durfte. Nicht nur Blicke von Sprechern und Hörern (Nichtsprechern), sondern vor allem auch (einige) simultan verlaufende Handlungen und Ereignisse. Simultaneität aber kam in der klassischen Konversationsanalyse lediglich als Überlappung von Sprecherbeiträgen in Betracht, weswegen man tatsächlich vorkommende simultane Geschehnisse als Ausnahmen bzw. “ Unfälle ” ansah, in denen das Prinzip “ one speaker at a time ” (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974: 700) verletzt würde. Von nun an war die Gleichzeitigkeit von sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen mehrerer Beteiligter in der Vis-à-vis-Kommunikation nicht mehr zur Ausnahme zu erklären und mit dem Begriff des “ overlap ” nicht mehr hinreichend zu erfassen (vgl. auch Deppermann 2018: 62). Damit wurde aber auch die Frage unabweisbar, wie sich das zentrale Verfahren der Sequenzanalyse vereinbaren läßt mit den vielfältigen Formen von eventuell vorkommender und dann beobachtbarer personaler und vor allem interpersonaler Simultaneität und Asynchronie, ohne die aus methodischen Gründen hochgehaltene Annahme der Gleichberechtigung aller Modalitäten aufzugeben. Die Sequenzanalyse setzt nach ursprünglichem Verständnis den Turn und den Sprecherwechsel, also den folgenden Turn, voraus, in dem der zweite Sprecher den Interaktionsbeteiligten seine Interpretation der im vorangegangenen Turn vollzogenen Handlung aufzeigt. Wenn nun aber in der Vis-à-vis-Kommunikation der Turn selbst schon ganz oder teilweise interaktiv konstruiert wird (werden kann), weil Sprecher möglicherweise die Reaktionen der anderen Kommunikationsteilnehmer während ihres Turns beobachten, als Erwiderungen oder Zwischenantworten deuten und in der weiteren Konstruktion ihres Turns schon berücksichtigen, wie soll da eine Sequenzanalyse noch als sinnvolles Prüfverfahren durchgeführt werden können? 16 Soweit es die empirisch schlecht bestimmbaren Grenzen nichtsprachlicher Handlungen von Kommunikationspartnern während des Vollzugs eines Turns erlauben, lassen sie sich vielleicht, soweit ihre gegenseitige Wahrnehmung auch gegeben ist, als “ mikrosequenzielle, interaktive Responsivität ” (Deppermann 2018: 62) innerhalb des Turns betrachten und analysieren (vgl. Goodwin 2018). Dabei blieben dann zwar Interaktivität und Sequentialität im Kern berücksichtigt, aber das an die Abfolge von Turns gekoppelte Verständnis von Sequenzanalyse würde durch etwas anderes ersetzt. 15 Es darf nicht übersehen werden, daß auch Goodwins erweitertes Transkriptionssystem stark selektiv blieb, z. B. bezüglich Situation und Tätigkeiten der zum gemeinsamen Essen am Tisch versammelten sechs Personen, in die das von ihm untersuchte Geschehen eingebettet war. Vor allem gibt er auch keine Gründe für seine Auswahl an. - So wird allerdings in der multimodalen Konversationsanalyse sehr häufig verfahren. 16 Vgl. auch Goodwins (2018: 49 f., 135 f.) Kritik an der u. a. von Levinson (2012) und Stivers/ Rossano (2010) hochgehaltenen traditionellen Auffassung, “ action ascription ” sei “ the assignment of an action to a turn as revealed by response of the next speaker ” (Levinson 2012: 104). 270 H. Walter Schmitz Nun sind neben solchen Fällen von Simultaneität aber auch länger andauerndes gleichzeitiges Sprechen, simultane turnübergreifende oder intermittierende nichtsprachliche Handlungen beobachtet worden und natürlich auch Gesten oder andere nichtsprachliche Handlungen, die ebenso wie Sprache oder anstelle ( ‘ in Vertretung ’ ) von sprachlichen Äußerungen als “ Gast ” (Sacks) 17 im Turn auftreten. Was folgt daraus für die Durchführung von Sequenzanalysen? Und wie verhält es sich z. B. mit dem schon prominenten Fall, den Goodwin (2018: 83) in seiner Analyse so beschreibt? In a number of different ways Candy and Chil inhabit the position of speaker simultaneously, but from structurally different positions. Chil is the epistemic authority for the proposition at issue, something displayed in part through the confident, judging position of his body. Candy, on the other hand, uses her voice and language abilities to author and animate for Chil ’ s evaluation a candidate version of what this proposition might be. Solange die sog. multimodalen Analysen sprachzentriert bleiben und, wie schon Charles Goodwin es ihnen von Anfang an vorgemacht hat, lediglich mal diese mal jene nichtsprachliche Aktivität mit in den Blick nehmen, statt die programmatische Gleichberechtigung aller je nach den gegebenen Wahrnehmungsbedingungen potentiell relevanten Modalitäten ernst zu nehmen und in der Analyse zu berücksichtigen, 18 wird die methodische und begriffliche Neuorientierung der Konversationsanalyse angesichts ihres neuen Untersuchungsgegenstandes nicht zu einem vorläufigen Abschluß gelangen können. Und weil sie und ihre Entwicklung ausschließlich empiriegetrieben sind, mangelt es einerseits an offener Diskussion und Verständigung über die Folgen des Wandels in der Konversationsanalyse - z. B. für Stellenwert und Handhabung der Sequenzanalyse. Und andererseits muß sie weiterhin damit rechnen, in Analysen multimodaler Interaktionen zu Ergebnissen zu gelangen, die etablierte Annahmen z. B. über Turn-Taking (vgl. Schmitz 1998: 42 - 44; Schmitt 2005) oder über Reparaturen (vgl. Bohle 2007) in Frage stellen; sie sind schließlich aus Analysen eines anderen Untersuchungsgegenstandes hervorgegangen. Es wird aber auch unabhängig von dieser Erfahrung viel strenger zu differenzieren sein zwischen den Kommunikations- und Interaktionsformen, und zwar nach Maßgabe ihrer je spezifischen konstitutiven Wahrnehmungsbedingungen, die ihrerseits unterschiedlichen kulturellen Ordnungen (z. B. Seh-, Hör-, Steh- oder Sitzordnungen) mit je speziellen Konsequenzen für Möglichkeiten und Präferenzen der Gestaltung des Kommunikationsgeschehens unterworfen sein können (vgl. Loenhoff 2001: 225 - 254). Vor einem solchen, dann auch empirisch breiteren Hintergrund kann und muß das Verhältnis von Sequentialität und Simultaneität in der (kommunikativen) Interaktion schließlich neu durchdacht werden, um in diesem Zusammenhang auch die Anwendungsbereiche und die Durchführungsbedingungen von Sequenzanalysen neu zu bestimmen. 17 Vgl. dazu die Bemerkung bei Bergmann (1981: 33). 18 Einige Vorschläge scheinen mir tatsächlich dazu zu tendieren, die Annahme der Gleichberechtigung aller Modalitäten aufzugeben und in den nichtsprachlichen “ Ausdrucksmodi ” lediglich koordinative Leistungen, in den verbalen dagegen Handlungen realisiert zu sehen (vgl. z. B. Deppermann/ Schmitt 2007: 22 f., 49; Deppermann/ Schmitt/ Mondada 2010: 1716; Deppermann 2013: 3; Mortensen 2012: 5). Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse 271 Literatur Bergmann, Jörg R. (1981): Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.), Dialogforschung. 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From a discourselinguistic perspective, the paper discusses the diversity-related fan discourse in its interconnection of analogue and digital communication and shows that diversity in football is discursively contested and thereby also politically charged. Keywords: Football, fan communication, diversity, masculinity, homophobia Zusammenfassung: Thema des Beitrags sind Diskurse über geschlechts- und sexualitätsbezogene Diversität in aktuellen Fußballfanszenen. Diese sind einerseits durch archaische Männlichkeitsnormen geprägt, die sich etwa in sexistischen und homophoben Beschimpfungspraktiken in den Stadien ebenso wie in den Sozialen Medien niederschlagen. Andererseits sind gerade in der digitalen Begleit- und Anschlusskommunikation auch gezielt antidiskriminatorische Positionierungen und Diskursinterventionen zu beobachten. Der Beitrag diskutiert aus diskurslinguistischer Perspektive den diversitätsbezogenen Fandiskurs in seiner Verschränkung von analoger und digitaler Kommunikation und zeigt, dass Diversität im Fußball diskursiv umkämpft ist und dabei auch politisch aufgeladen wird. Schlüsselbegriffe: Fußball, Fankommunikation, Diversität, Männlichkeit, Homophobie 1 Einleitung Thema des vorliegenden Beitrags sind Diskurse über Diversität in aktuellen Fußballfanszenen mit einem besonderen Fokus auf geschlechts- und sexualitätsbezogene Diversität. Dass der Fußball im Allgemeinen und Fußballfans im Besonderen ein lohnenswerter Gegenstand der Gender Studies sind, ist in der Forschung schon oft gezeigt worden 1 Der Beitrag ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung von: Meier-Vieracker, Simon (2022): Zwischen Gay Pride und archaischer Männlichkeit. Linguistische Perspektiven auf Diversität unter Fußballfans. In: Jahrbuch des Russischen Germanistenverbandes 19, S. 246 - 262. https: / / doi.org/ 10.47388/ 2782-2605/ lunn2022-19-246- 262. (Kreisky/ Spitaler 2006; Meuser 2008; Degele 2013). Linguistisch anschlussfähig sind diese Forschungsarbeiten, da sie den kommunikativen Performanzen und diskursiven Aushandlungen etwa von Geschlechternormen im Fußball besondere Aufmerksamkeit widmen, die auf ihre sprachlichen und multimodalen Charakteristika und das hier zum Einsatz kommende Zeichenrepertoire befragt werden können. Wie sehr gerade in jüngerer Zeit das Thema Diversität den Fußballdiskurs prägt, konnte man während der Fußball-Europameisterschaft im Sommer 2021 beobachten. Am Christopher Street Day am 10. Juli 2021 erstrahlte die Allianz Arena, Heimstadion des international erfolgreichen Clubs FC Bayern München, für einige Stunden in Regenbogenfarben, dem internationalen Erkennungszeichen der Queer Community. Damit, so hieß es in einer Pressemitteilung des Vereins, wolle man “ ein weltweit sichtbares Zeichen für Toleranz sowie gegen Homophobie und Diskriminierung jeder Art ” setzen und zeigen, dass man “ für Weltoffenheit und Vielfalt ” stehe. 2 Solche spektakulären, auf Visibilität und Symbolpolitik beruhenden Aktionen führt der Verein zwar seit vielen Jahren durch, doch in diesem Jahr waren die Voraussetzungen andere. Denn nur wenige Tage zuvor hätte das Stadion auf Antrag des Münchner Stadtrates auch beim Europameisterschaftsspiel Deutschland gegen Ungarn so beleuchtet werden sollen, doch der europäische Fußballverband UEFA hatte dies untersagt. Hintergrund war ein wenige Tage zuvor in Ungarn verabschiedetes, als LGBTQfeindlich eingestuftes Zensurgesetz. Mit dem Argument, dass die Regenbogenfarbenbeleuchtung als politische Protestaktion gegen Ungarn hätte wahrgenommen werden können, die UEFA aber “ aufgrund ihrer Statuten eine politisch und religiös neutrale Organisation ” 3 sei, wurde die Aktion abgesagt. Während die ungarische Regierung dies wohlwollend zur Kenntnis nahm, zeigten sich viele öffentliche Akteur: innen und Institutionen in Deutschland solidarisch, so dass deutschlandweit andere Fußballstadien und weitere öffentliche Gebäude in Regenbogenfarben angestrahlt wurden. Auch verschiedene Wirtschaftsunternehmen präsentierten ihre Logos in den Sozialen Netzwerken in Regenbogenfarben. Diese Verquickung wirtschaftlicher Interessen mit politischer Symbolik, also eine öffentlichkeitswirksame Solidarisierung mit der LGBTQ-Bewegung zu PR-Zwecken, war insgesamt ein prägendes Merkmal der Bildpolitiken rund um die Europameisterschaft. Zahlreiche Sponsoren hatten ihre Bandenwerbungen in den Stadien in Regenbogenfarben präsentiert und im Finale wurde sogar der Ball von einem ferngesteuerten Regenbogenspielzeugauto ins Stadion gefahren. Dass ausgerechnet der Fußball im öffentlichen Diskurs um Homosexualität, Vielfalt und Toleranz eine Art Leuchtturmposition einnahm und entsprechende Positionierungen so selbstverständlich waren, dass sie sich sogar für Werbezwecke nutzbar machen ließen, ist erwartbar und überraschend zugleich. Im Fußball schmücken sich die Verbände und Sponsoren seit langem mit Toleranzbotschaften, und zwar besonders dann, wenn es wirtschaftlich lukrativ ist. Es wundert darum nicht, dass der Fußball das sogenannte Rainbow Washing betreibt (Paefgen-Laß 2021). Auf der anderen Seite ist der Fußball stärker 2 https: / / allianz-arena.com/ de/ news/ 2021/ 07/ regenbogen-sonderbeleuchtung-zum-christopher-street-day- 2021. 3 https: / / de.uefa.com/ insideuefa/ mediaservices/ mediareleases/ news/ 026a-129473252275-5e34333f5153-1 000- -uefa-schlagt-ausweichtermine-fur-regenbogen-illumination-im-mun/ . 276 Simon Meier-Vieracker noch als andere Bereiche der Populärkultur durch eine tief verankerte Heteronormativität geprägt, aus der oftmals Sexismus und Homophobie erwachsen (Schweer 2018). Bis heute hat sich in Deutschland kein aktiver Fußballballprofi als homosexuell geoutet, und noch immer sind homofeindliche Beschimpfungen in den Stadien allgegenwärtig. Tatsächlich zeigt sich gerade bei Fußballfans die ganze Paradoxie des Themas Diversität. Weithin geteilte, wenigstens geduldete und oft sogar gezielt geäußerte sexistische und homofeindliche Grundhaltungen treffen auf explizites antidiskriminatorisches Engagement (Dembowski/ Scheidle 2002; Endemann et al. 2015). Das lässt sich in den Stadien ebenso beobachten wie in der digitalen Anschluss- und Begleitkommunikation. Beides zusammen möchte ich im Folgenden als den Diversitätsdiskurs unter Fußballfans fassen und aus einer diskurslinguistischen Perspektive diskutieren. Dazu werde ich zunächst im Anschluss an soziologische Forschungen zeigen, wie Männlichkeitsnormen den Fußballfandiskurs prägen. Daran anschließend werde ich die Beschimpfungskultur in den Fußballstadien und den sie umgebenden Räumen in den Blick nehmen und sodann die Rolle der digitalen und Sozialen Medien als Resonanzraum diskutieren. In einem Fazit werde ich die Fäden zusammenführen und zeigen, dass Diversität im Fußball diskursiv umkämpft ist und politisch aufgeladen wird. Vorab ist noch eine Einschränkung notwendig: Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf den professionellen Männerfußball. 2 Männlichkeit als Norm Wie vor allem die soziologische Forschung zum Thema Fußball immer wieder gezeigt hat, ist der Fußball - zumindest in Europa - ein “ Männlichkeitsspiel par excellence ” (Meuser 2008). Dabei ist es nicht allein das Spiel, sondern auch die gesamte gesellschaftliche Praxis rund um den Fußball, die mit Männlichkeit assoziiert wird (Küppers 2018: 87). Bezogen auf die Sportler selbst gelten etwa körperliche Härte und Disziplin als besonders männliche und zugleich geforderte Spielweisen. So kann die eigentlich tautologische Äußerung “ Heute haben wir Männerfußball gespielt ” als (Selbst-)Lob dienen (Meier-Vieracker 2018). Aber auch das Begleitgeschehen ist auf Männlichkeitsnormen hin orientiert. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Fußballfans auf den Rängen, wo “ die Männlichkeit des Fußballs in einer gesteigerten Form geradezu zelebriert ” (Meuser 2017: 180) wird. Schon in demographischer Hinsicht ist zu konstatieren, dass Fußballfanszenen überwiegend männlich und im Übrigen auch weiß sind (Degele/ Janz 2011). Doch auch die performativen Selbstinszenierungen der Fans, die im semiotischen Raum des Stadions (Burkhardt 2009) als Zeichen gesetzt werden, reproduzieren und verstärken die männliche Dominanz. Sichtbar wird dies etwa in der körpersemiotischen Praxis, sich als Zeichen von Support mit freiem Oberkörper zu zeigen. Exzessiver Alkoholgenuss und nicht selten eine Tendenz zu physischer Gewalt sind weitere Symptome einer im Fußball üblichen und gezielt ausgelebten archaischen Hypermaskulinität, die außerhalb des Stadions kaum mehr geduldet wird (Sülzle 2005) und in ihrer Abweichung von üblichen Umgangsnormen bewusst zur Provokation eingesetzt wird. Aus linguistischer Sicht ist interessant, dass auch die - sprachliche und multimodale - Fankommunikation von Männlichkeitsnormen geprägt ist und die Fußballfansprache einer Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen 277 “ männlichen Grammatik ” (Sülzle 2005: 347) folgt, welche laufend “ die männliche Dominanz reproduziert und somit männliche Deutungsmacht erhält ” (Claus/ Gabler 2017: 381). Neben der typischen Betonung männlich gedachter Werte wie Stärke und Ehre etwa in den Selbstbeschreibungen von Ultra-Gruppierungen (Duttler/ Haigis 2016) zeigt sich dies besonders deutlich am breiten Phänomenbereich der Beschimpfungen des Gegners, der gegnerischen Fans, aber auch der Schiedsrichter: innen, der Verbände oder der Polizei. Ähnlich wie in der ebenfalls männlich dominierten HipHop-Kultur haben sich die Beschimpfungspraktiken zu einem breiten Repertoire an ritualisierten Beleidigungen (Meuser 2008: 123; Winands 2015: 226) verfestigt und formieren eine regelrechte “ Beschimpfungs- und Provokationskultur ” (Pilz et al. 2009: 85), die sich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, in besonderem Maße aus Männlichkeitsnormen speist. 3 Zur Beschimpfungskultur von Fußballfans Wie bereits Labov (1997) in seiner wegweisenden Arbeit zu rituellen Beleidigungen zeigt, erfüllen ritualisierte Beleidigungen eine wichtige gruppenidentitätsstiftende Funktion. Dies gilt einerseits für die Fußballfanszenen insgesamt, welche die Beschimpfungskultur in ihrer Devianz von bürgerlichen Umgangsnormen als Tradition pflegen, anderseits aber auch für die einzelnen Fangruppierungen in ihrer Konkurrenz zu anderen. Wie Dembowski und Gabler (2015: 15) in ihrer Analyse von Aus- und Abgrenzungshandlungen von Fußballfans formulieren: “ Die Konstruktion der eigenen Gruppe erfolgt damit über die Abgrenzung vom Gegner und geht mit einer Aufwertung der Eigen- und einer Abgrenzung einer Fremdgruppe einher. ” Insbesondere in den Fußballstadien, wo sich die Fans in Fanblöcken zusammenfinden und gemeinsam das eigene Team supporten, lässt sich das beobachten, und hier hat die fantypische Beschimpfungskultur ihren eigentlichen Ort. Dabei gibt es verschiedene Gattungen im fankulturellen Repertoire, die für Beleidigungen genutzt werden können. Neben den Fangesängen und Sprechchören (Beljutin 2015; Brunner 2007) sind hier auch Fanbanner (Burkhardt 2009) und Choreographien (Hauser 2019) zu nennen, unter denen solche mit gezielt beleidigender und provokativer Funktion häufig anzutreffen sind. Insbesondere sexistische und homophobe Beschimpfungen sind hier regelmäßig zu beobachten. Als Beispiel kann der regelmäßig von Fans von Bayer Leverkusen angestimmte Fangesang (auf die Melodie von Guantanamera) gegen den rivalisierenden und lokal unmittelbar benachbarten Club 1. FC Köln genannt werden: Hauptstadt der Schwulen, ihr seid die Hauptstadt der Schwulen. Die Kölner Fans revanchieren sich mit folgendem Gesang: Ihr steht auf Schwänze, und nicht auf Busen, ihr seid die Fans von Bayer Leverkusen. Bei dem eingangs erwähnten Europameisterschaftsspiel Deutschland gegen Ungarn war aus dem Fanblock der ungarischen Fans folgender Gesang (auf die Melodie von Yellow Submarine) zu hören: Deutschland, Deutschland, homosexuell! Solche Fangesänge zielen offenbar darauf, dem Gegner - und hier vor allem den männlichen Fans - durch die Unterstellung von Homosexualität Männlichkeit abzusprechen und 278 Simon Meier-Vieracker dadurch herabzusetzen (Meuser 2017: 183), wodurch wiederum heteronormative Männlichkeitsvorstellungen reproduziert werden (Wagenknecht 2007). Neben solche Fangesänge, die gewiss aus einer kollektiven Emotionalität heraus gesungen werden, treten Spruchbänder und Fanbanner. Diese gehen auf enger begrenzte Produzentengruppen zurück und stellen im Gegensatz zu den Gesängen sorgsam geplante und koordiniert vollzogene Äußerungsakte dar. Außerdem sind sie als visuelle Zeichen zeitlich persistenter (auch wenn sie kaum je über die gesamten 90 Minuten gezeigt werden) und vor allem bildlich dokumentierbar. Dies verschafft ihnen eine potenziell größere Öffentlichkeit, und anders als über homophobe und sexistische Gesänge wird über entsprechende Spruchbänder und Banner auch eher im Anschlussdiskurs in redaktionellen und Sozialen Medien gesprochen. Einige aufsehenerregende Fälle seien hier angeführt. Fans von Dynamo Dresden präsentierten im Jahr 2018 beim Heimspiel gegen den FC St. Pauli ein Banner mit der Aufschrift: Ihr müsst heute Abend hungern, weil eure Fotzen mit euch im Block rumlungern. Hintergrund des Banners sind die zahlenstarken weiblichen Ultragruppierungen des Kontrahenten St. Pauli. Es wird also indirekt zu verstehen gegeben, dass Frauen, die hier kollektiv durch das Schimpfwort Fotze herabgesetzt werden, im Stadion fehl am Platz seien und stattdessen ihrer eigentlichen Aufgabe, die Männer mit Essen zu versorgen, nachkommen sollen. Meuser (2017: 184) beschreibt diese Form von Sexismus treffend als “ Platzanweisung ” . Den Männern soll es in dieser sozialen Ordnung vorbehalten sein zu bestimmen, wer legitimerweise Zugang zu den Stadien haben soll und wer nicht. Ein anderer Fall war ein Banner, das Fans des VfB Stuttgart beim Auswärtsspiel gegen den FC St. Pauli zeigten: Geizige Schwaben ficken eure Mütter zu fairen Preisen. Das Banner zielt zum einen auf den Stereotyp des geizigen Schwaben. Zum anderen bemüht es den - in vielen europäischen Kulturen verbreiteten - Mutterfluch, der die Mütter und auch die Söhne in ihrer Ehre angreift. Letztere werden nicht nur als Abkömmlinge sexuell ehrenloser Frauen, sondern auch als Schwächlinge attackiert, welche die sexuelle Unversehrtheit der eigenen Familie nicht zu schützen vermögen; eine Beleidigung also, die einen männlichen Ehrenkodex voraussetzt. Auch homophobe Plakate finden sich regelmäßig. Hier seien zwei Fälle von Fans von Borussia Dortmund berichtet. Während eines Lokalderbys gegen den verfeindeten Club FC Schalke 04 im Jahr 2019 wurde folgendes Banner gezeigt: Rock ’ n ’ roll Schalke? Ihr Schwuchteln singt zu Kay One! Der zugeschriebene Selbstanspruch auf Rock ’ n ’ Roll, offenbar eine Chiffre für eine gewisse Härte und Nonkonformität, wird zurückgewiesen durch eine Assoziierung mit dem populären Rapper Kay One und eine kollektive Adressierung als “ Schwuchtel ” . Bereits einige Jahre zuvor waren in einem Spiel gegen Werder Bremen, das für seine aktive antidiskriminatorische Fanszene bekannt ist, gleich zwei homophobe Banner gezeigt worden: Lieber ’ ne Gruppe in der Kritik als Lutschertum und Homofick Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen 279 Hier finden wir eine - inzwischen auch in rechtsextremen Kreisen beobachtbare (Meier- Vieracker 2021a: 74 f.) - metadiskursive Figur, dass die eigenen Tabubrüche, die auf öffentliche Kritik stoßen, verteidigt und der Verzicht auf Provokationen als Verweichlichung dargestellt werden (Krøvel 2016); und zwar eine Verweichlichung, die hier direkt mit Homosexualität, codiert durch homosexuelle Praktiken, assoziiert wird. Das zweite homophobe Banner, das während desselben Spiels gezeigt wurde, trug die folgende Aufschrift: Gutmensch, Schwuchtel, Alerta-Aktivist, wir haben dir mit 20 vs. 100 gezeigt, was Fußball ist! Der Buchstabe w im Wort Schwuchtel wurde mit dem Wappen des Clubs Werder Bremen dargestellt. Das Banner spielte auf einen gewalttätigen Angriff von 20 Dortmund-Fans gegen überzählige Bremen-Fans auf einer Autobahnraststätte an. Die Schmach der Niederlage in der Auseinandersetzung soll also mit einer “ symbolischen bzw. sprachlichen Entmännlichung ” (Claus/ Gabler 2017: 382) noch gesteigert werden. Die homophobe Beschimpfung verbindet sich hier zudem ganz offen mit rechten Positionierungen. Der Ausdruck Alerta-Aktivist spielt auf die Antifa-Parole Alerta, Alerta, Antifascista! an, und in Übernahme des bekannten rechten Stigmawortes Gutmensch wird die antidiskriminatorische Haltung nicht nur zurückgewiesen, sondern auch als unmännlich gerahmt. Die Phrase zeigen, was Fußball ist verweist zudem deutlich auf die Aus- und Abgrenzungshandlungen der für das Banner verantwortlichen Fans, die die Zugänglichkeit der sozialen Domäne Fußball limitieren und an rigide Geschlechternormen, und zwar vor allem an archaische, mit Gewalt und Härte assoziierte Männlichkeitsnormen, zu koppeln versuchen. In jüngster Zeit ist die tradierte Homofeindlichkeit in den Stadien auch um offene Queer- und Transfeindlichkeit ergänzt worden. So zeigten Fans von Hansa Rostock bei einem Spiel gegen den FC St. Pauli, der wie Werder Bremen für das antidiskriminatorische Engagement seiner Fans bekannt ist, ein Banner mit der Aufschrift: Euer Gender-Scheiß interessiert in Wolgast keine Sau! Hier gibt es nur Jungs, Mädchen, Mann und Frau! Scheiß St. Pauli Flankiert wurde das Banner durch ein weiteres mit der Aufschrift “ Lichtenhagen ” mit einer Sonnenblume, eine Anspielung auf die rassistisch motivierten Brandanschläge auf das Wohnheim vietnamischer Vertragsarbeiter im sogenannten Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992. Der Fall zeigt, wie sich sexistische und queerfeindliche Beschimpfungen mit anderen Diskriminierungsformen verbinden und sogar mit rechtsextremen Haltungen einhergehen können. Aber nicht nur die Stadien selbst, sondern auch die sie direkt umgebenden Räume werden von Fußballfans als Arenen der Beschimpfung genutzt. In der Nähe des Dresdner Rudolf- Harbig-Stadions, Heimstätte der SG Dynamo Dresden, findet sich in einer Unterführung, durch die anreisende Fans gehen müssen, ein großflächiger, gegen den Lokalrivalen Erzgebirge Aue gerichteter Wandsticker (s. Abb. 1). Die verbale Beschimpfung des gegnerischen Clubs und seiner Fans als “ Hurensöhne ” wird begleitet durch die Darstellung eines Bergtrolls, die der Harry-Potter-Filmreihe entnommen ist. Bergtrolle gelten als besonders dumm und niederträchtig. Statt der eigentlichen Keule hält der auf dem Wandsticker abgebildete Bergtroll jedoch einen Dildo in der Hand, was als Unterstellung von Homosexualität zu deuten ist. Die Zuschreibung vermeintlicher sexueller Perversion 280 Simon Meier-Vieracker wird als Abwertungsressource genutzt, die ebenfalls als Versuch symbolischer Entmännlichung beschrieben werden kann (Meier-Vieracker 2023: 183 f.). Abb. 1: Wandsticker in Dresden (Foto: Simon Meier-Vieracker) Fußballstadien und die sie umgebenden Räume, das zeigen diese Beispiele, sind zum einen Sonderorte (Sülzle 2011), an denen gewissermaßen eigene Gesetze und eigene Angemessenheitsvorstellungen herrschen und mithin Kommunikationsweisen geduldet sind, die im öffentlichen Leben normalerweise sanktioniert würden (Brunner 2007: 43). Zugleich partizipieren jedoch die Formensprachen und Motive der dort üblichen Beschimpfungen an den Pejorisierungsressourcen der die Stadien umgebenden Gesellschaft (Schwenzer 2002), die hier gleichsam zugespitzt wirksam werden. Als Pejorisierungen sollen dabei mit Lann Hornscheidt (2011) Abwertungshandlungen verstanden werden, die auf gesellschaftliche Normalvorstellungen und Machtpositionen verweisen und alles von der vermeintlichen Normalität Abweichende als weniger achtungswürdig erscheinen lassen. Für die Domäne des Fußballs ist das Konzept der Pejorisierung auch deshalb so einschlägig, weil es eine wichtige Unterscheidung zwischen Beleidigungen und Diskriminierungen erlaubt. Die direkten und intendierten Adressat: innen der Banner und Gesänge, die gegnerischen Fans, sind mehrheitlich heterosexuelle Männer, die mit der Unterstellung der Homosexualität provoziert werden sollen. Zugleich werden damit aber Homosexuelle als Gruppe pauschal herabgesetzt und diskriminiert, auch wenn sie nicht direkt adressiert werden (Stefanowitsch 2015). Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen 281 Gerade die sexistischen und homophoben Beschimpfungen sitzen also auf archaischen Männlichkeitsnormen auf, die sie damit auch reproduzieren. Sexismus und Homophobie sind mithin funktionale Äquivalente (Degele/ Janz 2011: 23). Indem das Absprechen von Männlichkeit als Abwertungsressource fungiert, wird diese Form dominanter Männlichkeit als hegemonialer Maßstab für Zugehörigkeit zur Fankultur etabliert, was all diejenigen ausgrenzt, die dieser Norm nicht genügen. 4 Soziale Medien als Resonanzraum In den bisherigen Ausführungen stand die Präsenzkommunikation in den Stadien im Fokus. In Zeiten digitaler Medien greift die Fankommunikation allerdings viel weiter aus und wird auch in den sozialen Netzwerken ausgetragen (Meier-Vieracker 2021b). Ein interessantes Format sind etwa Livetweets (Meier 2019; Michel 2018), also Tweets, die typischerweise im Sinne des Social TV bzw. des Second Screen während der Liveübertragung der Spiele und als Begleitkommunikation zum Medienkonsum verfasst werden. In den Livetweets, die meist hochemotional ausfallen, sind Beschimpfungen häufig zu beobachten, die ähnlich wie in den Stadien oft sexistisch und homophob grundiert sind. Typisch ist die Beschimpfung des Schiedsrichters als “ Schwuchtel ” , und aus diesem Topos lässt sich, wie im folgenden Beispiel, eine ganze fiktive Szenerie ableiten, die spielerklärend sein soll. Habt ihr die kleine Schiri-Schwuchtel da mit der gesamten Mannschaft durchgefickt vor dem Spiel oder wieso pfeift der so einen einseitigen Scheiß zusammen? (Twitter, 2019-02-18, 21: 23) Der bekannte Vorwurf der Parteilichkeit seitens des Schiedsrichters und der Schiedsrichterbeeinflussung wird hier an angebliche homosexuelle Praktiken gekoppelt, die den Schiedsrichter seines Urteilsvermögens beraubt haben sollen. Auch rassistische Beschimpfungen, die auf Bannern oder in Gesängen in Stadien nur noch selten vorkommen, sind in Livetweets regelmäßig zu beobachten: Was ein räudiger Affe dieser Amiri … niemals eine zweite gelbe Karte gegen Reus,führt diesen bekloppten Videobeweis ein-bin es leid! #TSGBVB (Twitter, 2016-12-16, 21: 13) Im folgenden Beleg wird schließlich in Zuspitzung der Rede von Männerfußball die mangelnde Leistungsbereitschaft kurzerhand als Unmännlichkeit gerahmt: Was für eine schwanzlose und eierlose Truppe ihr seid @FCBayern … Stolz, Ehre und Malochen kennt ihr nicht. #BVBFCB (Twitter, 2016-11-16, 23: 13) Die auch sonst virulente Vorstellung einer spezifisch männlichen Ehre greift auch hier und präsupponiert damit, dass Frauen prinzipiell des Fußballspiels nicht mächtig sein können. So sehr jedoch die Sozialen Medien für diskriminierende Beschimpfungen genutzt werden, so darf darüber nicht aus dem Blick geraten, dass eben hier auch kritische Diskurse über den Alltagssexismus in Fanszenen zu beobachten sind. Soziale Medien sind, metaphorisch gesprochen, nicht nur Tatort, sondern auch Dokumentationszentren und forensische Labore verbaler Gewalt. So werden etwa Fälle von Homophobie auf Twitter dokumentiert und angeprangert: 282 Simon Meier-Vieracker Meldet euren Verein ab @ FSV Pivitsheide. Sprüche wie Schiri du Schwuchtel Steh auf du Hurensohn brauch man nicht und sind auf ’ s schärfste zu verurteilen. Unterirdischer Verein. (Twitter, 2019-11-22, 22: 18) Auch die oben thematisierten sexistischen und homophoben Banner, die über bildliche Dokumentierungen den Weg in die sozialen Netzwerke finden, stießen hier auf Kritik, und in zahlreichen Fanblogs wie etwa schwatzgelb.de waren empörte Stellungnahmen zu lesen, in denen die Banner z. B. als Ausdruck “ [m]issverstandene[r] Männlichkeit ” 4 kritisiert wurden. Solche Belege zeigen, dass in den digitalen Medien das eigentlich flüchtige Geschehen in den Stadien dokumentiert und konserviert wird und so reflexive Bezugspunkte für kritische Anschlusskommunikation bereitstellt (Greschke 2020). Waren im vordigitalen Zeitalter die Stadien tatsächlich Sonderorte, sind die Grenzen der Fankommunikation im Stadion hin zum öffentlichen Diskurs längst durchlässiger geworden. Die Zugänglichkeiten und damit die Möglichkeiten kritischer Observation haben sich erhöht, so wie sich umgekehrt die Publika der Fankommunikation entgrenzt haben. Und gerade diversitätsbezogene Diskriminierungshandlungen stoßen in der digitalen Anschlusskommunikation oft auf vehementen Widerspruch (Winands 2015). Die Sozialen Medien haben ihrer nicht zu leugnenden Begünstigung von Hasskommunikation zum Trotz also auch eine wichtige diskurskritische Funktion, durch die begünstigt sich in den vergangenen Jahren vermehrt diversere Positionen und Akteursgruppen im Fußball Gehör verschaffen konnten. Tatsächlich hat etwa die Zahl der schwullesbischen Fanclubs in den letzten Jahren stetig zugenommen (Degele/ Janz 2011). Aber auch andere wichtige Akteursgruppen wie etwa die einflussreiche Ultra-Gruppierung des FC Bayern München, die Schickeria, positioniert sich ausdrücklich antisexistisch und antihomophob. Auf ihrer Homepage begründen sie dies ausführlich und mit reflektierten metasprachlichen Ausführungen, die sich unmittelbar an die sprachwissenschaftlichen Argumente etwa von Lann Hornscheidt (2011) anschließen lassen: Die umgangssprachliche Bezeichnung für Homosexuelle als Schimpfwort zu benutzen, wenn man jemanden niedermachen mag, ist aber gerade für diejenigen, die homosexuell sind (was ihr gutes Recht ist! ), schlichtweg äußerst verletzend. Und damit werden diese Beleidigungen, die sich zwar nicht direkt gegen sie richten, ihre sexuelle Orientierung aber zu etwas Negativem machen, mit dem man jemanden beleidigen kann, zu einem Baustein eines Klimas, das feindselig gegenüber homosexuellen Menschen ist. 5 Auch hat sich in der Schickeria mit den sogenannten Chicas eine ausdrücklich als solche benannte weibliche Subgruppierung institutionalisiert, die den eigentlich abwertenden Ausdruck Chicas in einer Art Reclaiming (Galinsky et al. 2003) positiv umdeutet. Solche im Netz dokumentierten diskursiven Positionierungen werden dann auch wieder in die Stadien zurückgetragen, wo gerade die Ultras häufig mit antidiskriminatorischen Aktionen in Erscheinung treten. So zeigte etwa die Münchner Ultra-Gruppierung Colegio im Januar 2019 während des Spiels gegen den VFb Stuttgart folgendes Banner: 4 https: / / www.schwatzgelb.de/ artikel/ 2019/ unsa-senf/ falsch-verstandene-maennlichkeit-homofeindlichesspruchband-auf-der-suedtribuene. 5 https: / / schickeria-muenchen.org/ pico/ fanpolitik/ ultras_gegen_rassismus/ gegen_sexismus_und_homophobie. Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen 283 Jeder liebt wen er will und der Rest bleibt still. Fight Homophobia! Damit, so ließ die Gruppe im begleitenden Instagram-Post verlauten, sollte ein Zeichen gegen den “ im Fußball vorherrschende[n] Drang zur ‘ Männlichkeit ’ und Heteronormativität ” 6 gesetzt werden. Auch das oben geschilderte queer- und transfeindliche Banner der Rostock-Fans bot in der Folge Anlass für antidiskriminatorische Aktionen in den Stadien. Fans von Fortuna Düsseldorf zeigten bei einem Spiel gegen Rostock folgendes Banner: Wir begrüßen alle Rostocker*innen Durch die demonstrativ genderinklusive Anrede mit dem symbolträchtigen und sozialsemiotisch aufgeladenen Genderstern positionieren sich die Fans nicht nur für die Anerkennung non-binärer Personen, sondern schreiben auch den adressierten Rostockern genau jene Genderfluidität zu, die diese zuvor angeprangert hatten. Der Fall zeigt also, dass auch antidiskriminatorische Statements ihrerseits zur Provokation eingesetzt werden können. 5 Fazit und Ausblick: Der diskursive Kampf um Diversität In gegenwärtigen Fanszenen, so lassen sich die Ausführungen in den vorangegangenen Abschnitten zusammenfassen, ist eine auf die Dimensionen Geschlecht und Sexualität bezogene Diversität ein diskursiv umkämpftes Feld. Während auf der einen Seite homophobe und sexistische Beschimpfungen als Teil des Spiels geduldet und legitimiert werden, sind auf der anderen Seite vermehrt kritische Stimmen zu hören, die sich gegen eben diese Diskriminierungsformen in der eigenen Fankultur wehren und dadurch auch die eigene fankulturelle Praxis gezielt politisch aufladen. Vor diesem Hintergrund seien abschließend noch einmal die (immer auch marketinggetriebenen) Solidarisierungen mit der LGBTQ-Bewegung während der Europameisterschaft im Jahr 2021 und vor allem die Fanreaktionen in den Blick genommen. Denn gerade im digitalen Diskurs ließen sich hier ambivalente Haltungen und einander widerstreitende Positionierungen beobachten. Auf Twitter wurde scherzhaft darauf hingewiesen, dass mit der Türkei, Russland, Ungarn und Polen ausgerechnet jene Mannschaften, deren Länder durch eine homosexuellenfeindliche Politik aufgefallen waren, als Gruppenletzte nach der Vorrunde ausgeschieden waren. Dazu wurde eine entsprechend markierte Übersicht der Tabellenstände wie folgt kommentiert: Manchmal kriegen Leute das, was sie verdienen #EM2021 #EM2020 #pride #football #fussball (Twitter, 2021-06-24, 10: 19) Erst der Hashtag #pride stellt hier also die Verbindung zum Thema Homosexualität her, verleiht dem multimodalen Kommunikat seine Kohärenz und lässt sich mithin als antihomophobe Positionierung lesen. Auch die starke Präsenz von Regenbogenflaggen, welche die sonst für internationale Turniere üblichen Landesflaggen nahezu verdrängte und den Fußball insgesamt in den Hintergrund rückte, wurde auf Twitter durchaus begrüßt: 6 https: / / www.instagram.com/ p/ BtLeoXFgjQ8/ . 284 Simon Meier-Vieracker Regenbogen-Flaggen wurden vor dem Stadion in München verteilt. Von dem EM Fieber ist in nicht viel zu spüren. Vereinzelt sehe ich Fahnen an Autos und Häuser. Die EM gleicht hier eher einer Gay Pride! Fussball war GESTERN! (Twitter, 2021-06-26, 23: 26) Ein anderer User hingegen twitterte: Wenn ich mich an der Hand meines Mannes in einer S-Bahn mit einer Herde gröhlender Fußballfans mal genau so sicher und akzeptiert fühlen kann, wie mir Fußball-Deutschland jetzt durch demonstrative Regenbogen-Beflaggung gegen Orban suggeriert, wäre echt was gewonnen. #Pride (Twitter 2021-06-22, 17: 56) Hier kommt also eine deutliche Skepsis gegenüber der Nachhaltigkeit und Aufrichtigkeit der symbolischen Bildpolitiken rund um das Turnier zum Ausdruck, die letztlich nicht darüber hinwegtäuschen können, dass unter gewöhnlichen Fußballfans Homosexuelle nach wie vor um Akzeptanz kämpfen müssen. Die “ Beflaggung gegen Orban ” (Hervorhebung SMV), so könnte man dies explizieren, ist eben noch kein hinreichender Einsatz für die Sicherheit und Akzeptanz von Homosexuellen in einem heteronormativ geprägten Feld. Schließlich waren auch ausdrücklich kritisch-delegitimierende Stimmen gegenüber den antidiskriminatorischen Aktionen zu vernehmen. Johann Martel, ein Politiker der rechtspopulistischen Partei AfD, twitterte: Wenn du nach einem 2: 2-Unentschieden Gewinner wegen der Achtelfinalteilnahme, gleichzeitig aber wegen der Prioritätsverlagerung von Fußball auf #pride ein Verlierer bist, dann bist du die deutsche Schaft (ohne “ National ” und ohne “ Mann ” ). #GERHUN #HUNGER #EURO2020 #Pride2021 (Twitter, @martel_afd, 2021-06-23, 23: 58) Die symbolischen Solidaritätsbekundungen mit der LGBTQ-Bewegung werden hier als ‘ Prioritätsverlagerung ’ delegitimiert, welche den Fußball sowohl der Männlichkeit als auch der nationalen Dimension beraube. Nationalistische Selbstaufwertung und homophobe Fremdabwertung fallen hier ineinander. Solche Vereinnahmungsversuche führen deutlich vor Augen, wie sehr der Fußball und der Fußballdiskurs als Projektionsfläche für politische Positionierungen dienen. Gerade im Diskurs um Diversität, der in Zeiten digitaler Medien in der analogen wie auch digitalen Kommunikation in potenziell entgrenzten Öffentlichkeiten ausgetragen wird, lässt sich detailliert beobachten, wie Geschlechternormen nicht nur reproduziert, sondern auch in ihrer politischen Dimension verhandelt werden. Literatur Beljutin, Roman. (2015) Fankommunikation in Russland und in Deutschland: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In Born, Joachim, & Gloning, Thomas. (eds.) Sport, Sprache, Kommunikation, Medien. Interdisziplinäre Perspektiven. Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek, 1 - 18. (Linguistische Untersuchungen; 8). Brunner, Georg. (2007) Ruhrpottkanaken - Fangesänge im Fußballstadion. Der Deutschunterricht, 5, 32 - 43. Burkhardt, Armin. (2009) Der zwölfte Mann: Fankommunikation im Fußballstadion. In Burkhardt, Armin, & Schlobinski, Peter. (eds.) Flickflack, Foul und Tsukahara: der Sport und seine Sprache. Mannheim: Dudenverlag, 175 - 193. 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Until a judgement of the Berlin Regional Court makes legal history by convicting the speeders of murder. This requires reasoning. Court judgements are argumentative texts. Against the background of the applicable foundations of law, justice and jurisprudence, this article will take a closer look at two opposing verdicts (in Cologne and Berlin) on the comparable facts of the case, one assessed as Negligent Homicide, the other as Murder, using the linguistic and argumentation-analytical cutlery from the toolbox of Forensic Linguistics. Keywords: legal language, forensic linguistics, negligent homicide, manslaughter, murder, elements of the offence, system of norms, legal positivism, means of the offence, conditional intent (dolus eventualis), breach of duty of care, traffic offence, voluntary element Zusammenfassung: Bei illegalen Autorennen in deutschen Innenstädten kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen. Sie werden von den Gerichten i. d. R. als fahrlässige Tötung geahndet. Bis ein Urteil des Berliner Landgerichts mit einer Verurteilung der Raser wegen Mordes Rechtsgeschichte schreibt. Das bedarf der Begründung. Gerichtsurteile sind argumentative Texte. Vor dem Hintergrund der geltenden Grundlagen von Recht, Gerechtigkeit und Rechtsprechung werden in diesem Beitrag zwei gegensätzliche Urteile (in Köln und Berlin) über den vergleichbaren Tatsachverhalt, der einmal als fahrlässige Tötung, einmal als Mord bewertet wird, mit dem linguistischen und argumentationsanalytischen Besteck aus dem Instrumentenkasten der Forensischen Linguistik genauer betrachtet. Schlüsselwörter: Rechtssprache, Forensische Linguistik, Fahrlässige Tötung, Totschlag, Mord, Tatbestandsmerkmale, Normenordnung, Rechtspositivismus, Tatmittel, Bedingter Vorsatz (dolus eventualis), Sorgfaltspflichtverletzung, Verkehrsordnungswidrigkeit, Voluntatives Element 1 Zwei Urteile Zwei junge Autofahrer veranstalten in der Innenstadt von Köln ein illegales Autorennen. In einer Kurve kommt der eine ins Schleudern und kollidiert mit einer 19-jährigen Fahrradfahrerin, die wenig später ihren Verletzungen erliegt. Es kommt zum Prozess vor dem Kölner Landgericht, beide Männer werden zu einer Freiheitsstrafe (am 14.04.2016) verurteilt, der eine zu zwei Jahren, der andere zu einem Jahr und neun Monaten. Für beide wird die Strafe aber zur Bewährung ausgesetzt. Eine junge Frau stirbt, die Täter gehen nach Hause. Frage: Ist das gerecht? Das Presse-Echo auf das Urteil war kontrovers, aber überwiegend kritisch. Abb. 1: Fahrzeug des Unfallopfers in Berlin (Spiegel 36 v. 04.09.2021: 72) Ein prima facie ganz ähnlicher Fall im Jahr darauf in Berlin. Wieder liefern sich zwei junge Männer ein illegales Straßenrennen durch die Innenstadt Berlins. Sie überfahren diverse rote Ampeln und einer der beiden rammt dann mit Tempo ca. 170 kmh das Auto eines Rentners, der bei für ihn grüner Ampel auf die Kreuzung rollt. Das Auto wird durch den Aufprall 70 m durch die Luft geschleudert, der Fahrer stirbt noch an der Unfallstelle. Die Richter am Berliner Landgericht verurteilen die beiden Angeklagten (am 27.02.2017) wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Ein Präzedenzfall, der Rechtsgeschichte schreibt und in Juristenkreisen die Frage auslöst: Ist das Recht? Das Urteil wird unter Strafrechtsexperten kontrovers diskutiert (cf. z. B. Kubiciel 2017; Müller 2017; Puppe 2017). Es ging durch alle Instanzen; der Bundesgerichtshof (BGH) hatte die Urteile gegen die beiden Raser zunächst aufgehoben, aber wieder lautete das Urteil in Berlin auf zweimal lebenslänglich wegen Mordes. In der dritten Instanz erkannte das Gericht in dem einen Fall schließlich auf versuchten Mord und verhängte 13 Jahre Haft. Die Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 289 Revision dagegen scheitert. Das Urteil (Az. 2 BvR 1402/ 20) ist inzwischen rechtskräftig. Die Verfassungsbeschwerde des Hauptangeklagten scheitert im Dezember 2022 (2 BvR 1404/ 20) vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. 1 Abb. 2: Fahrzeug des Rasers in Berlin (Spiegel 36 v. 04.09.2021: 75) 2 Recht vs. Gerechtigkeit Gerichtsurteile wie die beiden zitierten sind zu Teilen immer auch argumentative Texte. Die Richter begründen, warum ihre Entscheidung ausfiel, wie sie ausfiel - und das tun sie mit Sprache. Deshalb wollen wir die beiden Urteile mit dem linguistischen und argumentationsanalytischen Besteck aus dem Instrumentenkasten der Forensischen Linguistik und Rechtssemiotik genauer anschauen, um die Denk- und Redeweise von Juristen besser zu verstehen, d. h. hier: warum die Berliner Richter von der gängigen Praxis in solchen Fällen (in denen in aller Regel auf “ fahrlässige Tötung ” erkannt wird) abwichen und wie sie in ihrer Präzendenzentscheidung den Tatbestand des Mordes begründen, welche Anzeichen für das eine oder andere Urteil sprechen, welche Argumente sie für den ‘ bedingten Vorsatz ’ 1 Nach dem altrömischen Rechtsgrundsatz “ Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigatur ” (Corpus Iuris Civilis Dig. 50, 16, 195) und im Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung (s. BVG-Personenstandsurteil 1 BvR 2019/ 16 v. 10.10.2017 gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und BGH-Personenbezeichnungsurteil VI ZR 143/ 17 v. 13.03.2018) sowie den Empfehlungen des Deutschen Rechtschreibrates (v. 26.03.2021, 14.07.2023 et passim), benutze ich im Ausgang vom klassischen Epikoinon ( γένος ἐπίκοινον / génos epíkoinon, “ vermengtes Geschlecht ” ) für Personenbezeichnungen, wenn sie die Gattung betreffen, aus logischen, grammatischen, semantischen, stilistischen, semiotischen, pädagogischen (DaF), ökonomischen, juristischen, medizinischen (Braille) und queersensiblen Gründen das inklusiv-neutrale genus commune und vermeide damit eine heteronormativ-binäre Sexualisierung des Sprachgebrauchs (cf. Meineke 2023); substantivierte Partizipialkonstruktionen (Einwohnende, Bestattende, Rad Fahrende) vermeide ich, weil sie als Tätigkeitsbeschreibung eine andere semantische Funktion haben als die gruppen- oder statusbezogene Bezeichnung (cf. Glück 2020). 290 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle vorbringen, der notwendiges Tatbestandsmerkmal eines Mordes ist. Als Vergleichsgrundlage dient das Kölner Urteil, bei dem die Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurden. Zuvor aber kurz zu den Grundlagen von Recht, Gerechtigkeit und Rechtsprechung. In Rechtsstaaten wird Recht als “ eine Normenordnung verstanden, die auf hoheitlicher Setzung beruht und sozial wirksam ist, weil sie (jedenfalls potentiell) mit Zwangsgewalt durchgesetzt werden kann ” (O STERKAMP 2003: 10). Das Recht regelt also auf einer normativen Grundlage das Zusammenleben der Bürger eines Landes; es bietet in Paragraphen und Absätzen abstrakte Normen, die auf eine Vielzahl von konkreten Konflikten Anwendung finden; es wahrt die Interessen der Bürger und definiert seine Rechte und Pflichten - gegenüber einander und gegenüber dem Staat. Wir unterscheiden also in einem ersten Schritt drei wesentliche Merkmale des Rechts: a) Normenordnung durch legislative Setzung; b) ihre soziale Wirksamkeit durch das staatliche Gewaltmonopol; c) essentielle Akzeptanz von a und b durch die Gesellschaft. Dieser Ausgangspunkt findet im sog. ‘ Rechtspositivismus ’ seine reinste Ausprägung. Er steht für eine “ Beschränkung auf ein hierarchisch vernunftmäßig zu gewinnendes System von rein juristischen positiven Begriffen, welche von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und allen anderen nichtjuristischen Elementen gelöst sind ” (Schmidt 2014: 11). Das gesetzte, positive Recht wird hier also als unabhängig von Elementen beschrieben, die außerhalb der juristischen Wissenschaft liegen. Das bezieht sich in seiner reinen Form auch auf Fragen der Moral und Gerechtigkeit (ibid.). Dem Rechtspositivismus gegenüber steht das Naturrecht, in dem das gesetzte Recht z. T. aus moralischen Grundsätzen abgeleitet wird (ibid.). Das in den meisten Ländern Europas geltende Recht beruht auf Mischformen der beiden normativen Rechtsordnungen, die auf ordnungsgemäße Gesetztheit, soziale Wirksamkeit und inhaltliche Richtigkeit des Rechts bauen: Recht kann, erstens, gelten, weil es durch Verfahren in Geltung gesetzt wurde, die allgemeine Anerkennung finden. Charakteristischerweise gibt es hier eine hohe kulturelle Vielfalt und historische Wandelbarkeit. Oder, zweitens, Recht kann gelten, weil es ähnlich wie Konventionen, Sitten, Bräuche und Gewohnheiten befolgt wird, weil sich die soziale Praxis nach ihm richtet, wie immer es auch in Kraft getreten sein mag und ungeachtet des Inhalts. Drittens kann die Geltung des Rechts durch seine Übereinstimmung mit gewünschten oder angestrebten Inhalten und Zielsetzungen - wie etwa Gerechtigkeit - gewährleistet sein, dann rücken Verfahren und Anerkennungsprozesse in den Hintergrund (ibid.: 13). Das Recht gilt, weil eine große Mehrheit der Bürger es anerkennt, es in der Gesellschaft gewachsen ist oder weil es intersubjektiv gewünschten Zielsetzungen wie Gerechtigkeit nachgeht. Forderte der Rechtspositivismus noch, Recht unabhängig von Gerechtigkeit zu betrachten, wird sie heute als ein zentrales Element für die Legitimierung des Rechts betrachtet, sei es durch das gerechte Zustandekommen bestimmter Rechtsvorschriften oder der Gerechtigkeit, die durch das Recht umgesetzt wird. Gerechtigkeit ist in diesem Sinne der “ Maßstab für die ethisch-moralische Richtigkeit individuellen Handelns und sozialer Institutionen. Ihr wesentliches Merkmal ist die Unparteilichkeit ” (Osterkamp 2003: 10). Wir halten also in einem zweiten Schritt fest: die zentralen Wesenszüge der Gerechtigkeit sind Gleichbehandlung, Unparteilichkeit und Berücksichtigung individueller Anrechte: Gerechtigkeit beschreibt einen Idealzustand, der sich durch drei Merkmale auszeichnet: Personen werden unter den gleichen Umständen auf die gleiche Weise behandelt (Gleichbehandlung). Die Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 291 Zu- und Verteilung von Gütern und Lasten wird so vorgenommen, dass sie für alle Beteiligten von einem unparteiischen Standpunkt aus akzeptabel ist (Unparteilichkeit). Jede Person wird so behandelt, wie sie es verdient, das heißt, jede Person kann Anrechte geltend machen und diese Anrechte werden auch berücksichtigt (Berücksichtigung individueller Anrechte) (Liebig 2010: 11). Recht gilt somit als Werkzeug zur Umsetzung von Gerechtigkeit. Nicht immer kommt jedoch beides zur Deckung. Poeten von Kleist über Kafka bis Dürrenmatt und v. Schirach haben aus diesem Spannungsverhältnis den Stoff für manche ihrer Dramen und Romane bezogen. Im Rechtspositivismus gehörte die Beschäftigung mit der Gerechtigkeit in den Aufgabenbereich von Philosophen, Ökonomen, Theologen und Politikern, während Juristen nur verhandeln, was aktuell gesetztes Recht ist (Osterkamp 2003: 10 f.). Für den Nichtjuristen mag die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit zugänglicher sein als die mit dem Recht, um das uns nun geht. 3 Rechtliche Grundlagen 3.1 Rechtsauslegung In Deutschland baut das Rechtssystem auf schriftlich kodifiziertes Recht. Die Legislative verabschiedet Gesetze, die für alle Bürger gelten. Die Gesetze regeln dabei keine Einzelfälle, sondern Normen ihrer Regelung, die in je konditionale Strukturen aufzulösen sind, d. h. sind bestimmte Tatbestandsmerkmale erfüllt, tritt eine bestimmte Rechtsfolge ein. Ein Beispiel aus der basalen Rechtsgeschäftslehre zur Illustration: (1) Ein Minderjähriger, der das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist nach Maßgabe der §§ 107 bis 113 in der Geschäftsfähigkeit beschränkt (§ 106 BGB). Das normalerweise eindeutig bestimmbare Tatbestandsmerkmal ‘ Alter ’ löst die Rechtsfolge ‘ Einschränkung der Geschäftsfähigkeit ’ aus, deren Folgen in §§ 107 - 113 BGB kodiert sind. Einer ‘ Auslegung ’ bedarf es deshalb hier i. d. R. nicht. Es gibt aber auch Normen, die eine Auslegung fordern: (2) Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern (§ 242 BGB). Den Verweis des BGB auf Generalklauseln wie Treu und Glauben und Verkehrssitte bedarf der Auslegung durch das Gericht. Weil das Rechtssystem in einer komplexen und sich stetig wandelnden Gesellschaft auf derartige Normen nicht verzichten kann, muß es dem Rechtsanwender einen solchen Spielraum zugestehen. Dieser Spielraum ergibt sich aber nicht nur bei Normen, die explizit zu einer solchen Ermessensentscheidung bzw. einer derartigen Orientierung an allgemeinen Zielvorgaben auffordern, er ergibt sich vielmehr bei jeder Norm, die in einer Weise sprachlich ‘ offen ’ ist, daß sie verschiedene Interpretationen zuläßt. Selbst wenn sich meist ein Begriffskern mehr oder weniger deutlich bestimmen läßt, so bleibt doch in aller Regel auch ein Begriffshof, der mehrere Deutungen zuläßt und daher nur durch einen Rückgriff auf (wie auch immer begründete) Wertungen Eindeutigkeit gewinnt. In diesem Sinne ist jede Rechtsordnung notwendig ‘ lückenhaft ’ , weil auch eine vermeintlich umfassende Kodifikation auf diese konkretisierende und ausfüllende Wertung des Rechtsanwenders nicht verzichten kann (Osterkamp 2003: 60 f.). Ein Gesetz dient der Subsumtion eines konkreten Sachverhalts unter eine Norm. Dazu ist zu prüfen, ob alle für die Auslösung einer bestimmten Rechtsfolge nötigen Tatbestands- 292 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle merkmale in einem konkreten Einzelfall vorliegen, diese aus der Norm zu extrahieren, die rechtlich relevanten Elemente des Sachverhalts zu definieren und schließlich qua Vergleich festzustellen, ob diese den Tatbestandsmerkmalen der Norm entsprechen (Sander & Priester 1985: 46 f.). Dieser Vergleich kann zumal im Falle von auslegungsbedürftigen Normen und Begriffen strittig sein. Zu den zentralen Methoden der Auslegung zählen heute die grammatische, historische, systematische und teleologische Auslegung. Bei der grammatischen Auslegung “ sind die Regeln der Grammatik, der allgemeine Sprachgebrauch und die besondere Fachsprache der Juristen zu berücksichtigen ” (Brox & Walker 41 2017: 34). Die Interpretation der Begriffe einer Norm kann also auf den Sprachgebrauch rekurrieren oder Legaldefinitionen unterliegen, die ihrerseits wiederum auslegungsbedürftig sein können, wie im Falle des Rechtsbegriffs “ unverzüglich ” , der (gemäß § 121 Abs. 1 Satz 1) als “ ohne schuldhaftes Zögern ” beschrieben wird. Die systematische Auslegung stellt eine Vorschrift in den Zusammenhang zu “ anderen Bestimmungen und den Standort der auszulegenden Vorschrift innerhalb eines bestimmten Abschnitts im Gesetz ” (ibid.: 35). Die historische Auslegung sucht die historische Bedeutung einer Norm zu erfassen und damit Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte und den ursprünglichen Sinn einer Norm zu ermöglichen (ibid.). Die teleologische Auslegung fragt nach der Intention des Gesetzgebers und danach, welchen Zweck er mit einer bestimmten Norm verfolgte. Kritiker dieser Methodenpluralität wittern dahinter einen argumentativen Zirkelschluss, bei dem das Ziel durch die Methoden legitimiert werden soll (Wenger 2010: 93 f.): Auslegungsmethoden bieten letztlich rhetorisch-argumentative Mittel für eine bestimmte Rechtsdurchsetzung. Der konkrete Inhalt des fraglichen Normtextes wird scheinbar durch eine der etablierten Methoden entdeckt, dabei deckt sie nur nachträglich das ihm zuvor unterschobene Normverständnis, begründet gleichsam das Vorverständnis - ein vielfach unbewusst, quasi unwillkürlich vorhandenes Vorurteil - gegenüber dem Normtext bzw. dem ihm zugrundeliegenden Fall. Auf diese Weise werden Sprachspiele geschaffen. Das Argumentarium der jeweiligen Methode dient nicht der Urteilsfindung - diese ist ein Vorurteil - , soll dies in der Begründung aber behaupten, um letzteres zu kaschieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass die richterliche Urteilsbildung gerade dann als besonders angemessen, gerecht oder akzeptabel angesehen werden könnte, wenn sie nicht nur auf das subjektive Gerechtigkeitsgefühl nur eines Gerichts, sondern auf das intersubjektive Gerechtigkeitsgefühl verschiedener Gerichte abstellt, indem sie sich beispielsweise auf die herrschende Meinung zu einem bestimmten Konflikttyp beruft (cf. Osterkamp 2003: 99 ff.). 3.2 Das Urteil als Textsorte Das Urteil bildet die “ abschließende gerichtliche Entscheidung über den im Prozess abgehandelten Streitgegenstand ” (Deutsch 2017: 105) und wird nach § 268 Abs. 3 Satz 1 StGB am Schluss einer Verhandlung verkündet, gemäß § 268 Abs. 2 Satz 2 durch Verlesung oder mündliche Zusammenfassung. Aufbau und Struktur des Urteils gliedert sich in die drei Segmente Kopf, Formel und Gründe. Der Kopf enthält allgemeine Daten: das zuständige Gericht, Aktenzeichen und Datum der Verhandlung sowie persönliche Angaben zum Angeklagten (Lucas o. J.: 1 f.). In der Formel folgt dann Schuldspruch, Normbezug der Rechtsfolgen, Kostenentscheidung (bei einer Verurteilung gemäß § 465 Abs. 1 StPO zu Lasten des Angeklagten) und die angewandten Vorschriften. Die Gründe bilden den Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 293 Hauptteil des Urteils und gliedern sich in sechs Unterpunkte: Persönliche Verhältnisse (Informationen zum bisherigen Leben des Täters und ggfs. vorhandene Vorstrafen); Feststellungen (Sachverhaltsumstände der Tat) und deren Beweiswürdigung sowie die Rechtliche Würdigung mit der Begründung, warum das Gericht die einzelnen Tatbestände, die sich aus den in Frage stehenden Normen ergeben, für erfüllt ansieht; in der Strafzumessung folgt die Festsetzung der Strafe und ihre Begründung; schließlich die Begründung der Nebenentscheidungen (z. B. Kostenentscheidung, Aussetzung zur Bewährung oder Entzug der Fahrerlaubnis o. ä.). Neben dieser rechtlich festgelegten Phasenstruktur ist der Urteilsstil und die Konvention der Verweise auf und Entlehnungen aus anderen Gerichtsurteilen (vorzugsweise einer höheren Instanz) zur Legitimation des eigenen Urteils textsortentypologisch konstitutiv (cf. Deutsch 2017: 106). 3.3 Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) Mord und Totschlag, Tötung auf Verlangen und fahrlässige Tötung sind Tötungsdelikte im engeren Sinne (Kindhäuser 6 2014: 35). ‘ Fahrlässig ’ tötet derjenige, der den Tod eines anderen verursacht oder durch Unterlassung nicht abwendet, wenn er mit der Ausübung der verkehrsüblichen Sorgfalt hätte vermieden werden können (ibid.: 39 f.): Die fahrlässige Tötung ist gemäß Paragraph 222 des Strafgesetzbuches strafbar: (3) Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§ 222 StGB). Paragraph 222 StGB besteht aus zwei Tatbestandsmerkmalen, die die Rechtsfolge “ Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe ” auslösen: a) der Angeklagte muss den Tod eines Menschen verursacht haben, b) der Tod muss durch Fahrlässigkeit verursacht worden sein. Die ‘ Fahrlässigkeit ’ ist in § 276 Abs. 2 legaldefiniert: “ fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt ” . Das entspricht den “ Verkehrsgepflogenheiten der gewissenhaften und verständigen Angehörigen des Verkehrskreises ” (G ROPP 4 2015: 522). Der Fahrlässigkeitstatbestand besteht dabei aus fünf Tatbestandsmerkmalen: “ Fahrlässig handelt, wer gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt [ … ] und dadurch ungewollt [ … ] den Sachverhaltsunwert eines Strafgesetzes verwirklicht, obwohl dies [ … ] nach allgemeiner Lebenserfahrung vorhersehbar und [ … ] vermeidbar ist ” (ibid.: 518). Die ‘ ungewollte Verwirklichung des Sachverhaltsunwerts ’ kann bewusst oder unbewusst geschehen. Wenn sich der Angeklagte nicht darüber bewusst ist, dass sein Handeln gegen eine Strafvorschrift verstößt, gilt es als unbewusst fahrlässig, wenn ihm bewusst ist, dass er gegen eine Strafvorschrift verstößt und damit eine Verletzung oder Gefährdung anderer Personen in Kauf nimmt, handelt er ‘ bewusst fahrlässig ’ (ibid.). ‘ Fahrlässiges Handeln ’ muss überdies aus der Sicht eines (fiktiven) unabhängigen Dritten ‘ vorhersehbar ’ gewesen sein. Der objektive Wahrnehmungshorizont ist dabei der eines “ gewissenhaften und verständigen Angehörigen des Verkehrskreises nach allgemeiner Lebenserfahrung ” (ebd.: 527). Schließlich muss der Tod des unbeteiligten Dritten durch die Fahrlässigkeit des Angeklagten herbeigeführt worden sein, obwohl er bei Einhaltung der allgemeinen Sorgfaltspflicht hätte vermieden werden können (cf. ibid.: 529 ff.). 294 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle 3.4 Mord (§ 211 StGB) (4) (1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (§ 211 StGB). § 211 StGB definiert hier in Abs. 1 die Rechtsfolge, in Abs. 2 die Tatbestandsmerkmale des Mordes, wobei schon die Erfüllung eines der disjunktiv aufgeführten objektiven Tatbestandsmerkmale ausreicht, um die Rechtsfolge auszulösen. Dabei unterscheidet er drei verschiedene Fallgruppen, nach denen sich eine Person, die eine andere Person tötet, als Mörder qualifiziert, nämlich a) Motiv (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, sonstige niedrige Beweggründe), b) Tatausführung (heimtückisch, grausam, gemeingefährliche Mittel), c) Zielsetzung (Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat) (Kindhäuser 6 2014: 41). Bei unserem Berliner Urteil geht es also um die zweite Gruppe der Tatausführung (Tötung durch gemeingefährliche Mittel). Ein Tötungsmittel ist ‘ gemeingefährlich ’ , wenn “ bei dessen konkretem Einsatz der Täter nicht ausschließen kann, eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben zu gefährden ” (ibid.: 51). Zentrales Merkmal ist dabei, “ dass der Täter die Wirkungsweise des Tatmittels in der konkreten Situation nicht so kontrollieren kann, dass die Gefährdung weiterer Personen ausgeschlossen ist ” (ibid.). Das hier notwendige subjektive Tatbestandsmerkmal ist, dass der Täter mit Vorsatz handelt, wobei ‘ bedingter Vorsatz ’ (dolus eventualis) genügt (ebd.: 51 f.), seine Motive sind unerheblich. Nach § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, sofern das Gesetz nicht ausdrücklich auch fahrlässiges Handeln unter Strafe stellt. Im Berliner Fall bedingt die Entscheidung des Gerichts, ob das Handeln fahrlässig oder (bedingt) vorsätzlich war, also zugleich die Unterscheidung zwischen fahrlässiger Tötung und einem vorsätzlichen Tötungsdelikt (wie Mord oder Totschlag). Die Abgrenzung der ‘ bewussten Fahrlässigkeit ’ zum ‘ bedingten Vorsatz ’ ist nicht immer trennscharf möglich. Aber von ihr hängt entscheidend das Strafmaß ab. Mit ‘ bewusster Fahrlässigkeit ’ handelt, wer im Bewusstsein des Verstoßes gegen eine Strafvorschrift die Verletzung oder Gefährdung einer anderen Person in Kauf nimmt, aber darauf hofft, dass dieser Fall nicht eintritt (cf. Gropp 4 2015: 518). Mit ‘ bedingtem Vorsatz ’ handelt, wer “ die schädigende Veränderung in der Außenwelt trotz Erkennens und Ernstnehmens der naheliegenden Möglichkeit ihres Eintritts billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit ihr abfindet ” (ibid.: 165). Von tragender Bedeutung bei der Abgrenzung sind also das sog. “ Wissenselement ” (Erkennen und Ernstnehmen) und das sog. “ voluntative Element ” (billigend in Kauf nehmen oder sich damit abfinden). Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 295 4 Argumentationsanalyse der Gerichtsurteile Nach dieser notwendigen Klärung der terminologischen Voraussetzungen interessiert uns die Frage, wie Juristen über die Beurteilung eines prima facie gleichen Sachverhalts (Tod eines unbeteiligten Dritten durch illegales Autorennen innerhalb einer Stadt) zu so krass unterschiedlichen Schlüssen kommen, die ihren Urteilen zufolge einerseits eine Bewährungsstrafe, andererseits lebenslange Haft rechtfertigen. Wir konzentrieren uns dabei zu Lasten der anderen Strukturelemente der (in 3.2 vorgestellten) Textsorte auf a) die Gründe, b) die rechtliche Würdigung und c) die Strafzumessung. 4.1 Das Kölner Urteil Die Makrostruktur des Kölner Urteils folgt den formalen Vorgaben der StPO. 2 IV. Rechtliche Würdigung 1. Angeklagter K a. Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB: Schuldspruch (Rn 193) Definition Fahrlässigkeit (Rn 194) Sorgfaltspflichtverletzung 1: verbotenes Rennen (Rn 195 - 196) Sorgfaltspflichtverletzung 2: Verlust über Fahrzeugbeherrschung (Rn 197) Kausalität (Rn 198) Objektive und subjektive Vorhersehbarkeit des Unfalls (Rn 199) Zurechenbarkeit der Schuld (Rn 200) b. Strafbarkeit wegen Gefährdung des Straßenverkehrs gem. 315c StGB (Rn 201) 2. Angeklagter J a. Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB Schuldspruch (Rn 202) Zusammenfassender Verweis auf Ausführungen zu Angeklagtem K (Rn 203) Schuldzurechnung: Abgrenzung zu Angeklagtem K (Rn 204 - 207) b. Strafbarkeit wegen Gefährdung des Straßenverkehrs gem. 315c StGB (Rn 208) Die Tatbestandsmerkmale der Fahrlässigkeit sehen die Kölner Richter im Sinne der gängigen Rechtsprechung des BGH Strafsachen durch eine objektive Pflichtverletzung, die nach Kenntnissen und Fähigkeiten des Angeklagten vermeidbar gewesen wäre, die Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Eintritt des rechtlichen Erfolges (in diesem Fall des Todes) der Geschädigten, sowie der objektiven und subjektiven Vorhersehbarkeit des rechtlichen Erfolges (in diesem Fall eines potentiellen Unfalls mit Todesfolge) als gegeben (LG Köln 2016: 30, Rn 194). Im Einzelnen: Die Verletzung der Sorgfaltspflicht sehen die Richter bei beiden Fahrern K und J in doppelter Hinsicht: a) Illegalität des innerstädtischen Autorennens, also Verstoß gegen § 29 Abs. 1 StVO (LG Köln 2016: 30 f., Rn 195; 32, Rn 203) bei beiden Fahrern (den 2 Die Nummerierung entspricht der innerhalb des Urteils und beginnt daher bei der rechtlichen Würdigung mit IV. Der Übersichtlichkeit halber sind die Randnummern (Rn) der Juris-Version des Urteils in Klammern beigefügt. Die Randnummern zeigen an, an welcher Stelle des Urteils der entsprechende Teil beginnt. 296 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle Tatsachverhalt des Rennens betrachten die Richter als erwiesen: ibid. 31, Rn 196; 32, Rn 203); b) Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, also Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO (31, Rn 197) bei K, Nichteinhaltung des Abstandsgebotes, also Verstoß gegen § 4 StVO bei J (32, Rn 203). Die Einhaltung der Regeln hätte die Folgen der Pflichtverletzungen vermieden (31, Rn 198). Damit ist das Tatbestandsmerkmal der “ objektiven, vermeidbaren Pflichtverletzung ” gegeben. Die Vorhersehbarkeit des tödlichen Ausgangs ihres Rennens sieht das Gericht für beide Angeklagte sowohl objektiv als auch subjektiv gegeben: a) beim Eintritt in die Kurve mit einer Geschwindigkeit knapp unter der Kurvengrenzgeschwindigkeit kann der Fahrer den Verlust der Kontrolle über sein Fahrzeug objektiv nicht ausschließen, womit er das Risiko eines Unfalls eingeht, der zum Tode von unbeteiligten Dritten führen kann; b) die subjektive Vorhersehbarkeit leitet das Gericht aus der Verbindung von überhöhter Geschwindigkeit und zu geringem Abstand der Fahrzeuge ab, zusätzlich gestützt auf die Einlassung des Angeklagten K, er habe Panik bekommen wegen seines Tempos und des geringen Abstands zu J, und abgesichert durch Verweis auf einschlägige Entscheidungen des BGH Strafsachen, wonach für einen Angeklagten nicht alle Folgen seines Handelns “ im Einzelnen ” , sondern nur “ im Großen und Ganzen ” vorhersehbar sein müssen (LG Köln 2016: 31, Rn 199). Deshalb sei das Tatbestandsmerkmal der objektiven und für die Angeklagten subjektiven Vorhersehbarkeit zu bejahen. Bleibt noch die Frage der Kausalität zwischen dem Tod des Opfers und dem Handeln der Angeklagten. Durch sein Tempo im Kurvenbereich nahe der Kurvengrenzgeschwindigkeit verliert K die Kontrolle über sein Auto, es gerät ins Schleudern und kollidiert mit einer Fahrradfahrerin. Damit verursacht K den Unfall unmittelbar, während J mittelbar kausal zum Unfalltod beitrage, indem er durch seine Teilnahme am Rennen K ’ s Fahrweise unmittelbar vor dem Unfall beeinflusst habe (LG Köln 2016: 32 f., Rn 204 - 206). Das Tatbestandsmerkmal der Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Eintritt des Todes der geschädigten Fahrradfahrerin sei demnach ebenfalls zu bejahen. Damit ist die Argumentation klar: für das Gericht erfüllt der Sachverhalt plausibel den Tatbestand der fahrlässigen Tötung. Es verzichtet auf eine Prüfung des ‘ bedingten Vorsatzes ’ , wohl aufgrund der Einlassung des Angeklagten K, er habe Panik bekommen, die darauf hindeutet, dass kein voluntatives Element vorlag, was für einen bedingten Vorsatz notwendig wäre. Das Verhalten der Fahrer führen die Richter auf ein hohes Maß an Leichtfertigkeit zurück, die dem jungen Alter der Angeklagten geschuldet sei (LG Köln 2016: 35, Rn 224; 37, Rn 238); für eine Fahrlässigkeit spreche zudem die spontane Natur des Rennens (Rn 235). Durch ihre ‘ Autoritätsargumentation ’ mit Verweisen auf Entscheidungen anderer Gerichte, besonders des BGH Strafsachen, legitimieren die Kölner Richter ihre eigene Rechtsprechung und sichern die eigene Position prophylaktisch gegen potentielle Gegenargumente ab. Mit ihrer verweisenden Argumentation knüpfen sie zudem an die herrschende Rechtsauffassung zur Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand der fahrlässigen Tötung an, was die allgemeine Anerkennung der Subsumtion im Besonderen und damit des Urteils im Ganzen erleichtert. Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 297 4.2 Das Berliner Urteil Nun möchten wir natürlich wissen, wie das Landgericht Berlin seine so ganz andere Entscheidung begründet, die beiden Angeklagten Hamdi H. (27) und Marvin N. (24) zu lebenslanger Haft wegen Mordes zu verurteilen. Dazu müssen wir unser Augenmerk besonders auf die Begründung der Abgrenzung von ‘ Fahrlässigkeit ’ zu ‘ bedingtem Vorsatz ’ richten, der ja ein subjektives Tatbestandsmerkmal des Mordes ist, und auf die Argumentation, wonach die Fahrer ihr Auto als ‘ gemeingefährliches Mittel ’ eingesetzt hätten. Beim Blick auf die Makrostruktur des Textes fällt schon ein doppelter Unterschied zum Kölner Text ins Auge: zum einen die Voraussetzung einer Mittäterschaft beider Fahrer (weshalb die rechtliche Würdigung nicht wie in Köln für beide Angeklagten doppelt aufgeschlüsselt wird), zum andern der deutlich höhere Argumentationsaufwand, vor allem zur Rechtfertigung der Annahme eines ‘ bedingten Vorsatzes ’ und zur Würdigung allfälliger Einwände. 3 IV Rechtliche Würdigung (Rn 192) 1 Mittäterschaft (Rn 194) 2 Handeln mit bedingtem Tötungsvorsatz (Rn 199) a Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit (Rn 201) b Fallvergleichung (Rn 207) c Gründe für die Annahme eines bedingten Vorsatzes (Rn 216) aa Täterpersönlichkeiten (Rn 218) bb Psychische Verfassung zur Tatzeit (Rn 225) cc Motivation (Rn 227) dd Umstände der Tat (Rn 229) ee Wissenselement (Rn 231) ff Voluntatives Element (Rn 233) d Einwände gegen die Annahme eines bedingten Vorsatzes (Rn 241) aa Gewählter Zeitpunkt des Rennens zu verkehrsarmer Zeit (Rn 242) bb Inkaufnahme von eigenen Verletzungen und Tod unwahrscheinlich (Rn 243) cc Gewollte Beschädigung der eigenen Fahrzeuge unwahrscheinlich (Rn 245) dd Übergeneralisierung des Urteils (Rn 246) ee Spontanität des Rennens (Rn 247) ff Nachtatverhalten (Rn 248) 3 Mord (Rn 252) a Begründung der Annahme eines gemeingefährlichen Mittels (Rn 254) Im Unterschied zum ‘ bewusst fahrlässig ’ Handelnden, der auf den Nichteintritt der schädlichen Folgen seines Handelns hofft, nimmt sie der ‘ mit bedingtem Vorsatz ’ Handelnde billigend in Kauf. Die Prüfung des voluntativen Elements bezieht Persönlichkeit und psychische Verfassung des Täters, Motivation und Tatumstände ein (LG Berlin 2017: 33 f., Rn 202). Dazu verweisen die Berliner Richter auf nicht weniger als acht Urteile, drei Beschlüsse und zusätzliche Kommentarliteratur. Dieser Legitimationsaufwand illus- 3 Die hier gewählte Nummerierung ist zur besseren Vergleichbarkeit an die des Urteils des Landgerichts Köln angepasst, die dem strafrechtlichen Urteilsstandard entspricht. Sie stimmt nicht überein mit der nicht stringent durchgeführten Nummerierung des Landgerichts Berlin. 298 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle triert, wie kontrovers diese Abgrenzung diskutiert wird. Zudem erachten sie unter Verweis auf ein BGH-Urteil die angenommene Gleichgültigkeit gegenüber dem nicht erstrebten Tod des Opfers als ausreichend (ebd.: 34, Rn 203; ebd.: 35, Rn 205), da “ an die für die Feststellung eines zumindest bedingten Tötungsvorsatzes erforderliche Überzeugungsbildung des Tatrichters keine überspannten Anforderungen zu stellen ” seien (ebd.: 34, Rn 203). Vielmehr sei nur fahrlässiges Handeln bei so hohen Geschwindigkeiten unwahrscheinlich (ebd., Rn 204), denn wenn eine genügend anschauliche Todesgefahr bei einer Handlung vorliege, genüge das für die Annahme des voluntativen Elements des bedingten Vorsatzes (ebd.: 35, Rn 205). Zur Absicherung dieser Voraussetzungen wird auf eine Fülle von Rechtsquellen verwiesen, die das Fundament für die weitere Argumentation bilden. Darin grenzen die Berliner Richter den eigenen Fall von vier anderen Fällen ab, bei denen (wie in Köln) auf fahrlässige Tötung entschieden wurde, und erklären sie aufgrund von Täterpersönlichkeit, Umständen und Geschwindigkeit für nicht vergleichbar mit dem vorliegenden Fall (LG Berlin 2017: 36, Rn 213). Damit knüpfen sie von vornherein ein argumentatives Sicherheitsnetz gegen potentielle Einwände, da sie bei einem Mordurteil Kontroversen erwarten und den Eindruck von Ausgewogenheit vermitteln wollen. Zur Begründung des ‘ bedingten Vorsatzes ’ gehen die Berliner Richter ausführlich auf Persönlichkeit und Vorwissen der Täter und die Tatumstände ein. Sie zeichnen ein differenziertes Bild der beiden 24bzw. 27-jährigen wiederholt straffälligen Männer, die regelmäßig gegen Straßenverkehrsordnung und Verkehrsvorschriften des Strafgesetzbuches verstießen. Beim Angeklagten H erwähnen sie 16 Verkehrsordnungswidrigkeiten innerhalb von zwei Jahren, Geschwindigkeitsübertretungen von bis zu 48 km/ h, Geldbußen, ein Fahrverbot, Nötigung und vier Vorstrafen, darunter zwei wegen Verkehrsdelikten. Das verkehrspsychologische Gutachten attestiert H überdies eine stark narzisstische Tendenz zur Selbstüberhöhung und generelle Ungeeignetheit zum Führen von Fahrzeugen (LG Berlin 2017: 37 f., Rn 220 - 221). Beim Angeklagten N zählen sie 21 Verkehrsordnungswidrigkeiten in zwei Jahren, darunter drei Geschwindigkeitsübertretungen, sie zitieren Zeugenaussagen, wonach er sich seine Selbstbestätigung über sein Auto hole und resümieren ein Zeugenvideo, in dem der Angeklagte über - u. a. mit der Aussage “ wir ficken die Straße ” - seinen Straßen-Lifestyle spricht (38, Rn 222 - 224). Damit ist der behauptete ‘ bedingte Vorsatz ’ zwar noch nicht bewiesen, aber nach dem unterstellten Rechtsempfinden emotional nahegelegt. Der Vorsatz ist für den konkreten Fall nicht zwingend aus Vorstrafen und Persönlichkeitsattributen abzuleiten, die für das Strafmaß, aber nicht für die Art des Delikts selbst bestimmend sein mögen. Insoweit erscheint die Argumentation für die These vom Vorsatz noch eher schwach. Auch die Tatumstände sprächen nach Auffassung der Richter gegen bloße Fahrlässigkeit, denn beide Fahrer hätten nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen, sondern bei klarem Bewusstsein gehandelt (LG Berlin 2017: 38, Rn 226), um ihr Ego zu bestätigen und ihre Freunde zu beeindrucken (ebd.: 39, Rn 228). Das Opfer habe angesichts der innerstädtischen Rennstrecke (Kurfürstendamm), der Geschwindigkeit (160/ 170 kmh), der Nichtachtung roter Ampeln und gegebenen Sichtbedingungen “ nicht den Hauch einer Überlebenschance ” gehabt (ebd.: 39, Rn 230). All dies spreche objektiv und für die Täter auch subjektiv erkennbar für die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls, womit das für den bedingten Vorsatz notwendige Wissen als Tatbestandsmerkmal gegeben sei (LG Berlin 2017: 40, Rn. 232). Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 299 Die entscheidende Phase in der Argumentation ist nun aber der Rückschluss von bestimmten Sachverhaltsmerkmalen auf die subjektive Einstellung der Angeklagten, um das voluntative Element als Bedingung des Vorsatzes zu belegen, das die Richter in der Gleichgültigkeit der Angeklagten gegenüber dem potentiellen Tod unbeteiligter Dritter sehen, indem diese die Möglichkeit eines Unfalls mit Todesfolge schlicht dem Zufall überlassen hätten (LG Berlin 2017: 40 f., Rn 234). Eine verkehrspsychologische Exploration bestätige zusätzlich, dass dem Angeklagten H das Risiko eines Unfalls durchaus bewusst gewesen sei (41, Rn 236 f.). Entlastende Hinweise der Sachverständigen dagegen entkräften sie mit dem Hinweis auf einen juristischen Aufsatz, der die verkehrspsychologische Beurteilung eines Geschehens für die juristische Vorsatzfeststellung als nicht bindend darlegt. Insbesondere verweisen sie auf dessen Aussage, dass “ Psychologen und Juristen, wo es um ‘ Wissen und Wollen im Rechtssinne ’ geht, nicht dieselbe Sprache sprechen und ein solcher Zwiespalt [ … ] nicht nur bei Raserdelikten schwierige Grundsatzprobleme der Vorsatzdogmatik aufwirft ” (42, Rn 239). Für den Angeklagten N gelte die Begründung des voluntativen Elementes des Vorsatzes entsprechend (Rn 240), da Motivation, Tatmerkmale und Gefahrenlage identisch seien. Die Aussagen der Sachverständigen und der Angeklagten bleiben dabei ebenso argumentativ unberücksichtigt wie die Frage, ob der Rückschluss von der objektiv gegebenen Gefahr auf die angenommene subjektive Indifferenz der Täter zugleich das voluntative Element ihres Handelns und damit den Vorwurf des bedingten Vorsatzes rechtfertigt. Besondere Sorgfalt verwenden die Richter auf die Auseinandersetzung mit potentiellen Einwänden und arbeiten dazu sechs Gegenargumente heraus, die sie zu widerlegen bzw. zu entkräften versuchen: (i) Wer geltend mache, die Täter hätten mit der Wahl des nächtlichen Zeitpunktes ihres Rennens auf menschenleerer Strecke das Unfallrisiko gerade ausschließen wollen, irre, insofern zum Tatzeitpunkt auf dem Kurfürstendamm nachweislich reger Verkehr herrschte (LG Berlin 2017: 43, Rn 242). (ii) Die Unterstellung der Indifferenz gegenüber der Todesgefahr für potentielle Opfer impliziere dieselbe auch gegenüber sich selbst, sei insofern unzutreffend, als die Fahrer (und die Beifahrerin von N) sich sicher fühlten “ wie in einem Panzer ” (Rn 243 f.), H sich nicht einmal anzuschnallen für nötig hielt (das Argument kann freilich auch umgekehrt werden und für die Annahme von Fahrlässigkeit in Anspruch genommen werden). (iii) Dem Einwand, die Fahrer hätten sicher nicht eine Beschädigung ihrer fetischisierten Fahrzeuge gewollt, was gegen den Vorsatz spreche, führen die Richter den Adrenalinkick ins Feld, der sie die Folgen für ihre Autos hätte ausblenden lassen, vielmehr habe für sie “ das Gewinnstreben, die Selbstbestätigung, die Dominanz und das Ansehen unter Gleichgesinnten ” (44, Rn 245) im Vordergrund gestanden (nicht erklärt wird damit allerdings, dass wenn die Fahrer die Schäden an ihren Autos ausblenden, sie die an unbeteiligten Dritten aber wissentlich und billigend in Kauf nehmen). (iv) Der vierte Einwand, jeder könne als potentieller Mörder beschuldigt werden, der zu schnell (und bei Rotsignal der Ampel) über eine Kreuzung fährt, ist als Übergeneralisierung, die von der rechtlich gebotenen Einzelfallprüfung absehe, schnell entkräftet. (v) Gegen den fünften Einwand, die Spontanität des Rennens, spreche doch eher gegen bedingten Vorsatz, führt das Gericht ins Feld, der bedingte Vorsatz habe sich erst während der Tat entwickelt, die zeitlich vorgeordnete Spontaneität habe demnach auf die Entwicklung des bedingten Vorsatzes keinen Einfluss gehabt (ebd.: 44 f., Rn 247). (vi) Der sechste 300 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Tim Stehle Einwand zielt auf das Nachtatverhalten des Angeklagten H, dessen unmittelbar nach dem Unfall geäußerte Frage “ Wie konnte das passieren? ” das voluntative Element fraglich mache. Die Frage wird etwas spitzfindig mit einer bedingten Amnesie des Angeklagten H erklärt (45, Rn 248), was allenfalls ein medizinischer Gutachter überprüfen könnte. Insgesamt also sucht das Berliner Gericht die eigene Argumentation durch Widerlegung antizipierter Gegenargumente zu immunisieren. Diese Abwehr-Argumentation vermag vor allem hinsichtlich des voluntativen Elements des bedingten Vorsatzes nicht durchgehend zu überzeugen. Dafür ist jenes Argument umso interessanter, das eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes rechtfertigen soll. Hier sehen die Richter den objektiven Tatbestand des Paragraphen 211 StGB als erfüllt an: Mord mit gemeingefährlichen Mitteln - denn dafür eigne sich auch etwas, was erst in einer konkreten Situation für Dritte gefährlich wird. Erneut legitimieren sie ihre Rechtsauffassung mit BGH-Urteilen (LG Berlin 2017: 46, Rn 255) und meinen, die Auslegung des Mordmerkmals eines gefährlichen Mittels habe sich hier an seiner Nichtkontrollierbarkeit zu orientieren, es müsse geeignet sein, einer größeren Anzahl von Menschen Schaden zuzufügen und dessen müssten sich die Angeklagten auch bewusst sein (Rn 256). Bei der letzten Bedingung könnte man fragen, ob sie zutrifft, wenn der Vorsatz bezweifelt wird, aber weil die Richter den bedingten Vorsatz bereits zuvor festgestellt haben, sehen sie auch diese Bedingung als a priori erfüllt an. 5 Nachspiel Da das Berliner Urteil von der gängigen Rechtsprechung abweicht, treiben die Richter einen besonderen argumentativen Aufwand, um ihre These zu stützen, es handle sich bei der Tat der Angeklagten um eine Handlung mit bedingtem Vorsatz. Sorgfältig grenzen sie ihren Fall von vergleichbaren Fällen ab, bei denen auf Fahrlässigkeit erkannt wurde und beachten dabei auch den juristischen Grundsatz der Einzelfallbetrachtung. Dann arbeiten sie die einzelnen Merkmale eines bedingten Vorsatzes (wie das Wissenselement) argumentativ plausibel heraus. Angelpunkt ihrer Argumentation ist die Begründung des voluntativen Elements des bedingten Vorsatzes, ohne das sie das Verhalten als bloß fahrlässig bewerten müssten. Deshalb wehren sie alle potentiellen Einwände schon im Vorhinein ab. Die zentrale Frage nach der billigenden Inkaufnahme des eigenen Todes und der Zerstörung ihrer geheiligten Fahrzeuge wird jedoch nur mit einem unrealistischen Sicherheitsgefühl und bloßer Ausblendung des Risikos beantwortet. Umso aufwendiger die Begründung des subjektiven Tatbestands des Mordes, was ein wenig so wirkt, als hätten sich die Richter früh auf eine Verurteilung wegen Mordes festgelegt und dann versucht, diesen argumentativ plausibel erscheinen zu lassen, statt ergebnisoffen den Sachverhalt unter den Tatbestand zu subsumieren. Beide Urteile wurden vom BGH (teilweise) aufgehoben, in Köln wurde u. a. moniert, dass die Strafaussetzung dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entgegenstehe und deren Vertrauen in das Rechtssystem unterminieren könne (cf. Bräutigam 2017). Die Strafaussetzung zur Bewährung wurde aufgehoben, was in einem Revisionsverfahren vom BGH geprüft und im Dezember 2018 bestätigt wurde (cf. Welt Online 2018). Damit erlangte das Urteil (Haftstrafe ohne Bewährung) im März 2021 Rechtskraft. In Berlin sah der BGH den Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 301 bedingten Vorsatz zunächst nicht ausreichend belegt (cf. Zeit Online 2018). Die zuständige Strafkammer des Landgerichts Berlin prüfte erneut den bedingten Vorsatz beider Angeklagten (cf. Kensche 2018) und bestätigt für H die drei Mordmerkmale Heimtücke, Gemeingefährlichkeit und niedrige Beweggründe und damit den Tötungsvorsatz und seine Verurteilung zu lebenslanger Haft. In der Revision hebt der BGH nur das Urteil gegen N auf, der danach wegen ‘ versuchten Mordes ’ zu 13 Jahren Haft verurteilt wird. Seine erneute Revision wird zum Jahreswechsel 2022/ 23 abgewiesen, damit ist seit Jahresbeginn 2023 auch seine Verurteilung rechtskräftig. Unter dem Eindruck dieser Tat hat der Gesetzgeber bereits 2017 für solche Fälle den neuen Paragraphen 315 d ( “ Raserparagraph ” ) in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Seither sind illegale Autorennen keine Ordnungswidrigkeiten, sondern Straftaten. Im Falle einer schweren Verletzung oder des Todes eines oder mehrerer anderer Menschen können dann bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe drohen (cf. Legal Tribune Online 2017). Die Zahl verbotener Autorennen ist trotzdem stark angestiegen. Schon im Folgejahr standen 533 Fahrer wegen Verstoßes gegen den neuen Paragraphen vor Gericht, vier Männer wurden wegen Mordes verurteilt. Weitere werden folgen. Literatur Brox, Hans & Wolf-Dietrich Walker 41 2017 ( 47 2023): Allgemeiner Teil des BGB (= Academia Iuris. 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TV-Dokumentation https: / / www.ardmediathek.de/ video/ ard-crime-time/ berlin-auf-den-spuren-der-kudammraser/ hrfernsehen/ Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xODQ0ODY v.08.03.2023 (ARD)[zuletzt abgerufen am: 28.02.2024] Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? 303 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? Zur Diskursethik in den Technikwissenschaften Ernest W. B. Hess-Lüttich Abstract: Should we, technologically, always do what we can do? Does openness to technology always means to do whatever is feasible? This paper argues for discourse ethics within science and technology. The future of industrial societies depends not least on technical developments in science, technology, and engineering. However, the social and ethical responsibility that arises from this development is not always systematically reflected upon either within the disciplines or in the parties that constantly call for technological openness. Ethical questions are hardly ever raised, let alone answered, in engineering curricula or technical studies. Where will the development of what is technically feasible lead us if the responsible engineers lack a basic ethical understanding? Motivated by the remembrance of ethical misconduct of engineers in the Third Reich, the article seeks to underpin the need for an applied ethics for engineers, technicians and natural scientists with a historical and systematic explication of the ethics discourse in classical rhetoric and the history of philosophy. Under the impression of current developments in the digitalised media society and the connection between ethos ( ἦθος ) and language, the paper pleads for a discourse-ethical approach and seeks to make this fruitful for the fields of application mentioned. Against the background of current research on technology impact, the article ends with a look at some classical examples of the literary depiction of ethical dilemmas in technical solutions, hoping to stimulate further reading in the arts and sciences. Keywords: Ethos, applied ethics, discourse ethics, engineering sciences, natural sciences, technical sciences, technological openness, technology assessment, climate change, literature and technology Zusammenfassung: Sollten wir technologisch machen, was immer machbar ist? Bedeutet “ Technologieoffenheit ” immer auch zu tun, was wir technisch tun können? Dieser Beitrag plädiert für eine Diskursethik der Ingenieur- und Technikwissenschaften, von deren Fortentwicklung nicht zuletzt die Zukunft der Industriegesellschaften abhängt. Die gesellschaftliche und ethische Verantwortung, die sich aus dieser Fortentwicklung ergibt, wird jedoch weder innerhalb der Disziplinen, noch in den Parteien, die ständig die Forderung nach “ Technologieoffenheit ” erheben, immer systematisch reflektiert. Ethische Fragen werden in den Lehrplänen der Ingenieurwissenschaften und der technischen Studiengänge kaum gestellt, geschweige denn beantwortet. Wohin wird die Entwicklung des technisch Machbaren führen, wenn den verantwortlichen Ingenieuren ein ethisches Grundverständnis fehlt? Motiviert durch die Erinnerung an ethisches Fehlverhalten von Ingenieuren im Dritten Reich, versucht der Beitrag, die Notwendigkeit einer angewandten Ethik für Ingenieure, Techniker und Naturwissenschaftler mit einer historischen und systematischen Explikation des Ethikdiskurses in der klassischen Rhetorik und der Philosophiegeschichte zu untermauern. Unter dem Eindruck aktueller Entwicklungen in der digitalisierten Mediengesellschaft und dem Zusammenhang von Ethos ( ἦθος ), Sprache und Zeichen plädiert der Beitrag für einen diskursethischen Ansatz und versucht, diesen für die genannten Anwendungsfelder fruchtbar zu machen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Technikfolgenforschung schließt der Beitrag mit einem Blick auf einige klassische Beispiele der literarischen Darstellung ethischer Dilemmata in technischen Lösungen und hofft, damit zur weiteren Lektüre anzuregen. Schlüsselbegriffe: Ethos, Diskursethik, Angewandte Ethik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Technikwissenschaften, Technologieoffenheit, Technikfolgenabschätzung, Klimawandel, Literatur und Technik Ich habe nie geglaubt, daß die Freiheit des Menschen darinn bestehe, daß er thun könne, was er wolle, sondern daß er nicht thun müsse, was er nicht wolle. Jean-Jacques Rousseau 1 1 Tödliche Technologie Aktuellen Vorschlägen zur ökologischen Transformation der Industriegesellschaften, um die Folgen der Erderwärmung abzumildern, wird oft das politische Mantra ‘ Technologieoffenheit ’ entgegengehalten, das sich die Bewältigung der Klimakrise von künftigen technischen Lösungen erhofft und die konkrete Zumutung von Verhaltensänderungen zu vermeiden erlaubt. Die politische Erwartung richtet sich an Ingenieure, die Probleme lösen und keine komplizierten moralphilosophischen Fragen stellen. 2 Für ‘ Ethik ’ seien sie gar 1 Der Satz fährt fort: “ [ … ] und auf diese Freiheit machte ich immer Anspruch, erhielt sie auch oft, und sie machte mich zum Aergerniß in den Augen meiner Zeitgenossen ” (Jean-Jacques Rousseau 1783: Einsame Spaziergaenge. Sein letztes nachgelassenes Werk, München: Johann Baptist Strobl, p 182 (frz. Orig.: Les Rêveries du promeneur solitaire [1776-78], Paris: Livre de Poche MDCCXXXII [1782]). 2 Nach dem altrömischen Rechtsgrundsatz “ Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigatur ” (Corpus Iuris Civilis Dig. 50, 16, 195) und im Einklang mit geltender Rechtsprechung (s. BVG-Personenstandsurteil 1 BvR 2019/ 16 vom 10. Oktober 2017 gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und BGH-Personenbezeichnungsurteil VI ZR 143/ 17 vom 13. März 2018) sowie den Empfehlungen des Deutschen Rechtschreibrates (vom 26. März 2021, 14. Juli 2023 et passim), benutze ich im Ausgang vom klassischen Epikoinon ( γένος ἐπίκοινον / génos epíkoinon, “ vermengtes Geschlecht ” ) für Personenbezeichnungen, wenn sie die Gattung betreffen, aus logischen, grammatischen, semantischen, stilistischen, semiotischen, pädagogischen (DaF), ökonomischen, juristischen, medizinischen (Braille) und queersensiblen Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 305 nicht zuständig, sagen viele Ingenieure. Ethik: das sei etwas für Philosophen oder Theologen, vielleicht auch (soweit es Rendite verspricht) für Werbeleute und PR-Abteilungen, aber nicht für nüchterne Techniker, die mit Zahlen zu tun haben, mit Messungen, mit Daten und Fakten, mit Aufträgen und deren Erfüllung, mit Bedarfsnachfragen und wirtschaftlichen Zwängen. Der Ingenieur, so sieht er sich oft gern, will die Verbesserung des Lebens durch technischen Fortschritt. Das gelang und gelingt ihm auch immer wieder in beeindruckender Weise, auch in Deutschland, wo das Telefon erfunden (Johann Philipp Reis 1861) und das erste Auto mit Verbrennungsmotor gebaut wurde (Carl Benz 1886), das erste Motorrad (Gottlieb Daimler 1885), die erste praxistaugliche Elektro-Lokomotive (Werner Siemens 1879), das erste Gleitflugzeug (Otto Lilienthal 1891), die erste Farbbildröhre (Werner Flechsig 1938) - aber zum Beispiel auch der erste elektrisch beheizte Leichenverbrennungsofen (Topf & Söhne 1927). Von ihm wird noch die Rede sein. Das ist alles - und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen - schon eine Weile her, aber trotzdem gilt nach wie vor: Nicht zuletzt dem Können der Ingenieure verdanken wir unseren heutigen Lebensstandard. Der Ruf hat in Deutschland ein wenig gelitten in jüngster Zeit. Deshalb widmete die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit ein Dossier der (nur auf den ersten Blick) schlichten Frage: “ Was kann der deutsche Ingenieur? ” (Jauer 2018). Nun, was er kann, wird auch gemacht. Dass mit dem technologischen Können womöglich auch eine moralische Verantwortung einhergeht, wird deutschen Ingenieuren in ihrer Ausbildung bis heute nicht intensiv und systematisch genug vermittelt, obwohl keine Woche vergeht, ohne dass die Zeitungen oder die Fernsehnachrichten im Zusammenhang mit vermeintlichen technologischen Errungenschaften irgendwo ein Versagen, einen Betrug, einen Skandal vermelden. Dass freilich ethisches Bewusstsein auch in der Alltagspraxis von Ingenieurbüros kaum eine Rolle spielt, scheint angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen praktisch alle ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen stehen, denn doch einigermaßen überraschend: Geotechniker prüfen gemäß politischen Vorgaben riskante Möglichkeiten der Endlagerung von Kernbrennstoffen für einige hunderttausend Jahre, Maschinenbauingenieure helfen, das Ausmaß von Schadstoffemissionen zu verschleiern und deren Messung zu manipulieren, Verkehrstechniker optimieren das ‘ autonome Fahren ’ ohne vorherige Beantwortung der Frage nach der Verantwortung der Technik für Unfälle, Bioingenieure entwickeln Gen-Scheren mit weitreichenden Selektionspotentialen, Hydrologen und Agraringenieure bieten bei der Versorgung der Weltbevölkerung mit Wasser und Nahrung Hand zu ökonomischen Verwertungsketten und Zugangsentscheidungen, Informatiker vernetzen ‘ intelligente ’ Sprachassistenzmaschinen zur ökonomischen Auswertung von Verhaltensprofilen, die chinesische Staats- und Parteileitung nutzt künstliche Intelligenz in Verbindung mit Big Data für ihre Vision des gläsernen Bürgers, eine chinesische Version von George Orwells Roman 1984 zur flächendeckenden Überwachung der ‘ Untertanen ’ - auch diese Liste ließe sich mühelos fortsetzen. Gründen das inklusiv-neutrale genus commune und vermeide damit eine heteronormativ-binäre Sexualisierung des Sprachgebrauchs (cf. Meineke 2023); substantivierte Partizipialkonstruktionen (Einwohnende, Bestattende, Rad Fahrende) vermeide ich, wenn sie als Tätigkeitsbeschreibung eine andere semantische Funktion haben als die gruppen- oder statusbezogene Bezeichnung (cf. Glück 2020). 306 Ernest W. B. Hess-Lüttich In ihrem einleitenden Beitrag zu dem Buch Ethik in den Ingenieurwissenschaften (Breuer & Genske eds. 2020) bietet die Autorin Annegret Schüle (unter Mitwirkung von Rebekka Schubert) anhand eines historischen Beispiels die akribische Rekonstruktion des abschüssigen Weges in die direkte Mitverantwortung für menschenverachtend unethisches Handeln durch vermeintlich rein technische Leistung (Schüle 2021). Der industriell betriebene Massenmord an Millionen Menschen mit Hilfe des Insektenvertilgungsmittels Zyklon B hatte die SS bekanntlich vor gewisse technische Probleme der Be- und Entlüftung der Gaskammern (zwecks schnellerer ‘ Nutzungsrotation ’ ) und der kostengünstigen, Brennstoff sparenden und möglichst spurlosen Entsorgung der in kurzer Zeit anfallenden großen Zahl von Leichen gestellt. Die Ingenieure der seinerzeit im Ofengeschäft marktführenden Erfurter Traditionsfirma Topf & Söhne konnten helfen, diese Probleme mit der Massenvernichtung von Menschen effizient zu lösen. Und sie wussten, was sie taten. Denn die Entwicklung des durch den leitenden Ingenieur Fritz Sander mit Schreiben vom 26. Oktober 1942 zum Patent angemeldeten “ Kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb ” setzte ebenso wie die neuartige Entlüftungstechnik zur “ Optimierung der Erstickungsrate ” die genaue Beobachtung des Tötungsprozesses im Fließbandverfahren voraus. Seine Erfahrungen und die seiner Kollegen Kurt Prüfer oder Karl Schultze flossen in die Entwicklung der Anlagen ein und erlaubten deren weitere Perfektionierung. Sie handelten nicht unter Zwang oder auf Befehl, sondern dienten den Machthabern ihre ingenieurtechnische Expertise an. Sie wollten zeigen, dass sie es können. In ihren Öfen sollten rückstandslos Millionen Menschen brennen, als ‘ Schutzhäftlinge ’ gezeichnet und gekennzeichnet, Juden vor allem, aber auch Homosexuelle, Behinderte, Bibelforscher, Bettler, Ausländer, Sinti und Roma - penibel sortiert zuvor in bürokratischen Etikettierungslisten und zur Vernichtung freigegeben. Nach dem Krieg bekannten sich weder die Firmenleitung noch die Entwicklungsingenieure zu ihrer Verantwortung. In der DDR galt in dem nunmehr volkseigenen Betrieb dann die Sprachregelung, die kapitalistischen vormaligen Eigentümer seien schuld. Eine Aufarbeitung unterblieb. Erst seit 2018 dokumentiert ein umfangreicher Katalog zur von Annegret Schüle kuratierten Wanderausstellung über die Firma Topf & Söhne akribisch den Beitrag der Industrie zum Holocaust am Beispiel der “ Ofenbauer von Auschwitz ” (Schüle 2018). 2 Ethik, Rhetorik und Diskurs Nur am Rande wird dabei eine Frage aufgeworfen, die den Germanisten ebenfalls interessiert, nämlich die nach den Bedingungen der Möglichkeit des Sprechens über jenes Grauen, das den Durchschnittsmenschen mit einigermaßen intaktem Moralempfinden eigentlich verstummen lassen müsste. Wie verschleiert man als Mit-Täter das industriell organisierte Morden vor dem Bürger, welchen Ausweg bietet diesem die Sprache, nicht so genau hinsehen zu müssen? Welche zynisch camouflierenden Euphemismus-Strategien in den ‘ Sprachregelungen ’ der NSDAP und ihrer Untergliederungen erlaubten ihm, später zu sagen: Wir haben ja nichts gewusst? Was genau verband er mit Wörtern wie ‘ Arbeitsdienst ’ , ‘ Sonderbehandlung ’ , ‘ Endlösung ’ ? Indem die erwähnten Ingenieure der Firma Topf & Söhne, keineswegs glühende Anhänger des Nationalsozialismus oder sonstwie fanatische Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 307 Ideologen, ihre Mitwirkung am Massenmord in geschäftsmäßigem Tone als ingenieurtechnische Herausforderung beschrieben, und indem sie, wie Schüle zu Recht resümiert, mit technizistischen Ausdrücken wie ‘ Leistungssteigerung ’ (der Verbrennungskapazitäten), ‘ Stückzahlerhöhung ’ (von Leichen) oder ‘ Einäscherungsobjekten ’ (Leichenteilen) “ davon abstrahierten, dass es sich um ermordete Menschen handelte, konnten sie die Auseinandersetzung auf der Ebene technischer Fragen führen ” (Schüle 2021: 30). Das schleichende Gift der Lingua tertii imperii hat der Romanist Victor Klemperer seinerzeit so präzise wie eindringlich in seinem gleichnamigen, erstmals 1947 erschienen Buch beschrieben (Klemperer 2018). Die beklemmende Aktualität dieses Notizbuchs eines Philologen, das eigentlich in den Unterricht einer jeden deutschen Schule gehörte, ermisst mit bangem Unbehagen, wer in diesen Tagen den Reden von manchen Rechtspopulisten lauscht. Die Sprachwissenschaftler Thomas Niehr und Jana Reissen-Kosch resümieren unter dem Titel Volkes Stimme? die Erträge ihrer Untersuchung der Sprache des Rechtspopulismus und liefern darin zahllose Beispiele dafür, wie Parlamentarier der AfD und ihrer Vorfeldorganisationen mit kalkulierten sprachlichen Tabuverletzungen Tag für Tag die Grenzen dessen verschieben, “ was man doch noch mal wird sagen dürfen ” (cf. Wolfgang Thierse in seinem Vorwort zu Niehr / Reissen-Kosch 2019: 7). Der Linguist Josef Klein, der seit Jahrzehnten das Zusammenwirken von Sprache und Politik erforscht, beschreibt im fünften Kapitel seines Buches über Politik und Rhetorik das Verhältnis von “ Ethik und politischer Rhetorik ” , dessen Bedeutung heute im öffentlichen Diskurs über komplexe technologische Entwicklungen eine neue Brisanz gewinnt (Klein 2019). Der Politikwissenschaftler Steffen Kailitz verdeutlicht dies im Dezember 2019 in seinem pointierten Spiegel- Essay über die Ähnlichkeiten in der Rhetorik rechtspopulistischer Funktionsträger mit den sprachlichen Tricks der Nazis sowie zwischen deren Parteiprogrammen und den Forderungen der AfD anhand einer Fülle von Beispielen (Kailitz 2019: 34 f.). Sie verstärken den Eindruck von kritischen Beobachtern unserer gesellschaftlichen Entwicklung in den Sozialwissenschaften, dass es Teilen der Bevölkerung wieder an historischer Verantwortung, ethischer Orientierung und sprachlicher Mäßigung gebricht. Dies belegen in erschreckendem Maße auch die empirischen Befunde der Antisemitismusforschung, die einen alarmierenden Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten meldet, die von einer überlasteten Justiz nur unzureichend geahndet werden. Ihren sprachlichen Niederschlag findet diese Entwicklung in sozialen Netzen, in denen enthemmte Nutzer aller zivilen Schranken ledig ihre hasserfüllten Botschaften (hate speech) vomitieren (cf. Schwarz-Friesel 2019 zu deren linguistischer Analyse). Immer wenn die Maßstäbe sittlichen Verhaltens strittig sind oder in Frage gestellt werden, bedarf es einer neuen Vergewisserung der Normen und Richtwerte einer Zivilgesellschaft, die individuelles Handeln im Interesse des Gemeinwohls unter sich historisch verändernden Bedingungen leiten. Deshalb ist es weder trivial noch unzulässig, die Brücke zu schlagen vom Sprachgebrauch unter den Bedingungen der Diktatur, die ohne Mitläufer und Abnicker und Handlanger und Wegseher in kritischer Zahl kaum errichtet werden könnte, und dem Sprachgebrauch jener Verächter unserer Demokratie, die den Demos durch einen fiktiven Ethnos zu ersetzen streben. Weil damit der weitere Horizont unserer Fragestellung erkennbar wird, sei ihre theoretische Grundlage in hier gebotener Kürze begriffshistorisch und -systematisch hergeleitet. 308 Ernest W. B. Hess-Lüttich “ An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen ” , lautete der zum geflügelten Wort avancierte Titel eines Aufsatzes, den Hans Jacob 1938 in einer Exilzeitschrift veröffentlichen konnte (Jacob 1938). Es ist ein seit der Antike geläufiger Topos: Er geht wohl auf ein Fragment aus den Gnomai Monostichoi des Menander (cf. Steinmetz 2000: 133) zurück und ist in Anlehnung an Platon (Charmides 158e-159a, 160 d-e, [Platon 1922: 30; id. 1988: 133-134]) in kanonischer Form von Apuleius aus Madauros überliefert ( “ loquere, ut te videam ” / Sprich, damit ich dich sehe) 3 , wurde von Ben Jonson in einem berühmt gewordenen Diktum wieder aufgegriffen ( “ Language most shews a man: Speak that I may see thee ” 4 ) und hat in seinen ungezählten Varianten von Erasmus über Lichtenberg bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. Deshalb wird Diskursethik ihren Ausgang von der Sprache nehmen - zumal gerade unter dem Eindruck der gegenwärtig in den Internet-Foren nicht selten emotional überhitzten Debatten interessant ist, dass bereits in der Antike der Begriff des Ethos auch auf die Sprache übertragen wurde und in Gestalt des rhetorischen Ethos das affectus-Merkmal maßvollen Redens und Schreibens mit-meint. Wie ein roter Faden zieht sich die Verbindung von ‘ gutem Charakter ’ und glaubwürdiger Rede durch die Philosophiegeschichte ebenso wie die Geschichte der Rhetorik (cf. Robling et al. 1994). Bereits Aristoteles übernimmt (in Arist. Rhet. II, 1) die Trias von Weisheit, Tugend und gutem Willen als Bedingungen überzeugender Wirksamkeit argumentierenden Sprechens aus der Tradition (Aristoteles 2018; Wörner 1990), die unter anderem auch Quintilian in seiner Institutio oratoria wieder aufgreift und damit die weitere Entwicklung in der Renaissance und im Humanismus nachhaltig prägt. Noch Immanuel Kant setzt beim rhetorischen Ethos auf die Verbindung von Tugend, Klugheit und Mäßigung des Affektes und schlägt (womöglich unter dem Einfluss von Lessing) die Brücke zur Poetologie, die im 18. Jahrhundert das semantische Spektrum des Ethos (Charakter, Gesinnung, Affekt) ausschöpft und das römische vir bonus-Ideal mit dem aptum-Postulat angemessenen Sprachgebrauchs verknüpft (Ethopoeia), was uns zum Schluss noch kurz zu der Frage führen wird, ob (und wenn ja, wie) auch die Poesie und sogenannte Schöne Literatur (belles lettres) sich des Themas angenommen haben. Es ist hier natürlich nicht der Ort, diese mehr als zweitausendjährige Tradition mit allzu grobem Strich nachzuzeichnen (cf. dazu die knappe Übersicht von Robling et al. 1994), aber es fällt schon auf, dass sie in den populären Redelehren der Gegenwart kaum mehr gegenwärtig scheint (cf. Hess-Lüttich 1994), was abermals ein bezeichnendes Licht auf die 3 “ At non itidem maior meus Socrates, qui cum decorum adulescentem et diutule tacentem conspicatus foret, ‘ ut te videam, ’ inquit, ‘ aliquid et loquere. ’ Scilicet Socrates tacentem hominem non videbat; etenim arbitrabatur homines non oculorum, sed mentis acie et animi obtutu considerandos. ” [ “ Doch nicht so mein Meister Sokrates; als er einen schönen Jüngling sah, der ziemlich lange schwieg, sagte er: ‘ Damit ich dich sehen kann, rede auch etwas! ’ Das heißt: Sokrates sah einen schweigenden Menschen nicht; er war der Überzeugung, man müsse die Menschen nicht mit der Schärfe der Augen, sondern mit der des Verstandes und in geistigem Anschauen betrachten]. Apuleius, Verteidigungsrede. Blütenlese. Lateinisch und deutsch von Rudolf Helm, Berlin: Akademie-Verlag, 1977 (Schriften und Quellen der alten Welt 36), S. 167. 4 “ Language most shews a man: Speak that I may see thee. It springs out of the most retired and inmost parts of us, and is the image of the parent of it, the mind. No glass renders a man ’ s form or likeness so true as his speech ” (Ben Jonson [1641] 1838: Timber; or, Discoveries Made Upon Men and Matter, As They Have Flowed Out of His Daily Readings, or Had Their Reflux to his Peculiar Notion of the Times in The Works of Ben Jonson, ed. Barry Cornwall. London: Cassell & Co. 1838, p 795. Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 309 verbreitete Beobachtung wirft, in den heftigsten Disputen der sogenannten sozialen Medien gehe oft ein Mangel an Anstand und Empathie mit sprachlicher Verrohung einher. Umso wichtiger, dass die Menschen als Personen, das heißt als soziale Subjekte und hypothetisch Handelnde, sich verständigen über die Regeln ihres Zusammenlebens und die Maximen ihres Handelns in Gesellschaften. Wenn ihr Handeln ein ethisches sein soll, muss es gegenüber dem/ den Anderen zu begründen und zu rechtfertigen sein. Im Unterschied zu den antiken Tugendlehren fragen die modernen Handlungsethiken nach den Kriterien ‘ guten Handelns ’ . Während der teleologische Ansatz das Kriterium guten Handelns in seinem Nutzen für die von diesem Handeln Betroffenen sucht, richtet der deontologische Ansatz sein Augenmerk auf die innere Einstellung des Handelnden selbst. Kants Kategorischer Imperativ ist der Prototyp dieses Ansatzes (KpV § 7): “ Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne ” (Kant [1788] 1975: 140; cf. hierzu ausführlich Höffe 2004: 173 - 207). Beiden Ansätzen wohnen eine Reihe von Problemen inne: Walter Schweidler diskutiert bei dem einen unter anderem Probleme der Folgenabschätzung, der Abgrenzung des Kreises der Betroffenen, der Kontingenz und Berechnung, bei dem anderen solche des Rigorismus, der Abstraktheit und der Definition handlungsorientierender Voraussetzungen (Schweidler 2018: 46 - 52). Unbeschadet dieser Probleme kann und darf die Verantwortung der Ingenieure für ihr Handeln nicht wirtschaftlichen Zwängen im Dienst des technisch Machbaren, ökonomisch Wünschbaren oder gar ökologisch Empfohlenen (wie zum Beispiel Atomkraftwerke, von deren Apologeten immer wieder als im Verhältnis zu Kohlekraftwerken vergleichsweise ‘ sauber ’ gepriesen) unterworfen werden, zumal (aber nicht nur) in den modernen Industriegesellschaften. Um dieser Verantwortung ein normatives Fundament zu verleihen und dafür ein diskursives Programm zu entwickeln, dürfte das Vertrauen Immanuel Kants (KpV, Beschluß, II 205) in die “ Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart ” (Kant [1788] 1975: 300) kaum ausreichen, wenn wir uns manche Persönlichkeiten in den Chefetagen der Industrie, Digital- und Finanzwirtschaft (Stichwort: Betrugssoftware, Cum-ex-Geschäfte, Kinderarbeit etc.) vergegenwärtigen. 3 Kritische oder Skeptische Diskursethik Deshalb beschränken sich neuere (sogenannte ‘ postkonventionelle ’ ) Ansätze lieber auf die Formulierung von Verfahrensregeln zur Aushandlung von Bedingungen gesellschaftlicher Verfasstheit als auf die Bestimmung von Konventionen. Nach der Systemethik (Niklas Luhmann) orientieren sich soziale Subjekte an Codierungen funktionalen Handelns, ohne jedoch die Bedingungen für Systemstabilität selbst erklären zu können (cf. Luhmann 2008). Nach der Vertragsethik (John Rawls) beruht diese auf einem Vertragsschluss zwischen freien und gleichen Partnern, ohne jedoch die Voraussetzungen dafür anders als utilitaristisch beziehungsweise ökonomisch bestimmen zu können (cf. Rawls 1979). In der Diskursethik nach Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas wird das ‘ rationale Gespräch ’ zum Medium der argumentativen Verständigung über Geltungsansprüche deskriptiver Wahrheit, normativer Richtigkeit und expressiver Wahrhaftigkeit, ohne freilich die Differenz zwischen idealem und realem Diskurs überwinden zu können (cf. Habermas 1983: 53 - 125; 310 Ernest W. B. Hess-Lüttich cf. Apel 1999). Habermas ’ Diskursethik transformiert Kants Pflichtethik gleichsam in einen dialogischen Prozess, wobei Habermas die Voraussetzung einer kontrafaktischen ‘ idealen Sprechsituation ’ , an der sich seinerzeit mancherlei Kritik entzündete (auch meine eigene, wenn auch aus empirisch-linguistischem, nicht moralphilosophischem Interesse; cf. Hess- Lüttich 1981, siehe dort auch zu Luhmann), inzwischen ebenso relativiert wie die konsenstheoretischen Prämissen der Wahrheitsfindung und stattdessen einem realistischeren Verständnis der Spannung von normativen Handlungsgründen und deren pragmatischer Rechtfertigung zuneigt (cf. Seel 2019: 35). Denn in der kontrafaktischen Unterstellung einer ‘ idealen Sprechsituation ’ für die Verständigung über Maximen des Handelns in der und für die Gesellschaft beschränkt sich die Problematisierung von Geltungsansprüchen zwar nicht nur auf die Wahrheit von Äußerungen, sondern auch auf deren Wahrhaftigkeit und an der Realität prüfbaren Richtigkeit. Aber die Richtigkeit von Handlungsnormen zu ratifizieren, setzt ein Verfahren voraus, mittels dessen sich die Diskursteilnehmer auf die Geltung von Normen verständigen können. Für Habermas ist das der argumentativ-rationale Dialog, für Apel das ‘ Apriori der Kommunikationsgemeinschaft ’ als Bedingung der Möglichkeit von Argumentation. Beiden ist durchaus bewusst, dass das dialektische Problem der doppelten Voraussetzung der idealen in der realen Kommunikationsgemeinschaft, von der man zugleich weiß, dass sie der idealen nicht entspricht, die Akzeptanz von Verfahrensregeln zur Prüfung vorgetragener Geltungsansprüche präsupponiert. Davon kann aber in Zeiten ‘ alternativer Fakten ’ und einander widersprechender oder gar ausschließender Wirklichkeitswahrnehmungen keineswegs mehr sicher ausgegangen werden. Hier stehen im ethnomethodologischen Sinne ‘ Basisregeln der Interaktion ’ zur Disposition und damit letztlich die Möglichkeit vernünftiger Verständigung überhaupt. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns skizziert Habermas (1981) bereits die Bedingungen für die Formulierung von prozeduralen Regeln für die rationale Diskussion über strittige Geltungsansprüche mit dem Ziel des allseits akzeptierten Konsensus ’ über das in spezifischer Konstellation jeweils überzeugendste Argument, was freilich den gemeinsamen Willen konsensueller Entscheidungsfindung unterstellt. Die theoretisch komplexe Unterstellungsstruktur des Ansatzes ist zugleich seine empirische Schwäche: So wie es die ‘ ideale Sprechsituation ’ in der Praxis ebenso wenig gibt wie die unterstellte Symmetrie der ( ‘ freien und gleichen ’ ) Kontrahenten, so selten sind die ‘ reine ’ Verständigungsorientierung argumentativer Rechtfertigung (die frei ist von strategischen oder manipulativen Nebenzwecken) und die vorbehaltlose Einigung über die je geltenden Antecedens-Bedingungen des Arguments, die sich mit den sich wandelnden ‘ Umständen ’ mitunter sehr schnell ändern können, weshalb es einer Revisionsklausel bedarf, die festlegt, unter welchen Voraussetzungen bereits getroffene Entscheidungen revidiert werden können. Überdies wäre ein gestaffeltes Repräsentationssystem vorzusehen, wenn die Entscheidungen größere Kollektive (Interessengruppen, Gemeinden, Länder usw.) betreffen und nicht alle daran Beteiligten beziehungsweise davon Betroffenen zugleich Diskursteilnehmer sein können (cf. Porsché 2014: 105). Selbst das garantiert keineswegs, dass eine potentielle Kakophonie der Stimmen beteiligter beziehungsweise betroffener Akteure überhaupt zu einem konsensorientierten Dialog zusammengeführt werden kann, in dem über öffentliche und private Prämissen und Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 311 Interessen, über soziale, technische, ökonomische Zielsetzungen annähernd rational zu verhandeln wäre. Ein solches kollaborativ orientiertes Dialogmanagement müsste - wie ich am Beispiel urbaner Planungsprozesse (in der anhaltenden Debatte über die umstrittene Randbebauung des Tempelhofer Feldes) zu zeigen versucht habe (cf. Hess-Lüttich 2017) - zudem jederzeit den Zusammenhang von Machtkonstellationen, Interessenlagen und Planungsdesideraten im Blick behalten, eben weil die vorausgesetzte Unterstellung einer Symmetriekonstellation der Diskurspartner in der Praxis nun mal Fiktion ist. Und was passiert, wenn die Diskurspartner nicht nur kontroverse Positionen zu gemeinsam definierten Sachverhalten zu verhandeln haben, sie also nicht nur unterschiedliche Interessen vertreten, sondern sie nicht einmal dieselben Wissensbestände und Wertorientierungen teilen, also ihre ‘ Weltsicht ’ , das heißt ihre Interpretation von Wirklichkeit differiert? Das führe dann nämlich nach Albrechts / Denayer (2001: 372; cf. Schiewer 2013) dazu, dass [ … ] public discourse suffers from the implicit divergence, because societies like ours have political mechanisms only for resolving conflicting interests, not for conflicting views of reality. Because the mechanisms for dealing with conflicting world-views, discourse communities are lacking (and because in discourse, we mainly stick to our own group and the language we ‘ understand ’ ), we only seldom notice that perceptions and not only interests in society differ markedly [Hervorhebungen EHL]. Wissenschaftlich optimal exakte Erhebung und Beschreibung von Daten und Fakten allein kann das zugrundeliegende Rechtfertigungsproblem also nicht lösen. Auch vermeintlich objektive Wirklichkeitswahrnehmung, auch naturwissenschaftliche Erkenntnis oder technische Problemlösung enthebt den jeweiligen Entscheidungsträger in konkreten Situationen oder konflikthaften Konstellationen nicht seiner subjektiven Verantwortung und Rechtfertigungspflicht. Der einstige Optimismus positivistischer Welterklärung ist längst einer skeptischen Pluralität der Sehweisen gewichen, aus der im Glücksfalle die Möglichkeit einer ‘ rationalen ’ Einigung über Sachverhalte erwachsen kann (cf. Stegmüller 1969; Jonas 1979; Schweidler 2018: 89 - 96). Aber wenn eine solche Einigkeit nicht einmal mehr über allgemein gültige Naturgesetze und empirisch exakte Messungen ohne weiteres herzustellen ist, weil ihre Wahrnehmung und Interpretation von emotionalen Befindlichkeiten oder religiösen Prämissensystemen oder politischen Ressentiments überlagert wird, die im argumentativen Diskurs der Öffentlichkeit ebenfalls Gehör beanspruchen, gerät der rational-konsensorientierte Dialog schnell an seine Grenzen. Wie kann ein Konsens gelingen, wenn zum Beispiel manche Windkraftgegner subjektiv ‘ Schwingungen ’ verspüren, die objektiv nicht zu messen sind, wenn sogenannte Klimaskeptiker die Zahlen des Weltklimarates bezweifeln, wenn Naturfreunde ihre Gesundheit durch ‘ Strahlungen ’ technischer Gerätschaften unterhalb der Nachweisbarkeitsgrenze beeinträchtigt sehen, wenn Patienten auf die Wirkung von erwiesenermaßen wirkungslosen ‘ Medikamenten ’ (Globuli) schwören? Dann bleibt vielleicht immer noch der Konsens über den Dissens. Und wenn Studierende der Universität von Kapstadt eine Kampagne mit dem Slogan “ Science must fall ” führen, in der fundamentale naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse (wie Newtons Gravitationsgesetz) in Zweifel gezogen und als kolonialistisches Erbe missverstanden werden, das durch die Erkundung der für den eigenen afrikanischen Kontinent spezifischen Natur- 312 Ernest W. B. Hess-Lüttich gesetze abgelöst werden müsse, dann besorgen sie unfreiwillig genau das unselige Geschäft ihrer politischen Gegner. 5 In dieser Lage taugt das kontrafaktisch-normative Modell der Diskursethik demnach allenfalls als regulative Idee, an der sich faktische Diskurse messen lassen; es bedarf jedoch der empirischen Begründung, in deren (hier jetzt nicht zu leistenden) Ausarbeitung ich mich möglicherweise in der Tradition von Wilhelm von Humboldt über Karl Bühler und Alfred Schütz bis zu Peter Berger und Thomas Luckmann an den Fragmenten der Kommunikationstheorie Gerold Ungeheuers orientieren würde. Dessen Ansatz, den ich vorläufig als ‘ Skeptische Kommunikationspragmatik ’ etikettiere, stellt die “ kruziale Fallibilität der Kommunikation ” (Ungeheuer 2017: 241; cf. id. 2020) ebenso in Rechnung wie die impliziten Wissensbestände der Diskursteilnehmer, die sich aus einer Pluralität soziobiographisch heterogener Voraussetzungen speisen. Der im Rahmen Kritischer Diskursanalyse geschärfte Blick für Asymmetrien und das aufgrund von Impulsen der Historischen Semantik vertiefte Bewusstsein disparater Interessenlagen könnte für einen solchen Ansatz soziosemiotisch ebenso fruchtbar gemacht werden wie die Anregungen aus der konfliktlinguistischen Beschreibung der psychosozialen Prämissen von Emotionshaushalten und Bedingungsgefügen von Gruppenidentitätskonstruktionen (cf. Kurilla 2020). Die Komplexität der dabei involvierten Interaktionsnetzwerke der beteiligten Akteure kann hier kaum angedeutet werden (aber zur Veranschaulichung am Beispiel einer Krise der Wasserversorgung von Kapstadt cf. Genske & Hess-Lüttich 2021). 4 Angewandte Diskursethik Nun geht es dem Techniker oder dem Ingenieur aber nicht in erster Linie um wissenschaftliche Erklärung eines Sachverhalts, sondern um dessen Nutzen in der Anwendung auf Bedarfsfälle. Deshalb muss die diskursethische Auseinandersetzung mit normativen Ansprüchen und Erwartungen im Hinblick auf deren Funktion in sozialen Verantwortungsstrukturen präzisiert werden, also im Hinblick auf das Berufsethos der Entscheidungsträger. Diese ‘ angewandte ’ Dimension der Diskursethik verlangt nicht nur die Begründung und Rechtfertigung des je spezifischen beruflichen Handelns, sondern auch dessen Folgen für Dritte beziehungsweise davon Betroffene in Rechnung zu stellen. Gegenstand des Diskurses ist dann nicht allein die technische Zwecksetzung, sondern auch deren Orientierung an Normen und sozialen Richtwerten. Schweidler (2018: 98 f.) nennt als “ Kriterien der ethischen Beurteilung technischer Produkte ” Wirtschaftlichkeit, Wohlstandssteigerung, Sozialverträglichkeit, Umweltverträglichkeit und Sicherheit. Der Ingenieur muss also prüfen, ob sein technisches Handeln das Verhältnis von Nutzen und Aufwand rechtfertigt, ob es der Verbesserung des Lebensstandards dient und das Bruttosozialprodukt mehrt, ob es nach Maßgabe geltender Werte und gesetzlicher Vorgaben (Normenwerk) gesellschaftlich akzeptiert wird oder Konfliktpotentiale birgt, ob es die natürlichen und kulturellen Ressourcen des Lebensraums zu beeinträchtigen droht und ob die Relation von Nutzen und Risiko plausibilisiert werden 5 Siehe hierzu das Video Science must fall mit dem Auszug aus einer öffentlichen Sitzung der Studierenden am 12. Oktober 2016: https: / / www.youtube.com/ watch? v=C9SiRNibD14 (letzter Zugriff: 14.01.2024). Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 313 kann. Wenn etwa das Risiko eines technischen Systems als Produkt von Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit (beziehungsweise Eintrittshäufigkeit) nicht mehr gegen Versagen, Missbrauch, Unfälle oder Angriffe versicherbar ist (wie bei Atomkraftwerken mit ihrem bislang ungelösten Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle oder dem durch Naturkatastrophen beziehungsweise terroristische Zerstörung potentiell eintretenden Schadensumfang), wäre es fahrlässig, es ohne vorherige wissenschaftlich gesicherte Technikfolgenabschätzung zu implementieren. Zu der qualitativen Bewertung eines technischen Systems tritt die quantitative hinzu, wenn dessen Risikopotential durch seine progrediente Verbreitung steigt (Stichwort: Entsorgungsproblem). Der Bewertungsmaßstab kann demnach in Abhängigkeit von solchen Kalkulationen variieren. In keinem Falle jedoch kann die individuelle Rechenschaftspflicht des Ingenieurs (an die Firma, den Chef, die Versicherung, die Gesellschaft) delegiert werden (cf. Hastedt 1994). Die Bedeutung dieser individuellen Pflicht ist aktueller denn je, wenn wir die jüngsten Debatten über Industrie- und Technik-Skandale in den Blick nehmen. Wenn sich Ingenieure von ihren Chefs, die vielleicht eher ihre Boni und Bilanzen im Blick haben als den oben zitierten Kriterienkatalog, zum Beispiel dazu verpflichten lassen, ihre Kunden bei einem der in der Welt am weitesten verbreiteten Industrieprodukte überhaupt, dem Automobil, mit falschen Angaben und betrügerischer Software zu sedieren (Stichwort: Dieselskandal), dann bedarf es einer kritischen Diskursethik, die sie daran erinnert, sich immer zu fragen, ob sie, was sie (technisch) machen können, auch (moralisch) machen sollten, das heißt dass sie jene zugleich technologische und ethische Verantwortung übernehmen, an der es ihren Vorgesetzten möglicherweise gebricht. Oder wenn bestimmte Abgeordnete mit Forderungen nach ‘ Technologieoffenheit ’ ihre Loyalität als Lobbyisten gegenüber Wirtschaftsinteressen zu kaschieren suchen und damit u. U. Maßnahmen gegen den Klimawandel zu verhindern und ihrer politischen Verantwortung gegenüber dem Interesse ihrer Wähler an erträglichen Lebensbedingungen auch nachfolgender Generationen zu missachten drohen. Damit wird die politische, ja demokratietheoretische Dimension des Desiderats erkennbar. Es geht “ im Zeitalter des Neofeudalismus ” , wie der Frankfurter Philosoph Rainer Forst in der Zeit mahnt, um nichts weniger als die “ Rückgewinnung demokratischer Kontrolle über wirtschaftliche Strukturen ” (Forst 2018: 48). Die alte Machtfrage der Foucault ’ schen Diskurstheorie stellt sich damit erneut und in neuer Weise, seit Künstliche Intelligenz und Digitalindustrie mit dem Versprechen vermeintlicher Effizienzsteigerung und Arbeitserleichterung qua Automatisierung zugleich globale Monopolansprüche verbinden. Insoweit hat die Münchner Philosophin Lisa Herzog recht, wenn sie in derselben Ausgabe der Zeit konstatiert, dass die nationale Politik daran zu scheitern im Begriff sei, die “ Märkte zum Wohle aller Gesellschaftsmitglieder zu gestalten ” (Herzog 2018: 48). Den wirtschaftshistorischen Untersuchungen des Pariser Ökonomen Thomas Piketty zufolge nähert sich die soziale Asymmetrie (also die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen) in den westlichen Industriegesellschaften bereits wieder dem Stand des 19. Jahrhunderts (cf. Piketty 2016). Auch wenn seine Datengrundlage nicht ganz unumstritten ist, scheint dennoch das ‘ Gefühl ’ verbreitet, es bedürfe einer Neujustierung der Balance zwischen Technologie, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, weil andernfalls der soziale Zusammenhalt 314 Ernest W. B. Hess-Lüttich brüchig zu werden drohe und die sich daraus wiederum ergebenden politischen Folgen (zumindest in den demokratischen Gesellschaften) schwer kalkulierbar würden. Dies leitet aber direkt wieder zurück zum diskursethischen Verlass auf das emanzipatorische Potential der Sprache, mit deren Struktur nach Habermas (1968 a) ‘ Mündigkeit ’ bereits gesetzt sei. Sie eröffne damit zugleich, als nicht nur semantisch denotative und pragmatisch geltungsorientierte, sondern eben auch ‘ welterschließend ’ kreative Kraft, die Möglichkeit des Entwurfs einer prinzipiell nicht abgrenzbaren “ Vielfalt von Perspektiven auf jeweilige Lebenswirklichkeiten ” , die sprachlich Handelnden “ den Spielraum einer kritischen Transformation ihrer Einstellungen und Überzeugungen ” freigebe, betont Martin Seel in seiner Würdigung des diskursethischen Ansatzes von Habermas anlässlich von dessen 90. Geburtstag in der Zeit, und folgert daraus, dass gerade “ der literarischen Rede und den anderen Künsten [ … ] hierbei eine unentbehrliche Rolle ” zukomme (Seel 2019: 35). Diese Gedankenfigur scheint an gleicher Stelle auch bei Manfred Frank auf, wenn er hervorhebt, dass es nicht ‘ die Sprache ’ sei, die Verständigung erlaube, sondern das Sprechen und mutuelle Verstehen von Individuen, die “ die Ordnung unserer Verständigungssysteme ” bedrohten, insofern sie “ die verinnerlichten Regeln einer gemeinschaftlich gewordenen sprachlichen Praxis nicht einfach identisch weitergeben, sondern unkontrollierbar - und im Falle der poetischen Rede innovativ - verändern (können) ” (Frank 2019: 36). Diese Gedankenfigur führt uns zurück zum rhetorischen Ausgangspunkt unserer begriffshistorischen Überlegungen, die im Sinne der Ethopoeia Kants diskursethisch eine Brücke von der Technik zur Poetik zu schlagen erlauben. Insofern wir vermöge der Vernunft die Möglichkeit haben, den Wirklichkeitsausschnitt des je nur Gegebenen zu transzendieren und als Möglichkeitsraum neu zu entwerfen, kann sich ein Blick auch in die literarischen und ästhetischen Entwürfe zur diskursethischen Reflexion technologischer Verantwortung und Kritik technizistischer Reduktionismen als lohnend, zumindest inspirierend erweisen. Deshalb seien zum Ausklang und als Anregung zur eigenen Lektüre hier exemplarisch nur einige wenige Werke aufgerufen, die ingenieurtechnisches Handeln im weiteren Sinne literarisch ‘ problematisieren ’ (im Sinne von Hess-Lüttich 1984). 5 Ausklang: Ethik, Ethopoeia und der Ingenieur als literarische Figur Im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde ‘ der Ingenieur ’ sowohl in den noch jungen Sozialwissenschaften als auch in der Belletristik vergleichsweise unbefangen als Hoffnungsträger imaginiert, der beseelt von optimistischem Fortschrittsglauben beansprucht, “ gesellschaftliche Probleme auf der Grundlage des rationalisierten Denkens der Technikwissenschaften zu lösen ” (Leucht 2011: 288). Insbesondere im Genre der literarischen Utopie hatte der Ingenieur zunächst geradezu Konjunktur (cf. nach Leucht 2011 z. B. Josef André 1903: Nach dem Nordpol, Carl Grunert 1907: Im Fluge zum Frieden, Aleksandr Bogdanov 1912: Inzener Menni, Bernhard Kellermann 1913: Der Tunnel, Otfried von Hanstein 1928: Elektropolis. Die Stadt der technischen Wunder u. v. a.). Aber auch in differenzierteren Texten von Autoren wie Arnolt Bronnen, Ödön von Horváth, Georg Kaiser oder Ernst Toller gehört er umstandslos zum Ensemble der Figuren. Erste Risse bekommt das Bild bei dem ausgebildeten Ingenieur Robert Musil. In seinem zuerst 1930 erschienenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist der Ingenieur Ulrich anfangs Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 315 fasziniert von der Welt der Technik und fragt sich, wen “ das tausendjährige Gerede darüber, was gut und was böse sei, fesseln [solle], wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine ‘ Konstanten ’ sind, sondern ‘ Funktionswerte ’ , [ … ] eine kraftvolle Vorstellung vom Ingenieurswesen ” (Musil 1952: 37). Mit subtiler Ironie wird das Bild von in ihrer Disziplin gefesselten Fachidioten gezeichnet, die gelegentlich “ aus dem technischen Denken ” heraus Ratschläge erteilen “ für die Lenkung und Einrichtung der Welt ” und die zwar manche “ Sprüche formen ” , denen es aber schon nicht gelinge, “ die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden ” (Musil 1952: 37). Hier verkehrt sich die Apotheose des technischen Spezialisten (Prometheus! ), wie ihn der Ingenieur Ludwig Brinkmann noch zu Beginn des Jahrhunderts beschwor - “ Vorläufig ist technisches Denken ein Geschäft; je einseitiger die Fähigkeit, desto wertvoller der Mann, der durch die Atomisierung der Kenntnisse stets irgendwo irgendetwas leisten kann ” (Brinkmann 1908: 85) - in ihr Gegenteil. Als dann nach anfangs noch nationalistisch befeuerter Apologetik in den Weltkriegen das zerstörerische Potential der Rüstungstechnologie entfesselt wurde, kippte die Stimmung endgültig. Am öffentlich augenfälligsten wurde der Bedarf an einer Diskursethik für Techniker und Ingenieure spätestens nach dem Bau der Atombombe, ein Bedarf, der eben auch von den Dichtern als den sensiblen Seismographen gesellschaftlicher Kontroversen aufmerksam registriert und literarisch angemahnt wurde. Bertolt Brechts 1939 geschriebenes (und 1943 in Zürich uraufgeführtes) Theaterstück Leben des Galilei fragt, zumal in der 1945 unter dem Eindruck der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki zusammen mit Charles Laughton überarbeiteten Fassung, nach der Verwertbarkeit von Wissen und der Verantwortung des (Natur-)Wissenschaftlers. Der im sogenannten Manhattan-Projekt an der Entwicklung der Bombe 1942 beteiligte deutschstämmige Atomphysiker J. Robert Oppenheimer wurde sich dieser Verantwortung erst allmählich bewusst und verweigerte 1951 seine Mitwirkung am Bau der Wasserstoffbombe, was ihm den Vorwurf des Landesverrats und den Entzug sämtlicher Forschungsprojekte der Regierung eintrug. Heinar Kipphardts berühmtes daraus entstandenes dokumentarisches Theaterstück In Sachen J. Robert Oppenheimer, das 1964 als Fernsehspiel inszeniert und vom Hessischen Rundfunk uraufgeführt wurde, ist heute (immer noch) Schullektüre, die allenfalls ergänzt werden dürfte durch den biographischen Historienfilm Oppenheimer von Christopher Nolan nach der Oppenheimer-Biographie von Kai Bird und Martin J. Sherwin (Bird & Sherwin 2009), der am 11. Juni 2023 Weltpremiere hatte und sofort ein großer Publikumserfolg wurde. Das wäre auch anderen Autoren zu wünschen, die Naturwissenschaftler, Ingenieure oder Techniker als literarische Figuren zur ethopoetischen Kommentierung nutzten. Aufgeweckte Schüler dürften (und sollten) sich in einem gesellschaftlich sensibilisierten Deutschunterricht nach wie vor inspirieren lassen können von Figuren wie dem Ingenieur und überzeugten Technokraten Walter Faber in Max Frischs 1957 erschienenem Erfolgsroman Homo Faber, dessen technisch-naturwissenschaftliches Weltbild zusehends ins Wanken gerät. Oder von den Gesprächen der Protagonisten in der nicht minder erfolgreichen Tragikomödie Die Physiker, in der Friedrich Dürrenmatt 1961 auf dramatisch amüsant verwickelte Weise die Frage nach der Verantwortung der (Natur-)Wissenschaftler für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation thematisiert und Zweifel daran weckt, ob 316 Ernest W. B. Hess-Lüttich alles technisch Machbare auch umzusetzen sei, wenn die Folgen letztlich nicht zu kalkulieren sind. Bei allen Zeitbezügen zum Kalten Krieg mit seiner Doktrin der maximalen Abschreckung ( ‘ Gleichgewicht des Schreckens ’ ) legt er damit zugleich die Paradoxie frei zwischen der Forderung, eine Theorie nicht in jedem Falle bis zu ihrem Ende zu denken, und der Erfahrung, dass sie nicht mehr zurückzuholen ist, wenn sie denn einmal in der Welt ist. Solche Ausgangslagen könnte man heute etwa auch auf die aktuellen bioethischen Debatten übertragen. Der ‘ gefühlte ’ Mangel an ethischem Bewusstsein im Bezirk eines technologisch ermöglichten Fortschrittsglaubens ist also keine neue Erfindung unserer Zeit oder eine tagespolitisch ‘ grüne ’ Unterstellung. Er motivierte Jürgen Habermas bekanntlich bereits in den 1960er Jahren darüber nachzudenken, inwiefern und inwieweit “ neue Potentiale einer erweiterten technischen Verfügungsgewalt [ … ] das Mißverhältnis zwischen Ergebnissen angespanntester Rationalität und unreflektierten Zielen, erstarrten Wertsystemen, hinfälligen Ideologien offenbar ” werden ließen (Habermas 1968 b [Klappentext]). Aber auch heute könnte jeder einigermaßen belesene Zeitgenosse die Liste der literarischen ‘ Problematisierungen ’ ethischer Verantwortung in den Natur- und Technikwissenschaften mühelos fortführen zu zeitgenössischen Autoren wie Stephen Frayn, der in seinem (1998 in London am Tag der ersten Nuklearwaffentests in Pakistan uraufgeführten) Schauspiel Copenhagen die bis heute in ihrer Bewertung umstrittene Begegnung von Werner Heisenberg und Niels Bohr 1941 in der von den Deutschen besetzten Hauptstadt Dänemarks zum Ausgangspunkt von Fragen nach ihrer Rolle in der Vorbereitung der technischen Nutzung der Kernspaltung oder der Entwicklung einer deutschen Atombombe nimmt und damit zugleich die gesellschaftliche Verantwortung des (Natur-)Wissenschaftlers allgemein dramaturgisch exponiert. Heute wird die Atomkraft von manchen Ingenieuren wieder als umweltfreundliche und kostengünstige Brückentechnologie mit dem Slogan “ Transparenz und Sicherheit ” beworben, während zugleich die zahlreichen Stör- und Zwischenfälle zum Beispiel in den Reaktoren Doel 3 bei Antwerpen oder Tihange 2 an der belgisch-deutschen Grenze mit der Kontamination der eigenen Belegschaft von denselben Ingenieuren verheimlicht, verharmlost, verleugnet werden (cf. Dohmen 2018). Uns erinnert das manchmal an die gern zitierte (und unserem Thema hier entsprechend abzuwandelnde) Mahnung von Sir Peter Alexander Baron von Ustinov, der einmal bemerkte: “ Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert, wird die Stimme eines Ingenieurs [eines Experten] sein, der sagt: ‘ Das ist technisch unmöglich! ’” Daraus folgerte er: “ Wir können nicht alles den Technikern überlassen ” (Richard 1969: 119). Beim Blick in die derzeitige politische Arena mit ihrem Dauer-Mantra über die notwendigen Segnungen der Digitalisierung, die ihren Protagonisten der ersten Stunde wie dem Erfinder des World Wide Web Tim Berners-Lee, dem Begründer von Twitter (heute X) Evan Williams oder dem Chef von Google Sundar Pichai längst so unheimlich geworden sind, dass sie ihre Kinder im Silicon Valley auf Schulen schicken, an denen Handys und Tablets verboten sind, drängt sich natürlich sofort der Roman The Circle (2013) von Dave Eggers auf, dessen beklemmend aktuelles Portrait eines übermächtigen IT-Konzerns die literarische Reihe der Dystopien vom technisch ermöglichten totalitären Überwachungsstaat seit George Orwells 1984 fortsetzt. Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? 317 Auf die Frage von Mathias Kremp im Spiegel (Kremp 2018: 78), ob nicht die HiTech- Konzerne endlich “ verbindliche ethische Prinzipien ” brauchten, verweist der Apple-Boss Tim Cook auf die “ klaren Grundwerte ” des Konzerns, während dessen Ressourcenausbeutung und stellenweise menschenverachtenden Produktionsbedingungen zugleich immer mal wieder für negative Schlagzeilen sorgen. Der Internet-Pionier Jaron Lanier, Erfinder der data gloves und der virtual reality-Brillen, übrigens auch Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014, liefert uns in seinem Bestseller Zehn Gründe warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst (Lanier 2018) und hat sich aus solchen selber längst abgemeldet. In die aktuelle Diskussion um die Künstliche Intelligenz am Beispiel der Anwendungsmöglichkeiten von ChatGPT (die auch zwischen den Chefs der Firma Open AI kontrovers geführt wird) hat sich inzwischen auch der Deutsche Ethikrat mit einer umfangreichen Stellungnahme eingeschaltet. 6 Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, warnt in seiner Rede zum Reformationstag Ende Oktober 2018 vor einer unreflektierten Apologie des technisch Möglichen: die digitale Welt sei in ethischer Hinsicht terra incognita (Bedford-Strohm 2018: 56). Eindringlich mahnt er eine Intensivierung des Ethik-Diskurses zur technologischen Entwicklung der Künstlichen Intelligenz an, wenn das gegenwärtige Geschäftsmodell der Netz-Ökonomie nicht vollends zu einem digitalen Tribalismus führen soll, der letztlich die demokratische Verfasstheit unserer westlichen Gesellschaften bedroht. Man muss nicht seine Hoffnung teilen, dass ausgerechnet die christliche Tradition für diese politische Gestaltungsaufgabe das nötige Orientierungswissen bereitstelle. Während in Brasilien, Australien, Indonesien die Wälder brennen, genügt vielleicht bereits die demütige, manche vielleicht demütigende, aber naturwissenschaftlich begründbare Einsicht in die Begrenztheit unseres kognitiven und perzeptiven Horizonts einerseits und der leider endlichen Ressourcen unseres Planeten andererseits, um die Frage, ob wir um des technischen Fortschritts und des daraus abgeleiteten wirtschaftlichen Wachstums willen immer dürfen, was wir können, ob wir alles machen sollten, was immer machbar ist, mit einem so nachdrücklichen Nein zu beantworten wie der amerikanische Autor William T. Vollmann in seinem berühmten opus magnum Carbon Ideologies (2018), der sich nach dem Urteil von Markus Jauer lese “ wie ein 1200 Seiten langer Rechenschaftsbericht über die Selbstabschaffung einer Zivilisation, die glaubte, für ihr Dogma vom steten Wachstum den Planeten zerstören zu müssen, und die auch dann nicht damit aufhören konnte, als sie es besser wusste ” (Jauer 2018: 16). Literatur & Quellen Albrechts, Louis & William Denayer 2001: “ Communicative Planning, Emancipatory Politics and Postmodernism ” , in: Ronan Paddison (ed.) 2001: Handbook of Urban Studies, London etc.: Sage, 369- 384 Apel, Karl-Otto 1999: Transformation der Philosophie, vol. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Aristoteles [2001]: Nikomachische Ethik, Düsseldorf: Artemis & Winkler 6 https: / / www.ethikrat.org/ fileadmin/ Publikationen/ Stellungnahmen/ deutsch/ stellungnahme-mensch-undmaschine.pdf [Zugriff: 20.03.2023]. 318 Ernest W. B. Hess-Lüttich Aristoteles [2018]: Rhetorik, Griechisch/ Deutsch, übers. u. ed. Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam Bedford-Strohm, Heinrich 2018: “ Verteufelt nicht das Digitale! ” , in: Die Zeit 45 v. 31.10.2018: 56 Bendel Larcher, Sylvia 2015: Linguistische Diskursanalyse, Tübingen: Gunter Narr Bird, Kai & Martin J. Sherwin 2009: J. Robert Oppenheimer, Berlin: Propyläen (engl. Orig.: American Prometheus - The Triumph and Tragedy of J. 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Machen, was immer machbar ist? 321 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Viren, Farben und Moral Diskursethische Anmerkungen zu Dürrenmatts “ Die Virusepidemie in Südafrika ” im Lichte der Corona-Krise Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Ich bin, weil Du bist. Du bist, weil wir sind (Ubuntu) In memoriam Serge Glitho Abstract: The given ecological and demographic framework forces a public debate on the social consequences of political action (or the lack thereof) for our societies, in which everyday life will increasingly be characterised by crises and conflicts. Epidemics triggered by zoonoses will accompany us in the future, as will environmental catastrophes in the wake of climate change. The Corona pandemic is only a symptom of this, but also a current occasion to take stock and discuss the consequences that could be drawn from it for crisis management in the event of multiple disasters. This has been the subject of controversial debates for years, which are also reflected in the medium of literature. Epidemics have always been a topic of literature (from Sophocles to Philipp Roth). Therefore, after the recent pandemic, I would like to take an almost unknown text by Friedrich Dürrenmatt as an opportunity not only to recall an early example of literary problematisation of discourse-ethical dilemmas in health crises, but also to critically reflect on the controversial positions of the ongoing discussion of racism within the realm of postcolonial studies. Keywords: Crisis, conflict, pandemic, climate change, zoonosis, racism, postcolonial studies, Friedrich Dürrenmatt Zusammenfassung: Die gegebenen ökologischen und demographischen Rahmenbedingungen zwingen zu einer öffentlichen Debatte über die sozialen Konsequenzen politischen Handelns (oder dessen Ausbleiben) für unsere Gesellschaften, in denen der Alltag zunehmend von Krisen und Konflikten geprägt sein wird. Durch Zoonosen ausgelöste Epidemien werden uns künftig ebenso begleiten wie Umweltkatastrophen im Gefolge des Klimawandels. Die Corona-Pandemie ist dafür nur ein Symptom, aber auch ein aktueller Anlass, eine Zwischenbilanz zu ziehen und die Konsequenzen zu erörtern, die daraus für das Krisenmanagement im Falle multipler Katastrophen zu ziehen wären. Dies ist seit Jahren Gegenstand kontroverser Debatten, die auch im Medium der Literatur reflektiert werden. Seuchen waren seit je auch ein Thema der Literatur (von Sophokles bis Philipp Roth). Deshalb möchte ich nach der jüngsten Pandemie einen nahezu unbekannten Text von Friedrich Dürrenmatt zum Anlass nehmen, nicht nur an ein frühes Beispiel literarischer Problematisierung diskursethischer Dilemmata bei Gesundheitskrisen zu erinnern, sondern auch die kontroversen Positionen der anhaltenden Rassismus-Diskussion im Bezirk der Postcolonial Studies kritisch zu reflektieren. Schlüsselbegriffe: Krise, Konflikt, Pandemie, Klimawandel, Zoonose, Rassismus, Postkoloniale Studien, Friedrich Dürrenmatt Zu den letzten literarischen Arbeiten Friedrich Dürrenmatts neben dem Abschluss seines großen Stoffe-Projekts zählt eine kleine, kaum bekannte Kurzgeschichte, die das Centre Dürrenmatt in Neuchâtel kürzlich (2021) anlässlich einer Ausstellung zum Thema “ Resonanz und Engagement. Friedrich Dürrenmatt und die Welt ” als Sonderdruck neu herausgebracht hat (Dürrenmatt 2021). In vielen Werkausgaben (außer natürlich in der 37bändigen Gesamtausgabe von Diogenes: Dürrenmatt 1998) sucht man sie vergebens, deshalb war sie in den Feuilletons außerhalb der Schweiz kaum einem Literaturredakteur gegenwärtig, bis man sich angesichts der globalen Covid_19-Pandemie und der Feier des 100sten Geburtstags des 1990 verstorbenen Schriftstellers an den kurzen Text von 1989 erinnerte, der posthum zuerst im Zürcher Tagesanzeiger 1994 und ein paar Wochen danach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erschienen war. In Südafrika war sie allenfalls Germanisten geläufig, die wie Eva Thamm (die z.Zt. an der University of Cape Town unterrichtet) ihre Magisterarbeit (2019) dazu geschrieben oder die wie Jacomien van Niekerk (University of Pretoria) und Waldo Grové (University of South Africa, Pretoria) dazu einen Aufsatz in den Acta Germanica (2017) publiziert haben, allerdings bevor sie etwas vom Ausbruch der S ARS -CoV-2-Pandemie auch nur ahnen konnten. 1 Deshalb will ich diesen Text als Reflexionsimpuls kurz ins Gedächtnis zurückrufen für den Fall, dass er dem einen oder der anderen nicht mehr gegenwärtig sein sollte. 2 Dürrenmatt ist ja u. a. berühmt für seine Verbindung zwischen Literatur und anderen Wissenschaftsdomänen, insbesondere der Jurisprudenz (Justiz) und den Naturwissenschaften (Die Physiker). Ähnlich wie in meiner Studie zum Hörspiel Die Panne, in der es um das Verhältnis des literarischen Textes und der Strafprozessordung ging (Hess-Lüttich 1 Der folgende Beitrag geht zurück auf einen Vortrag am 11.04.2022 im Rahmen der SAGV-Tagung an der Western Cape University in Kapstadt. Eine kürzere Fassung erscheint in einer von Akila Ahouli edierten Festschrift in memoriam Serge Glitho. “ Ubuntu ” ist ein Grundsatz der südafrikanischen Philosophie und bezeichnet in den Bantusprachen Xhosa und Zulu die Verantwortung des Einzelnen in seiner und für seine Gemeinschaft durch mutuellen Respekt und die Achtung der Menschenwürde mit Ziel einer harmonischen Gesellschaft. Die Zitate der Primärquellen übernehmen die Orthographie des (helvetischen) Originals. 2 Nach dem altrömischen Rechtsgrundsatz “ Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigatur ” (Corpus Iuris Civilis Dig. 50, 16, 195) und im Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung (s. BVG-Personenstandsurteil 1 BvR 2019/ 16 v. 10.10.2017 gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und BGH-Personenbezeichnungsurteil VI ZR 143/ 17 v. 13.03.2018) sowie den Empfehlungen des Deutschen Rechtschreibrates (v. 26.03.2021), aber auch in vager Erinnerung an dereinst allgemein geltende Regeln der deutschen Grammatik möge das genus commune (oder generische Maskulinum) in diesem Beitrag Personen jedweden Geschlechts bezeichnen. Viren, Farben und Moral 323 2017), möchte ich daher aus aktuellem Anlass eine Verbindung der Kurzgeschichte Die Virusepidemie in Südafrika zur Sars-CoV-2-Pandemie herstellen, die den Planeten seit über zwei Jahren im Griff hält. Wer den Text kennt, wird sich an Dürrenmatts originelle Versuchsanordnung erinnern, derzufolge - und ich bleibe für den Moment bei dem zur Zeit der Entstehung des Textes üblichen Sprachgebrauch - ‘ die Weißen ’ in Südafrika von einem Virus infiziert werden, der ihre Haut schwarz werden lässt, während ‘ die Schwarzen ’ gegen das Virus immun sind. Als erklärtem Anhänger der Naturwissenschaften war dem Autor natürlich geläufig, dass die Hautfarbe des Menschen wesentlich durch das Verhältnis zweier Varianten des Pigments Melanin definiert wird, nämlich des (braun-schwarzen) Eumelanin und des (gelb-rötlichen) Phäomelanin. Die faktische Färbung wird (neben anderen genetischen Faktoren) vor allem von dem Molekül Melanocortin-1-Rezeptor (Mc1R) bestimmt, einem Molekül, das die Pigmentzellen Eumelanin produzieren lässt. Dies wiederum war in tropischen Regionen die Voraussetzung für die ausreichende Aufnahme des lebenswichtigen Vitamins Folsäure. Als die durchweg schwarzhäutigen Vertreter der Species Homo sapiens in einer zweiten Welle vor ca. 40 ’ 000 Jahren die sonnenärmeren Regionen der nördlichen Hemisphäre zu besiedeln begannen, verloren sie in Jahrtausende währenden evolutionären Adaptionsprozessen ihre Pigmentierung, um trotz schwächerer UV-Strahlung ausreichend Vitamin D aufnehmen zu können. Neueren Erkenntnissen der Paläogenetik zufolge liegt die entscheidende Mutation des Mc1R-Gens bei Homo sapiens erst 6000 bis max. 10000 Jahre zurück (cf. jedoch Muswamba & Mutombo 2021, die unter Verweis auf einen Wikipedia-Eintrag die Mutation etwas früher ansetzen und dafür den 1903 im englischen Somerset gefundenen und 1904 erstmals wissenschaftlich beschriebenen Cheddar Man als Beispiel anführen, der freilich neueren DNA-Analysen zufolge noch eine dunkle Hautfarbe hatte). Das Virus in Dürrenmatts Parabel gibt den weißen Südafrikanern also ihre ursprüngliche Hautfarbe zurück, womit er einen rassismuskritischen Diskurs literarisch antizipiert, der trotz früher Hinweise von UNO und U NESCO (cf. U NESCO 1978) in der Anthropologie und Humanethologie erst zur Jahrtausendwende zur endgültigen Aufgabe des bio-genetisch unhaltbaren Konzepts der ‘ Rasse ’ als einer Gruppenbezeichnung geführt hat. Gleich der erste Satz, darauf hat die spärliche Sekundarliteratur schon verwiesen, erinnert in der Lakonie seiner Formulierung an Kafkas Roman Der Proceß und seine Erzählung Die Verwandlung. Als der Regierungspräsident Südafrikas eines Morgens erwacht, fühlt er sich fiebrig und verschnupft, die Polizei erscheint, verhaftet und inhaftiert ihn. Lauthals protestiert er dagegen, zu einem Schwarzen in die Zelle gesperrt zu werden, was die geltenden Apartheid-Gesetze ausdrücklich untersagten. Erst als ein sich ebenfalls beschwerender (schwarzer) Mithäftling geltend macht, der (weiße) Justizminister zu sein, und der Regierungschef ihn als solchen erkennt, wird er gewahr, selbst schwarzer Hautfarbe zu sein. Beide werden von einem (schwarzen) Polizisten, der sich weiß wähnt, beschimpft, Schwarze hätten hier nicht zu randalieren, woraufhin er von zwei anderen (schwarzen) Wärtern verprügelt wird, weil (schwarzen) Polizisten der Zutritt verboten sei, bis sie erkennen, selbst schwarz zu sein. In ihrer Verunsicherung lassen sie die Inhaftierten frei, weil sie nicht ausschließen können, dass die Schwarzen, so wie sie selbst, eigentlich Weiße seien. Es gehört nun zu den typischen Eigenheiten der narrativen Technik Dürrenmatts, innerhalb der Logik dieser Ausgangskonstellation eine Geschichte mit zwingender 324 Ernest W. B. Hess-Lüttich Konsequenz fortzuspinnen, getreu seinem berühmten Diktum, wonach eine Geschichte nicht zu Ende erzählt sei, bevor sie nicht ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe. “ Eine Virusepidemie war ausgebrochen. Die Weissen wurden schwarz. ” Neben den grippe-ähnlichen Symptomen, die denen einer Corona-Infektion gleichen, bewirkt die Erkrankung bei den Weißen, und nur bei diesen, die Veränderung der Hautfarbe, was eine desaströse Kettenreaktion auslöst. In knappster Diktion beschreibt Dürrenmatt auf kaum einer halben Seite, wie nun blutige Kämpfe aller gegen alle ausbrechen, weil die schwarz gewordenen Weißen sich von den schwarzen Schwarzen und diese nicht von den schwarzen Weißen unterscheiden konnten. Nach Tausenden Toten herrscht lähmende Stille. Die Regierung setzt eine Kommission ein und betraut sie mit der Aufgabe, die schwarzen Weißen gegenüber den schwarzen Schwarzen zu identifizieren. Keine leichte Aufgabe, denn “ die Weissen waren nicht nur schwarz geworden, sondern Schwarze mit allen Merkmalen der Schwarzen, von denen sie nur durch ihre Hässlichkeit abstachen ” (p. 27). Dieses Kriterium mochten die hässlichen (schwarzen) Weißen natürlich nicht akzeptieren, weshalb ihnen nun auferlegt wurde, ein weißes Schild zu tragen, das sie ‘ schwarz auf weiß ’ als Weiße ausweist, während die schwarzen Schwarzen sich ‘ weiß auf schwarz ’ als solche ausweisen mussten, was aber bei flüchtigem Hinsehen schnell zu Verwirrung führte, weshalb man es entsprechend einer Empfehlung der “ psychologischen Beratungsstelle für praktische Apartheid ” andersherum mit weißer Schrift auf schwarzem Schild für schwarze Weiße und schwarzer Schrift auf weißem Schild für schwarze Schwarze versuchte, was aber farbpsychologisch erst recht in die Irre führte: schwarze Weiße wurden fortan oft wie schwarze Schwarze misshandelt und schwarze Schwarze wie Weiße privilegiert, was ebenfalls keine befriedigende Lösung war. Deshalb sollte goldene Schrift auf weißem Schild, rote Schrift auf schwarzem Grund semiotisch für Klarheit sorgen und zugleich signalisieren, wie die Bewertungen sortiert sind: für die ehedem Weißen das Symbol des Reichtums, für die seit je Schwarzen das Zeichen für Wunde und Gefahr (Abb. 1 in Anlehnung an Thamm 2019: 54 - 56). Abb. 1: Kennzeichnungen (nach Thamm 2019: 54 - 56) Mit dem für ihn typischen beißenden Sarkasmus beschreibt Dürrenmatt dann den Besuch einer Abordnung der schweizerischen Großbanken, die natürlich gegen die Apartheid sind, aber mit der uns nur zu vertrauten Doppelmoral argumentieren, die bedauerliche Lage der Viren, Farben und Moral 325 Schwarzen sei am besten durch Unterstützung der Weißen zu verbessern, indem die Schweiz in Südafrika investiere und damit die internationalen Sanktionen unterlaufe, womit sie ja im Grunde die “ berechtigten Interessen ” der Schwarzen wahrnehme. In Südafrika fand sich die Delegation indes von lauter schwarzen Kollegen empfangen, deren Versicherung, sie seien ‘ eigentlich ’ Weiße, ihnen kaum glaubhaft schien, weshalb sie sich in einen Umsturz der schwarzen Mehrheit geraten wähnte, die Verhandlungen abbrach und sich, bereits von ersten Symptomen der Infektion gezeichnet, auf den Rückweg machte. Bei der Ankunft in Zürich bezweifelte man die behauptete Identität der inzwischen schwarz gewordenen Banker und verbrachte sie zunächst in ein Flüchtlingslager. Der Erzähler dreht die Spirale aber immer noch eine Windung weiter und beschreibt den ‘ Schwarzhandel ’ mit den Schildern, der schließlich in völlige Konfusion mündete, weil niemand mehr mit Sicherheit sagen konnte, wer ein schwarzer Weißer und wer ein schwarzer Schwarzer war, und weil allseitige Bestechlichkeit zu einer wundersamen Vermehrung der schwarzen Weißen führte, verfügte die Regierung, dass schwarze Weiße stets von einem schwarzen Schwarzen als Zeugen zu begleiten seien. Das erwies sich in der Alltagspraxis als leider sehr kompliziert, zumal viele schwarze Weiße nicht von der Beglaubigung durch einen schwarzen Schwarzen abhängig sein mochten und dafür einen zweiten schwarzen Weißen anheuerten, der aber seinerseits von einem schwarzen Schwarzen bestätigt werden musste - undsoweiter, was bei allen Zusammenkünften ein ziemliches Gedränge zur Folge hatte. Die in der allgemeinen Unübersichtlichkeit zunehmenden Ehen zwischen schwarzen Weißen und schwarzen Schwarzen sorgten schließlich - immer streng nach den Gesetzen der Mendelschen Vererbungslehre - alsbald für die Geburt anteilig weißen Nachwuchses, der wiederum anteilig gegen das Virus immun war (und dann weiß blieb) oder eben nicht (und damit schwarz wurde). Das wiederum alarmiert die Regierung, die verzweifelt das Konzept der Apartheid dadurch zu retten sucht, dass sie die schwarze Hautfarbe zur neuen Norm und die neuen Weißen zur Bedrohung für die Reinheit der Rasse erklärt, eine relativ komplexe Handlungsstruktur, die Eva Thamm in ihrer Magisterarbeit in einem synoptischen Schema zu visualisieren versucht (Abb. 2 nach Thamm 2019: 36). In einer galligen Schlusspointe erklärt der Erzähler den Bericht für den eines der schwarzen Zürcher Bankers, den er nun aufschreibe - “ von einem plötzlichen Schnupfen befallen und vom Fieber geschüttelt. ” Dies ist nun die Stelle, an der selbst die kundigen Interpreten beinahe in eine der typisch Dürrenmattschen Fallen zu tappen drohen: sie werden unsicher, ob sich der Verfasser hier nicht selbst als rassistisch entlarve. So fragen sich Jacomien van Niekerk & Waldo Grové (1917: 54 f.) “ whether Dürrenmatt ’ s text is anti-racist or racist in its arguments ” , weil sie finden, “ that the description of the banker at the end of the story is stereotypical and racist in content [as] it rests on the racist assumption that Africans possess a simple, grateful enjoyment of life. ” Aber sie riechen die Lunte: “ Dürrenmatt toys with the reader to the extent that he inserts a racist narrator-behind-the-narrator in order to comment even more thoroughly on racism ” (ibid.: 55). Das sarkastische Spiel mit den kulturellen Stereotypisierungen hält dem europäischen Leser den Spiegel vor und hebt die Kritik an der südafrikanischen Apartheid seiner Zeit ganz im Sinne des Hinweises von Boubacar Boris Diop (2015) auf das globale Niveau des Rassismus, der überall nur zu lebendig sei (und es ja auch nach wie vor ist). 326 Ernest W. B. Hess-Lüttich Noch entschiedener äußert Eva Thamm den Verdacht, die Erzählstruktur lege nicht nur eine paradoxale Doppelperspektive nahe, in der Anti-Apartheid und Pro-Apartheid sich die Waage hielten, sondern schaffe vielmehr “ die Verbindung eines politischen Realismus zu einem kulturalistischen Rassismus, die in Dürrenmatts Geschichte als fließend zu bezeichnen [sei] und sich schlussendlich als reinen [sic] Rassismus bezeichnen [lasse] ” (Thamm 2019: 64). Das Missverständnis ist möglicherweise einem rigoros verengten Interpretationsansatz der Verfasserin geschuldet, den sie namentlich einem bestimmten Segment der Postcolonial Studies verdankt und der sie im Sinne Achille Mbembes reflexhaft Rassismus wittern lässt, wo immer dessen Kritik von Weißen artikuliert wird. Dabei verzichtet sie auf eine genauere und konsistente Definition des Begriffs ‘ Rassismus ’ , was bei einem so polyvalent gebrauchten Konzept vielleicht hilfreich gewesen wäre. Mit dem Etikett ist man heute oft zu schnell bei der Hand, auch wenn ganz andere Sachverhalte (wie Antisemitismus, Antiziganismus, Islamismus, Sexismus usw.) zur Debatte stehen. ‘ Rassismus ’ ist ein gesellschaftliches Konstrukt, genauer eine Ideologie, [ … ] un système d ’ idées, de croyances hiérarchisant des groupes humains. Systémique et structurel, le racisme attribue inégalement, et parfois sur des bases dites “ scientifiques ” , des caractéristiques culturelles, physiques, intellectuelles, psychologiques qui seraient communes et intrinsèques à ces groupes. Le but est de rebaisser et dénigrer. Il existerait ainsi des “ races ” inférieures et d ’ autres qui leur seraient supérieures ipso facto (Muswamba & Mutombo 2021: 51). Auch Eva Thamms Vorwurf, dass in der Erzählung Frauen “ schlicht als Mittel zum Zweck betrachtet ” würden (ibid.: 65) und folglich den Schwarzen gleichzusetzen seien, führt m. E. in die Irre. Eine von Judith Butler inspirierte feministische Lektüre und zuweilen bis zur Selbstkarikatur gendersensible Paraphrasierung (wenn z. B. von den “ MitgliederInnen in einem Zugehörigkeitskontext ” die Rede ist: ibid.: 12) des über 40 Jahre alten Textes Abb. 2: Handlungsstruktur im Schema (nach Thamm 2019: 36) Viren, Farben und Moral 327 erscheint mir aus kritisch philologischer Sicht vielleicht aktuell ‘ politisch korrekt ’ , ‘ woke ’ meinetwegen, letztlich aber doch eher unhistorisch. 3 Wer indes die historisch-biographischen Umstände der Entstehung der Erzählung von Dürrenmatt in Rechnung stellt, gelangt auf eine ganz andere Spur. Dürrenmatt war zutiefst geprägt von einem humanistischen Gerechtigkeitsideal, das ihn jede gruppenbezogene Diskriminierung aufgrund von Identitätsmerkmalen verabscheuen ließ. Einen ersten Hinweis zu seiner dezidiert antirassistischen Haltung entnehmen wir bereits den Berichten über seine Besuche der USA 1959 und 1969. In den “ Sätzen aus Amerika ” , die im Band 34 der 37-bändigen Gesamtausgabe des Diogenes-Verlags zu finden sind (pp 77 - 114), gibt er seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, dass die renommierte Temple University, die ihm einen Ehrendoktor verliehen hatte (und die nota bene das größte Kafka-Archiv der Welt beherbergt) keine afroamerikanischen Professoren und Studenten hatte, obwohl sie in einem ‘ schwarzen ’ Viertel lag und Wert darauf legte, als ‘ liberal ’ , also eher progressiv, zu gelten. Er hatte zu Menschen sprechen wollen, nicht nur zur lokalen Elite der ‘ Weißen ’ . Die intensive Auseinandersetzung mit dem Rassismus führt ihn logischerweise zu der mit der rassistischen Ideologie par excellence, dem Nationalsozialismus. Nicht lange nach der Niederschrift der Kurzgeschichte über die Virusepidemie in Südafrika hatte er, wie die Direktorin des Centre Dürrenmatt in Neuchâtel, Madeleine Betschart, in ihrem Vorwort zur Neuausgabe berichtet, das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen besucht. Im autobiographisch grundierten Turmbau (Stoffe IV-IX, Werkausgabe vol. 28 u. 29), dem Schlussteil seines hinterlassenen Spätwerks (ibid. vol. 29, pp 261 - 263; cf. Gesammelte Werke vol. 6, pp 566 sqq.), “ beschwört Dürrenmatt auf ergreifende Art und Weise die Shoah herauf ” , schreibt Betschart (2021: 14). Auschwitz, der unbegreifliche Un-Ort schlechthin: Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht möglich sein, weil es keinen Sinn hat. Es ist als ob sich der Ort selbst erdacht hätte. Er ist nur. Sinnlos wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und ohne Grund (Dürrenmatt 1996: 568). Hier werden Menschen Gruppen zugeordnet, mit Abzeichen markiert und sortiert, bevor sie mit bürokratischer Systematik ihrer Vernichtung entgegengeführt werden. Stigmatisierung von Menschen, ob durch Anhänger des Nationalsozialismus oder der Apartheid, war Dürrenmatt zutiefst zuwider. Ich spreche vom Stigma im Sinne des Gezeichneten, des durch Male Ausgezeichneten, durch Brandmale Gebrandmarkten, durch Wundmale Verwundeten, durch Verletzung Versehrten: Zeichen der Abweichung, des Abnormen, der Fremdheit, des Besonderen, des Ausgesonderten (Abb. 3). Deshalb ist es vor diesem historischen Hintergrund auch eine schier unerträgliche Anmaßung heutiger Querdenker, Coronaleugner oder Impfgegner, wenn sie inmitten der bedrohlichen Pandemie auf ihren Demonstrationen ihre unsolidarische Bereitschaft zur 3 Beide übrigens, Mbembe wie Butler, Protagonisten der antisemitischen BDS-Bewegung, die (neben vielen anderen Hochschulen) auch jene Western Cape University fest im Griff hat, an der ich diesen Beitrag erstmals vorgetragen habe. Vielleicht wäre - dies nur nebenbei bemerkt - zu empfehlen, dass die Zitierkartelle im Gefolge von Mbembe und Butler (oder Homi Bhabha, Edward Said, Dirk Moses, Giorgio Agamben … ), statt blindlings voneinander abzuschreiben, deren zu Tode zitierten Bücher einmal selber lesen und (z. B. im Hinblick auf den darin subliminal artikulierten Antisemitismus) einer kritischen Text- und Diskursanalyse unterziehen. 328 Ernest W. B. Hess-Lüttich Infektion und damit Körperverletzung anderer stolz herausstellen durch Zeichen, die den Judenstern der Nazis emblematisch zitieren (Abb. 4). Abb. 4: Abzeichen der Impfgegner im Stile des sog. ‘ Judensterns ’ Abb. 3: Tabelle der Kennzeichnungen für Insassen der NS-Konzentrationslager, Anfang 1930 Viren, Farben und Moral 329 Hier sehe ich die eigentliche Brücke zu dem mit des Verfassers sardonischem Gelächter beschriebenen Spiel der verzweifelten Apartheitsfanatiker mit den Abzeichen und Schildern aus Email, die das System der Ab- und Aussonderung von Schwarzen retten soll, obwohl die Hautfarbe aufgrund der Virusinfektion längst kein Unterscheidungskriterium mehr sein kann und nun auch die selbstgerechten Schweizer Banker “ brandschwarz ” mit Swissair in Zürich-Kloten landen. “ Black lives matter? ” fragt Betschart. In seinem Universum der Gerechtigkeit gilt für den Humanisten Dürrenmatt seit je und für alle Zeit: “ All human lives matter ” . Dürrenmatt geht es in seiner Parabel nicht etwa um medizinische Plausibilität, er fragt nicht nach Ursache und Verlauf der Erkrankung. Er erwähnt lediglich die drei signifikanten Symptome Schnupfen und Fieber (wie bei der Corona-Pandemie) und eben das Schwarzwerden der Haut, das ein nicht näher beschriebenes Virus auslöst. Dermatologisch gibt es ähnliche Befunde durchaus, wenn auch nicht über Nacht, aber wer z. B. an Acanthosis nigricans erkrankt, einer speziellen Verdickung der Stachelzellschicht in der Oberhaut, dessen Haut wird durch die Melanozyten dunkler. Das gilt auch für das Kaposi Sarkom, das 1872 erstmals von dem österreichischen Hautarzt ungarischer Herkunft Moriz Kaposi (1837 - 1902) als Idiopathisches multiples Pigmentsarkom der Haut beschrieben wurde. Auch andere Arten von Hautkrebs, wie das maligne Melanom, lassen weiße Haut dunkler werden, wenn auch nicht flächig und mit der von Dürrenmatt geschilderten Negroidität verbunden. Den umgekehrten Fall, wie dunkle Haut jählings zu erbleichen vermag, haben wir um die Jahrtausendwende etwa am Beispiel der Selbstverwandlung des Künstlers Michael Jackson anschaulich miterleben können (Abb. 5). Abb. 5: Michael Jackson zu Beginn und gegen Ende seiner internationalen Karriere Für Dürrenmatt ist die durch das Virus verursachte Hautverfärbung nur das äußere Zeichen eines tieferen gesellschaftlichen Konflikts. Der ursprüngliche Arbeitstitel der Skizze “ Anti- Apartheid ” verweist auf das humanistische Motiv des Autors. Die ihm zugrunde liegende Frage nach den ethischen Implikationen und sozialen Folgen einer solchen Epidemie für die Gesellschaft lenkt unseren Blick auf die Pandemie, die unsere Gesellschaften seit drei Jahren heimsucht und eine (weitere) ‘ epochaltypische ’ Krise ausgelöst hat. Klima-, Umwelt-, Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrisen sind ebenso wie Pandemien oder jetzt der russische 330 Ernest W. B. Hess-Lüttich Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 epochaltypisch, wenn sie “ einen in die Zukunft hinein wandelbaren Problemkanon ” enthalten, der unsere Lebenswirklichkeit und unser soziales Handeln nachhaltig zu verändern das Potential hat (Klafki 1996: 60): Sie sind global, insofern sie die (technisch, ökonomisch, sozial) komplex vernetzten Gesellschaften insgesamt betreffen; sie sind interdisziplinär, insofern sie nur aus der Pluralität der Perspektiven verschiedener Fachgebiete zu verstehen und zu erforschen sind; sie sind ethisch, insofern sie Maximen politisch verantwortlichen Handelns bestimmen. Solche ‘ epochaltypischen Krisen ’ lassen für jeden Einzelnen ethische Dilemmata in bislang ungekannter Schärfe hervortreten - etwa die Frage, was schwerer wiegen soll, die “ Freiheit der Gesellschaft ” oder “ der Schutz des Lebens ” (Bartsch et al. 2020: 29), “ Wirtschaft oder Gesundheit? Geld oder Leben? ” (Minkmar 2020: 78): Die Coronakrise stürzt heute jeden in ein ethisches Dilemma, egal wer das Sagen hat. Zwei der höchsten Güter lassen sich kaum noch miteinander vereinbaren, der Schutz des Lebens und die Freiheit der Gesellschaft. Das Virus fordert eine Entscheidung, was schwerer wiegen soll, die Lebensgefahr für Einzelne oder der Tod des öffentlichen Lebens (Bartsch et al. 2020: 29). Wie süchtig nach Arbeit und Wachstum sind wir geworden, dass selbst in Fragen von Leben und Tod der erste Gedanke ist, wie der Börsenkursverfall gestoppt und der Wirtschaft geholfen werden kann? Die Frage, vor die wir gestellt werden, ist doch von märchenhafter Reinheit: Geld oder Leben? ” (Minkmar 2020: 78). Die Frage spaltet auch die europäischen Gesellschaften bis heute; die Länder der EU können sich nicht auf einheitliche Strategien einigen; selbst innerhalb der Regierungen besteht anhaltender Dissens. Werden solche ethischen Dilemmata in Situationen divergierender Interessenlagen und gesellschaftlicher Konfliktpotentiale zum Impuls, unsere Prioritäten neu zu sortieren? Und wie, wenn eine Krise noch nicht überwunden ist, während die nächste schon ins Haus steht? Wie gut sind wir darauf vorbereitet, dass gleich zwei oder mehr Katastrophen gleichzeitig stattfinden, sich überlagern oder gegenseitig in ihren Folgen verstärken? Womit wir wieder bei den komplexen Zusammenhängen zwischen Seuche, Klima, Umwelt, Rassismus, sozialer Ungleichheit wären. Die Chefin des UN-Umweltprogramms Inger Andersen sieht die Verantwortung für die in immer kürzeren Abständen auftretenden Zoonosen beim Menschen, seiner Zerstörung der Umwelt und Bedrohung der Biodiversität, bei Überbevölkerung und archaischen Ritualen. Das wird uns also bei der absehbar nächsten Seuche infolge von Zoonosen erneut beschäftigen. Bei Dürrenmatt führte die Epidemie in Südafrika zum Bürgerkrieg, in Europa oder den USA spaltete die Pandemie die Gesellschaften. Verschwörungsapostel aller Couleur, Coronaleugner und Impfgegner, die grundsätzlich der Politik ebenso wie der Wissenschaft misstrauen und telegram-Blasen bzw. Russia-Today-Propaganda mit der Wirklichkeit verwechseln, demonstrierten, wie gesagt, schamlos mit Schildern und Abzeichen in Form des Judensterns (s. o. Abb. 4), Arm in Arm mit Querdenkern und Reichsbürgern, mit Neo-Nazis und Hooligans (cf. Nocun & Lamberty 2020). Was der bekennende Atheist Dürrenmatt in seiner Satire am irrationalen Rassismus geißelt, erscheint uns auch nach 30 Jahren beklemmend aktuell, wenn überkommene Normen und Werte infolge über uns hereinbrechender Katastrophen plötzlich in Frage stehen und moralische Maßstäbe nicht mehr selbstverständliche Geltung heischen, sondern Viren, Farben und Moral 331 Verschwörungsphantasien weichen, in denen der Mensch nicht mehr als ens sociale gedacht wird, dessen Überleben auf dem einen Planeten Kooperation erzwingt, sondern als Krieger im Kampf aller gegen alle. Ob es sich um die Abschreckung durch Atombomben, um Atomkraftwerke, um die Lagerung von Atommüll, um die Plünderung unseres Planeten usw. handelt, immer reden diejenigen, welche daran glauben, uns ein wir sollen glauben, was sie tun, sei absolut sicher. Wir haben mit dem Glauben ein menschliches Kraftfeld betreten, das uns das Fürchten beibringt. Nicht was die Menschen über Gott, sondern was sie über sich glauben, macht das Schicksal der Sterblichen aus (Dürrenmatt 1996: 420 - 421). Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Kennzeichnungen (nach Thamm 2019: 54 - 56) Abb. 2: Handlungsstruktur im Schema (nach Thamm 2019: 36) Abb. 3: Tabelle der Kennzeichnungen für Insassen der NS-Konzentrationslager Abb. 4: Abzeichen der Impfgegner im Stile des sog. ‘ Judensterns ’ Abb. 5: Michael Jackson zu Beginn und gegen Ende seiner internationalen Karriere ad 1 u. 2 s. Lit.verz.: Thamm, Eva 2019: ‘ Race ’ als Zugehörigkeitskonstrukt im DaF Kontext - Eine kritische Analyse am Beispiel von Friedrich Dürrenmatts ‘ Die Virusepidemie in Südafrika ’ , Stellenbosch/ Leipzig: Master-Thesis ad 3: Anfang 1930, US Holocaust Memorial Museum, 2006, PD ad. 4: © Christophe Gateau, Picture Alliance via Getty Images ad. 5: Michael Jackson, aus: Michael Jackson: Thriller (1983), https: / / www.quora.com/ Islookism-wrong Literatur Assheuer, Thomas 2020: “ Die Heimsuchung ” , in: Die Zeit 14 v. 26.03.2020: 49 - 50 Bartsch, Matthias, Annette Bruhns, Jürgen Dahlkamp et al. 2020: “ Geisterland ” , in: Der Spiegel 12 v. 14.03.20: 29 Beck, Ulrich 2022 [ 1 1986]: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 22. Aufl., Berlin: Suhrkamp Betschart, Madeleine 2021: “ Préface. Friedrich Dürrenmatt en 1989: Black Lives Matter? / Vorwort. Friedrich Dürrenmatt 1989: Black Lives Matter? ” , in: Dürrenmatt 2021: 7 - 15 Deutscher Ethikrat 2020: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. [Eine] ad-hoc Empfehlung, unter: https: / / www.aem-online.de/ fileadmin/ user_upload/ DER_ad-hoc-empfehlungcorona-krise.pdf [vorgelegt am 20.03.2020, Abruf 18.04.2020] Diop, Boubacar Boris 2015: “ Von Güllen nach Colobane ” , in: DU: Die Zeitschrift für Kultur Nr. 862 (2015): 56 - 59 Dürrenmatt, Friedrich 1998: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden, Zürich: Diogenes Dürrenmatt, Friedrich 1996: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Zürich: Diogenes Dürrenmatt, Friedrich 2021: L ’ épidémie virale en Afrique du Sud / Die Virusepidemie in Südafrika (Cahier N° 28), Neuchâtel: Centre Dürrenmatt Neuchâtel Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2017: “ Sprache, Literatur und Recht: Schuldig oder nicht schuldig? Eine Vernehmung zur Person und zur Sache in Friedrich Dürrenmatts Hörspiel Die Panne ” , in: Thomas 332 Ernest W. B. Hess-Lüttich Fischer & Elisa Hoven (eds.) 2017: Schuld (= Baden-Badener Strafrechtsgespräche 3), Baden-Baden: Nomos, 87 - 109 Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2021: “ Dürfen wir (immer, alles), was wir können? Für eine Diskursethik der Ingenieurwissenschaften ” , in: Uta Breuer & Dieter D. Genske (eds.) 2021: Ethik für Ingenieure, Heidelberg: Springer, 51 - 77 Klafki, Wolfgang 1996: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 4. Aufl., Weinheim: Beltz Klüger, Ruth 1997: Katastrophen. Über deutsche Literatur, München: dtv Meier, Mischa 2003: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Minkmar, Nils 2020: “ Endlich ist nichts mehr so, wie es war ” , in: Der Spiegel 12 v. 14.03.20: 78 Muswamba, Rosalie & Kanyana Mutombo 2021: “ Afrique du Sud, Apartheid et vivre-ensemble / Südafrika, Apartheid und Zusammenleben ” , in: Dürrenmatt 2021: 45 - 61 Niekerk, Jacomien van & Waldo Grové 2017: “‘ Race ’ and Nationhood in Friedrich Dürrenmatt ’ s Die Virusepidemie in Südafrika ” , in: Acta Germanica 45 (2017): 45 - 58 Nocun, Katharina & Pia Lamberty 2020: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln: Quadriga/ Bastei Lübbe Thamm, Eva 2019: ‘ Race ’ als Zugehörigkeitskonstrukt im DaF Kontext - Eine kritische Analyse am Beispiel von Friedrich Dürrenmatts ‘ Die Virusepidemie in Südafrika ’ , Stellenbosch/ Leipzig: Master- Thesis U NESCO 1978: Declaration on Race and Racial Predudice (27.11.1978), im Internet in diversen Sprachen abrufbar: https: / / www.unesco.de/ mediathek/ dokumente/ unesco/ unesco-erklaerungen Viren, Farben und Moral 333 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Articles Wir, “ Der Westen ” - und der Rest der Welt. Über Zeichen der Identitätskonstitution von Großgruppen Ernest W. B. Hess-Lüttich Samuel P. Huntingtons berühmter Aufsatz “ The Clash of Civilizations? ” erschien erstmals 1993 in der Zeitschrift Foreign Affairs, also vor drei Dekaden. Kaum ein politikwissenschaftlicher Fachtext hat m. W. eine vergleichbare Rezeptionsgeschichte aufzuweisen und selten wurde durch die darin enthaltenen provokativ formulierten Thesen eine so anhaltend und kontrovers geführte Debatte ausgelöst. 1 Als Jan-Henning Kromminga seine Studie pünktlich zum 30-jährigen Jubiläum des Erscheinens von Huntingtons Aufsatz abschloss, konnte er kaum erahnen, welche politische Aktualität, ja Brisanz sie gegenwärtig im Zeichen identitäts-, migrations-, system- und religionspolitischer Konflikte sowohl innerstaatlich als auch international gewinnen würde. 2 Den programmatischen Gegenentwurf zu Huntingtons 1996 als Buch unter nahezu gleichem Titel ausformuliertem Ansatz bietet wenig später (2001) die (von dem früheren Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan und dem seinerzeitigen iranischen Präsidenten Mohammad Chatami angeregte) Initiative der Vereinten Nationen zu einem “ Dialog der Kulturen ” , dessen konzeptionelle Grundlegung in dem Buch Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations vorgestellt wird, das von der Prämisse ausgeht, dass die “ Probleme der Welt ” im Zeichen der ‘ Globalisierung ’ inzwischen so unübersehbar komplex geworden seien, dass Versuche ihrer Lösung durch Ausgrenzung ins Leere liefen. 3 Dieser Gegenentwurf setzt freilich eine (an Habermas ’ Kommunikationstheorie orientierte) Diskursethik voraus, die im Falle transkultureller Kommunikation ihrerseits exemplarisch zu problematisieren wäre, weil sie (infolge ihrer idealisierenden Vorannahmen) von jenen realen Wissensasymmetrien, die für Verständigungsversuche dieses Typs nachgerade konstitutiv sind, ebenso absieht wie von der im Falle gerade konfliktärer Kommunikationskulturen in Rechnung zu stellende 1 Dokumentiert in Huntington & Rose (eds.) 2013: The Clash of Civilizations? The Debate: Twentieth Anniversary Edition, New York: Foreign Affairs 2 Jan Henning Kromminga 2022: Der Westen als Wir-Gruppe im “ Kampf der Kulturen ” . Diskursanalysen zu sprachlichen Konstruktionen der sozialen Welt (= Diskursmuster / Discourse Patterns 31), Berlin / Boston: de Gruyter, ISBN 9783110774290, 281 pp, 99,00 € 3 Kofi Annan, Giandomenico Picco et al. 2001: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations, School of Diplomacy and Public Relations: Seton Hall University prinzipielle Unmöglichkeit, je eigene Erfahrungswelten ungebrochen sprachlich zu vermitteln. 4 Vor diesem Hintergrund macht eine Arbeit mit dem Titel Der Westen als Wir-Gruppe im “ Kampf der Kulturen ” neugierig. J AN -H ENNIG K ROMMINGA (im Folgenden: Verf.) sucht darin eine Antwort auf drei Fragen: (i) “ Was ist der Kampf der Kulturen? ” , (ii) “ Was sind Wir- Gruppen? ” , (iii) “ Was ist der Westen? ” . Diese nur auf den ersten Blick einfach erscheinenden Fragen erheischen eine komplexe Antwort, die eigentlich traditionelle Disziplingrenzen überschreitet. In seiner Einleitung stellt der Verf. indes klar, dass er eine zwar interdisziplinär interessierte, aber doch primär linguistische Arbeit vorlegt, freilich eine mit Anschlussstellen zur Geschichte, Politologie, Publizistik, Soziologie und Sozialpsychologie. Das anspruchsvolle Vorhaben wird in der Einleitung prägnant vorgestellt. In einem zweiten Kapitel verortet es der Verf. im Bezirk ‘ der ’ Diskurstheorie, wobei er sich nicht vorschnell auf eine bestimmte Richtung innerhalb des mittlerweile in sich sehr differenzierten Segments der Linguistik (und Sozialwissenschaften) festlegen mag. Zum theoretischen Ausgangspunkt gehören jedoch ebenso die Konzepte der Kognitiven Linguistik, die mit der Kombination von qualitativen und quantitativen Corpusanalysen auch methodisch fruchtbar gemacht werden. Die vom Verf. genutzten Corpora, vornehmlich von Pressetexten, stellt er in seinem Methodenkapitel im Einzelnen vor und beschreibt die (technischen) Verfahren, die ihm zu deren Analyse zu Gebote stehen. Den drei genannten Hauptfragen ist je ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Zunächst untersucht er mit großer Genauigkeit den Ausdruck Kampf der Kulturen, rekonstruiert die Entstehung des damit bezeichneten politologischen Deutungsmodells, problematisiert die deutsche Übersetzung des mehrdeutigen englischen Originals im Hinblick auf das Verhältnis von Civilizations und Kulturen, von Clash und Kampf, beschreibt den Ausdruck in morphologisch-syntaktischer, semantischer, rhetorischer und pragmalinguistischer Hinsicht, untersucht sein Vorkommen in den verschiedenen Phasen der öffentlichen Diskussion auf der Basis des Text-Corpus und referiert die divergierenden Ansichten zur deskriptiven Angemessenheit und prognostischen Plausibilität des mit dem Ausdruck bezeichneten geopolitischen Modells. Dabei arbeitet er auch das Emotionspotential der damit verknüpften Debatte heraus und diskutiert deren normative Voraussetzungen. Die Frage der Konstruktion von Wir-Gruppen steht im Mittelpunkt des mit gut 100 Seiten umfangreichsten vierten Kapitels. Die Frage ist vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über die Entstehung von Gruppenidentitäten von besonderer Relevanz. Unbeschadet der soziologischen Beobachtungen von Andreas Reckwitz in seinem vielbeachteten Bestseller Die Gesellschaft der Singularitäten dürfte die Ausprägung einer je individuellen Identität kaum ohne den Bezug auf Kollektive auskommen. 5 Das aber führt zu der Frage, wie sich die an der Ausbildung von kollektiven Identitäten beteiligten kommunikativen und präkommunikativen Prozesse bestimmen lassen. Die Rolle der Kommunikation und ihre 4 Jürgen Habermas 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 vols., Frankfurt/ Main: Suhrkamp; id. 2019: Diskursethik, Frankfurt/ Main: Suhrkamp; Ernest W. B. Hess-Lüttich (in press): “ Dialog und Dissens. Vom Konfliktgespräch zur Sprachlosigkeit ” , in: Tilman Borsche (ed.) (in press): Sprache - Text - Übersetzung. Politik und Lebenswelt, Tbilisi: Iwane-Dschawachischwili-Universität 5 Reckwitz, Andreas 2017: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 336 Ernest W. B. Hess-Lüttich Beobachtung im Prozess der Identitätskonstruktion interessieren dabei genauso wie umgekehrt Identitätskonstruktionen in ihrer Bedeutung für Kommunikations- und Beobachtungsprozesse. Das Verhältnis von Gruppe bzw. Gruppenbewusstsein und Identität ist heute Gegenstand etlicher philosophischer, anthropologischer, soziologischer, psychologischer Überlegungen, die leider untereinander selten aufeinander Bezug nehmen. Daher ist der Versuch wichtig, einen tragfähigen Begriff der Gruppe zu entwickeln und abzugrenzen von Begriffen der Dyade und Triade, des Milieus, der Organisation, des Kollektivs, der Gemeinschaft und Gesellschaft. Insofern die ‘ Gruppe ’ eine sozial handlungsfähige Einheit bildet, die kommunikativ konstruiert wird, kommt (neben anderen semiotischen Modalitäten) auch die Sprache in den Blick. Aber anders als in dem von Robin Kurilla (im Rahmen seiner 2018 abgeschlossenen Essener Habilitationsschrift) entwickelten kommunikationstheoretischen Entwurf einer Theorie der Gruppenidentitätskonstruktion setzt Kromminga bei der Annäherung an die begriffliche Konstruktion von Groß-Gruppen wie dem “ Westen ” bei der kleinsten sprachlichen Einheit zur Etablierung eines Sozialitätssignums an, dem Personalpronomen wir als dem entscheidenden sprachlichen Zeichen der Markierung von Zugehörigkeit zu sozialen Einheiten, die umstandslos als ‘ Kollektive ’ bzw. kollektiv Handelnde zu beschreiben freilich auch zu kurz greift, insofern es sich um Identifikationen einerseits, um Zuschreibungen andererseits handelt. 6 Dazu bedürfte es der Herleitung eines eigenen Begriffs von implizitem Wissen als der Grundlage praktischer Intersubjektivität und Bedingung kommunikativen Handelns: ‘ kollektives ’ Handeln wäre dann ein Verhalten, das mit einem sozialen Sinn verbunden ist und einer Gruppe als Träger zugeschrieben wird. Das geteilte Wissen garantiert freilich weder konfliktfreie Verständigung noch identische Weltwahrnehmung, sondern kann durchaus Quelle des Missverstehens zwischen Gruppen und der kontroversen Bewertung von gemeinsam identifizierten Sachverhalten sein. Das damit einbegriffene emotionale Wissen und Wissen über Emotionen vermag die Bindung nach innen und die Abwehr nach außen zudem noch zu verstärken, während allfällige individuelle Unsicherheiten über die Zugehörigkeit zur Gruppe reduziert und die gemeinsame Handlungsorientierung stabilisiert werden kann. Hier wird nicht nur die in der Sozialpsychologie etablierte Operationalisierung von Gradationen kollektiver Handlungsträger (von Kleingruppen bis zu Großgruppen) bedeutsam, sondern auch deren Konkurrenzen oder gar Antagonismen. Der Verf. beschreibt anschaulich, wie sprachliche Prozesse dem Ausdruck der Identifikation mit einer Gruppe (Wir-Gruppe) und dem der Abgrenzung von einer als nicht-eigen, ‘ anders ’ , ‘ fremd ’ perzipierten, definierten oder gar stigmatisierten Xeno-Gruppe (bis hin zur Konstruktion von Feindbildern) dienen. Empirische Beobachtungen zum Vorkommen der Personalpronomina der 1. Pers. Plur. im Corpus mit Blick insbesondere auf die Berichterstattung über den Islamismus erhärten den Befund eines signifikant überdurchschnittlich frequenten Wir-Gebrauchs und der daraus abgeleiteten Wir-Gruppen-Konstruktion. Dazu werden auch die jeweiligen Collocationen 6 Als Buch erschienen unter dem Titel: Kurilla, Robin 2020: Theorie der Gruppenidentitätsfabrikation. Ein kommunikationsökologischer Entwurf mit sozialtheoretischen Implikationen, Wiesbaden: Springer Wir, “ Der Westen ” - und der Rest der Welt. 337 oder Kookkurrenzen einbezogen, in denen bestimmte Kompositabildungen (Wir-Gefühl) der Konfirmation affektiver Binnen-Kohäsion sozialer Gruppen dienen; in denen bestimmte Modalverben (wir müssen) an Handlungsverpflichtungen sich als solidarisch definierender Gruppen appellieren; in denen metonymisch expandierte Verwendungen (Wir sind alle Amerikaner, Wir sind Charlie Hebdo, Wir sind Samuel Paty) empathische Anteilnahme jeweiliger Wir-Gruppen nach islamistischen Terroranschlägen (9/ 11, Mohamed-Karikaturen, Hamas, Huthis u. v. a. 7 ) signalisieren oder von ihnen einfordern; in denen spezifizierende Appositionen etablierte Wir-Gruppen-Konstruktionen (Wir im Westen) ratifizieren und stabilisieren. Tatsächlich vermag der Verf. in der Detailanalyse der Belege in seinem Corpus die Annahme eines phraseolexematischen Schemas nachzuweisen, das eine “ nicht-neutral perspektivierte Referenz auf eine spezifische Gruppen-Konstruktion ” sichert, die den Ausdruck “ Wir im Westen ” als “ eine unikale Einheit der sozialen Welt ” aktualisiert (Ms. p 200). Der Frage, was genau denn dieser “ Westen ” sei, ist dann das fünfte Kapitel gewidmet. Differenziert untersucht der Verf. zunächst Verwendungsweisen von Ausdrücken wie the western civilization und deren religiös bzw. politisch definierten Merkmale (Christentum, Interessengemeinschaft) in den Texten von S. P. Huntington, dann aber auch die Unterschiede zu anderen Konzeptualisierungen ‘ des Westens ’ . Verdienstvoll ist die Kenntnisnahme auch der historischen Perspektive, wie sie etwa in den zahlreichen Büchern des Berliner Historikers Heinrich August Winkler (u. a. die Geschichte des Westens, Der lange Weg nach Westen) eingenommen wird, in denen “ das normative Projekt des Westens ” mit seinen definierenden Merkmalen (Menschenrechte, Gewaltenteilung, Volkssouveränität, Rechtsordnung etc.) luzide herausgearbeitet wird. 8 Zugleich grenzt er solche kosmopolitisch-liberalen Positionen kritisch von Versuchen ihrer Vereinnahmung durch die extreme Rechte mit ihrer religiös-okzidentalistischen Ethnifizierung westlicher Wertegemeinschaften ab. Im engeren Sinne linguistisch akzentuiert der Verf. die semantischen, lexikalischen und phraseologischen Implikationen der Wir-Gruppen-Konstruktion und deren Metonymisierung zum kollektiven Akteur und Emotionsträger (der Westen muss handeln, der Westen fürchtet … ). Zudem widmet er sich ausführlich den damit in seinem Corpus konnotierten Evaluationsmustern, die ‘ den Westen ’ etwa als gegenüber dem Orient (bzw. dem Islam) positiv abgrenzen oder kritisch auf seine historischen Irrwege verweisen oder ihm machtpolitisch arrogantes Hegemonialstreben vorwerfen. Ein interessantes Nebenergebnis 7 Zu den an solche Anschläge sich jeweils anschließenden Debatten am Beispiel der Mohamed-Karikaturen cf. exemplarisch Ernest W. B. Hess-Lüttich 2010: “ Karikatur-Krisen. Eine Mediendebatte über Islam-Satire ” , in: Dieter Heimböckel, Irmgard Honnef-Becker, Georg Mein & Heinz Sieburg (eds.) 2010: Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften, München: Wilhelm Fink, 163 - 190. Solche Berufungen auf das kollektive ‘ Wir ’ in der Sprache der Neu-Rechten ( “ Wir sind das Volk ” ) oder in der Abgrenzung zum Islamismus (in der Solidarität mit Charlie Hebdo) wurde früher auch schon andernorts beschrieben, worauf der Verf. aber hier nicht Bezug nimmt (cf. z. B. Kermani 2015 oder Detering 1919). 8 Heinrich August Winkler 2000: Der lange Weg nach Westen, München: C. H. Beck; id. 2016: Geschichte des Westens, 4 vols., München: C. H. Beck 338 Ernest W. B. Hess-Lüttich der auch quantitativen Auswertung und diachronen Gewichtung ist die Diagnose einer sich in jüngster Zeit andeutenden Veränderung eines überwiegend positiven Selbstbildes des Westens im Zeichen des Erstarkens antidemokratisch-illiberaler Strömungen und autoritärer Tendenzen in manchen Teilen (auch) der westlichen Hemisphäre. Solche aktuellen Befunde der empirisch gegründeten politolinguistischen Analyse werden wir m. E. im besten Sinne eines angewandten Wissenschaftsverständnisses in Zukunft kritisch im Auge behalten müssen. Dazu bietet das abschließende sechste Kapitel in seinem resümierendprognostischen Teil eine Reihe von interessanten Anknüpfungspunkten und vertiefende Forschungsfragen, gerade auch im interdisziplinären Kontakt mit einschlägigen Überlegungen in angrenzenden Fachgebieten der Soziologie, Politologie und Sozialpsychologie, die hier aufgrund der dezidiert kognitionslinguistisch-diskursanalytischen Relevanznahme des Verf. allenfalls am Rande vermerkt werden konnten. Auch die jüngsten politischen Entwicklungen und deren Diskurs-Resonanz konnte der Verf. ebensowenig berücksichtigen wie die kommunikationstheoretischen Problematisierungen, wie sie bei Kurrilla ausführlich zur Sprache kommen (s. o.). Aber ansonsten ist das Buch in mehrfacher Hinsicht lesenswert: in der Originalität, Aktualität und Komplexität ihrer Fragestellung, in der Sorgfalt der Durchführung, in der Reflexionstiefe der Argumentation, in der methodischen Skrupulosität bei der Auswertung quantitativer und qualitativer Daten, in der bibliographischen Rezeptionsbreite weist diese Dissertation ein Niveau auf, das das mancher Habilitationsschrift erreicht. Literatur Annan, Kofi & Giandomenico Picco et al. 2001: Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations, School of Diplomacy and Public Relations: Seton Hall University Detering, Heinrich 2019: Was heißt hier “ wir ” ? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Stuttgart: Reclam Habermas, Jürgen 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 vols., Frankfurt/ Main: Suhrkamp Habermas, Jürgen 2019: Diskursethik, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2010: “ Karikatur-Krisen. Eine Mediendebatte über Islam-Satire ” , in: Dieter Heimböckel, Irmgard Honnef-Becker, Georg Mein & Heinz Sieburg (eds.) 2010: Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften, München: Wilhelm Fink, 163 - 190 Hess-Lüttich (in press): “ Dialog und Dissens. Vom Konfliktgespräch zur Sprachlosigkeit ” , in: Tilman Borsche (ed.) (in press): Sprache - Text - Übersetzung. Politik und Lebenswelt, Tbilisi: Iwane- Dschawachischwili-Universität Huntington, Samuel P. 1993: “ The Clash of Civilizations? ” , in: Foreign Affairs 72.3 (1993): 22 - 49 Huntington, Samuel P. 1996: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster Huntington, Samuel P. & Gideon Rose (eds.) 2013: The Clash of Civilizations? The Debate: Twentieth Anniversary Edition, New York: Foreign Affairs Kermani, Navid 2015: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München: C. H. Beck Kromminga, Jan Henning 2022: Der Westen als Wir-Gruppe im “ Kampf der Kulturen ” . Diskursanalysen zu sprachlichen Konstruktionen der sozialen Welt, (= Diskursmuster / Discourse Patterns 31), Berlin/ Boston: de Gruyter Wir, “ Der Westen ” - und der Rest der Welt. 339 Kurilla, Robin 2020: Theorie der Gruppenidentitätsfabrikation. Ein kommunikationsökologischer Entwurf mit sozialtheoretischen Implikationen, Wiesbaden: Springer Reckwitz, Andreas 2017: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp Winkler, Heinrich August 2000: Der lange Weg nach Westen, München: C. H. Beck Winkler, Heinrich August 2016: Geschichte des Westens, 4 vols., München: C. H. Beck 340 Ernest W. B. Hess-Lüttich K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Der für sein umfangreiches Œ uvre vielfach ausgezeichnete Literaturwissenschaftler Peter Václav Zima (Klagenfurt) hat nach zahlreichen Büchern und Editionen eine weitere Monographie publiziert, die er als Einführung in eine “ herrschaftskritische Erzähltheorie ” konzipiert hat. 1 Bereits im Vorwort begründet er seine Unterscheidung von Text und Diskurs, was nützlich ist, denn sowohl in den einflussreichen Discourse Studies britischer Provenienz als auch in der wirkmächtigen Linguistique du discours in frankophoner Tradition werden beide Begriffe nicht selten mehr oder weniger synonym gebraucht. Damit grenzt sich Zima gleich auf den ersten Seiten sowohl von Linguisten wie Norman Fairclough als auch von Philosophen wie Michel Foucault (1966) ab und definiert seinen Diskursbegriff in Anlehnung an die Strukturale Semiotik von Algirdas Julien Greimas als (argumentierende) “ Rede mit Erzählstruktur ” (p. 9), fasst ihn damit aber enger als den übergreifenden und allgemeineren Textbegriff (cf. Greimas 1966, id. 1970, id. 1983). Die Einleitung bietet einen knappen Problemaufriss und einen Überblick über den Aufbau des Buches sowie eine kurze Erörterung des Verhältnisses von Diskurs und Macht in der Wissenschaft, was ebenfalls kein ganz unwichtiger Aspekt ist, der aber oft übersehen wird. Das Verhältnis von Sprache und Macht ist auch das Thema der Critical Discourse Analysis (CDA), die das Bewusstsein dafür geschärft hat, wie subtil in der Medienberichterstattung verbale Strategien die Rezeption zu steuern vermögen, indem sie zum Beispiel das ‘ semantische Feld ’ implizit in positiv bzw. negativ konnotierte Sphären gliedern. Norman Fairclough illustrierte dies in seinem Buch Language and Power etwa am Beispiel der Berichterstattung über Arbeitskonflikte im Wirtschaftssystem (cf. Fairclough 2015). Wenn ‘ Streiks ’ immer nur mit den durch sie verursachten “ Störungen im Betriebsablauf ” oder “ Problemen der Versorgung ” assoziiert werden, erscheinen die Arbeitnehmer eher als “ Zustandsstörer ” , wie die Juristen sagen, während Arbeitgeber und Kunden als unbeteiligte Opfer wahrgenommen werden, selbst wenn sie ungenannt bleiben. Das Beispiel nimmt Zima als Ausgangspunkt, um die Frage zu erörtern, “ wie in theoretischen Diskursen dualistische Schemata und die sie verstärkenden negativen Konnotationen in Semantik und Syntax vermieden werden können ” (p. 14), um eine dialogisch polyperspektivische 1 Peter V. Zima 2022: Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen / Toronto: Budrich (= utb 5830), 315 pp., 26,90 € , ISBN 978-3-8252-5830-6 (utb-e-ISBN 978-3-8385-5830-1) Beschreibung und Bewertung sozialer Konflikte zu ermöglichen und ihrer ideologischen Verfestigung vorzubeugen. Dieser Frage gilt im Grunde das Interesse des gesamten Buches, im ersten Teil eher in theoretischer Absicht, im zweiten Teil - und das ist in meinen Augen ein weiterer Vorteil für die Leser - mit dem Ziel, das damit bereitgestellte diskursanalytische Instrumentarium auf konkrete Praxisfelder asymmetrischer Auseinandersetzung anzuwenden. Dazu setzt sich der Verfasser zunächst kritisch mit den wichtigsten diskurstheoretischen Ansätzen auseinander, etwa mit Foucaults Begriff des Diskurses als “ ensemble d ’ énoncés ” (cf. Foucault 1966, id. 1971), den er in den folgenden Kapiteln unter Rückgriff auf die bahnbrechenden Arbeiten von Pierre Bourdieu, Norman Fairclough und Algirdas Greimas soziologisch, linguistisch und soziosemiotisch konkretisieren zu können hofft. Dem Foucault ’ schen Konzept des “ ensemble d ’ énoncés ” stellt er Bourdieus Beschreibung der “ langage autorisé ” gegenüber (cf. Bourdieu 1982), die ihr argumentatives Gewicht weniger ihrem Erkenntniswert oder ihrem Wahrheitsgehalt verdankt als eher dem sozialen Prestige dessen, der sie gebraucht, was ein wenig an das vir bonus-Ideal der antiken Rhetorik erinnert, das nach Quintilian eine Voraussetzung der schon durch die Glaubwürdigkeit (Integrität) des Sprechers überzeugenden Argumentation ist. Nach der Diskussion der soziologischen Überlegungen Bourdieus setzt sich Zima im folgenden Kapitel mit den linguistischen Beobachtungen Faircloughs auseinander, der sich ähnlich wie Bourdieu dafür interessiert, wie sich soziale Ungleichheit im Sprachgebrauch niederschlägt. Neben Paul Chilton und Ruth Wodak gehört Norman Fairclough gewiss zu den wichtigsten Initiatoren und Wegbereitern einer linguistisch informierten Kritischen Diskursanalyse, die uns für die lexikalischen, semantischen, pragmatischen und rhetorischen Indikatoren asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse sensibilisiert haben. Dieses kritisch-analytische Wissen heutigen Studenten zu vermitteln, ist in Zeiten des erstarkenden Populismus und der grassierenden fake news und alternativen Fakten wichtiger denn je (cf. Kumkar 2022). Im umfangreichen vierten Kapitel greift Zima Gedanken aus seinen früheren Büchern zur Textsoziologie auf und setzt sich mit dem soziosemiotischen Ansatz von Algirdas Julien Greimas auseinander, dem französisch-litauischen Linguisten, dessen schon den 1960er Jahren erschienene Strukturale Semantik (dt. 1971, neben dem zweibändigen Hauptwerk Du Sens) auch die deutschsprachige Textwissenschaft maßgeblich beeinflusst hat und dessen Sémiotique et science sociales (1976) die Brücke der Textzu den Sozialwissenschaften geschlagen hat. Den Ansatz sucht er mit Modellanalysen zu veranschaulichen (pp 153 - 160), in denen er im Anschluss an die Strukturale Semantik dessen “ Aktantenmodell der marxistischen Ideologie ” (mit kritischem Blick auf Georg Lukács) schematisch darstellt, dann den “ discourse of war ” in Theo van Leeuwens Einführung in die Social Semiotics (2005) erläutert und dabei auch Ecos Kritik an Ian Flemings manichäischem Weltbild streift, und schließlich den Gegensatz von rationalistischem Universalismus und vitalistischem Partikularismus (Tribalismus) in Michel Maffesolis durch die postmoderne Philosophie inspirierter Soziologie z. B. in seinem Buch Le temps des tribus (2019) herausarbeitet, was zugleich ein bezeichnendes Licht auf aktuelle Tendenzen in der politischen Auseinandersetzung zwischen autoritär auftretenden Gruppen des rechten wie linken Spektrums wirft. 342 Ernest W. B. Hess-Lüttich Auf der Grundlage der Diskussion dieser vier wichtigen theoretischen Ansätze (Foucault, Bourdieu, Fairclough, Greimas) widmet Zima sich im zweiten Teil seines Buches der Anwendung des textsoziologisch-soziosemiotisch instrumentierten methodischen Bestecks auf wiederum vier Praxisfelder. In der Auseinandersetzung mit Luigi Pirandellos Roman Einer, keiner hunderttausend und Ervin Goffmans der Untersuchung ‘ totaler Institutionen ’ gewidmeten Hauptwerken Stigma und Asyle versteht es Zima, die Manifestation von Macht in Sprache und anderen Zeichensystemen plausibel herauszuarbeiten. Auch die Vereinnahmung des Subjekts in Diskursen des Justizwesens, wie es in Albert Camus' Der Fremde oder in Artur Londons Ich gestehe (einer autobiographisch motivierten Aufarbeitung des Slánsky-Prozesses in der stalinistischen Epoche Tschechiens, seinerzeit noch Tschechoslowakei) literarisch problematisiert wird, dient dem Verfasser zur Veranschaulichung des Verhältnisses von Sprache und Macht. Die Analyse von Reden des amerikanischen Präsidenten (von der demokratischen Partei) einerseits (Barack Obamas “ Inaugural Address ” von 2009) und seines Nachfolgers (von der republikanischen Partei) andererseits (Donald Trumps Rede “ Save America ” v. 6. Januar 2021, in der er zum Sturm auf das Capitol aufruft und die Parallelen mit rhetorischen Strategien Adolf Hitlers aufweist) sollen verdeutlichen, dass Macht und Manipulation qua Sprache keineswegs auf autoritäre politische Systeme beschränkt sind, sondern auch in gefestigten Demokratien ein gefährliches Potential entfalten können. Nicht minder spannend der Vergleich mit Wladimir Putins verbalen Attacken gegen die USA, in denen er die amerikanische Kommentierung der mutmaßlichen Ermordung des russischen Regimekritikers Alexei Nawalny im Stile der stalinistischen Slánsky-Prozesse umzudeuten versucht. Aber auch die scheinbar so neutralen und allein dem Erkenntnisgewinn gewidmeten Wissenschaften sind gegen Diskurse der Macht nicht gefeit. Das sucht der Verfasser in seinem abschließenden achten Kapitel am Beispiel herausragender Debatten in den Sozialwissenschaften der Bundesrepublik aufzuzeigen, indem er die Gefechtsformationen im legendären “ Positivismusstreit ” ( ‘ Kritischer Rationalismus ’ , Karl Popper und Hans Albert einerseits, ‘ Kritische Theorie ’ , Max Horkheimer und Theodor Adorno andererseits) und in der von ihren jeweiligen Anhängern heftig geführten “ Habermas-Luhmann- Debatte ” (in der es um die Auseinandersetzung zwischen Transzendentalhermeneutik und Systemtheorie ging) noch einmal in erhellender Weise gegeneinander antreten lässt. In ihrem Vergleich arbeitet Zima zugleich ihre partielle Konvergenz heraus, deren erkenntniserschließende Kraft freilich erst im Rahmen einer Dialogizität erkennbar werde, “ die Stärken und Schwächen beider Theorien in einer produktiven Konfrontation ” (p 287) sichtbar mache, statt die eine gegen die andere “ durchsetzen ” zu wollen. Eine solche Konfrontation sei insofern produktiv, weil sie im Sinne Paul Lorenzens in ein Dialog-Modell münde, in dem theoretische Positionen in ihrer Alterität ernstgenommen und auf ihre Fruchtbarkeit hin überprüft werden könnten (cf. Lorenzen 1974). Dabei geht es also weder um kruden Falsifikationismus noch um die transzendentalhermeneutische Selbstimmunisierung qua “ immer-schon ” -Argumentationsfiguren, sondern allenfalls um eine “ Erschütterung ” von Theorien im Sinne eines Vorschlags von Otto Neurath, dem Zima einiges abgewinnen zu können scheint (cf. Neurath 1981: 635 - 644). In einem kurzen Schlusswort erinnert der Autor - anders als die meisten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Thema ‘ Macht ’ - m. E. zu Recht an deren ‘ andere Seite ’ , Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse 343 nämlich die Wechselbeziehung von Macht und Angst, ein Gedanke, den es weiter zu verfolgen gilt. Das Buch ist, wie eingangs erwähnt, als Einführung deklariert. Da könnte es den Leser verwirren, dass die Literaturangaben in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis nicht einheitlich sind, was man als Redundanzvermeidung rechtfertigen könnte, wenn das Prinzip dahinter leichter durchschaubar wäre. Aber abgesehen von solchen Details (wie man sie in manchen Büchern findet, die aus gesammelten Schriften neu zusammengesetzt wurden), ist die ‘ Einführung ’ zum Glück recht anspruchsvoll konzipiert, denn das heute übliche Credo, Studenten müssten ‘ abgeholt ’ werden und Ihnen dürfe keine intellektuelle Anstrengung mehr zugemutet werden, birgt das Risiko einer Nivellierung auf niedrigem Niveau und eine kränkende Unterschätzung ihrer Lernbereitschaft. Es wird ihnen nicht schaden, wenn sie auch etwas lernen dürfen über die Wissenschaftsgeschichte der Textwissenschaft und der Diskursforschung im letzten halben Jahrhundert, an der ein renommierter Autor wie der 1946 in Prag geborene Peter Václav Zima selbst maßgeblich mitgewirkt hat. Daraus gewinnt er die intellektuelle Souveränität für seinen ausgreifenden Überblick in Zeiten, in denen als veraltet und “ nicht mehr aktuell ” gilt, was nicht im neuesten Verlagsprospekt annonciert und im Internet als preprint aufzurufen ist. Nota bene: Apropos Verlagsprospekt: Es mag füglich bezweifelt werden, ob der Verlag Barbara Budrich gut beraten ist, seine Verlagsannonce des Werkes mit der dümmlichen Bewertung in der ‘ Rezension ’ einer ahnungslosen “ Student*in ” zu verlinken, die jedes kritische Wort zu Foucaults Diskursbegriff als Blasphemie missversteht und auf eine weitere verständige Lektüre gleich ganz verzichtet - womit sie unfreiwillig offenlegt, dass sie von Zimas Vorschlag, “ den eigenen Diskurs der Alterität konkurrierender Diskurse zu öffnen, um seine Theoreme und Argumente in einem empirisch fundierten Dialog zu testen ” (p. 296) nichts verstanden hat. Literatur Bourdieu, Pierre 1982: Die feinen Unterschiede, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Fairclough, Norman 3 2015: Language and Power, London / New York: Routledge Foucault, Michel 1966: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard Foucault, Michel 1971: L ’ ordre du discours, Paris: Gallimard Goffman, Erving 1973: Asyle, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Goffman, Erving 1975: Stigma, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Greimas, Algirdas Julien 1966: Sémantique structurale, Paris: Larousse Greimas, Algirdas Julien 1970: Du sens, Paris: Seuil Greimas, Algirdas Julien 1976: Sémiotique et science sociales, Paris: Seuil Greimas, Algirdas Julien 1983: Du sens II, Paris: Seuil Habermas, Jürgen & Niklas Luhmann 1971: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie _ Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt/ Main: Suhrkamp Habermas, Jürgen 1981: Theorie kommunikativen Handelns, 2vols., Frankfurt/ Main: Suhrkamp Habermas, Jürgen 2009: Diskursethik (= Philosophische Texte 3), Frankfurt/ Main: Suhrkamp Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1981: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2016: “ Semiotik ” , in: Ludwig Jäger, Werner Holly et al. (eds.) 2016: Sprache - Kultur - Kommunikation. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft / 344 Ernest W. B. Hess-Lüttich Language - Culture - Communication. An International Handbook of Linguistics as a Cultural Discipline, Berlin / Boston: de Gruyter Mouton, 191 - 210 Hess-Lüttich, Ernest W. B. (ed.) 2021: Handbuch Gesprächsrhetorik, Berlin/ Boston: de Gruyter Kumkar, Nils C. 2022: Alternative Fakten, Berlin: Suhrkamp Leeuwens, Theo van 2005: Introducing Social Semiotics, London / New York: Routledge Lorenzen, Paul 1974: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Luhmann, Niklas 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Maffesoli, Michel 1988: Le temps des tribus. Le déclin de l ’ individualisme dans les sociétés de masse, Paris: Méridiens Klincksieck Neurath, Otto v. [1935] 1981: “ Pseudorationalismus der Falsifikation ” , in: id. 1981: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, vol. 2, ed. Rudolf Haller & Heiner Rutte, Wien: Hölder, Pichler & Tempsky, 635 - 644 Zima, Peter V. 1989: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen: Francke Zima, Peter V. 2 2021: Textsoziologie. Eine kritische Einführung in die Diskurssemiotik, Stuttgart: Metzler Peter V. Zima 2022: Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen / Toronto: Budrich Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse 345 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Sprache, Politik und Macht Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Der junge indische Linguist und Germanist Abhimanyu Sharma, Assistant Professor an der renommierten Jawaharlal Nehru University in New Delhi und derzeit als Gastwissenschaftler am Jesus College der University of Cambridge (UK) tätig, hat mit seinem Buch Reconceptualising Power in Language Policy eine bemerkenswerte Studie zum Vergleich sprachpolitischer Konzepte in mehrsprachigen Regionen vorgelegt, wobei er sich insbesondere auf die Mehrsprachigkeitspolitik im europäischen Raum und auf dem indischen Subkontinent konzentriert. 1 Mehrsprachige Gesellschaften sehen sich bekanntlich gegenüber einsprachigen in allen sozialen Domänen mit besonderen kommunikativen Herausforderungen konfrontiert: im Alltag, in den Institutionen, in der Bildung, in den Medien, in der Politik. Wie gehen mehrsprachige Gesellschaften damit um? Welches Verhältnis besteht zwischen politischer Macht und sprachlicher Vielfalt? Werden Sprachkonkurrenzen politisch dazu missbraucht, soziale, ethnische, ökonomische, kulturelle Asymmetrien zu verstärken (cf. Sarangi ed. 2009)? Antworten auf solche und ähnliche Fragen sucht Sharma durch den Vergleich von vier exemplarisch ausgewählten Regionen in Europa und Indien - nämlich Luxemburg und Wales einerseits und Manipur und Tamil Nadu andererseits - im Hinblick auf deren Sprachensituation und sprachpolitische Rahmenbedingungen. Seiner Untersuchung stellt der Verfasser ein ausführliches Kapitel voran, in dem er zunächst den Begriff der ‘ Macht ’ in den Sozialwissenschaften diskutiert und sein methodisches Instrumentarium der ‘ Kritischen Diskursanalyse ’ (Critical Discourse Analysis CDA) vorstellt. Sodann begründet er seine Auswahl der näher in den Blick genommenen Regionen und erläutert seine sprachpolitischen Quellen (also die auf Sprachgebrauch bzw. Mehrsprachigkeit bezogenen Gesetzestexte) und die sozialen Domänen, in denen sie ihre Wirksamkeit entfalten. Wenn Wales hier noch der Europäischen Union (EU) zugerechnet wird, so deshalb, weil die Untersuchung sich auf den Zeitraum vor dem sog. “ Brexit ” Großbritanniens bezieht. So hat die EU durch entsprechende gesetzliche Bestimmungen 24 Amtssprachen festgelegt, die zwar gleichberechtigt sind, aber nicht gleichrangig. Alle 1 Abhimanyu Sharma 2022: Reconceptualising Power in Language Policy. Evidence from Comparative Cases (= Language Policy, vol. 30), Cham: Springer (= Springer Nature Switzerland), 285 pp., 106,99 € , ISBN 978-3- 031-09461-3 (hardcover). Bürger haben (gemäß § 21 des Vertrages von Maastricht) grundsätzlich das Recht, mit den EU-Institutionen in ihrer eigenen Sprache zu kommunizieren und alle offiziellen Dokumente der EU in Übersetzung anzufordern. Diese werden jedoch in der Regel zunächst meist nur in den Verfahrenssprachen Englisch und Französisch formuliert und dann je nach Bedarf übersetzt. Von den Amtssprachen sind die zwölf Arbeitssprachen zu unterscheiden, während die über 60 Regionalsprachen in der Praxis der EU-Administration kaum eine Rolle spielen (cf. David 2024). Auch die frühen Vorschläge, zur Vermeidung sprachlicher Wettbewerbsvorteile Plansprachen für Europa (etwa auf der Basis von Esperanto) zu entwickeln oder klassische Sprachen (wie Latein) zu revitalisieren, wurden nicht weiterverfolgt. Mit dem Austritt Großbritanniens Ende 2020 gewinnt allerdings die Diskussion nicht nur über die Dominanz des Englischen als europäischer lingua franca, Amts- und Verkehrssprache, sondern vor allem über die exorbitanten Kosten des Übersetzungsdienstes wieder an Bedeutung. Demgegenüber stellt sich die sprachliche Vielfalt in Indien mit den überregionalen Landessprachen Hindi und Englisch sowie zusätzlich 21 offiziell anerkannten Amtssprachen aus mindestens fünf Sprachfamilien (Indo-Arisch, Dravidisch, Austro- Asiatisch, Tibeto-Birmanisch, Andamanesisch) noch komplexer und in sich differenzierter dar (cf. Eberhard et al. 2019; Kausen 2020), wovon die dem Kapitel beigegebenen Karten und Tabellen einen Eindruck vermitteln und Überblick geben können. Nach der umfassenden (und bibliographisch ausgreifend belegten) Einführung widmet sich der Autor dem Verhältnis von Sprachpolitik und Macht in der EU, indem er verschiedene ‘ Machkonstellationen ’ ins Visier nimmt, die vornehmlich durch interne Regelungen des Sprachgebrauchs in ihren Untergliederungen bestimmt werden und die nicht selten zu Konflikten zwischen jenen Repräsentanten der Mitgliedsländer führen, die gegenüber den Verfahrenssprachen den Minderheitenstatus ihrer Sprachen zu behaupten suchen. Zu deren Schutz wurden daher spezielle Bestimmungen erlassen, die Sharma im Hinblick auf diverse soziale Domänen (wie Sozialpolitik, Rechts- und Gesundheitswesen) analysiert. Dabei fällt ihm auf, wie stark diese Bestimmungen durch Modalverben (wie sollen, dürfen etc.) geprägt sind, was eher gute Absichten als harte Regeln vermuten lässt, weil der offiziellen Mehrsprachigkeitspolitik der EU oft handfeste Interessen der Mitgliedsstaaten entgegenstehen. Das daraus erwachsende Konfliktpotential zwischen ‘ großen ’ Arbeitssprachen, ‘ kleinen ’ Minderheits- und Regionalsprachen sowie den Sprachen der Immigranten am unteren Ende der Prestigeskala arbeitet der Verfasser überzeugend heraus. Das dreisprachige Luxemburg dient ihm dann als Beispiel für die Untersuchung ideologisch bedingten Sprachwandels, der geprägt ist durch die zunehmende und amtlich geförderte Priorisierung des 1984 zur ‘ Nationalsprache ’ erklärten Lëtzebuergesch - eigentlich eine moselfränkische Regionalvarietät des Deutschen - gegenüber den Standardsprachen Französisch und Deutsch. Gegenüber diesen beiden Amtssprachen der EU bleibt das Lëtzebuergesch freilich ein Dialekt, der von den Einheimischen zwar im Alltag gesprochen wird, aber schriftlich weder in den Institutionen (Schule, Universität), noch in den Printmedien (Presse) oder in Gesetzestexten (allenfalls in Kammerberichten) Verwendung findet (die wenigen Dialektsendungen im Hörfunk und im Fernsehen machen nur einen Bruchteil der meist von den großen Sendern Deutschland und Frankreichs übernommenen Programme aus). Der sehr hohe Anteil ausländischer Einwohner, von denen die Sprache, Politik und Macht 347 Portugiesen aus historischen Gründen sogar noch den Anteil der französischen Muttersprachler übertreffen, macht die alltagssprachliche Praxis des mehrsprachigen Landes nicht übersichtlicher, zumal in bestimmten Quartieren (wie dem Bankenviertel in Kirchberg) auch noch das Englische prominent vertreten ist. Sharma arbeitet jedoch heraus, wie die offizielle Sprachpolitik zur nationalen Identitätsbildung beizutragen sucht, indem sie die beiden Hauptstandardsprachen als languages étrangères einstuft, was sich aber bildungs- und integrationspolitisch als weitere Konfliktquelle erweist (Nachteile von Dialektsprechen in den Pisa-Studien werden im nationalen Diskurs der Immigration zugerechnet, was wiederum xenophobe Strömungen befördert). Solche lokalen Regionalisierungstendenzen beobachtet der Autor auch in Wales und belegt das in diachroner Perspektive durch die in jüngerer Zeit zunehmende Verbreitung der Empfehlung des Walisischen gegenüber dem Englischen in bestimmten sozialen Domänen. Während historisch betrachtet die Zahl der Sprecher des Walisischen zwischen 1871 und 2011 in Wales von über 70 % auf unter 20 % gesunken ist, steigt der Einfluss von Interessenvertretern etwa der Welsh Language Society, die sich für ein stärkeres Selbstbewusstsein der walisischen Minderheit in Großbritannien einsetzen. Der dritte Teil des Buches ist parallel zum zweiten aufgebaut und beschreibt in drei weiteren Kapiteln die Sprachpolitik in Indien allgemein und besonders in den Regionen bzw. Bundesstaaten Manipur im Osten (an der Grenze zu Myanmar) und Tamil Nadu ganz im Süden (gegenüber von Sri Lanka). Nachdem die ursprünglichen Versuche, Hindi als einzige Nationalsprache durchzusetzen, am Protest der Sprecher der zahlreichen anderen Sprachen gescheitert ist, verfolgt die Regierung eine konsequente Mehrsprachigkeitspolitik, die den Status der Sprecher von Minoritätensprachen respektiert. Tatsächlich lernt der mit der Situation vor Ort vielleicht weniger vertraute Leser dieses Kapitels eine Menge über die faszinierende Sprachenvielfalt des riesigen Landes mit seiner komplexen Hierarchie von zwei Nationalsprachen (Hindi, Englisch), 21 weiteren Amtssprachen, etwa 65 Regionalsprachen und 100 weiteren ‘ nicht offiziellen ’ Sprachen und ihren ca. 150 Dialekten sowie ‘ nicht anerkannten ’ Stammessprachen, also Sprachgemeinschaften mit weniger als 10.000 Sprechern. Ein bis heute virulentes Problem ist allerdings die Abgrenzung zwischen Sprachen (languages), Varietäten (mother tongues) und Dialekten, was zu bizarren Schwankungen in der Zählung der Sprachen in Indien geführt hat. Der erste Linguistic Survey 1816 von W. Marey zählte 33 Sprachen, Grierson kam 1923 in seinem legendären Linguistic Survey of India auf 250 Sprachen und 750 Dialekte (Varma 1972). Sarangi (2009) erinnert an einen Zensus, der 1881 nicht weniger als 3000 mother tongues notiert, 1961 sackte die Zahl dann auf 1652, 1981 stieg sie wieder auf fast 7000, 1991 gar auf 10.400, aber nur 114 Sprachen wurden gefunden. Heute gilt die von Gordon (zuerst 2005) geschätzte Angabe von 427 Sprachen als sprachwissenschaftliche (nicht aber sprachpolitische) Grundlage. Die von der Regierung als rationalization process betriebene Subsumtion von Dialekten unter die regional je dominante Sprache hat in besagtem Zensus zu 121 Sprachen geführt, was sprachpolitisch jedoch als reductionist policy kritisiert wird, die viele Sprecher ihrer sprachlichen Identität beraube. Dabei verbietet Art. 29 der indischen Verfassung die Diskriminierung aufgrund der Sprache genauso wie die aufgrund von Religion, Rasse oder Kaste und garantiert allen Bürgern das Recht zur Bewahrung ihrer Sprache, Schrift und Kultur. Derweil ist Englisch, wenn auch mit starkem Akzent (Indian 348 Ernest W. B. Hess-Lüttich English), weiter auf dem Vormarsch. So könnte aus der einstigen Kolonialsprache ein Vehikel zur Integration vielsprachiger Gesellschaften in einer Kommunikationsgemeinschaft werden, wäre da nicht der wachsende Einfluss des politischen Nationalismus unter dem Premier Narendra Modi, der sprach- und religionspolitisch eher auf Abgrenzung setzt als auf Pluralität und Integration. Konfliktstoff bietet seit langem auch immer wieder die Aufnahme regionaler Sprachen in die Liste der offiziellen Amtssprachen gemäß der “ Eighth Schedule ” , wofür bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, weil das Kriterium für die Aufnahme einer Sprache in diese Liste - eine eigene Literatur- und Medientradition - nicht immer konsequent Anwendung findet (Dutt 2006). Es sind auch keine demographischen, kulturellen oder linguistischen Kriterien ausschlaggebend, sondern eher solche des politischen Einflusses. Die Aufnahme von Urdu war z. B. eine politische Konzession an die Muslime, obwohl es sich außer in der Lexik (mit Integraten aus dem Persischen) kaum von Hindi (mit seinen Sanskrit-Ursprüngen) unterscheidet. Umgekehrt wurde die Aufnahme in die Liste dem von gut 33 Millionen Sprechern gebrauchten Bhoipuri als einer Hindi-Varietät verwehrt. Marwari im Bundesland Rajasthan hat es nicht geschafft, weil die Vertreter der anderen Sprachen (Mewari, Harauti, Malvi, Dhundhari, Urdu, Panjabi) sich benachteiligt fühlten. Voraussetzung zur Anerkennung als ‘ klassische Sprache ’ (wie Sanskrit, Pali und Pakrit) ist der Nachweis einer literarischen Tradition von 1500 - 2000 Jahren, dann besteht Aussicht auf Förderung ihrer Erforschung. Als Tamil 2004 diesen privilegierten Status erkämpft hatte, reklamierten die Vertreter von Kannada und Telugu das auch für ihre Sprachen, wogegen die Tamilen wiederum vor Gericht zogen. Der Sprachenkonflikt schwelt bis heute. Dennoch hält Sharma die Kompromisse zwischen den Bundesstaaten, in denen mehrheitlich Hindi gesprochen wird, und jenen, in denen andere Sprachen dominieren, für essentiell im Hinblick auf den (politischen) Zusammenhalt des Landes. Bedeutsam sind hier auch die domänenspezifischen Prioritäten. So dominiert im administrativen Sektor Hindi und im Justizwesen Englisch, während im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens auch minoritäre Sprachen zum Zuge kommen. Im Bildungssektor ist die Lage etwa so unübersichtlich wie in Deutschland mit seiner Kulturhoheit der Länder. Eigentlich fordert die “ Three Language Formula ” den schulischen Erwerb von (mindestens) drei Sprachen: die jeweilige Regionalsprache, Hindi (bzw. eine andere Regionalsprache in den Hindisprachigen Regionen), Englisch und/ oder eine andere lebende europäische Sprache wie Deutsch, Französisch oder Russisch. Diese nationale Vorgabe der Sprach(en)politik findet freilich nicht in allen Bundesstaaten Beachtung, bei denen die Bildungshoheit liegt, was immer mal wieder zu Konflikten führt, die vor allem den Status jeweiliger Regionalsprachen in der Konkurrenz mit den Nationalsprachen betreffen. Sprachkonflikte entzündeten sich auch an dem ursprünglichen Plan, Hindi als alleinige Nationalsprache zu installieren, was z. B. für die Tamilen inakzeptabel war, die über eine jahrtausendealte Sprach- und Literaturtradition verfügen. Wie in der EU (oder der Schweiz) war die Dreisprachenpolitik für die innerstaatliche Verständigung nur begrenzt erfolgreich; in den Hindi-Regionen lernten die Menschen oft lieber Sanskrit als die Sprache des benachbarten Bundeslandes, in Nordindien wurden die südindischen Sprachen nicht gelernt und umgekehrt. Inwiefern sogar geomorphologische Bedingungen sprachpolitische Entscheidungen beeinflussen können, zeigt die Beschreibung der Lage im ostindischen Bundesstaat Sprache, Politik und Macht 349 Manipur, in dem die minoritären Sprachen, die in den entlegenen Gebirgsregionen gesprochen werden, gegenüber der Hauptlandessprache Meitei des besonderen Schutzes bedürfen. Hier werden die sprachpolitischen Kriterien also ergänzt um weitere (binäre) Kategorien topographisch-geographischen, historischen, religiösen Ursprungs (wobei Aspekte der Kolonialgeschichte, der wirtschaftlichen Prosperität, der interreligiösen Spannungen etc. eine bislang zu wenig beachtete Rolle spielen). Solche binären Kategorien - etwa die Spannungsbalance zwischen arischem und dravidisches Erbe, zwischen Norden und Süden, Hindi und Tamil, Brahmanen und nicht-brahmanischen Kasten - bestimmen auch die Sprachpolitik im südlichen (östlich von Kerala gelegenen) Bundesstaat Tamil Nadu, die wesentlich dazu beigetragen hat, Hindi als alleinige Nationalsprache zu verhindern. Aus historischem Selbstbewusstsein speist sich der Stolz auf die lange Tradition tamilischer Sprache und Literatur, die schließlich, wie erwähnt, die Anerkennung des Tamilischen als ‘ klassische Sprache ’ zur Folge hatte (wovon die 17 weiteren minoritären Sprachen des Bundesstaates freilich sprachpolitisch nicht sehr profitierten). Das Verdienst dieses faszinierenden Buches ist es nicht nur, neue Einsichten zu gewähren in die Sprachenvielfalt polylingualer politischer Gemeinschaften (hier am Bespiel ausgewählter Regionen in Europa und in Indien) und ihre internen sprachbezogenen Machtbalancen, sondern auch methodisch neue Wege sprachpolitischer Analyse aufzuzeigen, sie systematisch auf soziale Domänen zu beziehen und zu prüfen, inwiefern und inwieweit sprachprotektorische Reglements ihren Niederschlag in Statuten und anderen juristischen Kodifikationen gefunden haben. Die Befunde erlauben es überdies, der Skepsis gegenüber allzu blindem Vertrauen in vermeintliche statistische Gewissheiten Raum zu geben und sich der politischen Signifikanz des Gebrauchs von Modalverben in sprachbezogenen Gesetzestexten bewusst zu werden. Das Schlusskapitel fasst den wissenschaftlichen Ertrag der Untersuchung bündig zusammen und eröffnet die Perspektive auf weitere Fragestellungen für die einschlägige Forschung, zu der man ausdrücklich ermuntern möchte. Überzeugend ist auch die formale Sorgfalt in der Durchführung der Analysen, die Konsequenz in der Vergleichbarkeit der Kategorien, die in jedem einzelnen Kapitel historisch-strukturelle Faktoren, soziologisch-domänenspezifische Aspekte und linguistische Befunde aufeinander beziehen. Dies erleichtert es dem Leser (neben den Zusammenfassungen und Schlussfolgerungen, die auch dem eiligen Leser einen schnellen Überblick über die Ergebnisse eines jeden Kapitels zu gewinnen erlauben), Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den hier zueinander in vergleichenden Bezug gesetzten Sprachregionen zu verstehen. Geradezu verblüffend ist die jedem Kapitel beigegebene Zahl der für diese Untersuchung gesichteten primären (juristischen) und sekundären (linguistischen) Texte und Materialien. Die vergleichende Erforschung sprachpolitischer Ansätze, insbesondere von solchen, die sich auf die Förderung (oder Behinderung) der Mehrsprachigkeit beziehen, hat mit diesem Buch von Abhimanyu Sharma eine große Bereicherung erfahren. 350 Ernest W. B. Hess-Lüttich Literatur Bogner, Andrea, Vibha Surana, Manjiri Paranjape & Meher Bhoot (eds.) 2021: Inszenierte Mehrsprachigkeit | Contexting Multilingualism, Bielefeld: transcript David, Emma-Katharina 2024: Die Politik der Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union. Regionen als Brücke zwischenstaatlicher Zusammenarbeit (= Border Studies. Cultures, Spaces, Orders, vol. 9), Baden-Baden: Nomos Dutt, Sagarika 2006: India in a Globalized World, Manchester: Manchester University Press Eberhard, David M., Gary F. Simons & Charles D. Fennig (eds.) 22 2019: Ethnologue: Languages of the World, Dallas, Texas: SIL International [Online version: http: / / www.ethnologue.com] [01.11.2022] Földes, Csaba & Thorsten Roelcke (eds.) 2022: Handbuch Mehrsprachigkeit (= Handbücher Sprachwissen HSW 22), Berlin/ Boston: de Gruyter Gordon, Raymond G. 2005: Ethnologue: Languages of the World, Dallas, Texas: SIL International [Online version: http: / / www.ethnologue.com] [01.11.2022] Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2006: “ Sprachpolitische Überlegungen zu mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der Schweiz ” , in: Acta Germanica. German Studies in Africa 34 (2006), 9 - 23 (= Jahrbuch des Germanistenverbandes im südlichen Afrika 2006, ed. Annette Horn et al., Frankfurt / Berlin / Bern etc.: Peter Lang) Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2021: “ Diversität der Sprachen: ein Konfliktpotential plurilingualer Gesellschaften. Erfahrungen mit sprachpolitischen Strategien ” , in: Naima Tahiri, Mohammed Laasri, Said El Mtouni & Rachid Jai-Mansouri (eds.) 2011: Germanistik und DaF in mehrsprachigen Kontexten. Sprachdidaktische, interkulturelle und systemorientierte Perspektiven, Berlin: Frank & Timme, 15 - 42 Kausen, Ernst 2020: Die Sprachfamilien der Welt (Sonderausgabe), 2 vols., [Teil I 1 2013: Europa und Asien, Teil II 1 2014: Afrika - Indopazifik - Australien - Amerika], Hamburg: Buske Pereltsvaig, Asya 2017: Languages of the World. An Introduction, Cambridge: Cambridge University Press Sarangi, Asha (ed.) 2009: Language and Politics in India, New Delhi etc.: Oxford University Press Sharma, Abhimanyu 2022: Reconceptualising Power in Language Policy. Evidence from Comparative Cases (= Language Policy 30), Cham: Springer Varma, Siddheshwar 1972: G. A. Grierson ’ s Linguistic Survey of India. A Summary, Part I, Hoshiarpur: V. V. R. I. Press Sprache, Politik und Macht 351 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Recent Readings - Reviews Rezente Lektüren - Kurzrezensionen und Buchempfehlungen Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Samuel Clowes Huneke 2022: States of Liberation. Gay Men between Dictatorship and Democracy in Cold War Germany, Toronto / Buffalo / London: Toronto University Press, 380 pp., 38,95 $, ISBN 978-1-4875-4214-6 (paperback) Angesichts der Bedeutung dieses im anglophonen Raum vielfach besprochenen und hoch gelobten Buches von Samuel Clowes Huneke über die Geschichte der Befreiung homosexueller Menschen aus ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung und insbesondere ihrer grausamen Verfolgung während der Zeit des Nationalsozialismus erstaunt, wie wenig es bislang in Deutschland, Österreich oder der Schweiz rezensiert wurde. Deshalb ist es geboten, auf das Verdienst des Autors aufmerksam zu machen, mit dieser gründlichen Recherche zur quälend langen Geschichte der Selbstbefreiung einer aus religiös-ideologischen Gründen verfolgten Minderheit eine wichtige Forschungslücke gefüllt zu haben. Das Verdienst wiegt umso schwerer als der Autor damit zugleich eine empirisch gut belegte Geschichte der Homophobie in der westdeutschen Bundesrepublik (BRD) und der mitteldeutschen DDR während der Nachkriegszeit vorgestellt hat, eine Epoche, die einen Zeitraum von vier Dekaden umfasst, von der Gründung der beiden deutschen Staaten auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs bis zum “ Mauerfall ” und zur (Wieder-) Vereinigung (wobei heute in der allgemein üblichen Rede von “ Ostdeutschland ” das ehemalige eigentliche ‘ Ostdeutschland ’ jenseits der Oder-Neiße-Linie nach der sog. ‘ Polnischen Westverschiebung' im Zuge der stalinistischen Ausdehnung des russischen Imperiums als dem westlichen Teil Polens zugehörig völkerrechtlich anerkannt ist). Mit seiner quellengesättigten Studie sucht Huneke drei Thesen zu belegen, nämlich dass erstens die Geschichte der staatlichen Verfolgung von Homosexuellen in der Nachkriegszeit in beiden Teilen Deutschland eine sehr viel ausgeprägtere Homophobie in den 1950er und 1960er Jahren zutage treten lässt als viele heute wahrhaben wollen; dass zweitens die Geschichte der schwulen Selbstbefreiung (gay liberation) in beiden Teilen Deutschlands die verbreitete Überzeugung relativiert, sie sei nur im demokratischen Westen möglich und denkbar gewesen; dass drittens die kulturelle und rechtliche Entwicklung durchaus gegenläufige Tendenzen aufwies, indem im Westen die Einstellung gegenüber Homosexuellen seit 1968 zwar oberflächlich liberaler zu werden schien (und die Bildung erster ‘ Schwulenszenen ’ erlaubte), was aber politisch kaum Veränderungen zeitigte, während umgekehrt im Osten die staatliche Anerkennung politisch viel früher als im Westen erfolgte, aber die soziokulturelle Sichtbarkeit der Homosexuellen weiterhin tabuisiert blieb, was ihnen nur im Verborgenen und Privaten erlaubte, ihrer Identität gemäß zu leben. Die subtilen Mechanismen der Diskriminierung blieben also auf je unterschiedliche Weise wirksam. Zu Recht erinnert Huneke an die Verschärfung des einschlägigen Paragraphen 175 im deutschen Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) unter dem Nazi-Regime, der Hunderttausenden von polizeilich der “ Unzucht mit einem anderen Manne ” Beschuldigten zum Verhängnis wurde und von denen allzu viele (genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, die Schätzungen bewegen sich zwischen 5000 und 15.000) als mit dem “ Rosa Winkel ” Gekennzeichnete in den Konzentrationslagern umkamen. Eben dieser § 175 blieb im neuen Strafgesetzbuch der jungen Bundesrepublik in der Nazifassung unverändert bestehen und wurde 1957 sogar durch das Bundesverfassungsgericht noch einmal bekräftigt. Es kam zu mehr als 100.000 Ermittlungsverfahren und über 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen, bis das Gesetz durch den sozialdemokratischen Bundesjustizminister Gustav Heinemann erst 1969 endlich abgemildert wurde (cf. Federl 2017: 5). 1 Man muss die aus heutiger Sicht haarsträubend anmutenden Urteilsbegründungen der Richter lesen, um zu verstehen, unter welchem gesellschaftlichen Druck (und welcher strafrechtlich konkreten Bedrohung) schwule Männer damals lebten. Und man muss diejenigen, die heute über ihren jahrzehntelangen Kampf um gleiche Rechte lästern ( “ Was wollen sie denn noch! ” ), daran erinnern, dass die polizeiliche Registrierung und Überwachung von Homosexuellen bis weit in die 1980er Jahre hinein gängige Praxis war. Die sog. “ Rosa Listen ” der Polizei verzeichneten allein in München ca. 3000 und in Berlin (West) über 4500 Männer; in Thüringen, Bayern und Nordrhein-Westfalen war ‘ homosexuell ’ bis 2005 (! ) eine polizeilich registrierte ‘ Tätergruppe ’ , ihre diskreten Treffpunkte galten als potentielle ‘ Tatorte ’ (cf. Federl 2017: 5). 2 Insofern war nicht verwunderlich, dass viele der Betroffenen auf die in ihren Augen viel “ fortschrittlichere ” Gesetzeslage in der DDR verwiesen, wo umgekehrt das Leben der Schwulen mit ihren Subkulturen im “ freien Westen ” (Berlins zumal) als Sehnsuchtsort galt. Nach der Einleitung, die einen guten Überblick über die Ziele der Studie und ihre Quellen bietet, widmet der Autor sein erstes Kapitel einem Blick zurück auf die unmittelbare Vorgeschichte zu dem von ihm ins Auge gefassten Zeitraum, also die Lage der Homosexuellen im deutschen Kaiserreich und unter dem Nazi-Regime. Zwischen den beiden Weltkriegen aber lag die leider nur kurze, aber vergleichsweise liberale Periode der sog. ‘ Weimarer Republik ’ , in der es zumindest in den Großstädten, in Berlin vor allem, eine durchaus lebendige Schwulenszene gab (cf. Beachy 2015). Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 fand die (auf die Subkultur) beschränkte und begrenzte Freiheit ein jähes Ende, jetzt wurden die Betroffenen noch schärfer beobachtet und verfolgt denn je. Nach der Befreiung Deutschland durch die Aliierten 1945 blieb die rechtliche Lage der Minderheit indes so prekär wie zuvor (s. o.). Davon handeln die Kapitel drei und vier, die die Geschichte der Repression der Homosexuellen von 1949 - 1969 in den beiden deutschen Staaten behandelt und vergleicht. Dabei erscheint die Lage in der der DDR dem Verfasser, von außen 1 http: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ zeitgeschehen/ 2017-07/ homosexualitaet-paragraf-175-schwulenverfolgungrichter-klaus-beer [06.08.2017]; Zur Geschichte des § 175: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ §_175 [31.07.2017]. 2 Übrigens sammelt Europol noch heute Daten zum Sexualleben von Menschen. Cf. auch Hess-Lüttich 2017. Recent Readings - Reviews 353 betrachtet, vielleicht in einem etwas milderen Licht als die Betroffenen erinnern mögen. Sie suchten und fanden ihre Nischen, waren aber weit davon entfernt, gesellschaftlich akzeptiert zu sein. Erst nach einem Regierungswechsel 1969 konnte im Westen Deutschlands eine erste zaghafte Liberalisierung gegen konservative Widerstände durchgesetzt werden. In der DDR dagegen war der ominöse § 175 ohne große Debatte stillschweigend gestrichen worden - in marxistischer Sicht war die sexuelle Orientierung eben allenfalls ein “ Nebenwiderspruch ” , was das kommunistische Regime aber keineswegs davon abhielt, das Repressionspotential zu nutzen, das die mangelnde Akzeptanz der Minderheit in der Gesellschaft weiterhin bot. Die weiteren Kapitel rekonstruieren aus den Quellen die perfide Konsequenz, mit der die Staatssicherheitsbehörde ( “ Stasi ” ) die schwulen Subkulturen in West wie Ost mit Informanten unterwanderten, um sich das in ihnen vermutete Erpressungspotential zunutze zu machen. Gleichzeitig machten im Westen studentische Befreiungsbewegungen in der Nachfolge der Stonewall-Proteste gegen homophobe Übergriffe der Polizei in den USA und der gayliberation-Bewegung in England zunehmend nachdrücklich liberale Rechte für die Homosexuellen auch in Deutschland geltend. Aber erst unter einer sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt wurde 1974 eine Entschärfung der Gesetzeslage möglich, während in der Gesellschaft längst eine entspanntere Haltung gegenüber Schwulen spürbar war. Im Osten dagegen wurde die Repression gegen solche parallelen Bestrebungen wieder stärker in dem Maße, in dem darin liberale Abweichungen von der Parteilinie der SED beargwöhnt wurden. So erstarb das zarte Pflänzchen der Freiheit zu Beginn der 1980er Jahre alsbald wieder im Zeichen der Bedrohung durch die AIDS-Krise und das Erstarken neo-konservativer Kräfte im Westen, während im Osten versucht wurde, unter dem Schutz der (evangelischen) Kirche (und dem Radar der Stasi) weiterhin für humanistische Rechte einzustehen. Solche teilweise gegenläufigen Entwicklungen scheinen mir den Autor dieses vorbildlich recherchierten Buches bei der Interpretation seiner Quellen zuweilen zu Schlussfolgerungen zu verleiten, die möglicherweise der biographischen Distanz zu den historischen Fakten geschuldet sind. So unterschätzt Huneke systematisch den Suppressionsapparat der DDR ebenso wie die Freiheitsräume im Rahmen des immer noch konservativ geprägten Rechtsstaates der BRD. Als Zeitzeuge mit biographischen Bezügen zu beiden deutschen Staaten beurteile ich die faktische Lage der Queers in der DDR trotz im Vergleich zur BRD lange vordergründig liberalerer Gesetzeslage kritischer als Huneke, der sich möglicherweise von einer eher ökonomisch-legalistisch als politisch-soziokulturell definierten Sicht auf die Gesellschaft leiten lässt. Während im Rechtsstaat Gesetzesreformen letztlich Freiheitsräume eröffneten, diente dem mitteldeutschen Staatssozialismus (in seiner Sicht) abweichendes Verhalten nach wie vor als Instrument der Suppression, was immer die formale Gesetzeslage besagte. Bis zu einer wirklichen Befreiung der Homosexuellen im Sinne einer rechtlichen und humanistischen Gleichberechtigung sollte es freilich selbst im vereinigten Deutschland abermals Dekaden dauern, bis sie 2017 gegen den anhaltenden Widerstand konservativer Parteien und der katholischen Kirche mit der Verabschiedung eines Gesetzes, das Homosexuellen die Heirat erlaubte ( “ Ehe für alle ” , cf. Möllers 2017) und weitere (z. B. steuerrechtliche) Diskriminierungen aufhob, endlich Wirklichkeit wurde. Und 354 Ernest W. B. Hess-Lüttich schon droht die Gegenbewegung von klerikaler (evangelikaler) und politisch reaktionärer Seite (AfD usw.) die so mühsam errungenen Rechte wieder zu gefährden, verbale Aggressionen (hate speech) häufen sich, die Zahl homophober Übergriffe und Gewalttaten (hate crimes) gegen Schwule steigt. Wie schnell eine Liberalisierung auch wieder rückgängig gemacht werden kann, zeigt sich in autoritär regierten Staaten selbst innerhalb der EU (Ungarn, Slowakei), die sich damit über europäisches Recht hinwegsetzen. Wachsamkeit bleibt also geboten, und Huneke liefert dafür gute Argumente. Literatur Beachy, Robert 2015: Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität - eine deutsche Geschichte 1867 - 1933, München: Siedler Federl, Fabian 2017: “ Tagesgeschäft Schwulenverfolgung ” , in: Zeit online v. 06.08.2017, im Internet: http: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ zeitgeschehen/ 2017-07/ homosexualitaet-paragraf-175-schwulenverfolgung-richter-klaus-beer [06.08.2017] Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2017: “ Queer Spaces. Ein Stadtviertel im Zeichen des Regenbogens: Subkultur in Schöneberg ” , in: Peter Handler, Klaus Kaindl & Holger Wochele (eds.) 2017: Ceci n ’ est pas une festschrift. Texte zur Angewandten und Romanistischen Sprachwissenschaft für Martin Stegu, Berlin: Logos, 293 - 310 Möllers, Christoph 2017: “ Was heißt Ehe für alle? ” , in: Die Zeit 28 v. 06.07.2017: 37 Annamária Fábián & Igor Trost (eds.) 2018: Sprachgebrauch in der Politik. Grammatische, lexikalische, pragmatische, kulturelle und dialektologische Perspektiven, (= Reihe Germanistische Linguistik 319), Berlin / Boston: de Gruyter 366 pp., 129,95 € , ISBN 978-3-11-063772-4 (hardcover) Dieser von Annamária Fábián und Igor Trost zusammengestellte Band versammelt die überarbeiteten Vorträge zu einer Tagung, die bereits Ende 2015 in Passau stattfand, die aber nichts von ihrer Aktualität verloren haben und viele Facetten politischen Sprachgebrauchs behandeln. Insofern eignet sich der Band gut als eine Ergänzung zu den gängigen Einführungen in die Politolinguistik. Das Buch gliedert sich in vier Teile. Den ersten Teil nimmt ein Grundsatzartikel von Manfred Michael Glauninger ein, der die “ Politizität von Sprache als Zeichen ” exponiert, womit der Autor “ eine (meta-)semiotische Perspektivierung ” politischen Sprachgebrauchs vorschlägt, um das Spektrum einschlägiger Untersuchungsansätze einerseits zu erweitern und diesen andererseits ein theoretisch integratives Fundament zu verleihen. Der zweite Teil ist der Funktion grammatischer Einheiten im politischen Sprachgebrauch gewidmet. Zunächst fragt Ludwig M. Eichinger, ob es überhaupt so etwas wie eine “ Grammatik der politischen Sprache ” gebe. Diese Frage diskutiert er anhand von Mustern und Schemata in parlamentarischen Reden und kommt dabei zu dem Schluss, das politische Rede zwar über bestimmte grammatische Präferenzen verfüge, die sich aus der Funktion und kommunikativen Praxis ergäben, aber man angesichts ihrer Heterogenität von einer textsortenspezifischen ‘ Grammatik ’ im engeren Sinne nicht sprechen könne. Igor Trost dagegen weist in seinem Beitrag über “ Modalpassivische Konstruktionen in Regierungserklärungen der deutschen Bundesregierungen ” typische Muster einer coverten Modalität Recent Readings - Reviews 355 auf, die das Agens verschleiern, womit die Redner die Intransparenz bezüglich klarer Verantwortlichkeiten in Kauf nehmen oder sogar bewusst befördern können. Annamária Fábián hat sich jene berühmte Bundespressekonferenz der Bundeskanzlerin Angela Merkel angeschaut, in der diese die Zuhörer durch entsprechende persuasive Strategien (u. a. mit dem Satz “ Wir schaffen das! ” ) davon zu überzeugen suchte, dass und wie das Flüchtlingsproblem zu lösen sei. In einem weiteren, gemeinsam mit Anja Enzensberger verfassten Beitrag über “ Sprachliche Konstruktionen der Einheit durch Substantive ” kann Fábián am Beispiel der Neujahrsansprache 2015/ 16 von Angela Merkel zeigen, wie mittels der Verwendung von bestimmten Eigennamen und Personalpronomina kollektive Identitäten und ihre Abgrenzung von anderen Großgruppen hergestellt werden können. Richard Ingham nimmt in seinem Aufsatz über “ The syntax of foregrounding and backgrounding in English Civil War political discourse ” die seinerzeit aktuelle Brexit-Debatte in Großbritannien zum Anlass und Ausgangspunkt für die Herleitung historischer Muster persuasiver Argumentation seit dem englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert, wie sie sich im Briefwechsel des Königs (Charles I) und dem Parlament niedergeschlagen haben und nun auch wieder in der Brexit-Kontroverse wiederfinden lassen. Stefanie Ullmann hat sich die Reden von Politikern zum sog. ‘ Arabischen Frühling ’ angehört und verbindet in ihrer methodisch interessanten (auch quantitativ unterfütterten) Studie grammatische Analyse mit kritischer Diskursforschung, um subtile Strategien politischer Manipulation zu entlarven und damit den diskursiven Wert bestimmter grammatischer Strukturen auszuweisen. Der dritte Teil des Buches versammelt Beiträge zur Funktion morphologischer, lexikalischer und stilistischer Einheiten im politischen Sprachgebrauch. Am Beispiel von Redebeiträgen zu einer Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag analysiert Hans-Werner Eroms Stilfiguren wie “ Syllogismen und Belehrungen ” und deren unterschiedliche Gewichtung bei Rednern der Regierung einerseits und der Opposition andererseits. Thomas Niehr plädiert in seinem Beitrag über “ Schlagwörter ” für eine Differenzierung des Schlagwortbegriffs und die empirische Analyse seines Vorkommens in größeren Corpora. (Er selbst hat ein solches Corpus von 123 Bundestagsdebatten zwischen 1964 bis 2014 zusammengestellt und darin mehrere Funktionen der Schlagwortverwendung gefunden). Als Politikwissenschaftler interessiert sich Ralf Thomas Göllner für die Wirkung des (ursprünglich positiv auf Vielfalt zielenden) Multikulturalitätsbegriffs im Migrationsdiskurs und diagnostiziert dessen zunehmende Degradierung zu einem herabsetzenden Kampfbegriff ( “ Multikulti ” ) in der politischen Auseinandersetzung. Um Remotivierungsprozesse geht es Rüdiger Harnisch in seiner Beobachtung der Verwendung von “ Partizipien als meliorisierende Ersatzkonstruktionen für personenbezeichnende Derivata ” zum Beispiel bei der Substitution der Bezeichnung für ‘ Flüchtlinge ’ durch ‘ Geflüchtete ’ , was er auch gendersprachlich als Vorteil empfindet (ohne freilich zu bedenken, dass damit nicht nur der Rechtsbegriff ‘ Flüchtling ’ außer Betracht gerät, sondern auch eine Verharmlosung einhergehen kann, weil das Partizip Perfekt etwas bezeichnet, das abgeschlossen, vergangen und damit überwunden ist, während Flüchtlinge durch ihre traumatischen Fluchterfahrungen oft ein Leben lang geprägt werden - cf. Kossert 2020). Um Flüchtlings- und Zuwanderungsdiskurse und ihren Wandel im Laufe der Nachkriegszeit geht es auch Fabian Kreußler und Martin Wengeler, wenn in ihrem Kapitel “ Von 356 Ernest W. B. Hess-Lüttich Heimatvertriebenen, Armutsflüchtlingen und Refugees ” die Rede ist, deren Bedeutungsveränderungen sie im Mediendiskurs seit den 1950er Jahren sie nachspüren. Im Grunde könne jedes Wort politisch gebraucht werden, meint Jörg Kilian in seinem Beitrag über “ Politische Semantik, interkulturelle ‘ Hotwords ’ und didaktische Sprachkritik ” , und damit im politischen Streit auch Konfliktpotential entfalten, etwa wenn es - wie im Falle der (von Heringer so genannten) ‘ Hotwords ’ , die mit der Kultur eines Landes assoziiert werden, - interkulturelle Missverständnisse hervorrufen könne. Einen Blick ins benachbarte Frankreich werfen Sandra Issel-Dombert und Marie Serwe und unterziehen unter dem Titel “ Quo vadis, Front National? ” das Parteiprogramm der französischen Rechtspopulisten einer kritischen Analyse, die ähnliche antagonistische Diffamierungsstrategien nachweist, wie wir sie auch von den deutschen Rechtspopulisten her kennen. Der vierte Teil des Buches ist der Untersuchung der Funktion von Varietäten und Identitätskonstruktionen im politischen Sprachgebrauch gewidmet. Der aus Ungarn stammende Erfurter Linguist Csaba Földes hat Zeitungen der deutschsprachigen Minderheit in Ungarn durchgesehen und darin sprachliche Strategien ausgemacht, die der kollektiven Identitätsbildung und Selbstvergewisserung dienen. Eine ähnliche Funktion haben der Beobachtung von Pascale Erhart zufolge die Reden elsässischer (Lokal-)Politiker in Funk und Fernsehen, die (z. B. im Regionalsender France 3 Alsace) Volksabstimmungen in ihrem Sinne zu beeinflussen suchen, indem sie mit ihrem Dialektgebrauch ein Gemeinschaftsbewusstsein der angesprochenen Gruppen stiften. In Wien konstatiert Peter Ernst mit seinem Beitrag “ Von ‘ politischer Sprache ’ zu ‘ politischer Aussprache ’” eine regional bzw. dialektal, aber auch ideologisch begründete Abweichung im Sprachgebrauch der Nazis von der standardsprachlichen Norm. Ein kurzes Kapitel über den politisch begründeten “ Benennungswandel vom Amselfeld zur Republik Kosovo ” von Vjosa Hamiti und Blertë Ismajli rundet den Band ab und zeigt auf, wie aus dem Toponym ‘ Kosovo ’ ein Demonym wird, das der Identitätskonstruktion dient und schließlich zum Staatsnamen (mit schwankender Genuszuschreibung) auch in deutschen Medien avanciert. Das Buch ist in seiner thematischen Vielfalt zur Ergänzung der politolinguistischen Monographien zu empfehlen. Nota bene: Die verantwortliche Herausgeberin Annamária Fábián ist jüngst auch mit einer verdienstvollen Edition über The Representation of REFUGEES and MIGRANTS in European National Media Discourses from 2015 to 2017 hervorgetreten, die in der von ihr gemeinsam mit Igor Trost und anderen betreuten Buchreihe Linguistik in Empirie und Theorie / Empirical and Theoretical Linguistics erschienen ist und auf die hier ausdrücklich verweisen sei, weil sie einen nützlichen Überblick bietet über die Verwendung der beiden Begriffe in den österreichischen, belgischen, französischen, deutschen, britischen, indischen, polnischen, serbischen, spanischen, schwedischen, türkischen Mediendiskursen. Literatur Annamária Fábián (ed.) 2023: The Representation of REFUGEES and MIGRANTS in European National Media Discourses from 2015 to 2017. A Contrastive Approach (Corpus Analysis), Berlin: Metzler/ Springer Kossert, Andreas 2020: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte, München: Siedler Recent Readings - Reviews 357 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Autorinnen und Autoren / Authors Hans Giessen ist Professor an der Jan Kochanowski-Universität in Kielce (Polen), yliopiston dosentti an der Universität Helsinki (Finnland) und apl. Professor an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken (Deutschland). Ernest W. B. Hess-Lüttich (*1949), Ordinarius emeritus (Germanistik: Sprachu. Literaturwiss.) Univ. Bern (CH) [1991 - 2014], Hon. Prof. (Allg. Linguistik) TU Berlin (D) [seit 2015], Hon. Prof. (German Studies) Stellenbosch Univ. (ZA) [2007 - 2017] u. University of Cape Town (ZA) [seit 2020], Gastprof. MHB Fontane (D) [seit 2016]; Dr. phil. (Philologien), Dr. paed. (Sozialwiss.), Dr. habil (Germanistik u. Allg. Linguistik), Dr. h. c. [Budapest 2009]; akad. Werdegang: Lektor in German London Univ. [1970 - 72], Wiss. Ass. Anglistik TU Braunschweig [1974 - 75], Wiss. Ass. Germanistik FU Berlin [1975 - 80], Priv. Doz. Dt. Philologie + Allg. Linguistik Bonn/ Berlin [1985 - 90], Full Prof. German Studies, Assoc. Prof. Comparative Literature, Research Fellow Semiotics IU Bloomington [1990 - 92]; Forschungsschwerpunkte: Diskursu. Dialogforschung (soziale, literarische, ästhetische, intermediale, interkulturelle, intra-/ subkulturelle, institutionelle, fachliche, öffentliche, politische, urbane Kommunikation); Publikationen: ca. 70 Bücher u. Editionen sowie ca. 400 Aufsätze; Monographien u. a. zur Dialoglinguistik, Kommunikation i. d. Literatur, Semiotik d. Dramas u. Theaters, Grammatik d. dt. Sprache, Literaturtheorie u. Medienpraxis, Urbane Sprachlandschaften; Herausgeberschaften: div. Zeitschriften u. Buchreihen, u. a. Kodikas/ Code. Int ’ l. Journ. of Semiotics u. Kodikas Supplement Series [seit 1979], Cross Cultural Communication [seit 1994], Zs. f. interkulturelle Germanistik [bis 2015]; Fachgesellschaften: Dt. Ges. f. Semiotik (Präsident, jetzt Ehrenmitglied), Ges. f. Angewandte Linguistik (Vizepräsident), Int ’ l. Assoc. of Dialogue Analysis (Vizepräsident), Ges. f. interkulturelle Germanistik (Präsident, jetzt Ehrenmitglied); Mitglied div. Advisory Boards u. Editorial Boards; Ehrenmitglied d. Ges. ungarischer Germanisten, Mitglied d. Wiss. Beirates d. ICLTT d. Österreichischen Akademie der Wissenschaften [bis 2016]; Gastprofessuren: München, Graz, Madison, Gainesville, Belo Horizonte, New York, Puerto Rico, New Delhi, Basel, Izmir, Bangkok, Stellenbosch, Melbourne, Ambon u. Visiting Scholar an ca. 20 weiteren Universitäten in Europa, Amerika, Afrika, Asien, Australien. Günther Jikeli holds the Erna B. Rosenfeld Professorship at the Institute for the Study of Contemporary Antisemitism in the Borns Jewish Studies Program at Indiana University. He is an associate professor at Germanic Studies and Jewish Studies and heads the research lab “ Social Media & Hate. ” He is the co-editor of “ L ’ antisémitisme contemporain en France, rémanences ou émergences? ” (Hermann: 2022) and “ Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland und Europa ” (Olms 2019). In 2015, he published “ Europe Muslim Antisemitism: Why Young Urban Males Say They Don ’ t Like Jews ” (Indiana University Press). In 2013, he was awarded the Raoul Wallenberg Prize in Human Rights and Holocaust Studies by the International Raoul Wallenberg Foundation and Tel Aviv University. Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker, seit 2020 Professor für Angewandte Linguistik an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Diskurslinguistik, Korpuslinguistik, Medienlinguistik. Publikationen: Beleidigungen. Eine Untersuchung über Ehre und Ehrverletzung in der Alltagskommunikation (Aachen 2007). Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert (Berlin, Boston 2013). Daniel Miehling is a PhD candidate at the Institute for Language and Communication at the Technical University of Berlin. His research focuses on the communication dynamics within far right and Islamist networks and the dissemination of propaganda and misinformation on Web 2.0. Using both quantitative and qualitative corpus analysis, he combines Natural Language Processing (NLP) and inferential statistics. Since 2018, he is an affiliate of the Institute for the Study of Contemporary Antisemitism (ISCA) at Indiana University, Bloomington, where he is part of the “ Social Media & Hate ” research lab. Part of his research involves developing new methods for studying hate speech in a rapidly changing online environment. This includes the analysis of multimodality, i. e., the links between textual data and imagery in online discourse. In his dissertation, he investigates dissemination techniques of Online-Antisemitism and conspiracy narratives on the X platform (formerly known as Twitter) and fringe-communities on Telegram. Winfried Nöth, Professor für Anglistik-Linguistik und Semiotik sowie Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Kulturforschung der Universität Kassel bis 2009, ist seit 2010 Professor für Kognitive Semiotik im Postgraduierten-Studiengang “ Tecnologias da Inteligência & Design Digital ” der Kath. Universität S-o Paulo. Ehrenmitglied der Int. Ass. for Visual Semiotics und ehem. Präsident der Dt. Ges. für Semiotik. Ca. 400 Aufsätze zu den Themen Allgem. Semiotik, Mediensemiotik, Visuelle Semiotik, Ökosemiotik, Kognitive Semiotik, Kultursemiotik, Charles S. Peirce. Buchveröffentl. u. a.: Dynamik semiotischer Systeme (1975), Origins of Semiosis (1994), Semiotics of the Media (1997), Medientheorie und die digitalen Medien (1998 mit K. Wenz), Handbuch der Semiotik (2. Aufl. 2000), Semiotics of Nature (2001 m. K. Kull), Crisis of Representation (2003 m. C. Ljungberg), Comunicaç-o e semiótica (2004 mit L. Santaella), Imagem: Cogniç-o, semiótica, mídia (5. Aufl. 2008 mit L. Santaella), Körper - Verkörperung - Entkörperung (2005 mit A. Hertling), Semiotic Bodies, Aesthetic Embodiments, and Cyberbodies (2006), Medios audiovisuales: Entre arte y tecnología (2006), Self-Reference in the Media (2007 mit N. Bishara), Mediale Selbstreferenz: Grundlagen und Fallstudien (2008 m. N. Bishara u. B. Neitzel), Bilder BeSchreiben (m. P. Seibert) und Estratégias semióticas da publicidade(2010, m. L. Santaella), Introduç-o à semiótica (2017, m. L. Santaella), Semiotic Theory of Learning: New Perspectives in the Philosophy of Education (2018, m. Andrew Stables, Alin Olteanu, Eetu Pikkarainen u. Sébastien Pesce), Semiotics and Economics I-II (=Recherches sémiotiques/ Semiotic Inquiry (2023, m. Carsten Herrmann- Pillath). Autorinnen und Autoren / Authors 359 Prof. Dr. H. Walter Schmitz, geb. 1948; Studium der Völkerkunde, der Kommunikationsforschung und Phonetik sowie der Soziologie in Bonn. 1973 Magister Artium in Völkerkunde. 1977 Promotion in Kommunikationsforschung und Phonetik. 1987 Habilitation in Kommunikationsforschung. 1992 - 2013 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen; verschiedene Gastprofessuren in Schweden und China. Forschungsschwerpunkte: Kommunikationstheorie, Kommunikationssemantik, Gesprächsanalyse und Ethnographie der Kommunikation, Geschichte der Kommunikationswissenschaft und der Semiotik, insbesondere der Signifik Welbys und der Signifischen Bewegung in den Niederlanden. Veröffentlichungen u. a.: Tatortbesichtigung und Tathergang (Wiesbaden 1977); Tatgeschehen, Zeugen und Polizei (Wiesbaden 1978); (zus. m. Joachim Knuf) Ritualisierte Kommunikation und Sozialstruktur (Hamburg 1980); De Hollandse Significa (Assen, Maastricht 1990); (Mit)Herausgeber u. a. von: Victoria Lady Welby: Significs and Language (Amsterdam, Philadelphia 1985); Innovationen in Zeichentheorien (Münster 1989); Essays on Significs (Amsterdam, Philadelphia 1990); Significs, Mathematics and Semiotics (Münster 1991); Perspektiven einer Kommunikationswissenschaft (Münster 1998); Vom Sprecher zum Hörer (Münster 1998); Kommunikation - ein Schlüsselbegriff der Humanwissenschaften? (Münster 2003); Connecting Perspectives. Videokonferenz: Beiträge zu ihrer Erforschung und Anwendung (Aachen 2003); Frederik van Eeden: Logische Grundlage der Verständigung. Redekunstige grondslag van verstandhouding (Stuttgart 2005); sowie der kommunikationswissenschaftlichen Schriften Gerold Ungeheuers (insgesamt vier Bände). Victor Tschiskale Victor Tschiskale is currently studying the Master ’ s programme in Interdisciplinary Antisemitism Research at TU Berlin. In his previous work in the Social Media and Hate Research Lab at the Institute for the Study of Contemporary Antisemitism (ISCA) at Indiana University, he annotated and analysed data. Based on this, he engaged in a qualitative data analysis in his Bachelor ’ s thesis and examined Holocaust-relativising statements in the context of German-language discourse on Twitter. In his ongoing work for the research project “ Decoding Antisemitism ” , he is focussing on contemporary forms of antisemitism and their dissemination in mainstream social media discourses in Germany, France and the UK. Aditionally, Victor Tschiskale is interested in right-wing ideologies and movements. Besides his studies and his work in the Decoding Antisemitism project, Victor is active in education and prevention work. Prof. Dr. Götz Wienold ist Semiotiker, Linguist und Schriftsteller; Werdegang: Studium in München, Göttingen, Berlin (FU), Münster und St. Andrews, 1964 Dr. phil. (Münster: Genus und Semantik), 1964 - 66 University of Illinois, Champaign-Urbana, 1966 - 1970 Universität Münster, 1969 Habilitation (Münster: Formulierungstheorie, Poetik, Strukturelle Literaturgeschichte), 1970 - 1992 Professor für Sprachwissenschaft, Universität Konstanz, 1992 - 2003 Professor für Germanistik und Sprachwissenschaft, Dokkyo University, Soka, Präfektur Saitama (Japan); Forschungsinteressen: Zeichentheorie, Texttheorie, Semantik, Typologie, Inneres Sprechen, Typen der Sprachverwendung, Spracherwerbsforschung, Linguistik des Japanischen und Koreanischen, deutsche und englische Literatur. Zu Japan publizierte Wienold u. a. Inschrift und Ornament oder Die Entfärbung der Objekte: Englische Inschriften in der japanischen Kultur der Gegenwart (1995) und Stille und Bewegung: Semiotische Studien 360 Autorinnen und Autoren / Authors aus Japan (2015). Als Schriftsteller schreibt er Stücke, Romane, Erzählungen und Essays. Homepage: www.goetz-wienold.de Prof. Dr. Wolfgang Wildgen lehrte nach seiner Habilitation an der Universität Regensburg seit 1981 an der Universität Bremen Germanistische Linguistik und Allgemeine Sprachwissenschaft. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind: Soziolinguistik (Sprache und soziale Schicht, Spracherwerb von Immigranten, Sprachkontakt), Bedeutungslehre (auch mathematische Modelle der Bedeutung) und Geschichte der Sprachwissenschaft und Semiotik (Sprachmaschinen, neuzeitliche Gedächtnistheorie, Geschichte der modernen Linguistik). Seit der Jahrhundertwende rückten Fragen der Evolution von Sprache und Kultur und der Semiotik von Kunst, Architektur und Stadtentwicklung ins Zentrum seiner Interessen. Nach seiner Emeritierung 2009 sind fünf Bücher erschienen, darunter eine Trilogie zur Semiotik jenseits der Sprache (visuelle Kunst, Musik, Religion). Autorinnen und Autoren / Authors 361 K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of Authors Prof. Dr. habil. Hans Giessen Uniwersytet Jana Kochanowskiego w Kielcach ul. Uniwersytecka 17 25 - 406 Kielce Polen Univ.-Prof. Prof. h. c. Dr. Dr. Dr. h. c. Ernest W. B. Hess-Luettich HonProf Technische Universität Berlin Institut für Sprache u. Kommunikation Hardenbergstr. 16 - 18 D-10623 Berlin hess-luettich@campus.tu-berlin.de HonProf University of Cape Town School of Languages and Literatures Faculty of Humanities, Beattie Bldg. University Ave S, Rondebosch Cape Town, 7701, South Africa ernest.hess-luettich@uct.ac.za Prof. Dr. Günther Jikeli Indiana University Bloomington The College of Arts & Sciences Institute for theStudy of Contemporary Antisemitism Hamilton Lugar School of Global & International Studies Building 355 North Eagleson Avenue, 3W - Room # 3121 Bloomington, IN 47405-1105 USA Gjikeli@iu.edu Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker (he/ him) Professur für Angewandte Linguistik Technische Universität Dresden Institut für Germanistik und Medienkulturen Geschäftsführender Direktor 01062 Dresden simon.meier-vieracker@tu-dresden.de https: / / tu-dresden.de/ gsw/ slk/ germanistik/ al Daniel Miehling, (PhD-Candidate) Institute of Language and Communication, Linguistic Technical University Berlin Hardenbergstraße 16 - 18 10623 Berlin d.miehling@campus.tu.berlin.de Prof. Dr. Winfried Nöth, Pontifícia Universidade Católica Sao Paulo, Tecnologias da Inteligência e Design Digital Rua Caio Prado, 102 CEP 01303-000 Brasilien Brasilienwnoth@pucsp.br Prof. Dr. H. Walter Schmitz Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Institut für Kommunikationswissenschaft Universitätsstraße 12 D-45141 Essen walter.schmitz@uni-due.de Victor Tschiskale Technical University Berlin Centre for Research on Antisemitism Kaiserin-Augusta-Allee 104 - 106 10553 Berlin tschiskale@tu-berlin.de Prof. em. Dr. Götz Wienold Dokkyo Universität in Soka Saitama-ken 340-0042 Soka-shi, Gakuen-cho 1-1- Japan www.goetz-wienold.de Prof. em. Dr. Wolfgang Wildgen Universität Bremen Fachbereich 10 Institut für Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft Bibliothekstraße 1 28359 Bremen wildgen@uni-bremen.de Anschriften der Autorinnen und Autoren / Addresses of Authors 363 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10 - 30 S. à 2.500 Zeichen [25.000 - 75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2 - 3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarzweiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3 - 5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht ( “…” ). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “ normalen ” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “ [ … ] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen ” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “ f. ” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern [ … ], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “ (Hervorh. im Original) ” oder “ (Hervorh. nicht im Original) ” bzw. “ (Hervorh. v. mir, Initial) ” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “ [sic] ” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten werden in einfache Anführungszeichen gesetzt ( “… ‘…’ …” ). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “ Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet. ” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “ Fähe bedeutet ‘ Füchsin ’ . ” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “ *Rettet dem Dativ! ” oder “ *der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. ” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: [ … ] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z. B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “ Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben ” , in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1 - 2 (1999): 27 - 41 Duck, Donald 2000: “ Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag ” , in: Duck (ed.) 4 2000: 251 - 265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “ und ” oder “ & ” (bei mehr als drei Namen genügt ein “ et al. ” [für et alii] oder “ u. a. ” Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 365 nach dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “ etc. ” ): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u. a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘ graue ’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck ( “ Zürich: Diss. phil. ” ), vervielfältigte Handreichungen ( “ London: Mimeo ” ), Manuskripte ( “ Radevormwald: unveröff. Ms. ” ), Briefe ( “ pers. Mitteilung ” ) etc. - muss nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “ Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis ” , in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47 - 67 Duck, Daisy 2001 b: “ Zum Rollenverständnis des modernen Erpels ” , in: Ente und Gesellschaft 19.1 - 2 (2001): 27 - 43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “ Schon wieder keinen Bock ” , in: Franz Gans ’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o. J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] 366 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Instructions to Authors Articles (approx. 10 - 30 pp. à 2 ’ 500 signs [25.000 - 75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3 - 5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is - 0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn ’ t make sense; one is taken out of context; one isn ’ t even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the ‘ normal ’ texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets [ … ], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “… ‘…’ …” . Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘ Enlightenment ’ ); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘ I learn English since ten years ’ : The Global English Debate and the German University Classroom ” , in: English Today 18.2 (2002): 9 - 13 Modiano, Marko 1998: “ The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union ” , in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241 - 248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “ Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe ” , Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5 - 7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09]. 368 Instructions to Authors An International Journal of Semiotics BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Dieser Band wirft einen genauen Blick auf die Autorschaftserkennung im Bereich der Forensischen Linguistik. Mit Textanalysen und -vergleichen von inkriminierten Texten werden schreiberidenti zierende Merkmale erarbeitet und analysiert, die dabei helfen, Hinweise auf Täter: innen zu nden. Ferner werden theoretische Rahmenbedingungen und Analysen von authentischen inkriminierten Schreiben vorgestellt, die in Zusammenarbeit mit dem BKA erstellt wurden. Anhand der Analysen wird eine bisher noch nicht beschriebene Verstellungsstrategie herausgearbeitet: die Stilisierungsstrategie. Bei dieser überdecken Täter: innen den eigenen Sprachgebrauch mit stilisierten Merkmalen, die aus verschiedenen Medien bekannt sind, und verschleiern damit ihre persönliche sprachliche Kompetenz. Wegen der großen Menge an inkriminierten Texten werden Methoden zur teil-automatisierten Analyse entwickelt und in der Arbeit vorgestellt. Steffen Hessler Autorschaftserkennung und Verstellungsstrategien Textanalysen und -vergleiche im Spektrum forensischer Linguistik, Informationssicherheit und Machine-Learning Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL) 1. Au age 2023, 426 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8561-5 eISBN 978-3-8233-9561-4 Editors: Achim Eschbach (†) · Ernest W. B. Hess-Lüttich · Jürgen Trabant Review Editor: Daniel H. Rellstab KODIKAS / CODE is an International Journal of Semiotics and one of the leading European scholarly journals in this field of research. It was founded by Achim Eschbach, Ernest Hess-Lüttich and Jürgen Trabant in order to promote multidisciplinary approaches to the study of sociocultural semiosis in 1979, and has been publishing high quality articles, in-depth reviews, and reports on all aspects of sign processes from historical, theoretical, and empirical perspectives since then. On a regular basis, KODIKAS / CODE also publishes special issues, collections of refereed articles on timely topics, solicited by guest editors. Languages of publication are German, English, and French; all contributions handed in to the editorial board are subject to a peer review process. Please send manuscripts electronically to either of these addresses: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich (Prof. em. University of Berne, Hon. Prof. Tech. Univ. Berlin, Hon. Prof. Univ. of Cape Town) / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin / luettich@campus.tu-berlin.de / hess-luettich@t-online.de Prof. Dr. Jürgen Trabant / Krampasplatz 4b / 14199 Berlin / Deutschland / trabant@zedat.fu-berlin.de Please send books for review to: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Luettich / Winterfeldtstr. 61 / D-10781 Berlin Prof. Dr. Daniel Hugo Rellstab / Germanistik und Interkulturalität / PH Schwäbisch Gmünd / University of Education / Oberbettringer Straße 200 / D-73525 Schwäbisch Gmünd / daniel.rellstab@ph-gmuend.de Manuscripts should be written according to the Instructions to Authors (see last pages of this issue). Books will be reviewed as circumstances permit. No publication can be returned. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 / 72070 Tübingen / Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 / info@narr.de / www.narr.de / narr.digital narr.digital Gunther Jikeli: Manipulation of Symbols Daniel Miehling, Victor Tschiskale, Günther Jikeli: Holocaustvergleiche auf X/ Twitter Wolfgang Wildgen: Dynamische Religionssemiotik Götz Wienold: Farben und andere Qualizeichen Götz Wienold: Öffentlich aufgestellte Objekte und ihre Interpretanten im heutigen Japan Winfried Nöth: Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus Hans Giessen: Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten H. Walter Schmitz: Anmerkungen zur Sequenzanalyse im Wandel der ethnomethodologischen Konversationsanalyse Simon Meier-Vieracker: Diskurse über Diversität in Fußballfanszenen Ernest W. B. Hess-Lüttich, Tim Stehle: Indizien: Anzeichen für fahrlässige Tötung oder Mord? Ernest W. B. Hess-Lüttich: Technologieoffenheit! Machen, was immer machbar ist? Ernest W. B. Hess-Lüttich: Viren, Farben und Moral Ernest W. B. Hess-Lüttich: Wir, „Der Westen“ - und der Rest der Welt Ernest W. B. Hess-Lüttich: Machtgefälle Ernest W. B. Hess-Lüttich: Sprache, Politik und Macht ISBN 978-3-8233-1801-9 Vol. 42 · July/ December 2019 · No. 2-4 An International Journal of Semiotics Vol. 42 · July/ December 2019 · No. 2-4