eJournals Kodikas/Code 23/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2000
233-4

Christoph Sigwart und die Wurzeln des Pragmatismus

121
2000
Achim Eschbach
kod233-40179
KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 23 (2000) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christoph Sigwart und die Wurzeln des Pragmatismus Achim Eschbach Christoph Eberhard Philipp Sigwart, der am 28. März 1830 in Tübingen zur Welt kam und am 5. August 1905 ebendort gestorben ist, war der Sohn des Tübinger Philosophieprofessors und Generalsuperintendenten Heinrich Christoph Wilhelm Sigwart und dessen zweiter Ehefrau Luise, der Tochter des Leonberger Kameralverwalters Jacob Christian Knapp. Er studierte Philosophie, Mathematik und Theologie in seiner Heimatstadt. Im Anschluß daran arbeitete er in Freiimfelde bei Halle als Lehrer. 1854 promovierte er in Tübingen mit der Dissertation Ulrich Zwingli und der Charakter seiner Theologie, mit besonderer Rücksicht auf Picus von Mirandula zum Doktor der Philosophie. Von 1855 bis 1858 war er als Repetent am theologischen Seminar in Tübingen und von 1859 bis 1863 als Professor am Seminar in Blaubeuren tätig. 1863 erhielt er einen Ruf auf eine Philosophieprofessur in Tübingen, die er bis 1903 innehatte. 1875/ 78 bekleidete er das Amt des Rektors der Tübinger Universität. Eine ausführliche Darstellung seiner Familiengeschichte bietet Sigwart in seiner Genealogie und Geschichte der Familie Sigwart, die er 1895 drucken ließ. Der 5. Auflage seiner Logik von 1924 ist ein biographischer Abriß und eine ausführliche Bibliographie von Heinrich Mayer beigefügt. Neben theologischen und philosophiehistorischen Arbeiten (unter anderem über F. Bacon (Sigwart, 1863), G. Bruno (Sigwart, 1880), J. Kepler (Sigwart, 1867), F. Schleiermacher (Sigwart, 1857), B. Spinoza (Sigwart, 1866) und H. Zwingli (Sigwart, 1862) befaßte er sich vornehmlich mit Fragen der Ethik und der Logik, wozu in besonderem Maße seine Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urtheile (Sigwart, 1871) und seine zweibändige Logik (Sigwart, 1873-1878) gehören. Da Sigwart davon ausgeht, daß die Logik auf der Psychologie fußt, selbst aber eine normativ-teleologische Kunstlehre des Denkens ist, werfen ihm z.B. Edmund Busserl, aber auch Charles Sanders Peirce "Psychologismus" vor. Was dieser Vorwurf vor der eigentlichen akademischen Begründung des Faches und aus dem Mund eines psychologistischen Phänomenologen überhaupt bedeuten kann, wird nicht auf Anhieb so recht deutlich. Zieht man allerdings die positiven Bezugnahmen auf Sigwart in Betracht, die sich in William James Aufsatz "The Dilemma of Determinism" (cf. James, 1979: 114) finden und vergleicht man dies mit einer Passage aus dem zweiten Band von Sigwarts Logik, wo es heißt: Wenn anerkannt ist, dass unser Denken, wie es die Logik untersucht, auf einem Denkenwollen beruht, ist der Primat des Wollens auch auf dem theoretischen Gebiete anerkannt, und die letzte Voraussetzung ist nicht blass, dass das "Ich denke" alle meine Vorstellungen müsse begleiten können, sondern auch, daß das ~'Ich will" alle meine Denkacte müssen beherrschen können; mit anderen Worten, dass weder die Naturgesetze des Denkens, nach denen es sich in dem Vollzug der einzelnen Acte richtet, der durchgängigen Verknüpfung, noch die Naturgesetze des Wollens der Zusammenfassung aller Zwecke unter Einen höchsten Zweck widerstreben (Sigwart, 1878: 25), 180 Achim Eschbach so wird deutlich, daß William James darin die prinzipiellen Merkmale seines Pragmatismus erkennen konnte; zugleich wird aber auch deutlich, weshalb Peirce sich sowohl von James als auch von Sigwart distanzierte, deren voluntaristischen Pragmatismus er mit seinem logischen Pragmatismus für unvereinbar hielt. In der Urteilslehre nimmt Sigwart zumindest insofern eine bemerkenswerte Position ein, als er seine Logik nicht auf einer Lehre vom Begriff, sondern einer Lehre vom Urteil aufbaut. Dieser Ansatz muß seinem Zeitgenossen Charles Sanders Peirce, der sich in seinen Collected Papers wiederholt auf Sigwart bezogen hat, ebenso angenehm aufgefallen sein wie Sigwarts Verständnis von Logik als einer normativen Wissenschaft, die geradezu als eine Ethik des Denkens zu betrachten sei. Die erstaunHchsten Parallelitäten eröffnen sich allerdings beim Vergleich der Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urteile Sigwarts mit einschlägigen Passagen der Pragmatismus- Vorlesungen von Charles Sanders Peirce. Auch wenn Peirce gesteigerten Wert darauf legte, die Mißverständnisse des "dummen Apellikon" behoben zu haben, ist doch nicht zu bestreiten, daß der schwäbische Philosophieprofessor den apagogischen Beweis, dem eine so herausragende semiotische Funktion zukommt, schon ein Vierteljahrhundert früher geführt hat. Anmerkungen Ulrich Zwingli und der Charakter seiner Theologie, mit besonderer Rücksicht auf Picus von Mirandola. Diss. Tübingen 1855 2 "Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität." In: Jahrbuch für deutsche Theologie 2 (1857) 829 ff. 3 Huldreich Zwingli. Leben und Auswahl seiner Schriften. Stuttgart 1862. 4 "Ein Philosoph und ein Naturforscher über Franz Bacon v. Verulam." In: Preußisches Jahrbuch (1863) 93ff. 5 "Spinozas neuentdeckter Traktat. Von Gott, dem Menschen und dessen Glückseligkeit. Gotha: Besser 1866 6 Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urteile. Tübingen: Laupp 1871 7 Logik. Band 1: Die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schluß. Band 2: Die Methodenlehre. Tübingen: Mohr 1873-1878. 8 "Die Lebensgeschichte Giordano Brunos." In: Verzeichnis der Doctoren. Tübingen: Laupp 1880. 9 Johannes Kepler. In: Ders.: Kleine Schriften. Tübingen: Mohr 1881. 182-220. 10 Sigwart, Christoph: Zur Generalogie und Geschichte der Familie Sigwart. Tübingen 1895.