Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2000
233-4
Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne
121
2000
Achim Geisenhanslüke
kod233-40274
Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne Achim Geisenhanslüke I. KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 23 (2000) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen "Nietzsche aus Frankreich" 1, so lautet der Titel eines Sammelbandes, den Werner Hamacher 1986 veröffentlichte. Der Titel rechtfertigte sich vor dem Hintergrund der zweiten Heimat, die Nietzsche in Frankreich gefunden hatte. Die Geschichte von "Freud aus Frankreich" bietet dagegen ein ganz anderes Bild. Die Freudsche Psychoanalyse mag auf den ersten Blick zwar einen ähnlich bedeutenden Einfluss auf die französischen "sciences humaines" ausüben wie die Philosophie Nietzsches. Dieser erste Eindruck muss jedoch bald einer skeptischeren Einschätzung weichen. Bei aller Anerkennung seiner historischen Leistung herrscht in der Einschätzung Freuds eine Ambivalenz vor, die sich insbesondere in den Theorieentwürfen so namhafter Autoren wie Althusser, Foucault, Deleuze und Derrida zeigt. Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag in zwei Schritten vor. Zunächst wird die Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung in Frankreich nachgezeichnet und dabei insbesondere auf die zentrale Bedeutung Jacques Lacans eingegangen. In einem zweiten Schritt geht es um die Rezeption der Psychoanalyse von seiten der "Postmoderne". Der Leitfaden für den zweiten Teil wird die Frage sein, welche Rolle der Psychoanalyse für die Entwicklung der postmodernen Theorie zugestanden wird, die Frage also, wie sich Althusser, Foucault, Deleuze/ Guattari und Derrida in ihren Schriften zu Freud verhalten. II. Elisabeth Roudinesco hat in ihrer monumentalischen Histoire de la psychanalyse en France darauf hingewiesen, dass die Rezeption Freuds in Frankreich im Vergleich zu anderen Ländern verspätet begann. 2 Das ist um so bemerkenswerter, als sich Freud 1885 nach Paris begeben hatte, um unter dem Einfluss Charcots dem Zusammenhang von Hysterie und Sexualität näher zu kommen, ein gewichtiger Teil des Ursprungs der Freudschen Psychoanalyse also historisch und geographisch mit Frankreich verbunden ist. Die spätere Ablehnung der Charcotschen Hypnose und Freuds Hinwendung zur Praxis der "talking eure" scheint jedoch eine narzisstische Kränkung des französischen Geistes bedeutet zu haben, auf die dieser lange Zeit mit einer äußerst reservierten Aufnahme Freuds reagiert hat. Erst 1926, zu einer Zeit also, als in Berlin, Budapest, Wien und der Schweiz längst bedeutende eigenständige psychoanalytische Institute existierten, wird in Frankreich die erste psychoanalytische Gesellschaft ins Leben gerufen, die Societe Psychanalytique de Paris (SPP). Wie Roudinesco betont, ist der Grund für diese historische Verspätung mehrfacher Natur. 3 Er liegt zum einen in dem lange Zeit vorherrschenden Einfluss, den die anti-freudianische Theorie Janets auf die französische Psychologie ausgeübt hat, in der allgemeinen Deutschlandfeind- Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne 275 lichkeit Frankreichs nach dem Ersten Weltkrieg und in dem durch die Dreyfus-Affäre ausgelösten Antisemitismus, der weite Teile des französischen Geisteslebens lähmte. Ein österreichischer Jude, der selbstverständlich auf deutsch schreibt, der cartesianischen Tradition des seiner selbst gewissen Bewusstseins die Existenz des Unbewussten entgegenhält und zudem behauptet, die Hysterie und so ziemlich alles, was den psychischen Haushalt des Menschen betreffe, gehe auf frühkindliche Erfahrungen der Sexualität zurück, hatte es in diesen Jahren wohl einfach schwer, in Paris wissenschaftlich Karriere zu machen. Vor diesem Hintergrund ist die Gründung der SPP 1926 nicht mehr und nicht weniger als der erste Versuch, der Psychoanalyse in Frankreich eine institutionelle Heimat zu geben. Die Gründergeneration der SPP ist verbunden mit Namen, die heutzutage weitgehend vergessen sind: mit Angelo Hesnard, Rene.Laforgue, Eduard Pichon, Marie Bonaparte und Rodolphe Loewenstein. Diese erste Generation französischer Psychoanalytiker wird aus heutiger Sicht verdeckt von dem Schatten einer Figur, die das Gesicht der französischen Psychoanalyse seit dem Beginn der dreißiger Jahre bis zum heutigen Zeitpunkt geprägt hat, von Jacques Lacan. III. Wenn die Freudrezeption in Frankreich derart eng mit Lacan verbunden ist, dann stellt sich zunächst die Frage, worin Lacans Beitrag zur Psychoanalyse besteht und wie sich sein Verhältnis zu Freud gestaltet. Die Antwort lautet zumeist: Während Freud das Unbewusste entdeckt hat, liegt Lacans Leistung darin, den Zusammenhang von Unbewusstem und Sprache nachgewiesen zu haben. 4 Schon diese Ausgangssituation macht deutlich, dass Lacans Verhältnis zu Freud zwiespältiger Natur ist. Zwar fordert er im Kontext einer scharfen Kritik der angelsächsischen Psychoanalysebewegung immer wieder beschwörerisch eine "Rückkehr zu Freud" 5• Andererseits aber impliziert Lacans Rückkehr zu Freud vor dem Hintergrund des zeittypischen linguistic turn ein Moment, das über Freud hinausgeht und nicht ohne weiteres mit dessen Begründung der Psychoanalyse zu vereinbaren ist. 6 Wie aber lässt sich Lacans Theorie der Psychoanalyse und sein komplexes Verhältnis zu Freud zusammenfassen? Der amerikanische Kritiker Malcolm Bowie hat versucht, Lacans Weg zurück zu Freud und über Freud hinaus anhand der Liste einiger ebenso faszinierender wie umstrittener Formulierungen Lacans zu verdeutlichen: Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache. Das Unbewußte ist der Diskurs des Anderen. Eine Letter kommt stets an ihrem Bestimmungsort an. Die korrumpierendste Bequemlichkeit ist die intellektuelle Bequemlichkeit. Es gibt kein sexuelles Verhältnis. 7 Bowies Liste nennt einige zentrale Themen, die Lacans Arbeit prägen: der Zusammenhang zwischen dem Unbewussten und der Sprache, die Rolle des(großgeschriebenen) Anderen für die Ichbildung, die Funktion des Signifikanten in der menschlichen Rede, die Kritik des universitären Intellektualismus und die Theorie der Negativität des Begehrens. Der Hinweis auf diese zentralen Thesen Lacans offenbart aber noch etwas anderes: den eigentümlichen "Lakonismus" des französischen Psychoanalytikers, Lacans Fähigkeit zu ebenso einprägsamen wie enigmatischen Formeln, m.a.W.: den eminent ästhetischen Reiz seiner Theorie, der Kritiker allerdings oft daran hat zweifeln lassen, ob es sich hier überhaupt noch um eine ernsthafte Theorie handelt. 276 Achim Geisenhanslüke Dabei kommt Lacan zweifellos das Verdienst zu, als einer der ersten in Frankreich eine Theorie entwickelt zu haben, die auf einer Erfahrung beruht, von der er in einem seiner berühmtesten Texte, dem Aufsatz über das Spiegelstadium, einleitend behauptet, "quelle nous oppose a toute philosophie issue directement du Cogito." 8 In ganz ähnlicher Weise wie Freud setzt Lacan in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium der cartesianischen Philosophie des Cogito das Modell einer dezentrierten Subjektivität entgegen, die sich an der Erfahrung eines Kindes zwischen sechs und achtzehn Monaten ablesen lasse, das sich selbst im Spiegel erkennt und angesichts dieser Erkenntnis in eine jubilatorische Begeisterung ausbricht. Lacan bestimmt diese frühe Form der Selbsterkenntnis als eine Identifikation im psychoanalytischen Sinne, als subjektive Verinnerlichung eines Bildes, die zu einer Spaltung des Subjekts führe. Die Form der Spaltung, die das Subjekt im Spiegelstadium erfährt, drückt Lacan später durch einen sprachlichen Kunstgriff aus: "Le je n'est pas le moi, le sujet n'est pas l'individu" 9• Damit meint Lacan zum einen, dass das seiner selbst gewisse Ich, das moi, das Resultat einer Selbsttäuschung ist, die die motorische Unfertigkeit des Kindes in eine nur vermeintliche Einheit führe. Zum anderen deutet Lacans These von der Nichtidentität des Ich mit sich selbst an, dass die Vorstellung von der vollständigen Autonomie des Ich nur möglich ist durch die Preisgabe des Anderen, der in die scheinbare Selbstgewissheit des Ich eingreifen könnte und der dies aufgrund des Eintretens des Individuums in die symbolische Ordnung der Sprache auch jederzeit tut. Damit deutet bereits der frühe Aufsatz über das Spiegelstadium die zentrale Unterscheidung zwischen der Ordnung des Symbolischen, Imaginären und Realen an, die Lacans Modell der menschlichen Psyche bestimmt: das Imaginäre ist der Ort des narzisstischen Ich-Ideals und der damit einhergehenden Selbsttäuschung des Ich, das Symbolische der Bereich der Sprache, während das Reale schließlich die unhintergehbare Dimension außerhalb der symbolischen Ordnung, die psychische wie materielle Realität nennt. Lacans Theorie leistet damit zweierlei. Zum einen setzt sie mit Freud über Freud hinaus einen engen Zusammenhang zwischen dem Unbewussten und der Sprache. So interpretiert Lacan in seinem Aufsatz L'instance de la lettre dans l'inconscient Freuds Begriffe der Verschiebung und der Verdrängung im Anschluss an Roman Jakobson als die unterschiedlichen rhetorischen Mechanismen von Metapher und Metonymie, um zugleich klarzustellen, dass der zentrale Begriff der "Entstellung" aus der Traumdeutung ein "glissement incessant du signifie sous le signifiant" 10 meine und damit eine unabschließbare Signifikantenkette an die Stelle der hermeneutischen Kategorie des Sinnes setze, die Paul Ricreur in Freud zu entdecken meint. u Der Hinweis auf den linguistic turn, den die Psychoanalyse von Freud zu Lacan nehme, machtjedoch leicht vergessen, dass Lacan zugleich eine Akzentverschiebung der Freudschen Psychoanalyse vornimmt. In einer spekulativen Überbietung von Freuds Neurosenlehre interessiert sich Lacan verstärkt für den Bereich der Psychosen, um eine Theorie des Ich zu begründen, die mit der Kritik der paranoiden Struktur des moi 12 die Erfahrung der Dezentrierung des seiner selbst gewissen Subjekts ins Zentrum der Psychoanalyse stellt. Lacans zentrales Interesse an der Psychose lässt sich an dem Begriff der "forclusion" 13 verdeutlichen, mit dem er Freuds Begriff der Verwerfung übersetzt und den er dem der Verdrängung überordnet. Dem neurotischen Verdrängungsmechanismus stellt Lacan mit der Theorie der Verwerfung eine spezifisch psychotische Abwehrleistung des Ich entgegen, deren Funktionsweise er anhand von Freuds Interpretation des Wolfsmannes und des Fall Schreber zu analysieren versucht. Entscheidend ist dabei, dass die Wiederkehr des Verworfenen nicht auf der Ebene des Unbewussten erfolgt, also kein rein innerpsychisches Problem sei, sondern sich auf die Ebene der Realität erstrecke und demnach das Verhältnis des Ich zur Außenwelt Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne 277 betreffe. Der Begriff der "forclusion" bestätigt nicht nur Lacans zentrales Interesse an der Psychose. 14 Er weist zugleich darauf hin, dass Lacans Theorie ein gesellschaftskritisches Moment bereithält. Denn im Unterschied zur Neurose als dem Konflikt zwischen Es und Ich betrifft die Psychose als Konflikt zwischen Ich und Außenwelt 15 nicht nur das psychische Subjekt, sondern ebenso das gesellschaftliche Individuum, und vor diesem Hintergrund konnte die Psychoanalyse in Frankreich etwa bei Althusser in einer Art Versöhnung von Freud und Marx zugleich als ein kritischer Beitrag zur Gesellschaftstheorie verstanden werden. IV. Die monumentale Figur Lacans nennt allerdings nicht die einzige wirkungsmächtige Tradition der Psychoanalyse in Frankreich. 1928 begrüßen Louis Aragon und Andre Breton die Hysterie mit folgenden Worten: "Nous surrealistes tenons a celebrer le cinquentenaire de l'hysterie, la plus grande decouverte poetique de la fin du siede, et cela au moment meme ou le demem~ brement du concept de l'hysterie parait chose consommee." 16 Dem wissenschaftlichen Interesse an der Psychoanalyse steht die surrealistische Entdeckung der Hysterie im Zeichen der Poesie zur Seite. Die Begeisterung der Surrealisten für die Hysterie ist mehr als eine Anekdote innerhalb der Geschichte der französischen Psychoanalyse. Gerade an den entscheidenden Punkten der Freudrezeption in Frankreich gehen Wissenschaft und Literatur ein prekäres Bündnis ein. Das gilt für Lacan, der selbst eine Zeit lang der surrealistischen Bewegung nahestand, für George Bataille und Michel Leiris, es gilt aber ebenso für die poetische Revindikation einer bestimmten Form des Wahnsinns bei Foucault und Deleuze/ Guattari. 17 V. Lacans Wirkung in Frankreich war zwiespältiger Natur. Sicherlich ist er bis heute trotz oder gerade wegen seiner Umstrittenheit der bedeutendste französische Psychoanalytiker geblieben. Zugleich hat erjedoch einen wesentlichen Anteil an der Spaltung der psychoanalytischen Bewegung Frankreichs. 1953 trennen sich Daniel Lagache und Lacan von der SPP, die zu dieser Zeit von Sacha Nacht geführt wurde, und gründen die Societe Fran~aise de Psychanalyse (SFP). 1964 spaltet sich die SFP in die Association psychanalytique de France von Lagache (APF) und die Ecole Freudienne de Paris von Lacan (EFP), die fast bis zu Lacans Tod im Jahre 1981 bestehen bleibt. Sie wurde 1980 aufgelöst, um unter dem neuen Namen Ecole du champ freudien unter der Leitung von Lacans Schwiegersohn Jacques Alain-Miller neue Wege zu gehen. Die Geschichte dieser fortgesetzten Spaltungen der psychoanalytischen Bewegung Frankreichs, die bis heute andauert, scheint auf den ersten Blick nur anekdotischen Wert zu besitzen. Sie sagt aber auch etwas über die zwiespältige Figur Lacans aus, der die Autorität der eigenen Lehre nur durch eine Rückkehr zu Freud aufrechterhalten konnte, die Jacques Pontalis in seinem Buch Apres Freud nicht zu Unrecht als "aller vers Lacan, dans Lacan, en Lacanie, sans retour" 18 gewertet hat. Für die Entwicklung der Humanwissenschaften in Frankreich war Lacans umstrittene Rückkehr zu Freud jedoch äußerst fruchtbar. Lacans Lehrtätigkeit seine vorher weit verstreuten Schriften zur Psychoanalyse lagen erst 1966 gesammelt vor war zunächst auf 278 Achim Geisenhanslüke den Bereich des Klinischen begrenzt. Die Geschichte einer breiteren Wirkung der Psychoanalyse in Frankreich beginnt im Jahr 1964 mit der Verlegung des Seminars von Jacques Lacan an die ENS, in dem Jahr also, in dem sich die zweite Trennung der psychoanalytischen Bewegung Frankreichs vollzog und Lacan seine Ecole Freudienne gründete. Die Verlegung des Seminares, notwendig geworden durch Lacans Vertreibung aus seiner bisherigen Wirkungsstätte, dem Höpital Sainte-Anne er selbst spricht nicht ohne einen ironischen Seitenblick auf die Kirchengeschichte, mit der die der psychoanalytischen Bewegung Frankreichs mit ihren Spaltungen tatsächlich einige Ähnlichkeiten hat, von einer "excommunication" 19 -, war durch Louis Althusser ermöglicht worden, der sich von Lacans Lehrtätigkeit Anregungen für die Studenten der ENS versprach. VI. Am 15. Januar 1964 hielt Lacan sein Seminar zum ersten Mal an der ENS. Im gleichen Jahr organisierte Althusser eine Vortragsreihe zur Psychoanalyse, zu der er selbst zwei Vorträge mit den Titeln Laplace de la psychanalyse dans les sciences humaines und Psychanalyse et Psychologie beitrug. Darüber hinaus veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel Freud et Lacan. Althussers Einsatz für Lacan markiert ein doppeltes Ereignis in der Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich: Zum einen wird die Psychoanalyse Lacanscher Prägung mit der Verlegung des Seminares an die ENS einem breiten nicht nur psychoanalytisch, sondern philosophisch geschulten Publikum bekanntgemacht. Zum anderen beginnt mit Althussers Veröffentlichungen und Vorträgen die systematische Frage nach der Rolle der Psychoanalyse für die Humanwissenschaften. Althussers Ausgangsfrage lautet entsprechend allgemein: "quel est actuellement le statut de la psychanalyse dans son rapport avec les sciences humaines, et en particulier dans son rapport avec la psychologie? " 20 Um den Platz der Psychoanalyse in den Humanwissenschaften bestimmen zu können, so erklärt Althusser in Freud et Lacan, ist es allerdings notwendig, die Psychoanalyse vom "immense espace de prejuges ideologiques qui nous separe de Freud" 21 , zu befreien. Althussers Auseinandersetzung ist also Bestandteil einer "Ideologiekritik" mit dem Ziel, den eigentlichen Gegenstandsbereich der Psychoanalyse frei von ideologischen Vorurteilen, von dem, was er "revisionnisme" 22 nennt, zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund hält Althusser Freud zunächst zugute, eine eigene Wissenschaft begründet zu haben: die Wissenschaft des Unbewussten, die sich ihm zufolge wie alle wirklichen Wissenschaften durch die Zusammengehörigkeit der drei Bereiche "Praxis", "Technik" und "Theorie" 23 kennzeichnet. Althusser verbindet diese grundsätzliche Anerkennung Freuds gleichwohl mit einer Kritik: "Freud dut penser sa decouverte et sa pratique dans des concepts importes, empruntes a la physique energetique, alors dominante, a 1' economie politique et a la biologie de son temps." 24 Wie Althusser in einer sehr akademisch anmutenden Weise in Anlehnung an Kants Unterscheidung von geborgten und selbstgefertigten Begriffen formuliert, sei es Freud nicht gelungen, eigene Begriffe zu erzeugen, um seine Theorie auf sichere Füße zu stellen. Dies sei vielmehr erst das Verdienst Lacans: "Jusqu'a l'apparition de Lacan, c'est-a-dire jusqu'a une tentative de transformation des concepts importes en concepts domestiques, i1 existe pour tout lecteur de Freud une contradiction entre les concepts de Freud, d'une part, et le contenu concret de ce que designe la psychanalyse, d'autre part." 25 Damit wird nicht Freud, sondern Lacan zum eigentlichen Begründer der Psychoanalyse als Wissenschaft, sofern man unter Wissenschaft, wie Althusser dies tut, die Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne 279 Fähigkeit versteht, die Theorie auf eine selbstgefertigte Begrifflichkeit zu gründen. In Althussers Augen zumindest in den Jahren 1963/ 1964 erscheint Lacan als der Messias, der die Psychoanalyse aus ihrem dogmatischen Schlaf weckt und ihr die wissenschaftliche Begründung gibt, die Freud nur unvollkommen geleistet habe. Althusser kommt zu dieser außerordentlichen Bewertung Lacans, da er in dessen Begrifflichkeit das Moment der Ideologiekritik wiedererkennt, das er in der Psychoanalyse suchte. Er bezieht sich dabei insbesondere auf Lacans Begriff des Imaginären. So stellt er in Anlehnung an die Lacansche Psychoanalyse fest, "que le sujet humain est decentre, constitue par une structure qui elle aussi n'a de 'centre' que dans la meconnaissance imaginaire du 'moi', c'est-a-dire dans les formations ideologiques ou il se 'reconnait' ." 26 Der Berührungspunkt zwischen der Psychoanalyse und Althussers Wissenschaftsverständnis liegt also vor allem im Bereich der mit Lacans Begriff des Imaginären enggeführten Ideologiekritik, und vor diesem Hintergrund erscheinen neben Freud auch Marx und Nietzsche als Vertreter ein- und derselben Sache: der Aufklärung des Menschen über die ideologischen Vorurteile, in denen er befangen ist. "A ma connaissance, dans le cours du XIXe siede, deux ou trois enfants naquirent, qu'on n'attendait pas: Marx, Nietzsche, Freud." 27 Althusser steht 1964 an einer signifikanten Wegkreuzung. Einerseits hält er an der Freudschen Psychoanalyse als einer spezifischen Form der Aufklärung fest, die Freud mit Marx und Nietzsche teile. Andererseits aber bereitet er mit dem Begriff der dezentrierten Subjektivität den Boden für die Überschreitung des aufklärerischen Humanismus, die die folgende Generation nicht mit Marx und Freud, sondern mit Nietzsche und Heidegger zu denken versucht. VII. So ist es kein Zufall, dass der Althusser-Schüler Michel Foucault 1964 auf dem Nietzsche- Kolloquium in Royaumont einen Vortrag mit dem Titel "Nietzsche, Freud, Marx" hält, und es ist auch kein Zufall, dass Nietzsche an die erste Stelle gerückt ist. Foucaults Bild der Psychoanalyse ist in all seinen Schriften ein kritisches. Bereits in seiner ersten Veröffentlichung, der Einleitung zur französischen Übersetzung von Ludwig Binswangers Schrift Traum und Existenz, zeichnet Foucault ein überraschend zwiespältiges Portrait der Psychoanalyse. Zu Beginn seiner kritischen Auseinandersetzung mit Freud stellt Foucault eine außergewöhnliche Koinzidenz fest: "Il vaudrait la peine d'insister un peu sur une coi: ncidence de dates: 1900, les Logische Untersuchungen de Husserl, la Traumdeutung de Freud." 28 Foucault wertet das fast zeitgleiche Erscheinen der Logischen Untersuchungen und der Traumdeutung als Zeichen für einen unterschiedlich gearteten Begründungsversuch des modernen Menschenbildes in der Spannung zwischen Anthropologie und Ontologie, wobei er von Beginn an keinen Zweifel daran lässt, dass er in Anlehnung an Heidegger an der "passage de l'anthropologie a l'ontologie" 29 interessiert ist. Ausgangspunkt seiner nicht immer klaren Ausführungen ist die Frage nach einer Theorie des Ausdrucks, die das Verhältnis von Bild und Bedeutung in der Psychoanalyse und der Phänomenologie betrifft und zugleich den von ihm gesuchten Übergang der Anthropologie zur Existenzanalyse markieren könnte. Auf eine überraschende und m.E. sachlich kaum nachzuvollziehende Weise spielt Foucault in seiner Schrift dabei die Phänomenologie gegen die Psychoanalyse aus. Schlagwortartig lautet sein Vorwurf an die Psychoanalyse: "La psychanalyse n'est jamais parvenue a faire parler les images." 3 ° Foucault wirft Freud vor, die bildlichen Inhalte des Traums allein in Richtung auf ihre sprachliche Sinnebene zu befragen, damit aber den eigentlichen Bildgehalt des Traumes 280 Achim Geisenhanslüke zu verfehlen. An die Stelle dieser Hermeneutik des Sinns, die viel eher Ricreurs Freudinterpretation als Freud selbst trifft, fordert Foucault ''une grammaire de la modalite imaginaire et une analyse de l'acte expressif' 31 , die er nicht in der Psychoanalyse, wohl aber in Husserls Bedeutungstheorie aus den Logischen Untersuchungen zu finden meint. Im Unterschied zur psychoanalytischen Traumdeutung ermögliche Husserls Unterscheidung von Anzeichen und Ausdruck ein angemessenes Verständnis des bildlichen Trauminhalts, das allerdings durch eine ontologische Analytik der Imagination zu ergänzen sei: "La phenomenologie est parvenue a faire parler les images; mais eile n'a donne a personne la possibilite d'en comprendre le langage." 32 Bereits der frühe Foucault stellt seine Arbeit also nicht in die Tradition der Psychoanalyse, sondern die der Phänomenologie bzw. deren ontologischer Transformation durch Heidegger. 33 Überraschend ist Foucaults Position, weil er in seinem Werk vor allem an eng mit der Arbeit Freuds verbundenen Themen wie Wahnsinn, Anomalie oder Sexualität interessiert ist, er die Errungenschaften der Psychoanalyse mit der Phänomenologie jedoch gerade zugunsten der letzten dezidiert bewusstseinstheoretischen Philosophie des Jahrhunderts zurückweist. 34 Foucault geht noch einmal auf das Verhältnis von Psychoanalyse und Phänomenologie ein, und zwar in Die Ordnung der Dinge. Sein Bild der Phänomenologie istzumindest auf den ersten Blick ..,.. weitaus kriti~cher geworden, das der Psychoanalyse aber ist das gleiche geblieben. Zwar definiert er in der englischen Einleitung des Buches dessen Gegenstandsbereich als "ein positives Unbewußtes des Wissens". 35 Trotzdem scheint er nicht dazu bereit zu sein, seine Archäologie des Wissens in die Tradition der Psychoanalyse zu stellen. Vielmehr begreift er Phänomenologie und Psychoanalyse nun als das wechselseitig aufeinander verweisende Doppel von Cogito und Ungedachtem, das als eines der drei Doppel der Endlichkeit den modernen Begriff des Menschen definiere. Zwar gesteht Foucault der Psychoanalyse zum Schluss seines Buches neben der Ethnologie und der modernen Linguistik einen privilegierten Platz innerhalb der modernen Humanwissenschaften zu, 36 da sie den Menschen an die Grenzen seiner Endlichkeit führe. Die Grenzen der Endlichkeit wirklich zu überschreiten traut er aber weder der Psychoanalyse noch der Ethnologie oder der Linguistik zu, sondern allein dem Wiederentdecken des Seins der Sprache in der Literatur, bei Nietzsche und Mallarme, bei Artaud, Roussel, Bataille und Blanchot. 37 Auch in der Ordnung der Dinge stellt sich Foucault nicht in die Tradition der Psychoanalyse, wohl aber in die der surrealistischen Revindikation des Wahnsinns als eines poetischen Aktes, wie sie Aragon und Breton bereits 1928 formulierten. Diese zutiefst romantische und letztlich wohl vorfreudianische Auffassung des Wahnsinns im Zeichen der Poesie teilt Foucault mit seinen Weggefährten Deleuze und Guattari .. VIII. Ein ähnlich kritisches Bild der Psychoanalyse wie Foucault entwerfen Deleuze/ Guattari in ihrem Buch Anti-Ödipus. Wie bereits der Titel verrät, ist das zentrale Theorem der Freudsehen Neurosenlehre, der Ödipus-Komplex, für Deleuze/ Guattari allenfalls noch ein Gegenstand des Spottes: "comment la psychanalyse fait-elle pour reduire, cette fois le nevrose, a une pauvre creature qui consomme eternellement du papa-maman, et rien d'autre? " 38 , lautet die kritische Frage, die Deleuze/ Guattari an Freud stellen. An die Stelle der ödipalen Verdrängungstheorie setzen sie eine! affirmative Theotie des Begehrens, die ganz im Zeichen der Schizophrenie steht und die! sich weit eher von Nietzsche als von Freud herleiten lässt: ' Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne 281 "Schizophreniser, schizophreniser le champ de l'inconscient, et aussi le champ social historique, de maniere a faire sauter le carcan d'Oedipe et retrouver partout 1a force des productions desirantes, renouer a meme le Reel le lien de la machine analytique, du desir et de la production"39, so lautet ihr Gegenkonzept zu Freuds Neurosenlehre. Dabei zeigt die Hinwendung zur Schizophrenie und der Ebene des Realen, dass Deleuze/ Guattari in ganz ähnlicher Weise wie Lacan auf die Psychose zurückgehen, um die psychoanalytische Neurosenlehre endgültig zu unterlaufen. Das Zauberwort, mit dem Deleuze/ Guattari Freud begegnen, ist das der "Wunschproduktion", die sich sowohl auf den psychischen Bereich des Unbewussten als auch auf den sozialen Bereich der modernen Produktionsgesellschaft erstreckt. Die These, das Begehren sei keine Instanz der Verdrängung oder Resultat eines psychischen und gesellschaftlichen Selbstentfremdungsprozesses, sondern eine lustbetonte Maschine, die unablässig produziere und reproduziere, führt dabei zugleich zu einer signifikanten Abwendung von Freud und Marx. "Le parallelisme de MarxaFreud reste tout-a-fait sterile et indifferent, mettant en scene des termes qui s'interiorisent ou se projettent l'un dans l'autre sans cesser d' etre etrangers, comme dans cette fameuse equation argent = merde. En verite, la production sociale est uniquement la production desirante elle-meme dans des conditions determinees." 40 An die Stelle der kritischen Analyse des Unbewussten und des Kapitalismus, die Freud und Marx vorgebracht haben und die noch Althussers Philosophie leitete, setzen Deleuze/ Guattari eine positive Theorie der Schizophrenie als unendlicher Lustproduktion, die sowohl die psychischen als auch die sozialen Prozesse der kapitalistischen Gesellschaft bestimme. In ähnlicher Weise wie bei Foucault verschwindet Freud gemeinsam mit Marx hinter dem nun übermächtigen Schatten Nietzsches. Von den drei unerwünschten Kindern, die das 19. Jahrhundert Althusser zufolge hervorgebracht habe, von Freud, Marx und Nietzsche, bleibt in der französischen Philosophie der Postmoderne allein Nietzsche übrig. IX. Auf eine zumindest auf den ersten Blick ungleich unvoreingenommenere Weise als Foucault und Deleuze hat sich Jacques Derrida in dem frühen Aufsatz Freud und der Schauplatz der Schrift Freud zu nähern versucht. Allerdings stellt auch Derrida seine Deutung der Psychoanalyse von Beginn an unter einen Vorbehalt: "Malgre les apparences, la deconstruction du logocentrisme n'est pas une psychanalyse de la philosophie." 41 Derrida will die Dekonstruktion also von vorneherein von der Psychoanalyse unterschieden wissen, obwohl seine Auseinandersetzung mit Freud bei der Hypothese ansetzt, dass die Entwicklung der Psychoanalyse vom frühen Entwuif einer Psychologie über die Traumdeutung bis zur Notiz über den Wunderblock mit einem metaphorischen Modell der Schrift einhergehe, das Freuds Begriff des Psychischen untergründig best: imme. "Or ce n' est pas un hasard si Freud, dans les moments decisifs de son itineraire, recourt a des modeles metaphoriques qui ne sont pas empruntes a la langue parlee, aux formes verbales, ni meme a I' ecriture phonetique, mais a une graphie qui n'est jamais assujettie, exterieure et posterieure a la parole." 42 Vielmehr deute sich bereits in den frühen Schriften Freuds die Metapher einer "Schrift-Maschine" an, die auf die graphische Struktur des Unbewussten hinweise. 43 Um die Spuren dieser Schrift-Maschine in Freuds Texten nachzuweisen, bezieht sich Derrida zunächst auf den Entwuifeiner Psychologie aus dem Jahre 1895 und der dort aufgeworfenen Frage nach der Unterscheidung von Wahrnehmung und Gedächtnis. In Freuds Begriff der "Bahnung" erkennt Derrida "une metaphorique de 1a trace ecrite',44, die der 282 Achim Geisenhanslüke psychoanalytischen Gedächtnistheorie als Ausgangspunkt diene. Die Zusammenführung des Unbewussten mit den Metaphern von Schrift und Maschine gelinge Freud jedoch weder in dem frühen Entwurf einer Psychologie noch in seinem Hauptwerk, der Traumdeutung, sondern erst in der Notiz über den Wunderblock aus dem Jahre 1925. In seiner äußerst pointierten Lektüre des Wunderblocks geht Derrida von drei Analogien aus, die seiner Meinung nach die Darstellung des Verhältnisses von Wahmehmung, Gedächtnis und Maschine bei Freud bestimmen. Zunächst erscheint Freuds Rückgriff auf das Beispiel des Wunderblocks einfach als ein Hilfsmittel zur Illustration eines bestimmten Sachverhalts. Darüber hinaus zeige der Wunderblock die Funktionsweise des psychischen Apparates anhand der Metapher eines räumlichen Einschreibeprozesses auf. Drittens schließlich weise das Modell des Wunderblocks auf eine Affinität zwischen Freuds Theorie des Gedächtnisses und dem Problem der Zeitlichkeit hin. So gelinge dem Wunderblock das, was dem Entwurf und der Traumdeutung verwehrt blieb, nämlich die Zusammenführung der Theorie des Unbewussten mit den Metaphern von Maschine und Schrift. Der Vergleichspunkt, der diese Zusammenführung ermöglicht, ist die zeitlich-räumliche Spur der Schrift als Paradigma der Arbeit des psychischen Apparates: "La temporalite comme espacement ne sera pas seulement la discontinuite horizontale dans la chaine des signes mais l'ecriture comme interruption et retablissement du contact entre les diverses profondeurs des couches psychiques, 1' etoffe temporelle si heterogene du travail psychique lui-meme." 45 Derrida zufolge führt die psychoanalytische Entdeckung des Unbewussten auf die "differance" der Schrift als einer räumlichzeitlichen Spur zurück, die zugleich das Unbewusste als eine Instanz kennzeichne, die sich den metaphysischen Kategorien des Ursprungs und der Präsenz entziehe. Freud, so scheint es zunächst, kann damit für sich in Anspruch nehmen, als einer der Denker zu gelten, denen der Sprung aus der Metaphysik der Identität in das Denken der Differenz gelungen sei. Derridas Überlegungen sind in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Zunächst geben sie Auskunft über sein eigenes Verfahren. Derrida gesteht der Notiz über den Wunderblock, einem Text von einigen wenigen Seiten, nicht nur eine außerordentliche Bedeutung in Freuds Werk zu. Als späte Einlösung der Probleme des Entwurfs und der Traumdeutung erscheint Freuds Notiz über den Wunderblock darüber hinaus als Beleg für die dekonstruktive Theorie der Supplementarität, die sich unmittelbar von Freuds Begriff der Nachträglichkeit herleiten lässt: Erst nachträglich durch das Supplement des Wunderblocks gewinne die Psychoanalyse jene Einheit, die Freud ihr bereits in der Traumdeutung vergeblich zu geben versuchte. Zwar lässt Derrida mit der Engführung von Nachträglichkeit und Supplementarität die Psychoanalyse zunächst als legitimen Vorläufer einer Wissenschaft erscheinen, die sich von der Metaphysik der Präsenz zu lösen vermag, indem sie anhand der Metaphern von "frayage" und "trace" ein Modell der Schrift vorbringe, das sich der Kategorie des Ursprunges entziehe. "Le texte n'est pas pensable dans 1a forme, originaire ou modifiee, de la presence. Le texte inconscient est deja tisse de traces pures, de differences ou s'unissent le senset la forme, texte nulle part present, constitues d'archives qui sont toujours deja des transcriptions". 46 Andererseits aber wirft Derrida Freud vor, die Maschine des Wunderblocks vom psychischen Apparat zu unterscheiden und somit vor den letzten Konsequenzen der eigenen Theorie zurückzuweichen. Indem Freud in seinem Aufsatz feststelle, dass die Maschine des Wunderblocks nur ein erläuterndes Beispiel für die Funktionsweise des psychischen Apparates sei, falle er in die Metaphysik der Präsenz zurück, von der er sich bereits zu verabschieden aufmachte. Schienen Freud die höheren Weihen der Dekonstruktion bereits sicher, so nutzt Derrida abschließend die Gelegenheit, die Tür, die er der Psychoanalyse aufgehalten hat, wieder zuzuschlagen. Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne 283 So fordert Derrida in seinem Aufsatz auch keine Rückkehr zu Freud wie einst Lacan, sondern eine zu Heidegger. Man solle Freud doch lesen wie Heidegger Kant gelesen habe, lautet Derridas Forderung, und das heißt ja zunächst: nicht ohne· eine gehörige Portion "Gewaltsamkeit',4 7• Derrida realisiert diese bewusst gewalttätige Lektüre Freuds, indem er dessen Theorie der Gedächtnisspur auf das graphische Modell eines räumlich-zeitlichen Einschreibeprozesses zurückführt, den Freuds Begriff des Unbewussten trotz oder-~ielmehr gerade aufgrund seiner Aussage, das Unbewusste kenne keine zeitlichen Unterscheidungen, jedoch verfehle. "Il faudrait peut-etre lire Freud comme Heidegger a lu Kant: comme le je pense, l'inconscient n'est sans doute intemporel qu'au regard d'un certain concept vulgaire du temps." 48 In einer Weise, die die Psychoanalyse wahrhaft auf den Kopf stellt, wirft Derrida Freud vor, seine Theorie des Unbewussten zeuge von einem vulgären Konzept der Zeit, dass er letztlich mit der cartesianischen Philosophie des Cogito und mit Kant teile. 49 Vor dem Hintergrund von Heideggers Zeitphilosophie erscheint die Freudsche Entdeckung des Unbewussten damit letztlich nur als eine weitere Episode in der Geschichte der Metaphysik. So lautet die letzte Forderung Derridas an die Psychoanalyse auch: "Il faudrait donc radicaliser le concept freudien de trace et l' extraire de 1a metaphysique de la presence qui le retient encore" 50• Erschien die Freudsche Psychoanalyse bei Lacan noch als legitimer Ausgangspunkt für die Erfahrung einer dezentrierten Subjektivität, die sich jeder Philosophie des Cogito entgegenstellt, so zeigt der Versuch einer Überbietung Lacans bei Foucault und Derrida, dass nicht mehr die Psychoanalyse das Modell der postmodernen Version der Humanwissenschaften ist, sondern die philosophische Überschreitung des Menschen im Zeichen Nietzsches und Heideggers. X. Die Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich weist damit auf ein doppeltes Ungleichgewicht hin. Zwar zeigt sich, dass in der Figur Jacques Lacans die Freudsche Entdeckung des Unbewussten und die surrealistische Selbstermächtigung der Sprache zu einer äußerst fruchtbaren Synthese gekommen sind. Andererseits aber hat Lacans Rückkehr zu Freud nicht nur theoretisch zu einer Verengung der Psychoanalyse auf das Problem der Sprache geführt, sondern auch institutionell zu einer Isolierung der französischen Psychoanalysebewegung, die bis heute andauert. In Frankreich gibt es zwar mit der SPP eine der mitgliederstärksten psychoanalytischen Vereinigungen der Welt, zugleich jedoch eine unübersichtliche Vielzahl von Splittergruppen, die sich gegenseitig befehden und befeinden, wobei Lacans eigener Schule bis heute die Zugehörigkeit zur International Psychoanalytical Association (IPA) verwehrt geblieben ist. Ebenso zwiespältig bleibt die Rezeption Freuds in den modernen Humanwissenschaften. Während Althusser 1964 in der Psychoanalyse noch einen Verbündeten für die seines Erachtens nach notwendige und auch mögliche Aufklärung des Menschen aus seinen ideologischen Verkennungen suchte, scheinen Foucault, Deleuze und Derrida trotz wesentlicher Anleihen bei der psychoanalytischen Theorie in Freud nur noch ein gewaltiges Missverständnis zu erkennen, mit dessen Hilfe nichts mehr aufzuklären ist, sondern das selbst der Aufklärung bedarf. Vor diesem Hintergrund stellt sich eine letzte Frage. Wie kommt es, dass ausgehend von Althusser über Foucault und Deleuze bis hin zu Derrida gerade die Theoretiker, die die Dezentrierung des Subjekts in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt haben, sich auf Husserl 284 Achim Geisenhanslüke und Heidegger sowie auf Nietzsche und die surrealistische Verbindung von Wahnsinn und Poesie berufen, nicht aber auf Freud, der ja für sich in Anspruch nehmen kann, diese Dezentrierung des Subjekts wie vielleicht kein anderer Theoretiker der Modeme vorangetrieben zu haben, indem er "das Ich als armes Ding" begreift, welches gleich "dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-lchs" 51 ? Die Strenge des Über-Ichs scheint kaum eine plausible Erklärung für die "Verwerfung" Freuds in Frankreich zu sein, und der Grund für die weitgehend kritische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse von seiten der Postmoderne, der selbstverständlich auch positivere Stimmen zur Seite zu stellen sind, 52 scheint letztlich auch nicht in dem anarchischen Wunsch nach einer wüsten Entfesselung der Libido zu liegen, auch wenn Foucaults und Deleuzes Äußerungen manchmal in diese Richtung gehen. "Nun sind philosophische Systeme nur für ihre Gründer ganz wahr: für alle späteren Philosophen gewöhnlich Ein großer Fehler, für die schwächeren Köpfe eine Summe von Fehlern und Wahrheiten" 53 , schreibt Nietzsche bereits 1872, und sicherlich gälte diese Einsicht in besonderem Maße für die französische Freudrezeption. Vielleicht lässt sich aber mit einem versöhnlicheren Zitat schließen, dass dazu beitragen kann, einige Missverständnisse um Freud und um das Bild Freuds in Frankreich aufzuklären. In seinem Buch Rückkehr zu Freud schreibt Samuel Weber: "Auffranzösisch heißt 'l' experience psychanalytique', übrigens, nicht nur psychoanalytische Eifahrung, sondern auch, und vielleicht vor allem: psychoanalytisches Experiment. Man sollte aber bedenken, daß es sich dabei um ein Experiment handelt, das nie ganz kontrolliert werden kann. Denn die Mauem des analytischen Laboratoriums sind wie die Ränder eines Textes: nie ganz dicht zu machen." 54 Anmerkungen 1 W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/ Main 1986. . 2 Vgl. E. Roudinesco, La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France.1. 1885-1939, Paris: Seuil 1986, s. 39. 3 Ebd., S. 181f. 4 Zu einer etwas differenzierteren Auffassung gelangtBernhard H.F. Taureck in seiner Einleitung Die Psychoanalyse zwischen Empirie und Philosophie, in: Psychoanalyse und Philosophie. Lacan in der Diskussion, hrsg. von B. Taureck, Frankfurt/ Main 1992, S. 7. 5 Vgl. die Lacan-Einführung von Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Wien 1990. 6 Zu einer kritischen Darstellung der Lacanschen Wende zur Sprache vgl. J. Laplanche, Le Structuralisme devant Ja Psychanalyse, in: Le Primat de l' Autre en Psychanalyse. Travaux 1967-1992, Paris: Flammarion 1992, s. 137-142. 7 M. Bowie, Lacan, Göttingen 1994, S. 11. 8 J. Lacan, Ecrits, Paris 1966, S. 93. 9 J. Lacan, Le Seminaire II. Le moi dans 1a theorie de Freud et dans Ja technique de la psychanalyse, Paris 1978, s. 11. 10 J. Lacan, Ecrits, S. 502. 11 Vgl. P. Ricreur, De l'interpretation. Essai sur Freud, Paris 1965. 12 Bowie fasst vor diesem Hintergrund zusammen: "Das Ich hat eine paranoische Struktur; der Wechsel vom Spiegel-Ich zum sozialen Ich bringt eine paranoische Entfremdung mit sich; die Psychoanalyse als therapeutische Methode führt im menschlichen Subjekt eine kontrollierte Paranoia herbei, und die Erkenntnis ist in allen ihren Formen ihrerseits unheilbar parnoisch." M. Bowie, Lacan, S. 41. 13 Vgl. in diesem Zusammenhang den Attikel zur "forclusion" im Wörterbuch der Psychoanalyse von Laplanche/ Pontalis. Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne 285 14 Lacans zentrales Interesse an der Psychose zeigt sich bereits in seiner Dissertation mit dem Titel De Ja psychose paranoraque dans ses rapports avec la personnalite. Vgl. auch das dritte Seminar aus dem Jahr 1955/ 56, das sich ganz der Psychose widmet. 15 Lacan scheint hier Freuds Unterscheidung von Neurose und Psychose zu folgen, derzufolge "die Neurose[ ... ] der Erfolg eines Konfliktes zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt" sei. S. Freud. Studienausgabe. Band m. Psychologie des Unbewußten, Frankfurt/ Main 1975, S. 333. 16 Zit. nach: Roudisco, La bataille de cent ans. Histoire de Ja psychanalyse en France. 1, S. 22. 17 Vgl. E. Roudinesco, La bataille de cent ans. Histoire de la psychanalyse en France. 2. 1925-1985, Paris: Seuil 1986,S.42 18 J. Pontalis, Apres Freud, Paris: Gallimard 1968, p. 383. 19 So Lacan einleitend in seinem Seminar XI zu den vier Grundbegriffen der Psychoanalyse. 20 L. Althusser, Psychanalyse et sciences hurnaines. Deux conferences, Paris 1996, S. 41. 21 L. Althusser, Ecrits sur Ja psychanalyse. Freud et Lacan, Paris 1993, S. 22. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 27. 24 Ebd., S. 26. 25 L. Althusser, Psychanalyse et sciences hurnaines, S. 26. 26 L. Althusser, Freud et Lacan, S. 45. 27 Ebd., S. 25. 28 M. Foucault, lntroduction. In: Dits et ecrits 1. 1954-1969, Paris 1994, S. 69. 29 Ebd.,S.117. 30 Ebd., S. 73. 31 Ebd., S. 72. 32 Ebd., S. 79. 33 So erkennt Foucault auch in der Histoire de la folie Freuds Leistung nicht als einen Beitrag zu der von ihm geforderten Befreiung des Wahnsinns an, er wirft ihm vielmehr vor, den Wahnsinn in eine neue Fessel zu legen, in die der väterlichen Autorität des ärztlichen Blickes. Vgl. M. Foucault, Histoire de la folie ll l' äge classique, Paris 1972, S. 529. 34 Vgl. E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 5. 35 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/ Main 1974, S. 11. 36 M. Foucault, Les mots et ! es choses, Paris 1966, S. 385. 37 Vgl. A. Geisenhanslüke, Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung, Opladen 1997. 38 G; Deleuze / F. Guattari, Capitalisme et schizophrenie. L' Anti-Oedipe. Paris 1975, S. 27. 39 Ebd., S. 62. 40 Ebd., S. 36. 41 J. Derrida, L'ecriture et Ja difference, Paris 1967, S. 293. 42 Ebd., S. 296. 43 "Le contenue du psychique sera represente par un texte d' essence irreductiblement graphique. La structure de I'appareil psychique sera representee par une machinge d'ecriture", heißt es in der für Derrida so charakteristischen Form des Futur anterieur. Ebd., S. 297. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 333. 46 Ebd., S. 314. 47 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/ Main 1991, S. XVI. 48 J. Derrida, L'ecriture et Ja difference, S. 318. 49 Zu einer weit differenzierteren Auffassung gelangt Samuel Weber, der daraufhinweist, dass Freuds Begriff der Zeit ein ganz anderer sei als der von Heidegger kritisierte vulgäre Zeitbegriffder philosophischen Tradition. Vgl. S. Weber, Rückkehr zu Freud, S. 241. 50 J. Derrida, L'ecriture et la difference, S. 339. 51 S. Freud, Studienausgabe. Band m. Psychologie des Unbewußten, Frankfurt/ Main 1974, S. 322. 52 Natürlich lassen sich auch bei den genannten Autoren positivere Bestimmungen der Psychoanalyse finden, so z.B. J. Derrida in seinem Band Vergessen wir nichtdie Psychoanalyse! , Frankfurt/ Main 1998. 53 F. Nietzsche, KSA 1, S. 801. 54 S. Weber, Rückkehr zu Freud, S. 13.
