eJournals Kodikas/Code 24/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2001
241-2

Zur Funktionalisierung von Elementen der "Technik" in Literatur und Medien

61
2001
Michael Titzmann
kod241-20003
KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Zur Funktionalisierong von Elementen der Technik in Literatur und Medien Michael Titzmann Die folgenden Beiträge wurden in ihrer ursprünglichen Form beim 9. Internationalen Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik im Oktober 1999 an der TH Dresden im Rahmen der Sektion Technik als Zeichensystem in Literatur und Medien zur Diskussion gestellt. Leider hat sich zwar nur ein Teil der Beiträger dieser Sektion zu einer ausgearbeiteten Fassung ihrer Vorträge entschließen können: aber dieser Teil verdient es, gedruckt zu werden, wenngleich zu bedauern ist, daß die Beiträge zu Film, Fernsehen und neuen Medien entfallen sind, zumal Elemente aus dem Bereich "Technik" ja im frühen Film der 20er Jahre eine erhebliche Rolle spielen. Obwohl vermutlich die meisten Leser des Kongreßprogramms beim Stichwort "Technik" vor allem an jene neuen Herstellungsverfahren und Instrumente gedacht haben werden, die in den westlichen Kulturen seit dem Beginn der Industrialisierung sukzessiv erfunden wurden, muß natürlich festgehalten werden, daß jede menschliche Kultur über ''Technik(en)" verfügt - und das gilt a fortiori für die europäische Zivilisation seit der Renaissance, die ja auch theoretische Diskurse über Technik hervorgebracht hat, so, um nur ein Beispiel zu nennen, etwa Agricolas De re metallica. Es ist insofern bedauerlich, daß die publizierten wie unpublizierten - Beiträge der Sektion überhaupt erst mit der Aufklärung einsetzen, daß das 19. Jahrhundert praktisch nicht vertreten ist, daß der Schwerpunkt eindeutig im 20. Jahrhundert lag. Heuristisch wird man wohl zwischen "techni/ ; chen Verfahren", den kulturellen Praktiken, mit deren Hilfe· Artefakte hergestellt werden, und "technischen Instrumenten" zur Herstellung solcher Artefakte unterscheiden können, wobei die letzteren natürlich ebenso den Faustkeil wie alle Formen von Maschinen umfassen. Mit Hilfe von Verfahren werden Instrumente hergestellt und die Verfahren können sich ihrerseits unterschiedlichster Instrumente bedienen. Das Endprodukt der Schritte des technischen Prozesses wären dann "Gebrauchsgüter", ob sie nun dominant ästhetischen, rituellen, kulinarischen, vestimentären, usw. Charakter haben oder selbst wiederum in anderer Weise als Nahrung und Kleidung dominant instrumentellen Charakter haben, so etwa die Instrumente der Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme, des Angriffs oder der Verteidigung, der Fortbewegung. Jedes "Instrument" kann natürlich selbst als Zeichen etwa ästhetische oder ideologische Werte transportieren; die Instrumente des Kochens wie die des Kriegs können auch ästhetische Objekte sein, die Instrumente der Fortbewegung mögen auch mit sozialen und ideologischen Werten korreliert sein (z.B. Wahl der Automarke). Natürlich haben die Verfahren und Instrumente der Technikebenso wie die Endprodukte dieser Technik, die konsumierten, benutzten Gebrauchsgüter, eine semiotische Komponente: Alles, was im Rahmen der kulturell verfügbaren Mittel und ohne Beeinträchtigung des Verwendungszwecks auch anders auf andere Weise geschehen oder anders gestaltetsein könnte, hat unvermeidlich zugleich zeichenhaften Status und trägt Bedeutung; 4 Michael Titzmann wo die Epoche/ Kultur unter ihren Alternativen, bewußt oder nicht, auswählt, bringt sie Bedeutung hervor, ihr bewußte oder nicht bewußte. Aber nicht darum, ob und inwiefern ein Element der "Technik"(= Verfahren oder Instrument) selbst schon welche Bedeutung in seinem kulturellen Kontext transportiert, ging es in dieser Sektion. Es ging darum, wie mit dem Bereich der epochal/ kulturell verfügbaren Technik (im oben vorläufig-vage umschriebenen Sinne) von jener Klasse sprachlicher Äußerungen, die man "Literatur" nennt (und die selbst schon Techniken, z.B. der Papierherstellung und des Drucks zu ihrer Distribution voraussetzt), und von Äußerungen anderer Medien (soweit die Epoche/ Kultur solche kennt) umgegangen wird. Der Fragestellungskomplex ließe sich, wiederum nur vorläufig und näherungsweise, wohl zumindest in die folgenden Teilfragen zerlegen (wobei ich im folgenden ''Text" für jede sprachliche oder nicht-sprachliche semiotische Äußerung verwende): 1. Ebene der Selektion gegenüber den je epochal/ kulturell verfügbaren Techniken: 1.1 Auf welche Elemente aus dem Bereich "Technik" nimmt ein Text bzw. Textk01pus überhaupt Bezug? Solche Bezugnahmen sind etwa in derper definitionem multimedialen - "Emblematik" der "Frühen Neuzeit" und ihren Applikationen in Literatur oder f? ildender Kunst ausgesprochen selektiv: sprachlich oder ikonisch werden etwa Instrumente der Geometrie (Zirkel, Winkelmaß, usw.), Elemente aus dem Bereich der Schiffahrt (Anker, Schiffe usw.) abgebildet. Wo hingegen Texte des Literatursystems "Realismus" überhaupt auf Technik rekurrieren, da geht es eher um die Herstellung oder Benutzung von (Dampf-)Maschinen (Züge, Schiffe, usw.), die die Beschränkungen der "Natur'' technisch überwinden (z.B. Spielhagen: Hammer und Amboß), oder um technische Installationen, die die Gefährdungen durch "Natur" fernhalten (sollen) (z.B.: Spielhagen: Sturmflut, Storm: Der Schimmelreiter); die durchaus relevante und folgenreiche Technik der chemischen Industrie spielt kaum eine Rolle (eine Ausnahme wäre z.B. Raabes Pfisters Mühle). 1.2 Welchen der im kulturellen Wissen der jeweiligen Epoche unterschiedenen Teilbereichen von Technik entstammen diese Elemente? So ist es offenkundig signifikant, daß der "Realismus" eher auf physikalische Mechanik und Dynamik rekurriert und vom Modell "Dampfmaschine" fasziniert ist, was im "Naturalismus" zu zwei bemerkenswerten Mythisierungen des Eisenbahnzugsführers wird (Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel und Emile Zolas unvergleichlich besserer - La Bete humaine). Was an technischer Nutzung der Elektrizität, des Elektromagnetismus im 19. Jahrhundert relevant wird, spielt literarisch kaum eine relevante ideologische Rolle (außer in Villiers de L'Isle-Adams L'Evefuture). Das von der Physik des 19, Jahrhunderts abstrahierte Konzept der ''Energie", insbesondere in der Form einer "Strahlung", wird zur Zeit des "Realismus" vielleicht nur in Bulwer-Lyttons The coming race wichtig, während energiereiche Strahlung in der "Frühen Modeme", einsetzend wohl mit Kurd Laßwitz' Auf zwei Planeten, ebenso in der Fantastik wie in der Science fiction eine zentrale Rolle spielen wird. Hübsch ist auch das Beispiel des U-Boots: vorgedacht in Einzeltexten des 17. Jahrhunderts (Bacon: Nova Atlantis) und der Goethezeit (Achim von Amim: Die Ehenschmiede) wird es in der Sciencefiction des Zur Funktionalisierung von Elementen der Technik in Literatur und Medien 5 19. Jahrhunderts bei Jules Veme wirklich kulturell signifikant. Ähnliches gilt für die Phantasien vom Fliegen im allgemeinen und vom Weltraumflug im besonderen: Im 17. und 18. Jahrhundert vorgedacht, werden sie im 19. und 20. Jahrhundert zumindest in Sciencefiction (Veme, Wells, Laßwitz, Dominik) literarisch relevant. Woraus folgt: 1.3 Wo "eifindet" dieLiteratur seit der "Frühen Neuzeit" neue Techniken, die ihre jeweilige Epoche/ Kultur noch gar nicht kennt? Das Phänomen ist natürlich eines, das normalerweise allenfalls in bestimmten Texttypen (z.B.: Sciencefiction, Fantastik, Utopie) auftritt. Der erste Text, der geradezu systematisch neue Techniken erfindet, ist Bacons Utopie der Nova Atlantis/ New Atlantis, der damit in den Utopien des 16. - 18. Jahrhunderts eine Sonderstellung einnimmt. Bacons Text antizipiert damit die möglichen, denkbaren Konsequenzen seines eigenen wissenschaftstheoretischen Programms des Novum Organum. 1.4 In welchen Klassen von Texten der Epoche (Texttypen, Gattungen, ... )findet solche Referenz auf/ Thematisierung von Elementen aus Technik überhaupt statt? In der Zeit vom 16. zum 18. Jahrhundert sind Texte, in denen tatsächlich Technik eine wesentliche Rolle spielt, wohl eher solche des Texttyps "Utopie"; spätestens im 19. Jahrhundert hingegen finden sich solche Bezugnahmen auch in Texten, die sich als "mimetischrealistisch" gerieren. 1.5 Auf welchen Textebenen finden sich solche Bezugnahmen? Ganz offensichtlich macht es einen fundamentalen Unterschied, ob Elemente aus dem Bereich "Technik" auf der Ebene des discours, sei es nun die Rede einer Erzählinstanz. oder die der Rede einer Figur, genannt, erwähnt, erörtert, als Zeichen für-anderes gebraucht werden oder ob Phänomene dieses Bereichs auf der Ebene der histoire der erzählten (z.B. Roman, Erzählung, Ballade, usw.) oder abstrahierbaren (z.B. Drama, Film, Gemäldezyklus) "Geschichte" eine Rolle spielen. Im Kontext rhetorischer oder anderer semiotischer Strategien kann ein technisches Element als Tropus, als Symbol, als sonstiges Zeichen für anderes punktuell verwendet werden: Aber wenn technische Elemente auf der Ebene der histoire eine Rolle spielen, können sie semantisch wie existentiell wesentlich relevanter werden: Es ist ein Unterschied, ob man Schiffahrt und Schiffbruch als Tropus auf der Rede-ldiscours-Ebene verwendet wie in unzähligen Texten der "Frühen Neuzeit" oder ob man sie auf der Geschichts-/ histoire-Ebene darstellt wie in den frühneuzeitlichen Utopien (z.B. Moros' Utopia, eines Anonymus L'Isle des Hermaphrodites, Andreaes Christianopolis, Veiras' Histoire des Sevarambes, usw.) oder in den "Robinsonaden" (Defoes Robinson Crusoe, Schnabels Insel Felsenburg usw.) bis hin zu Schiffbruchsgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts (Jordans Die Sebalds, Spielhagens Sturmflut, Hauptmanns Atlantis, Poes Arthur Gordon Pym, usw.)- und in jeder Epoche, vielleicht gar in jedem Text, bedeutet das Element etwas anderes. 6 Michael Titvnann 1.6 Mit Hilfe welcher semiotischer Techniken wird ein solches Element im Text präsentiert? Die Frage ist im gegebenen Kontext nur sehr partiell -d.h. durch Beispieleexplizierbar. Ein solches Element könnte z.B. ob es auf der Ebene des discours oder der der histoire funktionalisiert wird etwa durch bloße Namensnennung ebenso wie durch mehr oder minder einläßliche Deskription eingeführt werden. Texte etwa des Typs "Science fiction" müssen ihre neuen "Techniken" plausibilisieren, und das bedeutet, daß sie zumindest rudimentär eine "Theorie" skizzieren müssen, aus der, mehr oder minder glaubwürdig, die neue ''Technik" erklärbar wäre, und sie müssen diese, zumindest in ihrem Endprodukt einigermaßen abbilden, sei es, daß sie sie wie in Literatur "beschreiben", sei es, daß sie sie wie im Film "zeigen". 2. Ebene der Kombination/ Ebene der Funktionalisierung bzw. Semantisierung: 2.1 In welchem Umfang übernimmt ein Text oder Textkorpus, der/ das auf Elemente der "Technik" referiert, die im (prätextuellen) kulturellen Wissen der Epoche bewußt oder unbewußt-mit diesem (zugleich als Zeichen fungierenden) Element verbundenen Bedeutungen? Und umgekehrt: in welchem Umfang ordnen Texte bzw. Textkorpora diesem technischen Element neue Bedeutungen zu, die mit den prätextuellen Bedeutungen kompatibel, d.h. zu ihnen komplementär, oder mit ihnen inkompatibel, d.h. zu ihnen oppositionell sind? In allen Texten des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, die zur Fantastik tendieren, angefangen mit Villiers de L'Isle-Adams L'Eve future, über Spundas Devachan und Der weiße und der gelbe Papst bis hin zu z.B. - Bergengruens Das Gesetz des Atum, werden mehr oder minder technische Phänomene, ihrerseits mehr oder minder "real" bzw. dem Bereich "Sciencefiction" zugehörig, auf eine Weise semantisiert, d.h. durch den Kotext mit zusätzlichen Merkmalen/ Implikationen versehen, die nicht nur über den Bereich des ''naturwissenschaftlich" Legitimierbaren hinausgehen, sondern denjeweiligen wissenschaftstheoretisch-methodologischen Prämissen von "Naturwissenschaft" widersprechen. Die Strategien solcher zusätzlicher Semantisierungen additiv zur vorgefundenen Semantik oder oppositionell zu ihr sind nicht für die Fragestellung spezifisch, sondern Teil der allgemeinen Semiotik. Immerhin würde sich für die jeweilige Epoche fragen: 2.2 Weist die jeweilige Epoche eine spezifische Auswahl aus den logisch denkbaren Strategien zusätzlicher Semantisierung auf? Für die Texte der "Frühen Modeme" (z.B. die obenerwähnten Autoren Spunda, Bergengruen, und andere) ließe sich möglicherweise zeigen, daß es solche Strategien gibt. Auch ein Autor wie Ernst Weiß, der Techniken der physikalischen Radiologie (Die Galeere) oder der bakteriologischen Medizin (Georg Letham. Arzt undMörder) inszeniert, schreibt ihnen zusätzliche Bedeutungen -die Psyche des Individuums oder das Sozialsystem der Gesellschaft betreffend zu, und es kann interpretiert werden, wie, d.h. mit welchen semiotischen Mitteln, er das macht. Zur Funktionalisierung von Elementen der Technik in Literatur und Medien 2.3 Welchen Ort im semantisch-ideologischen System nimmt das Element aus dem Bereich "Technik" im Text bzw. Textkorpus ein? Mit welchen Elementen/ Strukturen der Textideologie wird es positiv (als äquivalent,. impliziert, inkludiert), mit welchen wird es negativ (als oppositionell) korreliert? 7 Die Elemente der Technik in Bacons Nova Atlantis repräsentieren eine für den Text zentrale Hoffnung auf wissenschaftlichen "Fortschritt" und daraus resultierenden sozialen "Fortschritt": auf Verbesserung der materiellen Lebensumstände und auf konfliktfreie soziale Harmonie. InRaabesPfisters Mühle sind die Elemente chemischer Technik hingegen ambivalent bewertet: sie begünstigen neue (''kapitalistische") Lebensformen und zerstören alte ("handwerkliche"); sie bringen Vereinfachung und Verbesserung des Alltags aber sie ruinieren die Umwelt. In Schillers Der Geisterseher - und in einer Vielzahl verwandter goethezeitlicher Romane-wird die technische Verwendung naturwissenschaftlichen Wissens zum okkultistischen Betrug, zur Vortäuschung magischer "Wunder", mißbraucht. Es fragt sich somit: 2.4 Mit welchen Bereichen der epochalen bzw. text- oder textkorpusspezijischen Ideologie ist die jeweilige Semantisierung technischer Elemente verträglich oder nicht? Welche Ideologeme der Epoche, des Textes, des Textkorpus werden ihr über- oder untergeordnet? Welchen Platz nimmt sie in Anthropologie bzw. Ideologie von Text, Textkorpus, Epoche ein? In Bacons NovaAtlantis ist ''Technik" das erstrebenswerte Ziel rationalen, wissenschaftlichen Wissens: eine unbestrittene Verbesserung und Optimierung der Bedingungen menschlicher Existenz. In Huxleys Brave New World, in Orwells 1984, in unzähligen amerikanischen Filmen der letzten 20 Jahre ist neue ''Technik" eine Bedrohung menschenwürdiger Existenz. Ich belasse es bei diesem Fragenkatalog und füge nur mehr zwei Metafragen hinzu: 3. Auswertung der Fragen 1. und 2. 3.1 Bei jeder der Teilfragen aus 1. und 2. wäre zu fragen: und was läßt sich aus den Ergebnissen semantisch-ideologisch folgern? 3.2 Lassen sich für das jeweilige epochale/ kulturelle Teilsystem aus den Interpretationsergebnissen zu Texten/ I'extkorpora Regularitäten ableiten? Formuliert wäre hier natürlich auch eine Menge möglicher literarhistorisch-semiotischer Forschungsprogramme; jeder der Beiträge in dieser Sektion deckt natürlich nur einen Teilbereich der als sinnvoll denkbaren Fragestellungen ab: aber jeder bietet insofern auch eine Basis für potentielle weitere Forschung. Der Fragestellungskomplex insgesamt verspräche jedenfalls relevante Beiträge zu einer Literaturwissenschaft, verstanden als historische Ethnologie. -