eJournals Kodikas/Code 24/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2001
241-2

Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Moderne (1890-1938): Semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen

61
2001
Katja Schneider
Gustav Frank
kod241-20047
KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) • No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Moderne (1890-1938): semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen 1 Katja Schneider/ Gustav Frank Because there is no elaborate semiotics of dance the authors try to develop some criteria for analysing dance events by semiotical means. They answer the question how moving and meaning come together in dance. The focus of the. paper lies on the moment of remarkable change in dance history arising with the New Dance of the late 19 th century. The perspective of the historical depiction is the intersections of dance and technic. In reconstructing the complex relationship of the cultural semantics of 'dance' and 'technic' the paper follows the modern discours on dance from the early criticism of the romantic and classical ballet as being mechanical. By the poly-semantics of the New Dance and its function as inter-discourse reached after this moment of polemics the concepts of body technics, and bodyand dance-led theories of Ianguage in the 1930ies are prepared. The focus of the paper are the different developments during the interwar period. Lichter'/ i3nz zur Weltausstellung in Paris 1900 Lore Fuller sitzt in lebhafter Unterhaltung am Tische der Curies ... Dieses Bild aus dem Paris der späten 1890er Jahre hat die : filmische Imagination (Pinoteau 1997) unserer Tage wiederbelebt: Marie Curie beginnt gerade damit, nach dem Postulat von Radium und Polonium, das Radium in mühseliger Handarbeit aus der Pechblende zu gewinnen. Und in der Tat hatte die amerikanische Tänzerin den Kontakt zu der polnisch-französischen Nobelpreisträgerin (für Physik 1903 zusammen mit ihrem Mann Pierre und Antoine-Henri Becquerel; für Chemie 1911) gesucht2, die Entdeckung von Radium mit Aufmerksamkeit vetfolgt und im Labor im eigenen Garten an einer Handhabung und bühnenwirksamen Verwendung zusammen mit Chemikemundingenieuren gearbeitet. Elektro- und Lichttechnik, Mechanik mit neuen Materialien und Materialsynthesen mit Textilien (Plate 1), schließlich eigene Patente zum Schutz ihrer Urheberschaft in Zeiten der "technischen Reproduzierbarkeit" (Benjamin 1936) durch die Konkurrenzauch dies sind Kennzeichen derneuen Tanzkunst Lofo Fullers. 3 In den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 19. Jahrhunderts kommt es zu einer "rapide zunehmenden Wechselwirkung zwischen Wissenschaft, Technik und Industrie."(König 1997: IV, 403). Die Neuerungen und Fortschritte, die durch dieses Zusammenwirken erzielt werden, erschüttern die menschliche Vorstellungswelt und führen zu beschleunigtem Wandel des Wissens und des Alltagslebens, in äer Güterproduktion, im öffentlichen wie auch im privaten Leben. Diese Allgegenwart und Durchdringung stellt die Voraussetzung der "Weltbildfunktion", so Stichweh (1994: 153), dar, die jetzt der symbolischen Repräsentation, der zeichenhaften Darstellung dieses technischen Komplexes durch Verlautbarungen und Abbildungen in den verschiedensten Publikationsmedien zuwächst. Und auch diese Medien 48 Katja Schneider/ Gustav Frank standen und entstanden während des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Industrialisierungsschüben; sie sind somit selbst technische Medien. In eine "Welt-bild-funktion" einzunicken und die vorherrschende Orientierung an der Vergangenheit; den Historismus, daraus nach und nach zu verdrängen, setzte Anschaulichkeit, ja mehr noch einen Appell an die Sinne voraus, wie ihn der Historismus selbst schon in seinen Museen und Bibliothekenumfassend angeboten hatte. Die Grundlagen technisch-industrieller Produktionsweisen und Produkte waren dem entgegen seit der Jahrhundertmitte zunehmend wissenschaftlich, mathematisch geworden, mithin abstrakt der unmittelbaren Einsicht entrückt. Mit der Industrialisierung der Photographie seit den 1870er Jahren gelang ein Doppeltes: "mit Hilfe von Chemie, die man zwar noch nicht völlig verstand, die man aber durch Experiment wirksam in Szene setzen konnte, ein realistisches Abbild zu schaffen" (König 1997: 4,229), also massenhaft Technik und Welt gleichermaßen anschaulich zu repräsentieren. Wie das Beispiel Lote Fullers zeigt, war der 'Neue Tanz' 4 von Beginn an mit dem Komplex aus Wissenschaft, Technik und Industrie verbunden: Mit Licht und Energie wurden zentrale Themen der Zeit hier jedoch in ganz neuem Zusammenhang repräsentiert und dadurch wurden neue Bedeutungen dieses Komplexes erzeugt. Erst hier entstanden Schnittstellen als Anschlußstellen für Bedeutungsverknüpfungen und-übergänge zwischen zunächst weit auseinander liegenden Sphären. Es bildeten sich semiotische Brocken, die den technischen Komplex mit den prägenden kulturellen Debatten der Zeit koppelten: mit dem Ringen um den Körper5, dem Regulativ der Normalisierung 6, der Auseinandersetzung um die Krise der Wahrnehmung und der Sprache. Die Weltausstellung in Paris zum anbrechenden neuen Jahrhundert gestand der Tänzerin einen eigenen Pavillon zu und bestätigte damit die erfolgte, die erwünschte Verschränkung. Lote Fuller führte dort ihre synästhetischen Tanzexperimente mit Elektrizität, Licht, Projektionen, Spiegelungen und Radium vor. Die Ausstellung selbst, die um den "Palast der Elektrizität" kreiste, hatte in vorher nicht gekanntem Maß industrielle Leistungsschau und kommerzielle Schaustellung verquickt. Dadurch wird ein Doppeltes verdeutlicht: wie Technik, die sich immer mehr in eine Tiefenstruktur von neuartigen Objekten· zurückzieht, umso mehr der Repräsentation durch metaphorische und metonymische Verfahren, sichtbare und kenntlich gestaltete Oberflächen, bedarf und wie eine kommerzialisierte Unterhaltung zu einem Teil dieses industriellen Komplexes und das Forum der Präsentation desselben wird. Hier erst wird das Abstrakt- Unanschauliche in symbolisches Kapital kultureller Zeichensysteme umgemünzt, an Umbrüche in Wahrnehmung und Darstellung angeschlossen, die über die sinnliche Qualität alle erreichen, nicht nur den engen Kreis der Spezialisten. Bei Lote Fuller war Technik nicht nur benutzt, um ergänzende spektakuläre Effekte um Tanz und Tänzerin zu ranken, sondern sie war integraler Bestandteil der Choreographie. Fullers Bühnenexperimente mit Wahrnehmung und Darstellung überschritten damit jedoch nicht nur die Grenze zur Technik, sondern deutlich zugleich auch die Grenzen des Tanzes: Mit dem Verschwinden des einen, identifizierbaren bewegten Körpers aus Fullers Choreographien ~ durch Schleier, Licht, Projektions- und Spiegeleffekte verloren diese wesentliche Merkmale jeglichen bisherigen Tanzverständnisses. Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 49 Plate 1: Loi"e Fuller 50 Katja Schneider/ Gustav Frank Tanz und Zeichen Anders steht es zur selben Zeit um das Ballett, das in St Petersburg 1890 mit Marius Petipas Dornröschen und 1895mit seinem in Zusammenarbeit mit Lew Iwanow entstandenen Werk Schwanensee Tri11IDphe feierte. Für die Danse d' ecole, sowohl in ihrer (prä-)romantischen wie auch in ihrer zaristischen Ausprägung, läßt sich eine hochgradige soziale Konventionalisierung nachweisen. Tanz bedeutete hier Tradition. Es galt das Ideal des sich im 17. Jahrhundert am Hofe Ludwigs XIV. entwickelnden, streng kodifizierten Bewegungs~ und Schrittsystems und seiner repräsentierenden Funktion. Seine Bewegungsgrammatik und -rhetorik erlaubten eine unzweifelhafte 'Lektüre' seines Systems und seiner Elemente. Der Einsatz von Spitzenschuhen und Spitzentanz, dessen Perfektion im 19. Jahrhundert immer mehr gesteigert wurde, die Hierarchien der Darsteller auf wie hinter der Bühne waren eindeutig geregelt, ebenso, welches Schrittmaterial zulässig war. Der Grenzverkehr mit alternativen Bewegungsrepertoires, etwa mit dem Holzschuh des "Volkstanzes", war eindeutig fixiert. - Dieser Bühnentanz war vom Kontext auf der Opernbühne fremdbestimmt, vorhersagbar und deshalb 'lesbar' durch alle seine semiotischen Register. Exzellenz zeichnete ihn freilich aus in der Überfeinerung des Technischen, der Präzision im Mechanischen und der Disziplin des Körpers. Lo'ie Fuller war nicht die Einzige; die das Publikum seit den 1890er Jahren mit einem vollständig anderen Tanzerlebnis konfrontierte. Um 1900 wurde der enge semantische R; ng um das klassische Ballett in einer heftigen Polemik aufgelöst. Folgt man den zeitgenössischen Stimmen, war der Grund für die Abqualifizierung des Balletts die Dominanz der Technik: Es trainiere nur die Beine, alles andere verkümmere, es sei eine mechanische Lehre im Vergleich etwa zur Gymnastik als ganzheitliches "organisches" Prinzip der Körperertüchtigung. Ballett sei Technik um ihrer selbst willen, während der Tanz idealerweise emotionale Vorgänge durch Bewegung visualisiere, ohne in irgendeiner Weise kulturell kodifiziert zu sein. Dieser Tanz sei "Ausdruck der Seele", so Blass (1921: 44), die "Fähigkeit, seelischem Erleben durch rhythmische Körperbewegung Ausdruck zu verleihen", so Schikowski (1924: 10). Das waren gänzlich neue Rahmenvorgaben, innerhalb derer der Neue Tanz nun funktionieren sollte: statt Hypertrophie einzelner Gliedmaßen Ertüchtigung des ganzen Körpers, um Anpassungs- und Leistungsfähigkeit unter veränderlichen Anforderungsprofilen zu erzielen und um den Seelen-Ausdruck 7 in der Ordnung von Rhythmen beherrschbar zu halten. Mit einer Verschiebung des Tanzes vom Pol der Kultur zu dem der Natur ließen sich zweierlei Ziele verbinden: diese ArtRenaturalisierung des Tanzes 'öffnete' ihn für nicht-konventionelle, nicht erstarrte, sondern dynamische Körperkonzepte; und dieser Tanz war damit die angemessene Reaktion auf die kritisch beäugte Bewegung weg vom Pol Natur, die man in den industrialisierten modernen Metropolen ausmachte. Der Tanz wurde von der Tradition befreit und orientierte sich nun an anderen Idealen: Isadora Duncan etwa propagierte mit ihren Auftritten, barfuß und in Tunika, die Befreiung des weiblichen Körpers und strebte eine Wiederbelebung des antiken Tanzes an (Plate 2). Sie wollte "Erfahrung" vermitteln, statt "Wirkung" zu erzielen. Der offenbare und in polemischen Bekundungen verstärkte Traditionsbruch bedurfte als Gegengewicht offenbar kultureller Legitimationen. Duncan griff wie viele andere auf das Ansehen des Historismus zurück, um seine impliziten Werte und Normen mit seinen eigenen Mitteln zu verändern. Seit den 1870er Jahren war offenbar geworden, daß Wissen über vergangene Kulturen und ihre Stufenfolgen in ordnungssprengenden Dimensionen zur Verfügung stand. Mittlerweile schien sich alles und sein Gegenteil mit Belegen aus der Geschichte rechtfertigen zu lassen. Als erster hatte Nietzsche durch sein Plädoyer für den dionysischen Anteil der griechischen Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 51 Plate 2: lsadora Duncan 52 Katja Schneider / Gustav Frank Antike deren kultischen wie festlichen Tänzen einige Aufmerksamkeit verschafft ihn überdies mit der Psyche der Zeitgenossen verknüpft. Duncans Inspirationen aus und Auftritte in Museum und Bibliothek schlossen die unerhört neuen Tanz- und Bewegungsexperimente dann an eine von den Institutionen des Historismus beglaubigte älteste Tradition an. Diese Fühlungnahme mit den vitalen Ursprüngen des Abendlands in der Antike ließ das Ballett dagegen als Zeugnis einer späteren Dekadenz erscheinen. Der Neue Tanz, die beiden Beispiele sollten das stellvertretend illustrieren, wurde um die Jahrhundertwende allgegenwärtig. Damit beginnt die erste Etappe einer Tanzgeschichte im Zeichen der Technik: Bühnentanz und Technik werden in ihrem Übereinkommen in der mechanistisch gedeuteten Mensch~Maschine des Tänzerkörpers zugunsten eines ·organologisch-ganzheitlichen Argumentierens für 'Natur' und 'Leben' kritisierbar. Die Geste des Traditionsbruchs konnte tänzerisch die Form des Hohns graver Bodenhaftung auf grazile Spitzenartistik annehmen, Natur gegen Kunst ausspielen und im verbalen Begleitdiskurs als antirnechanistische Polemik daherkommen. Auch die neue Physik als Leitwissenschaft der Jahrhundertwende entstand im Zeichen einer Kritik an der klassischen Mechanik Newtons. 8 Eine semiotische Beschreibung des Bruchs in der Tanzgeschichte hätte also zumindest folgende Aspekte zu berücksichtigen: 1. Bewegungsrepertoire, Grammatik- und Rhetorik-Elemente des klassischen Balletts sind ein zu enger Rahmen für die erwünschte kulturelle Bedeutungsproduktion geworden, weil das Interesse dieser kulturellen Semantik sich in Richtung auf Bewegung und Körper verschoben hat. 2. Die lange Stabilität der Darstellungskonvention hat die sozialen Konnotationen einer vergangenen, unverständlich gewordenen Gesellschaft, der frühneuzeitlichen höfischen Festkultur (und Mechanik), konserviert. 3. Und genauer besehen hat der Bühnentanz nicht zuletzt dank einer sekundären erotischen Kodierung des weiblichen Teils des corps de ballet im Zeitalter seiner Kommerzialisierung so lange unangefochten bestanden. 9 Dafür sorgten Schau- und Kauflust veränderter Publikumsschichten, gekoppelt mit einem medienbedingten Umbruch der Wahrnehmungsgewohnheiten durch den Aufstieg der Photographie, die Tänzerinnenkörper, Tänzerinnenbeine etwa im Mosaikbild von Andre Disderis aus den 1850er Jahren (Ewing 1998: 32; Foto: 36) als Massenartikel in Umlauf setzen konnte, wie Solomon- Godeau nachweist (1994: 90-147). · 4. Mit den vielschichtigen Prozeduren der Umgewichtung zwischen Moral und Psychologie, die nicht zuletzt Erotik und Körper zu neuen Bedeutungen und neuer Bedeutung verhelfen und die sich sowohl in wie angesichts der Massenkultur der Modeme seit den 1890er Jahren vollziehen, entstehen Leerstellen, die der Neue Tanz erfolgreich besetzen kann. Im Zuge der beschriebenen Polemik erfolgte die Löschung der dominanten Zeichensysteme (Narration, Sprache, aber auch Musik, konventioneller Ort, Gattungshierarchie, Zwischenakt, minoritäre Position in der ästhetischen Reflexion, den Poetiken der Künste etc.), die den Konnotationshorizont für Körper und Bewegung im Ballett bildeten. Das warf den Neuen Tanz zunächst ganz auf den Körper und seine Bewegungen zurück, die als Medien einer komplexen Sprache vermeintlich zu entdecken, zu entziffern zu sein schienen, eigentlich jedoch kulturell konstruiert wurden. Die Aufmerksamkeit verschob sich damit in einem nicht Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 53 gekannten Ausmaß auf den Körper. Dessen kommunikative Kompetenz trat hervor und wurde ausgearbeitet, schließlich in Gegensatz zur oral-verbalen Sprache gebracht, die zunächst als Agent der unpersönlich-abstrakten, lebensfremden, erstarrten Schriftkultur betrachtet wurde. Dynamische Bewegung und starre Form (Pose) bilden polare Gegensätze in dieser Denkweise. Ballett ist darin allenfalls als mechanischer und ständig wiederholender Bewegungsformalismus interpretierbar. Der Neue Tanz kann damit seine bekannte bedeutende Rolle für das kritische bis skeptische Sprachdenken der Jahrhundertwende einnehmen (Brandstetter 1995: 49ft). Verbürgte die soziale Konvention den Anschluß des Balletts an die gesellschaftlichen Symbolsysteme, scheint mit der 'neuen' Bewegungs-Freiheit auch eine Befreiung von diesen, ja von allen sozialen Sinn- und Ordnungssystemen einherzugehen. Der sprachliche Begleitdiskurs des Neuen Tanzes, der von diesem zu unterscheiden wäre, leugnete jegliche historisch-normative und systematische Kontinuität zum Ballett. Das betraf erklärtermaßen vor allem auch seine 'Lesbarkeit'. Angesichts der reklamierten Sinnfreiheit der freien Bewegung stellt sich die Frage, wie der Neue Tanz kommuniziert. Da es eine ausgearbeitete Tanzsemiotik 10 nicht gibt, ist von grundlegenden Beobachtungen auszugehen. Grundlage einer Semiotik des Tanzes wäre in beiden Fällen dem des klassischen wie Neuen Tanzes zunächst der Nachweis, wie Körper und Bewegung zu bedeutungstragenden Elementen gemacht werden 1 1; denn im Tanz wird der Körper zum Träger von Bedeutungen, die den Bewegungen selbst nicht zukommen. Eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Zeichensysteme können am Bedeutungsaufbau eines Tanzereignisses beteiligt sein: neben Gestik, Mimik auch Sprache und Musik; neben dem Aufführungsraum und seinen Ordnungen (Theater, Bühne, Bibliothek, Museum etc.) auch Dekoration, Kostüm und Beleuchtung; zudem das Raumverhalten und die Relationen der Tänzer zueinander (Schneider 1998: 32-37); schließlich die Geschichten, die erzählt werden. Im Zeichen der anti-tychnischen Polemik wurde dieses umfangreiche Repertoire drastisch reduziert und umgruppiert: neue Aufführungsorte - Lo'ie Fuller feierte ihre europäische Premiere in den Folies-Bergere, Isadora Duncan tanzte in Bibliothek und Museum umrahmten die Präsentation des Körpers und fokussierten auf seine Gestik, sein gesamtes Bewegungsrepertoire. Hier begann man eine eigenwertige, ja eine der oral-verbalen überlegene, weil fundamentalere Kommunikation zu vermuten und zu beschreiben: Ein anderer Kanal und seine vollständig andere Kodierung wurden entdeckt und zu Recht als Wiederentdeckung deklariert. Das Prinzip der Unterwerfung der Bühne unter den Text, die ausgehend von der Theaterreform des 18. Jahrhunderts, angestoßen von Gottsched, alle, auch die Lachgattungen domestiziert hatte (Greiner 1992), brach hier endgültig auf. Die Körper auf und vor. der Bühne konnten wieder im Gleichmaß ästhetischer Bewegungen miteinander 'kommunizieren'. Nicht mehr das Sehen eines in Bühnenhandlung verwandelten Textes, der Erkenntnis vermittelt, sondern der Nach- und Mitvollzug "stummer Künste" (Hoffmannsthal, 1895) sollte möglich werden. 12 Voraussetzung für das universelle Auftreten des Neuen Tanzes an allen diskursiv relevanten Orten, außer-, aber auch innerhalb von sprachlichen und literarischen Texten, war eine semantische Entleerung durch die Lösung von der Traditionsbindung. Diese erhöhte die kommunikative, die vorsprachliche und auch die uneigentlich-metaphorische Potenz des 'Tanzes' um ein Vielfaches. Das bedingt die Notwendigkeit einer gänzlich neuen Analyse der Semantisierung von 'Tanz': zurück zur Basis der Bedeutung aufbauenden Elemente, die im Ballett von der Konvention erstickt worden war. Den Bewegungen und Gesten als ästhetischem Zentrum des Neuen Tanzes kommt eine Darstellungsfunktion zu, ohne daß sie selbst eine alte/ neue Sprache (wieder)erschaffen. Was 54 Katja Schneider/ Gustav Frank sie darstellen, sind jedoch keine propositfonalen Gehalte. Die Darstellung installiert vielmehr Verweisungen auf Netze von Konnotationen. Diese müssen erfolgreich zugeschrieben und wiederholt in Umlauf gesetzt werden, um zu funktionieren. Durch das Fehlen einer stabilen Kodierung durch Denotation können die Bewegungen und Gesten, ihre Variationen und Kombinatoriken einer beständigen semantischen Fluktuation unterworfen werden. Neue Konnotationen können angelagert werden, bestehende neu kombiniert oder ausgetauscht. Wir haben es also mit einem Zeichensystem besonderer Art zu tun, bei dem pragmatischen Aspekten, insbesondere Funktionen in Diskursen, das Schwergewicht im Bedeutungsaufbau zukommt. Das erklärt zum einen die allgemeine Attraktivität des Neuen Tanzes in nahezu allen kulturellen Segmenten und Diskursen sie besteht aufgrund seiner Eignung, eine Vielzahl von Inhalten des sozialen und symbolischen Systems sekundär zu repräsentieren. Das erklärt zum anderen die ungeheuere Bedeutung, die die Schrift und Photographie als Begleitmedien des Neuen Tanzes erlangen konnten sie spannen die Netze der Konnotationen über die Tanzereignisse und verfestigen deren unabdingbare Seile und Knoten zum basalen Kode eines kulturellen Verständnisses des Neuen Tanzes. Dieser 'Tanz' kann dann um die Jahrhundertwende in der Problemgeschichte der Lebensideologie (Lindner 1994) eine wichtige Rolle spielen, deren Geschichte noch längst nicht hinreichend geschrieben ist. Wir stoßen hier auf eine grundlegende Schwierigkeit: Erst durch die "Rede vom Tanz" (Gumpert 1994) 13 einerseits und andererseits das verführerische, scheinbare Für-sich-selbst- Sprechen der Abbildungen von Tanz, auch in den Hochglanzkatalogen der Gegenwart, wird der 'Tanz' zu einem kulturellen Zeichensystem aufgebaut, das hinreichend ausgearbeitet ist, um in Tanzereignissen diskursive Vernetzungen überhaupt hervorbringen zu können. Der Zusammenhang führt zu scheinbaren Paradoxa: Literarische Sprachkritik, die den Tanz als Zentrum der "stummen Künste" feiert, bringt umfangreiche literarische Reden vom Tanz hervor, die sich schließlich ganz von konkreten Tanzereignissen lösen und in den poetischen Fundus, das Standardrepertoire der Dichtung, eingehen können ein offenbar fruchtbarer Austausch sozialer und semantischer Merkmale hat stattgefunden. Erst unter diesen Voraussetzungen lassen sich für den Tanz auf der einen Seite parallel zu anderen kulturellen Zeichenensembles wie Texten, Bildern, Photographien, Filmen - und technikgeschichtlichen Entwicklungen aufder anderen Seite semiotisch begründete diskursive Vernetzungen nachweisen. Die anti-mechanistische Polemik hat die Voraussetzungen einer Intensivierung der Beziehungen zur Technikgeschichte geschaffen. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, daß die Attraktivität des Neuen Tanzes in der Möglichkeit der vielfachen Verknüpfung über Konnotationen besteht, die hier nicht alle bestimmt und schon gar nicht in der Systematik ihrer Verbindungen entfaltet werden können. Dennoch sei ein für den Zusammenhang zentraler Aspekt, die Verbreitung der Traumtänze 14, noch genannt. Sie spitzen etwas zu, was latent auch die Selbstverständigung Isadora Duncans über ihre Tänze bereits beinhaltete. Es ist die Korrespondenz des Körpers mit den nicht sichtbaren und nicht verbalisierbaren Inhalten der Psyche: Der Körper wird durch den Tanz, je ekstatischer, rauschhafter, dionysischer er angelegt ist, in die Lage versetzt, solche Inhalte der Psyche einerseits 'auszudrücken', andererseits 'zur Anschauung' zu bringen, die skh sonst dem Subjekt wie dem Kollektiv entziehen. Tänzerin und Publikum geraten in eine Situation, in der Kommunikation sich des Kanals, des Kontaktmediums, Körper bedient und Nicht-Sichtbares, Nicht-Verbalisierbares zum 'Thema' machen kann; zum 'Thema' nicht der Rede und rationalen Argumentation, sondern einer niedrigschwelligen, unmittelbar eingängigen Verständigung der Körper. Die Unterstellung dabei ist, daß dieser Kanal eine Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 55 symmetrische Kommunikation erzwingt: ein Bewegungs-Vorbild wird nachgebildet und geht ins Bewegungsrepertoire über. Es herrscht das Lernprinzip der Mimesis. Dabei ist weiters unterstellt, daß Tanz nicht eigentlich optisch wahrgenommen und in die Sprache der rationalen Öffentlichkeit übersetzt wird gerade so war 'Erkenntnis' seit der Aufklärung und der Goethezeit einvernehmlich verstanden worden -, sondern durch eine Bewegungsübertragung funktioniert, die allenfalls visuell gestützt ist. Nicht mehr optische Wellen sind grundlegend, sondern eine Anregung zu 'gleichphasigen Schwingungen' des Körpers soll stattfinden; Vorbilder dieser Vorstellungen lieferte der Bereich der Akustik, der Musik vor allem, aber auch der Stimme, der sich die Sprachforschung der Zeit wieder vermehrt zuwandte. Tanz tritt also auf den Plan im Augenblick einer Krise der optischen Kodierung von Erkenntnis, der Entkoppelung von Anschauung und Wissen(schaft) und der Skepsis gegenüber der Universalität schriftsprachlicher Kommunikation in einer massenkulturellen Öffentlichkeit. Um 1900 konnte der Körper also auch einige spezifische Ausdrucks-/ Abbildrelationen mit der Seele unterhalten und anschaulich darüber beruhigen, daß die Seele ein komplex gegliederter, machtvoller, jedoch nicht-einsehbarer Raum ist. Und dies in einem Moment, als die Psychologien der Jahrhundertwende sowohl das Konzept eines verantwortlich handelnden Subjekts unterminierten als auch die vom literarischen Realismus in einer Vielzahl von Texten gepflegte Zwangsvorstellung von der notwendigen Ausgrenzung transgressiven Begehrens aus der Person torpedierten. Am Beispiel LoYe Fullers wurde oben schon deutlich, daß Tanz diese Anschaulichkeit auch wissenschaftlichen Innovationen in Gestalt einer eigentümlichen Technik zurückzugeben vermochte. Gerade weil er Anschaulichkeit (wieder)herstellte, durfte der 'Neue Tanz' mit den etablierten kulturellen Grenzziehungen brechen; seine Auftritte erfolgten gleichermaßen weiterhin an den auch anrüchigen - Orten der Populärkultur, den Varietes, Music Halls und Tingeltangel, wie neuerdings an den Orten der historistischen, aber 'nicht-theatralen' Hochkultur, in Museen und Bibliotheken. Diese gleichsam interkulturelle Präsenz veränderte die Wertigkeit des Tanzes im Gefüge der Künste und steigerte den Bedeutungsumfang von 'Tanz' durch Vervielfältigung seiner Konnotierbarkeit. All das etablierte 'Tanz' als wichtigen Diskursagenten der Modeme: Eine der wichtigsten Funktionen dürfte dabei die (Re)Integration auseinanderstrebender Diskurse und sozialer Gruppen gewesen sein. Das hier zugrunde liegende Verständnis von Diskurs umfaßt soziosemiotische Praktiken, die neben den verbal- und schriftsprachlichen Zeichen auch die Ebene zeichenhaften sozialen Handelns und Verhaltens einschließen. 15 Unter Dispositiven sollen solche komplexen soziosemiotischen Praxen verstanden werden, die die Diskursfunktion der Regulierung individuellen wie kollektiven Verhaltens übernehmen. Das Interesse richtet sich hier vorrangig auf den Körper, weniger auf Verhaltensformen wie Bewertungen und Einteilungen von Wirklichkeit. Eine Dispositivfunktion für den Körper anzunehmen ist nicht wenig voraussetzungsreich. Zumindest zwei Voraussetzungen sind zu benennen: zum einen, daß soziales Lernen die mimetische Angleichung an erfolgreiches Verhalten beinhaltet, zum anderen, daß eine neue Verhaltensvariante sich nur dann erfolgreich durchsetzt, wenn sie nachgeahmt wird, sich also auch zur Nachahmung zu empfehlen versteht. Tanz und Technik sollen im Rahmen dieses Diskursbegriffs, insbesondere seiner dispositiven Komponente, analysiert werden. 56 Katja Schneider/ Gustav Frank Tanz und Technik Erst die einmal typisierten Gesten des Tanzes und seine Begleitkommunikation spannen die semantischen Netze von Bedeutungen um den Körper und seine Bewegungen, die ihnen an sich nicht eignen. Es sind Netze von Konnotationen, die von den Bedürfnissen der Kultur, ja sogar von jeweils partikularen Erfordernissen gesteuert werden. Weil es sich um Netze von Konnotationen handelt, deren Knoten unterschiedlich haltbar ausgeprägt sind und denen keine Denotate (kontextfrei eignende Grundbedeutungen) Grenzen setzen, kann Bedeutung vergleichsweise schnell verändert werden, indem ein neuer Rahmen durch Situationswechsel, andere soziale Kontextualisierung, veränderte Inszenierung etc. erzeugt wird. Der Tanzdiskurs kann deshalb unübersichtlich und widersprüchlich erscheinen, weil sich hinter den Praxen der Tanzereignisse verschiedene Bedeutungsreihen zu kreuzen vermögen, die konkurrieren, über unterschiedliche soziale und symbolische Kapitalien verfügen und unterschiedlich mächtig sind. Diese Bedeutungsreihen bestimmen über die metaphorischen Verknüpfungen des Tanzes und darüber, welche Merkmale in den Vordergrund rücken, welche in den Hintergrund und welche auszuschließen sind. Der semantische Kern des 'Tanzes', entleert von den traditionellen Semantiken des Balletts, war klein geworden. Ein idealtypischer Entwurfder Tanzgeschichte der Frühen Modeme aus dieser Perspektive würde drei Etappen umfassen. Zunächst ein Historischwerden des Bewegungsrepertoires der Danse d' ecole, ablesbar nicht zuletzt an der Dominanz sekundärer semantischer Aufladungen wie der Erotisierung der Tänzerinnen. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch die ausdrückliche Polemik gegen die Tanztechnik. Hier geschieht einerseits eine Tilgung der Semantik der Körper und Bewegungen im Tanz~ zugleich bedingt die Polemik aber auch eine erste konkrete Form des Neuen Tanzes: Er entsteht vor der Negativfolie des Balletts durch Aufnahme maximal entgegengesetzter Merkmale. Die Polemik grundiert im übrigen noch Stellungnahmen der 1920er Jahre, als zum einen die Bühnen längst den Neuen Tanz als Bereicherung wahrgenommen und akzeptiert haben und zum anderen die ersten Ausdruckstänzerinnen in leitende Funktionen an diese Bühnen berufen worden sind Die dritte Etappe beruht auf dieser Phase der Polemik, die zu ihren grundlegenden Differenzkriterien gehört. Durch intensive Wechselwirkungen mit den verschiedenen Konnotatkomplexen hat sich der Neue Tanz zum einen gewandelt, zum anderen ausdifferenziert. Mittlerweile verfügt er über eine stattliche Reihe an Tanzereignissen und -persönlichkeiten, Lehrer-Schüler-Netzwerke sind entstanden kurz: der Neue Tanz hat sich eine Geschichte zugelegt. Gleichermaßen dynamisch ist die kulturelle Entwicklung der Technik verlaufen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts waren aus den zunehmend ausgebauten Techniken schließlich Techno- Logien erwachsen, indem das Wissen, insbesondere der Naturwissenschaften, die tradierten technischen Praxen eingeholt, schließlich sogar überholt und neue Prozeduren angeleitet hatte. Am Ausgang des Jahrhunderts gingen die Technologien allenthalben in technologische Ensembles über, die sektorielle Grenzen zu überschreiten vermochten. Diese Entgrenzung veränderte zum einen die materiellen Grundlagen des Lebens und die Alltagskultur - Nahrung, Wohnen und Komfort, Haushalt, Mobilität und Kommunikation-, zum anderen bildete sie Netzwerke in Verkehr und Großstadt aus und schuf zum dritten mit den großtechnologischen Anlagen eine industrielle statt der als 'natürlich' empfundenen agrarischen Umwelt. Nicht zuletzt die "Kriegsmaschinerie" und das "mechanisierte Schlachtfeld" eines Ersten Weltkriegs der Ingenieure führten die Möglichkeiten aus den weitreichenden Verflechtungen drastisch vor Augen (vgl. König 1997: V, 172-206). Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 57 Mit der materiellen Kultur waren auch die Sozialformen verändert worden: Die soziale Frage, das Entstehen der Fabrik-Arbeiterschaft und schließlich die politische Institutionalisierung der Interessengruppen prägten das 19. Jahrhundert entscheidend. Technologien zu ersinnen und zu fordern und bestimmte Technikfolgen zu erhoffen oder abzuwenden, waren seither vermehrt Stimuli des Symbolsystems. Dessen 'Technik' -Phantasmen, seien sie vorgängig, begleitend oder rückschauend, waren gleichermaßen kulturprägend, weil sie Technik überhaupt erst wahrnehmbar, verhandelbar und beeinflußbar werden ließen. Daß die soziale Seite des Symbolsystems selbst dem technischen Wandel einen Gutteil ihrer Gestalt verdankte (was nicht folgenlos für dessen Darstellungstechniken geblieben war), hat die medientechnisch interessierte Medientheorie der vergangenen Jahre hinreichend zeigen können. 16 Die kulturellen Semantiken der Technik, utopische wie dystopische Repräsentationen, unterlagen selbst einer zunehmenden Ausdifferenzierung. Auffällig ist auch hier die zunehmende Verwissenschaftlichung, die zu einer ausgeprägten Technikreflexion in der Modeme führte. Entstanden seit den 1870er Jahren erste Technikphilosophien, so profilierten sich dann in der Zwischenkriegszeit neue Wissenschaften als angemessene Orte der kulturellen Selbstverständigung über eine technisierte Industriezivilisation. Wer die Formation Technik in der Zwischenkriegszeit rekonstruieren will, trifft mithin immer bereits auf die Vorarbeiten der Zeitgenossen in Soziologie, Ethnologie und Anthropologie. 17 Die beobachtbare Komplexbildung der Technik erhöhte wiederum deren Wechselwirkungsmöglichkeiten, ihr faktisches wie symbolisches Kapital. Vervielfältigung und Allgegenwart von technischen Artefakten brachten eine zunehmend techno-morphe Welt hervor. Wie aggregierte Großmaschinen, angeschlossen an Material- und Verkehrsinfrastrukturen, Industrielandschaften gleichsam als 'Umwelt' im ökologischen Sinne des Menschen formten, so prägten die Geräte des Alltags, die sich in Innovationsschüben wandelten und vermehrten, Lebensstile. In beiden Bereichen formt und determiniert Technik seither Handlungen, Verhaltensweisen und Entscheidungen. Nicht selten korrespondieren analoge Formen in beiden Bereichen miteinander: der wissenschaftlichen Haushaltsführung, der domestic economy der Beecher-Schwestern 1 8, immer wieder verfeinert seit den 1850er Jahren, entspricht die wissenschaftliche Betriebsführung mit Taylor-System und Fordismus ebenso wie Hugo Münsterbergs und Georg Schlesingers Psychotechnik. Technik- Werkzeugmaschine wie Telephon schlug in allen Bereichen auf Körper und Bewegung durch, und die Zeitgenossen reflektierten den Zusammenhang ausgiebig. Auch 'Technik' konnotierte die semantischen Netze um Körperbewußtsein und Körperbeherrschung. Nicht zuletzt war es die weiterentwickelte photographische Technik, die neuartige Bewegungsstudien zuließ. Komplexe Körpertechniken wie die meisterhafte Ausführung eines Handgriffs und Handwerks ließen sich so studieren und optimieren und schließlich auch wieder in Werkzeugmaschinen reproduzieren. Frank B. Gilbreth übertrug 1912 Bewegungsstudien aus Photoserien auf Drahtmodelle. Der Arbeiter sollte daran seine eigene Handbewegung in raum-zeitlicher Darstellung betrachten und dadurch, wie es Gilbreth nannte, "bewegungs-bewußt" (Gideon 1987: 129) werden. Zwei Formationen stehen mithin in Technik und Tanz einander gegenüber, die in der beobachteten Phase dynamisch, Veränderungen unterworfen, wie expansiv, Veränderungen unterwerfend, sind. 58 Katja Schneider/ Gustav Frank Institutionalisierung Tanzereignisse können in dieser Situation nicht nur unterschiedliche, ja widersprüchliche (Teil)Bedeutungen manifestieren, wie wir es beschrieben haben. In der Zwischenkriegszeit erlauben analoge Semiosen, Verbindungen mit denselben Konnotaten, dem Tanz umgekehrt den Auftritt in den unterschiedlichsten kulturellen und medialen Bereichen. 'Tanz' ist polysem geworden ebenso wie die Tanzszene ausdifferenziert ist. Die Verknüpfungen mit der ebenfalls polysemen und zur "zweiten Natur" (Freyer 1965: 236) 19 gewordenen Technik sind deshalb vielfältig und heterogen. Der Neue Tanz ist immer schon in technisch-medialen Repräsentationsformen gegeben. Das heißt aber auch, die um die Jahrhundertwende als 'authentisch' empfundene Körperlichkeit, ja leih-seelische Ganzheit geht verloren, die die Verbindung zu den verschiedenen Reformbewegungen, wie sie etwa Linse (1998) beschreibt, eröffnete. Eine ganz ausdrückliche Faszination durch Medien-Körper greift Platz. Der Tanz- und Revuefilm sind nur der späte und 'sichtbarste' Ort ihres Auftritts. Was.Medien-Körper sein können, wird deutlich etwa in Thea von Harbous und Fritz Langs Film Metropolis (1926), der eine umfassende Zusammenstellung möglicher Mensch- Maschine-Kopplungen vorführt. Zur allgemeinen Mobilmachung im Verkehr der 'großen Stadt' zwischen ihren Häusermaschinen, zur Choreographie der arbeitenden Massen an ihren Großmaschinen gehört a fortiori auch die biomorphe Androidin. Ihr erotisierender Bühnentanz, der die Regression der industrie-kulturellen Trägerschicht ins aggressive Instinkthandeln auslöst, komplettiert neben den Massenchoreographien, den Maschinen- und Großstadtrhythmen -Ergebnisse nicht zuletzt der Einstellungsfolge, Trick- und Schnittechnik des Films die umfassende Frage nach der Bedeutung des Körpers, die der Film aufwirft. Die Materialität/ Medialität des Körpers, die emotionalen und kommunikativen Funktionen seiner komplexen Motorik und Kinetik, seine soziale und geschlechtsspezifische Kodierung werden Gegenstand einer filmtechnischen Inszenierung. Neben der Überwindung der Zeit-, Raum- und Moralgrenzen wird das Potential einer Überwindung der Körpergrenzen, wie bei der zeitgenössischen Automobilistik und Aviatik, erschreckt bem.erkt. Im Tanzarchiv Köln ist Metropolis übrigens als Tanzfilm rubriziert, seine Akteure sind als Tänzer verzeichnet. Damit sieht sich die Erforschung des Neuen Tanzes mit einem massiven Grenzproblem konfrontiert, das weniger praktische als vielmehr theoretische Gründe hat. Der Ansatz zu einer semiotischen Analyse hat diese Gründe bereits gestreift. Das Korpus-Problem der Ab- und Eingrenzung des Gegenstandes entsteht mit der polemischen Abkehr vom "mechanischen Drill" des Bühnentanzes. Mit der Negation der Danse d' ecole geht die Löschung lange Zeit stabil gebliebener Konnotatkomplexe, die übei: den Körperpraxen errichtetwaren, einher. Gerade die damit gegebene Notwendigkeit einer neuen Semantisierung erzeugt vielfältige Kopplungen des Neuen Tanzes, vor allem auch Medienkopplungen, die Ausdifferenzierung und Expansion nach sich ziehen. Erforschung des Neuen Tanzes ist deshalb sui generis Grenzbeobachtung, die aufWanderungsbewegungen von Konnotatkomplexen ebenso zu achten hat wie auf Austauschprozesse von Bewegungsrepertoires. Von weiterreichender internationaler Bedeutung als Metropolis ist sicher das Auftreten Charlie Chaplins. Er bringt-von Avantgarden und Tänzern aufmerksam verfolgt- Bewegungen in seine Filme, die einen deiktischen, einen Zeige-Gestus haben, der Typisches von Bewegungsabläufen oder -routinen markiert. Vor allem seine Arbeiten der 30er Jahre sind hiervon Interesse, weil sie Vielfalt und Wechselwirkungen gut dokumentieren. Modem Times (1936) choreographiert kritisch die Zusammenhänge von industriellen Bewegungsroutinen Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 59 Plate 3: Frantisek Drtilwl und techno-morphem Alltag: der seriengefertigte Knopf etwa vermag aufgrund seines ikonischen Designs ('Schraube') konditionierte Bewegungsstereotypien beim Fließbandarbeiter auszulösen. Chaplins Zeige-Gestus ist in den 30er Jahren bereits als 'tänzerisch' wahrnehmbar. Umgekehrt macht er sich in The Great Dictator (1940) die inzwischen ja 60 Katja Schneider/ Gustav Frank negativen Konnotationen (angedeutet) klassisch-romantischer Gestik zunutze, um seine Figur zu desavouieren. Anders liegt der Fall bei der Photographie: Zum einen sind Bewegungen hier in "charakteristischen" Momenten stillgestellt, ohne auf Posen zurückzufallen. Ein bestimmter Stil der Bewegung und/ oder ihrer photographischen Abbildung, zusammen mit ebenso indentifizierenden Requisiten, erkennbaren Raum- und Beleuchtungselementen individualisieren dabei die Künstlerlnnen. 20 Oftmals erlaubten es schließlich nur noch der Publikationskontext oder die Paratexte zu unterscheiden, ob eine Bewegungsstudie, eine Ausdrucksgebärde, das Szenenphoto eines Stummfilms oder ein solches charakteristisches Moment einer Choreographie abgebildet worden ist. Frantisek Drtikols Studien, etwa "Bewegung" (Plate 3) von 1927, belegen die hier fließend gewordenen Grenzen. Ein großer Anteil der heute bewunderten Tanzphotographien sind im Studio nachgestellte oder erstmals erstellte, komponierte Repräsentationen von Tänzerinnen und Tanzereignissen. Letztere entziehen sich weitestgehend der Rekonstruktion. Tanz- oder Kulturwissenschaftler und Semiotik.er sehen sich mit der Entgrenzung von Tanz in der Zwischenkriegszeit konfrontiert; das bedeutet einerseits mit seiner überdeterminierenden semantischen Aufladung und andererseits mit seiner kulturellen Allgegenwart vor allem in reproduzierter, medial vermittelter Form. Bei Lola Rogges "Rundfunkgymnastik und Tanz" fällt zugunsten der massenmedialen Übermittlung die visuelle Ebene gänzlich fort. Diese Situation hat auch bereits die Reaktionen der Zeitgenossen provoziert: Es kam zu berufsständischen Kongressen, 21 zur Ausarbeitung von Theorien etc. Neu war dabei, daß der Tanz als Bewegung generell und als spezifische Tanzbewegung reflektiert wurde. Rudolf von Laban begann mit seinen Forschungen über den Tanz zwar bereits vor dem Ersten Weltkrieg, ein Modell wurde daraus aber erst in den 20er Jahren. Indem er die klassische Technik einer strikten Revision unterzog, schuf er die Grundlage für die Ausdifferenzierung des Neuen Tanzes in der Folge. Die Achsen des klassischen Tanzes erweiterte er zu Flächen, wodurch sich die Raumpunkte, zwischen denen sich die Kinesphäre des Tänzers erstreckt, vermehrten. Dadurch wurden andere, neue Bewegungen möglich, die der Choreograph selbst erfand (und nicht aus vorgegebenen Bausteinen wie im klassischen Tanz arrangierte), und die Dynamik der Bewegung veränderte sich. Der Weg zwischen den Raumpunkten stand nun im Zentrum des Interesses, nicht mehr die Posen, zu denen er führte. Der Dynamisierung des Raumes entsprach auch die Dynamisierung des Tänzerkörpers, dessen Bewegungen nun prinzipiell von jedem Punkt des Körpers initiiert werden konnten. Das Labansche System beruht auf Prinzipien, die an alltäglichen Bewegungen orientiert sind und individuell angewandt werden können, es stellt also ein Modell für ein neues Bewegungsrepertoire mit tendenziell unendlichen Kombinationsmöglichkeiten bereit. Parallel zu der systemintemen Ausdifferenzierung des Neuen Tanzes vollzog sich ebenfalls in. den 20er Jahren seine Institutionalisierung: Tänzerinnen und Tänzer gründeten Schulen, gingen als Direktoren an Theater. Der Neue Tanz hatte Ende der 20er Jahre Massenwirkung: Laban arbeitete mit bis zu 1000 Menschen in seinen "Bewegungschören", Laien wurden mit einbezogen, das Tänzerbild wandelte sich dadurch: "Jeder Mensch ist ein Tänzer'' das bedeutete nicht nur, daß jeder, der das wollte, sich in der Laientanzbewegung engagieren konnte, sondern umreißt eine umfassende visionäre Weltanschauung. Der ''tänzerische Mensch" war als eine, ja als die bevorzugte Lebensform gedacht. 'Tanz' ist hier maximal abstrakt geworden und erreicht damit seinen größten Begriffsumfang, wobei choreographierte Tanzereignisse allenfalls noch den Begriffskern und Merkmalsspender darstellen. Damit fiel das System 'Neuer Tanz' zugleich unter Theorieanspruch, dem durch systematische Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) Ausarbeitung Genüge getan werden mußte. Laban selbst hat eine Notation entwickelt, mit der potentiell alle Bewegungen, die ein Mensch vollziehen kann, beschreibbar sind. Tanzzeitschriften entstanden, ein tanztheoretischer Diskurs etablierte sich, dem es anders als dem Feuilleton des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, das sich punktuell einzelnen Tänzerlnnen-Persönlichkeiten widmete um Geschichtsschreibung, Klassifikation und Theoriebildung ging. All dies trug zum Anschluß des Neuen Tanzes an die Massenkommunikation der Zeit bei. 61 Bewegungsanalyse: ''Le Train Bleu" 22 Was für die tänzerische Avantgarde der Zwischenkriegszeit kaum bestritten werden dürfte, soll hier an einem Beispiel des klassischen Tanzes untersucht werden, freilich des durch die Ballets Russes (Plate 4) erneuerten und reformierten. 23 Schon 1917 haben die Ballets Russes in Parade, für die Jean Cocteau, Pablo Piscasso, Leonide Massine und Erik Satie zusammenarbeiteten 24, Potentiale der Medienentwicklung körperbeweglich zur Anschauung gebracht. "Le Train bleu" hieß der Zug, der von Paris aus an die Cote d' Azur zu den Plate 4: Ballets Russes mondänen Badeorten fuhr. In Bronislawa Nijinskas 1924 für die Ballets Russes geschaffenem gleichnamigem Ballett, für das Jean Cocteau das Libretto, Darius Milhaud die Musik schrieb und Coco Chanel die Kostüme entwarf, ist weit und breit kein Zug zu sehen. Die Figuren: der dargestellten Welt- Frauen und Männer in Badeanzügen, ein Golfspieler, eine Tennisspielerin (Nijinska) sind bereits vor Ort. Das Ballett referiert unter anderem das parallele Körperdispositiv Sport 25 und zitiert über die dekorative Pose das technische Medium der Fotografie sowie über die Zeitlupenbewegung das des Films. 26 Betrachtet man den Auftritt der Tennisspielerin, fällt auf, daß die Tänzerin in ihrem Bewegungsverhalten fünf. Kontexte zitiert, die nicht zum klassischen Bühnentanz gehören: 1. ihr Auftritt im 'normalen' Gang, bei dem der Fuß über die Ferse abgerollt wird und nicht wie im klassischen Tanz über den Fußballen 2. aus dem bewegungssprachlichen Alltagscode entnommen: der Blick auf die Uhr 3. die dekorative Pose: ein Bein angestellt, der "Blick in die Kamera" 4. die sportive Haltung/ Bewegung beim Tennis 5. die individuelle, persönliche Geste des schnellen Zuckens mit dem Kopf. 62 Katja Schneider/ Gustav Frank Dominant gesetzt ist das Zitat Nummer 4, das Tennisspiel, das auch über das Kostüm eine Paraphrase zeitgenössischer Tennisbekleidung (die Tänzerin trägt keine Ballettschuhe)- und das Requisit des Tennisschlägers extra betont wird. In der ersten Bewegungssequenz reiht die Tänzerin die Zitate 1-5 aneinander, danach kombiniert sie sie variativ miteinander, wobei auffallt, daß Nr. 3 und 5, also die dekorative Pose und das individuelle Kopfzucken, meist direkt nacheinander stattfinden. Nach dieser Reihe folgt noch eine Tennishaltung, von der die Tänzerin dann übergangslos in eine rein klassische Bewegung, nämlich die arabesque, geht. Gebrochen, verfremdet wird diese klassische Haltung nicht nur durch den Tennischläger, den sie permanent in der Hand hält, sondern auch durch eine ruckhafte Bewegung nach unten, als sie fast am tiefsten Punkt angelangt-'- Kopf und Arm fallen läßt und sich auf den Tennisschläger stützt, bevor sie wieder zu ihrer klassischen Haltung zurückfindet und diese in einer nicht minder klassischen Promenade mit abschließender Pirouette weiterführt. Das sportive Zitat ist in dieser Bewegungsfolge in das klassische Vokabular als Pose montiert, wobei es Analogien/ Parallelen bewegungstechnischer Art zwischen der sportiven Pose und der klassischen Bewegungsfolge gibt: die Pose der Tennispielerin mit nach vorne gehobenem, abgewinkeltem Bein entspricht einer verfremdeten Attitude, der "Absacker'' mit dem Tennisschläger auf den Boden parodiert eine mißglückte, da aus der Balance geratene, arabesque penchee. In der weiteren Folge des Solos werden die sportiven Posen dynamisiert: Zunächst am Platz (Drehung in Tennishaltung), später in wechselnden Kombinationen auch in der in den Raum ausgreifenden Bewegung, ohne daß jedoch die klassische Form (und Technik) jemals ganz aufgegeben würde. Die Tänzerin nutzt dabei ihren kinetischen Raum in der Vertikalen und Horizontalen optimal, in der Raumbewegung hingegen ist sie auf die Waagerechte, die Parallele zur Rampe, und leichte Diagonalen beschränkt, was möglicherweise auf die Begrenzungen eines Spielfeldes verweist. Eines Feldes mit imaginärem Partner, dem sie ohne Ball aufschlägt und dessen Schläge sie anscheinend pariert. Diese imaginären Schläge erfolgen meist in "Echt-Zeit", also schnell und kräftig, bis auf eine signifikante Ausnahme: In dieser relativ langen Sequenz erfolgen Anvisieren, Ausholen und Schlag in einem der Zeitlupe angenäherten Tempo, wie man es aus Filmaufnahmen kennt. Dabei ist minutiös zu sehen, was im Bewegungsapparat abläuft. Hineinmontiert als Meta-Zitat, bringt diese Sequenz zwei neue Techniken und Massenkommunikationsmittel die Körpertechnik Sport und den Film in einer tänzerischen Bewegung zusammen. Die Rede von der 'Körpertechnik' Das Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer sondern auch Windmühle und Eisenbahn (Benjamj.n 1933: 205). Wird unter diesen Voraussetzungen beginnende Institutionalisierung, Ausdifferenzierung, Pädagogisierung, damit Rückwirkungen auf das Ballett, Anschluß an die Massenkommunikation und Selbstreflexion der Begriff 'Tanz' polysem, sein intensionaler Umfang maximal und stößt damit seine Identität an ihre Grenzen, so bildet dieser 'Tanz' gerade deshalb ein leistungsfähiges Instrument kultureller Selbstverständigung. Er scheint somit in dieser Phase diejenige niederschwellige Verhandlungsform von Körperlichkeit mit der größten Leistungsfähigkeit zu sein. Auf der Ebene der Körpertechniken und Dispositive nimmt der Tanz der Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 63 Zwischenkriegszeit die Position eines zentralen Interdiskurses (Link 1988) ein. Aufgrund der Vervielfältigung von Mobilmachungen 27 besteht erhöhter Reflexionsbedarffür Körperphänomene aller Art. Offenbar sind die verbalsprachlichen Kommentare zu 'langsam', die Übertragungsverluste zwischen Körperpraxen und Schriftkultur zu groß, die dennoch vollzogenen Zuschreibungen und Theorieversuche nicht effektiv und hinreichend, diesem Verständigungsbedarf zu genügen. Es geht bei diesem Verständigungsbedarf auch um den Aspekt sozialen Lernens durch Mimesis, durch Nachahmung erfolgreichen Verhaltens, und um soziale Bewegungs-Sicherheit. Sie herzustellen, bedurfte es der Vervielfältigung und Modifizierung der Begegnungssituationen mit den 'neuen Bewegungen', ja sogar der Antizipation künftig zu erwartender Bewegungsheraus-und-anforderungen durch eine technisierte "zweite Natur". Das soziale Lernen zielt auf die Integration des Einzelnen in sein kulturelles Umfeld. Das Funktionieren und die Effektivität dieses Lernens gewährleisten umgekehrt den sozialen Zusammenhalt von Gruppen sowie der Gesamtgesellschaft. Das oben als Sprachskepsis bezeichnete Mißtrauen gegen die verbal-, vor allem die schriftsprachlichen Vermittlungsversuche einer durch die technischen Mobilmachungen als desintegriert empfundenen Gesellschaft lenkte schon bald die Aufmerksamkeit auf einheitsstiftende Instrumente unterhalb dieser Ebene: auf gleichordnende, rhythmisierte und institutionalisierte Mobilität von Massen. Die Fremdheit der in den wachsenden Städten aufeinandertreffenden Massen sollte durch ein Gleichmaß der Bewegungen, sei es der Verkehrsströme wie der Arbeit und Unterhaltung suchenden Vielzahl, kompensiert und zur Ordnung umgelenkt, kanalisiert werden. Denn angesichts der pejorativen Diskussionen um die 'Masse' wollte kaum jemand sie als Selbstzuschreibung akzeptieren. Heterogenität und HQmogenität sollten zugleich möglich werden der Neue Tanz hatte dieses Modernisierungsparadoxon (van der Loo/ van Reijen 1997) zu bearbeiten. Eine logische Entwicklung stellt deshalb die immer weitere Komplexitätssteigerung des Neuen Tanzes dar: von den 'freien' (Gegen-)Bewegungen über die Verhandlung deiktisch markierter, bereits vorgängig semantisch aufgeladener gestischer Repertoires bis hin zu komplexen, selbst sozialen Tanz-Formationen, die Kulte und Rituale -vermeintlich wiederum Rekonstruktionen antiker Vorbilder erzeugen wollen wie in Labans Bewegungschören (Plate 5). Der Neue Tanz dieses Stadiums erlaubt es aber auch, in einem markierten Raum, dem zunächst noch abgetrennten Modell der Welt, die gesellschaftlichen Regulative, die Werte, Normen, Normungen und Normalismen agierend darzustellen, um sie einzuüben, aber auch probehalber außer Kraft zu setzen, sie abzuwandeln und diese marginalen Neubildungen als Vorschläge der Mimesis des Publikums anheimzustellen. 28 Mimesis stellt sich, anders betrachtet, eben auch nur angesichts eines Nachahmung erfolgreich auslösenden Vorbildes ein. Der Vorbildcharakter kann über das soziale Prestige vermittelt gedacht werden, das dem Tänzer zukommt-in diesem Zusammenhang wäre genauer die künstlerische wie moralische Neubewertung des Tanzes und seiner Orte in der Frühen Modeme herauszuarbeiten. Der Vorbildcharakter kann aber auch in der modernen Situation der Massenkultur zusätzlich als Einflußnahme auf den Körper und das Unterbewußte über niedrigschwellige Kommunikationen gedacht werden, wie es die von Le Bon bis Ortega y Gassett und Canetti durchgängig aktuelle Massenpsychologie tut. Mimesis ist zudem durchaus nicht auf statische Gesellschaften eingeschränkt. Sie meint über den Nachvollzog und die Einübung hinaus immer auch den interagierenden Abgleich von Standards und Variationen. Dem anderen Kanal der Kommunikation im Tanz trauen die 64 Katja Schneider/ Gustav Frank Plate 5: Rudolph von Laban Bewegungschor Zeitgenossen jedenfalls einvernehmlich die Auslösung des kompletten dionysischen Programms zu: "Dionysoskult und Bajaderentum liefern uns romantische Vorstellungen, auf die wir die Forderung eines Tanzes aus kulthafter Erregung, einer Reinigung unserer unheiligen, dialektisch-intellektualistischen Epoche durch den erschütterten Körper mit seiner eingeborenen Mystik des Leibhaftigen gründen." 29 In der im Zeichen der Bereitschaft zum Bürgerkrieg stehenden Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit bildet der Tanz aber auch ein Register des aktiven, dennoch moderaten Kon: fliktaustrags konkurrierender, ja sich bekämpfender Ordnungen. In dieser Zeit durch 'schnelle' Innovation verunsicherter kultureller Grenzziehungen wird der niederschwelligen, aufmehreren Ebenen ausgearbeiteten und interdiskursiven Formation des Neuen Tanzes-auch die Aufgabe zugewiesen, Verhandlung über Grundlagen, über Streitfragen sowie über Trauma, Erinnerung und Vergessen auszutragen, auszuagieren. 'Mimesis' und 'Körpertechnik' sind Begriffe, die aus der kulturellen Selbstverständigung der Zeit, allerdings erst der 30er Jahre, stammen. Den Begriff der Techniken des Körpers entwickelt Marcel Mauss erstmals 1934 aus der Selbstbeobachtung und der Aufmerksamkeit für ethnologische Fremdheit. Aus einer englischsprachigen ethnologischen Darstellung über eine bei den Maori hochgeschätzte Art des Gebens zitiert er: "Die Mütter dressierten (der Autor sagt "drill") ihre Töchter auf diese Gangart." 30 Und Mauss folgert: "Kurz gesagt, vielleicht gibt es heim Erwachsenen gar keine 'natürliche Art' zu gehen. Dies gilt umso mehr, wenn andere technische Mittel hinzukommen[ ... ] zum Beispiel[ ... ] die Tatsache, daß wir Schuhe tragen[ ... ]" (1989: 204). 31 Mauss' Beispiel zeigt, wie sich das Konzept des 'Drills', der Mechanikffechnik, seit der Ballettkritik der Jahrhundertwende ausgeweitet und in seiner Bewertung verändert hat. Der Soziologe Mauss will über die gesellschaftliche Funktion der Körpertechniken keinen Zweifel dulden: "Dank der Gesellschaft gibt es eine Intervention des Bewußtseins. Nicht dank des Unterbewußtseins gibt es eine Intervention der Gesellschaft. Dank der Gesellschaft gibt es die Sicherheit einsatzbereiter Bewegungen, die Herrschaft des Bewußten über die Emotionen und das Unbewußtsein" (1989: 219). Damit will er Zweifel zerstreuen, die angesichts der faschistischen und nationalsozialistischen Massenbewegungen nicht unbegründet waren, und Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890~1938) 65 die Rationalität und Effizienz der Körpertechniken für einen bürgerlich-demokratischen Begriff der Gesellschaft retten. Bei einem der besten deutschen Kenner der französischen Szene, Walter Benjamin, finden sich in dieser Zeit Überlegungen zum Zusammenhang von ethnologischen und sprachtheoretischen Fragen mit Nachahmung und Tanz. Es kann hier nicht ausführlich erörtert werden, wie Benjamin den phylogenetischen Spracherwerb als körpertechnische Neuerung auf der Basis mimisch-gestischer Kommunikation deutet und "die Wurzeln des sprachlichen und tänzerischen Ausdrucks in ein und demselben mimetischen Vermögen erblickt", während "andere über der semantischen Funktion der Sprache den ihr innewohnenden Ausdruckscharakter, ihre physiognomischen Kräfte vergessen haben" (1980: 9,478). Inwieweit er hierin auch die Grundlage moderner Vergesellschaftung erblickt, zeigt ein zustimmend verwendetes Freud-Exzerpt aus demAlmanach der Psychoanalyse, Wien 1934, das sich im Benjamin-Archiv findet. Freud spekuliert über das Zustandekommen des "Gesamtwillen[s] in den großen Insektenstaaten [ ... ] auf dem Wege [ ... ] direkter psychischer Übertragung". Während im Lauf der Entwicklungsgeschichte dies Verfahren durch den Zeichengebrauch abgelöst worden sei, könnte "die ältere Methode [ ... ] im Hintergrund erhalten bleiben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchsetzen, z.B. auch in leidenschaftlich erregten Massen" (1980: 6, 958). Schrift erscheint bei Benjamin zwar als Spätling unter den Kultur-Techniken der "Merkwelt", doch nicht als historische Alternative, sondern als Aufhebung des "mimetischen Vermögens" (1980: 4, 206) im dialektischen Sinne. "Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen die Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hyroglyphen in Gebrauch[ ... ] Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind[... ]" (1980: 4,213). Die Schrift-Sprache erhält hier eine völlig andere Genealogie als sie der Sprachskepsis der Jahrhundertwende zugrunde lag. Die Bedeutung, die den Körperals Merktechniken bei diesem Auffassungswandel zukommt, scheint über die Wahrnehmung und Reflexion des Neuen Tanzes vermittelt. Sogar die späten "Aufschreibesysteme" (Kittler 1987) und umso mehr wiederum die technischen Speichermedien besitzen die Kraft der Vergesellschaftung durch Mimesis. Das Verhältnis von Schrift und Tanz hat sich also in der Zwischenkriegszeit umgekehrt. Der Gegensatz von authentischem, ursprünglichem und vitalem Tanz und in lebensfeindlichabstrakter Mechanik erstarrter Schrift ist aufgegeben zugunsten eines Bilderschrift-Konzepts. Rudolph von Laban ist diesen Weg bereits in den 20er Jahren gegangen. Als er ein Aufzeichnungssystem für den Neuen Tanz schuf, rechtfertigte er dieses mit derselben Argumentation. In die Schrift sei von jeher das Bildgedächtnis der Kultur eingegangen. Gabriele Brandstetter vollzieht ihre Lektüren des Neuen Tanzes wohl auch deshalb im Kontext von Aby Warburgs Mnemosyne-Projekt (1995: 43ft). Den Endpunkt einer Entwicklung, die mit einer Versinnlichung und Rekorporalisierung der Sprache begonnen hat, mit der Aufmerksamkeit auf Mündlichkeit, mit der Bedeutsamkeit von Musik, Ton und Stimme gegenüber dem intersubjektiven Text und seiner intimen Lektüre, erreicht der Neue Tanz in der Labannotation. Die Verkörperung der Sprache im Sprechen, wie sie Braungart etwa auch bei Wilhelm Wundt nachweist (1995: 231ft), wird bei Laban und später Benjamin durch eine Rekorporalisierung der Schrift noch überboten. Körper, Bewegung, Mimik, Gestik sind nicht einfach nonverbale Kommunikation und als solche 66 Katja Schneider/ Gustav Frank eingeschränkter Ersatz des eigentlichen, oral-verbalen Kommunizierens. Schrift wird jetzt vom Körper und der Vergesellschaftung durch Nachahmung her gedacht. Das Problem der Ähnlichkeit, die Rolle von Kindheit, von Erziehung und von Spiel erlauben vielfältige Anknüpfungen. Benjamins Sammelrezension etwa führt direkt zur Grund~ legung des pädagogisch-psychologischen Wissens bei Piaget, sie führt mit ihrem sprachtheoretischen Schwerpunkt aber auch indirekt zu Wittgensteins Spätphilosophie - Verbindungslinien, die hier nicht ausgeführt werden können. Es scheint kein Zufall zu sein, daß in der Zwischenkriegszeit eine breite kulturelle Aufmerksamkeit in systematische Beobachtungen und schließlich wissenschaftliche Konzeptualisierungen des Körpers, der Bewegung und Gestik umschlägt. Einerseits handelte es sich dabei sicherlich um eine Reaktion auf die Krise der Körperbilder des 19. Jahrhunderts, die etwa in Ernst Machs und Richard Avenarius Empirio-Kritizismus am Jahrhundertbeginn bereits sehr radikale Formen annahm. Gewiß handelte es sich andererseits auch um eine Reaktion auf die konkrete Entwertung, die Diachronisierung von Körpertechniken, die die neuen Maschinen und Medien auslösten, während sie eine gänzlich neue Beweglichkeit forderten und in Umlauf setzten. Semantische und pragmatische Potentiale Der Tanz der Zwischenkriegszeit kann deshalb die Position eines zentralen Interdiskurses der Körperpraxen einnehmen. Der Neue Tanz ist sowohl geeignet, die eigene Geschichte parodistisch zu sichten, die zeitgleichen Modetänze zu thematisieren und auf die parallelen Plate 6: Valeska Gert: Boxen Körperdispositive Sport und Alltagstechnik zu referieren. Hier ist etwa auf Valeska Gert und ihre Soli "Ballett", "Charleston" und "Boxen" (Plate 6) hinzuweisen. Ferner auf Vera Skoronel, die in ihrem "abstrakten Tanz" in ihren eigenen Schriften werden die semantischen Felder Mathematik undMechanikkonnotiert- Bewegungsmöglichkeiten vollständig ausschöpfen will, um Bewegungsspielräume zu erzeugen, die dann wiederum in Konnotationsbeziehungen zu nie ausgedrücktem Innerpsychischen gebracht werden könnten. Einerseits scheint es dabei um einen Bewegungsüberschuß zu gehen, der kulturell noch nicht in Gesten, konventionellen Ausdrucksgebärden aufgegangen ist. Andererseits scheinen in der Etikettierung als "Grotesk-Tänze" (Plate 7) auch Körperphantasmen durch, die das technisierte Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs hervorgebracht hat: der deformierte und verstümmelte Körper, dessen hannonische Komposition durch die Auflösung in geometrische Grundbausteine in ihrer ganzen Zufälligkeit erscheint. Hier reißt eine Differenz auf etwa zu den thematischen Tänzen Mary Wigmans zum Totengedenken, die Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 67 Uneinheitlichkeit und Gegensätzlichkeit des Tanzes angesichts zentraler Probleme Weimars beleuchtet. Auch bei Oskar Schlemmer fällt die Auflösung der Tänzer-Persönlichkeit in Ensembles von bewegten Formen und Farben als Ausgangssituation auf. Überkommene epistemische Ordnungsmuster wie das wahrnehmende Subjekt, die Kategorien und Anschauungsformen Kausalität, Raum und Zeit können nicht mehr vorausgesetzt werden, sie erscheinen jetzt als Ergebnis von bewußten Prozessen der (Zer-) Störung, der De-Komposition, wie der (Re-)Konstruktion. Resümee Die Analyse nahm ihren Ausgang von dem Moment, als die Tanztechnik des klassischen Bühnentanzes dem Verdikt verfiel, lebensfeindlicher Mechanik, erstarrter Technik statt organisch-vitaler Dynamik Ausdruck zu verleihen. Neuer Tanz und Technik sollten seither eigentlich keine Berührungspunkte mehr aufweisen. Plate 7: Vera Skoronell: Grotesk-Tanz Anschließend waren einige wenige Etappen der Aufladung des Neuen Tanzes mit verschiedensten semantischen Potentialen zu beleuchten. Es zeigte sich, daß die Kultur der Zwischenkriegszeit im Neuen Tanz ein Instrumentarium ausbildet und institutionalisiert, das Körper in Zeiten ihrer Mobilmachung zu verhandeln, aber auch zu trainieren in der Lage ist. Die Mobilmachungen sind der technischen Entwicklung verdankt. Die neuen Bewegungsrepertoires entstehen im Beruf, der Werkshalle, der Baustelle und dem Büro ebenso wie in der intimen Behausung. "Als die Zeit der Vollmechanisierung bezeichnen wir die Periode zwischen den beiden Weltkriegen" (1987: 62), kann ihr schärfster zeitgenössischer Beobachter Siegfried Gideon Ende der 40er Jahre in seinem Buch Mechanization Takes Command konstatieren. Nicht so sehr die Ebene, auf der 'Technik' im Neuen Tanz thematisch wird analoge Botschaften wie der 'Tanzfilm' Metropolis verkünden hier Choreographien wie "Machine Dances" (1923) von Nikolai Foreggerund "Dämon Maschine" (1924) von GertrudBodenwieser (Plate 8), nur ein wenig früher-, ist für unser Verständnis der Verknüpfung von Neuem Tanz und Technik entscheidend, sondern die Ebene der techne, der mittlerweile vermehrten Tanztechniken. Die Formensprache des Tanzes, die Techniken der Materialbearbeitung, der Körperdisziplin mithin, übergreifen weit die speziellen Themen. Auf dieser Ebene betrachtet, ist der Neue Tanz weder ornamental noch vernachlässigbare Unterhaltungsindustrie. Vielmehr kann er Potentiale der Technik- und Medienentwicklungen körper-beweglich zur Vor- (An)Sicht bringen. Zwar kann er auch anpassend, tayloristisch-fordistisch optieren wie in 68 Katja Schneider/ Gustav Frank Plate 8: Gertrud Bodenwieser Dämcm Maschine Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 69 Vsevolod Meyerholds Biomechanik im russischen "Theateroktober" seit 1920. Aber er kann eben auch widerständig gegen die Vemutzung von Körpern in Bewegungs- und Ausdrucksgesten-Routinen agieren. Die Verzweigungen der Körper-Geschichte, die hier angelegt sind, führen ebenso zu den großen Bewegungschören, die die Ausdruckstänzer bis zur Olympiade 1936 für die Nazis inszenieren durften, zur Ertüchtigung der Industriearbeiter im Schatten ihrer Großmaschinen im Bewegungsprogramm "Kraft durch Freude" als auch zur Verkörperung negativer, widerständiger und grenzüberschreitender Affektivität im Solowie im Gruppentanz. Auf die semiotischen Ursachen und einige historische Gründe dieser Ambivalenz der Tanzals Körpertechniken wollte der Beitrag hinweisen. Anmerkungen Es handelt sich um die für diesen Band überarbeitete und ergänzte Fassung eines Vortrages, den die Autoren auf dem IX. Internationalen Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, "Maschinen und Geschichte", in Dresden, 3.-5.10.1999, gehalten haben. 2 1891 kam die junge Polin Maria Sklodowska (1867-1934) nach Paris. Sie wollte Physik und Mathematik studieren, was Frauen in ihrer Heimat verwehrt war. Ebenfalls 1891 kam Marie Louise Fuller, 1862 in Illinois geboren, nach Paris. Da kann die Piuitanerin bereits auf eine gründliche Ausbildung zurückblicken in Philosophie und Wissenschaft. Sie galt als hochbegabt und hatte das spiritistische Chicago Progressive Lyceum besucht. Auch Marie Curie besuchte spiritistische Zirkel in Paris. 3 Zu LoYe Fuller vgl. Brands.tetter/ Ochaim 1989. 4 Für unsere Zwecke und angesichts des beschränkten Raumes vereinfachend wollen wir unter dem Begriff Neuer Tanz schlicht alle Phänomene und Tanzereignisse verstehen, die sich seit den 1890er Jahren bis in die Zwischenkriegszeit etablieren und zunächst außerhalb der Danse d'ecole angesiedelt sind. 5 Vgl. Braungart 1995. 6 Vgl. Link 1997. 7 Zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der Bedeutungsumfang und die Konnotatmenge von 'Seele' drastisch vergrößert. Im Oeuvre Freuds ist dabei dieselbe Spannung wie im Neuen Tanz zu beobachten zwischen moralischer Freisetzung bislang abgewehrter und geleugneter Seelenvermögen und dem Bedürfnis, diesen neuen, unbekannten Bereich in irgendeiner Weise zum Vorteil der Kultur zu beherrschen. 8 Vgl. Mach 1883 (9. Auflage 1933). 9 Hier unterscheidet sich Paris als ''Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" deutlich von St. Petersburg, für das diese Einschätzung nicht unmittelbar Geltung beanspruchen kann. - Natürlich ist damit nicht bestritten, daß die Handlungen der Ballette sowie die Tanztechnik der Ballerina, soweit sie im Dienste dieser Handlung steht, die semantischen Voraussetzungen für Erotisierung und Fetischisierung geschaffen haben, indem sie einer Aufspaltung in zwei oppositionelle Frauenbilder Vorschub leisteten: einem reinen-ätherischen und einem sinnlichdämonischen. 10 Obwohl natürlich in Studien zum Tanz auch semiotische Aspekte eine Rolle spielen, etwa in Brandstetter 1995, hat sich keine semiotische Teildisziplin zum Thema ausgebildet, wie die opulenten ca. 3000 Seiten der drei Bände von Semiotik/ Semiotics (Posner/ Robering/ Sebeok 1997t) zeigen: Theater- und Musikwissenschaft finden beim Thema "Semiotik in den Einzelwissenschaften" Berücksichtigung, daneben, ebenfalls unter vielen, die "ausgewählten Gegenstände der Semiotik" Sport, Gerontologie und Extraterrestrische Kommunikation. 11 Die Grundlagen der Theatersemiotik sind hierbei zu übernehmen, zu spezifizieren und auszubauen. Vgl. Fischer- Lichte 1983. 12 Im Zusammenhang mit Bewegungschören und Massenchoreographien von Laban und anderen wird zudem die vom Bühnengeschehen gezogene Grenze zwischen Akteuren und Publikum zusehends verwischt: es geht nicht mehr um ein distanziert zu betrachtendes Geschehen, eine vom Alltäglichen abweichende künstlerische Schaustellung, sondern um einen massenwirksamen, massenmedialen tänzerischen Stimulus mit appellativem Charakter, der aufruft zur Eingliederung in die geordnet sich bewegende Menge der Fremden. 13 Vgl. auch Rothe 1979. In vielen Darstellungen des Tanzes werden Tanzereignisse und die sie begleitenden Debatten, Kritiken, Theoretisierungen unbesehen zu den Ereignissen selbst. Auch die Selbstverständigung der Tänzer und ihr Tanz sollten zunächst einmal als unterschieden wahrgenommen werden; erst so ·werden Differen- 70 Katja Schneider/ Gustav Frank zen zwischen Schrift, Rede und Tanz als solche kenntlich. Und beides, die Gleichsinnigkeit wie die Abweichung von Tanzereignis und sprachlichem oder photographischem oder filmischem Begleitdiskurs, wäre dann zu interpretieren. 14 Vgl. Baxmannl991. - Wie bei Curies und Fullers Affinität für den Spiritismus ist hier die "Brücke ins Geisterreich" (Hein 1992) leicht zu schlagen. In seiner kränkenden Wirkung für die Subjekte offensichtliches psychologisches Wissen soll durch Anschluß an Okkultes transzendiert werden. Vgl. auch Lista 1995 und Witzmann 1995. 15 Sensu Foucault: 1990: 74: "[... ] ich möchte zeigen, daß der Diskurs keine dünne Kontakt- oder Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache, die Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung ist; ich möchte an präzisen Beispielen zeigen, daß man bei der Analyse der Diskurse selbst die offensichtlich sehr starke Umklammerung der Wörter und der Dinge sich lockern und eine Gesamtheit von der diskursiven Praxis eigenen Regeln sich ablösen sieht.[ ... ] Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht-nicht mehr-die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache." 16 Vgl. die moderate Zusammenführung der verschiedenen Schulmeinungen bei Segeberg 1997. 17 Die unleugbar fortgeschrittene Qualität dieser Zeugnisse intensiver Selbstverständigung birgt für den Kulturhistoriker die Gefahr, ihrer Suggestivkraft zu erliegen und ihre Rede an der Stelle seines Kommentars zu zitieren. 'Technik' in unserem Verständnis ist zu einem Gutteil diese Rede, deren kategoriale Rahmenvorgaben für ein Technik-Verständnis wären jedoch nur um den Preis des Anachronismus unreflektiert zu übernehmen. 18 Sie personalisieren ein Amalgam von Sklavenbefreiung - Uncle Tom's Cabin -, dienstbotenloser Kerufamilie im durchrationalisierten Haushalt und Frauenemanzipation. 19 Hans Freyers Kulturschwellen-Theorie beschreibt, daß der Kulturtypus der Industriekultur "im Produktionsprozeß wahrhaft eine zweite, künstliche Natur, auch ihrer materiellen Zusammensetzung nach, eine Natur, die es in Erd- und Weltgeschichte bisher nicht gegeben hat" (1965: 236), entstehen läßt. 20 Auf dieser Grundlage kann Valeska Gert die große Anna Pawlowa parodieren (Müller/ Stöckemann 1993: vgl. 29mit48). 21 Vgl. Müller/ Stöckemann 1993: 55-106. 22 Der Analyse liegt die Videoaufzeichnung (1992) der Rekonstruktion des Balletts durch Frank W. D. Ries und lrina Nijinska für das Ballett der Pariser Oper zugrunde. 23 Die Rezeption des reformierten Balletts durch den Ausdruckstanz belegt Yvonne Georgis Ballett Der Bäderexpress von 1930, bei dem es sich um eine Reprise von Le Train bleu zu handeln scheint. Vgl. die Abbildung in Müller/ Stöckemann 1993: 43 oben mit der Abbildung 1 in Burt 1998: 31. 24 Zu Parade Noller 1999. 25 Zur gewandelten literarischen Semantik des Tennis vergleiche man Hugo von Hoffmannsthals kurzes Prosastück Das Doifim Gebirge (1886) mit Robert MusilsAls Papa Tennis lernte (entstanden April 1931). 26 Über den zeitgenössischen Zusammenhang gibt eine Filmkritik Siegfried Kracauers (1999: 398f) Auskunft, die er zur Neufassung des abendfüllenden Ufa-Kulturfilms Wege zu Kraft und Schönheit(l924/ 26) in der Franlifurter Zeitung (5.8.1926) veröffentlicht: "Außerdem sind die Sportberichte auf den letzten Stand gebracht: Nurmi, Rademacher und Suzanne Lenglen bewegen sich unter der Zeitlupe zu Wasser und zu Lande." (398) Die Tennisspielerin Suzanne Lenglen war auch das Vorbild für Nijinska. 27 Der schon erwähnte Ufa-Kulturfilm Wege zur Kraft und Schönheit wird zeitgenössisch als Aufruf zum Ersatz der Wehrertüchtigung durch Sport verstanden, nachdem die Versailler Verträge eine allgemeine Wehrpflicht ausschlossen (Bockfföteberg 1992: 152-155). 28 Natürlich werden die kulturell üblichen Grenzziehungen zwischen Bühnen- und Zuschauerräumen, zwischen Darstellern und Publikum im Neuen Tanz immer wieder in Frage gestellt, sei es in den Naturräumen, die die Reformbewegungen aufsuchen, sei es durch Austauschbeziehungen oder Umkehrungen der tradierten Obenunten- und Innen-außen-Ordnungen. Dennoch scheint erst mit den Bewegungschören und Weihespielen in mimetischer Hinsicht eine neue Qualität der Grenztilgung erreicht. So modellbildend sie sein wollen, so stark sie institutionell gestützt sind, handelt es sich doch nur um eine Möglichkeit unter vielen der Tanzszene der 20er Jahre. 29 Willi Wolfradt: Tanz. In: Freie deutsche Bühne Jg. 1 (1919/ 20) Heft 16, S. 382, zitiert nach Peter 1985. 30 Wir sehen hier eine wichtige Grenzziehung aus der Frühzeit des Neuen Tanzes, die Deklassierung des Balletts als mechanischen Drill, und einen Einwand der 1920er Jahre gegen die so. verbreiteten wie erfolgreichen Girl 0 Truppen und die Beschränktheit ihres kapitalistisch-konsumistischen Drills, wie ihn etwa Fritz Giese: Girlkultur. Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 71 Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl. München 1925, formuliert, zusammenbrechen: nicht nur die Ausdrucksgeste, schon die Bewegung des Alltags ist soziale, kulturelle, historische Variable. 31 Daß Mauss Schuhe als ''technische Mittel" anspricht, sollte unsere Aufmerksamkeit auf die Vielzahl der in diesem Sinne technik-induzierten 'neuen' Bewegungen der Modeme lenken. Das sollte jedoch nicht davon ablenken, daß Mauss die Würde seines Arguments durch den Rückgang aufden griechischen Begriff der techne, auf Platons Einlassungen zur Musik und zum Tanz, gewinnt; der Rückweg zum Ursprung führt dazu, auch die Bewegung ohne technische Mittel als technische zu verstehen und dem Neuen ein Gutteil seiner Fremdheit zu nehmen: ''Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen. Oder genauer gesagt, ohne von Instrument zu sprechen, das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper." (1989: 206) References Books Baxmann, Inge 1991: "Traumtanzen oder die Entdeckungsreise unter die Kultur", in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, K. Ludwig: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt/ M.: Suhrkamp: 316-340. Benjamin, Walter 1933: "Lehre vom Ähnlichen", in: Tiedemann/ Schweppenhäuser (eds.) 1980: 4, 204-210. Benjamin, Walter 1935: "Probleme der Sprachsoziologie. 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