eJournals Kodikas/Code 24/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2001
243-4

Hermeneutik der Tiefeninformation. Zur Psychologie des digitalen Bildes

121
2001
Roberto Simanowski
kod243-40129
Hermeneutik der Tiefeninformation Zur Psychologie des digitalen Bildes Roberta Simanowski KODIKAS / CODE Ars Semei otica Volume 24 (2001) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen How does the hidden text in the html-source and image-files affect the image' s appearance and meaning? What is this text's role within the primary and secondary signification? How is one to develop a hermeneutic of hidden text and its included interaction? The paper approaches these questions from within the context of Schreiber's Epos of the Machine and Huppert's image animations. 1. Text als Bild Die Klage über die Visualisierung von Kommunikation und Wahmehmung ist ein immer wiederkehrendes Phänomen. Als Neil Postman 1985 dem Fernsehen eine unhintergehbare Grammatik der Zerstreuung unterstellte, war er damit schon nicht mehr der erste. Vor ihm hatte Günther Anders 1956 diesem Medium schlechte Noten ausgestellt und wiederum einige Jahrzehnte zuvor war es das Kino, dem man die Unterstützung der Zerstreuung bis hin zum Verderben der Sitten nachsagte. Die Bilderllut ist eine alte Gefahr, und immer wird sie diskutiert im Zusammenhang mit Zerstreuung, Amüsement oder Spektakel. Jochen Schulte- Sasse spricht 1988 in diesem Zusammenhang von einer "Dramaturgie des Spektakels", die "kaum noch der Sprache [vertraut], um ihre Ziele zu erreichen." (Schulte-Sasse 1988: 438f.) Die digitalen Medien erschienen da zunächst als Sachverwalter des Wortes und führten mit ihren grünen Zeichen auf schwarzem Grund zu einer regelrechten Renaissance des Entzifferns. Bekanntlich ist der Computer, trotz seiner abstrakten mathematischen Grundlage, diesem Text-Spartanismus längst entwachsen. Das Interface ist inzwischen handhabbar für jeden halbwegs pfiffigen Analphabeten, Websites ohne Images werden zur Seltenheit und sind schon als Zeichen des Widerstandes zu verstehen und mit der Flash-Technologie scheinen denn auch die digitalen Medien endgültig beim Spektakel angekommen zu sein. Die einst die neuen Techniken priesen, äußern sich angesichts des "breakout of the visual" (Bolter 1996: 258) nun ähnlich besorgt wie vormals Anders und Postman. So spricht Robert Coover, 1992 Prophet der Hyperfiction in der New York Times Book Review, Anfang 2000 vom "constant threat of hypermedia: to suck the substance out of a work of lettered art, reduce it to surface spectacle" (2000). 1 Es gibt freilich auch eine Visualisierung vor dem Bild, in der die Bedeutung des Textes durch die Art und Weise seiner Präsentation überlagert wird. Die Buchstaben erobern sich als materielle Zeichen den Raum, sie haben ihren Auftritt nicht mehr nur vor dem inneren Auge des Lesers, wollen vielmehr tatsächlich gesehen werden und verlören in der akustischen Realisierung mehr als ihre Schriftlichkeit. Dass es sich dabei nicht allein um die Übertragung der konkreten Poesie ins Reich des Digitalen handelt, liegt auf der Hand angesichts der Faktoren Zeit und Interaktion, die im vorliegenden Fall zusätzlich eine Rolle spielen. Beispiel 130 Roberta Simanowski dafür ist Urs Schreibers Epos der Maschine - Preisträger des-Arte Liter@turwettbewerbs 2000 -, an dem zugleich deutlich wird, dass die Visualisierung von Text auch im Modus des Digitalen eine über den Effekt seines Erscheinens hinaus gehende Bedeutung haben kann. In Schreibers aufwändig programmiertem Werk baut sich eine technikkritische Frage Wort für Wort in der Form eines Fragezeichen auf, wobei alle Wörter sich schließlich leicht hin und her bewegen, außer «Wahrheit», das als Punkt des Fragezeichens so starr ist wie im Text apostrophiert. Zu dieser Entfaltung des Textes in Zeit und Raum kommt nun die in der Interaktion. Klickt man auf das Zeichen «Wahrheit», verschwinden alle anderen Wörter hinter ihr, als suchten sie dort Zuflucht oder als verschlinge die Wahrheit das, was sie in Frage stellt. Bewegt man daraufhin die Maus, folgt «Wahrheit» dem Cursor, gefolgt von jenen anderen Wörtern, die wieder hervorkommen, der «Wahrheit» regelrecht 'auf den Fersen', wohin auch immer diese sich entzieht. Stoppt man die Maus, verschwinden alle Wörter erneut hinter «Wahrheit», bewegt man die Maus, tauchen sie wieder auf. Einmal aufgeworfene Fragenso die mögliche Lesart können nicht mehr einfach ausradiert werden, vorausgesetzt, es gibt Bewegung im Diskurs. Auch das Spektakel, so ist an dieser Stelle schon einmal festzuhalten, muss entziffert werden.2 Kommen wir zur Visualisierung mit Bildern. 2. Bild als Text Eine Betrachtung der Wort-Bild-Beziehungen muss zunächst drei Ebenen unterscheiden: 1. Die Anwesenheit des Bildes im Wort als bildlicher Sinnenschein des Gesagten. 2. Die Wechselbeziehung im Sinne des Austausches von Stoffen und Formen, wie etwa in den auf mythologischen Texten beruhenden Gemälden der Renaissance. 3. Die Vereinigung von Wort und Bild im einzelnen Artefakt, wie etwa im Emblem, in der Bildergeschichte oder im illustrierten Buch (Willems 1990: 414). Die dritte Variante, die einzig hier weiter interessieren soll, lässt sich wiederum dreifach perspektivieren. Auf der Ebene der äußeren Faktur sind Anteil und Verbindung von Wort und Bild zu diskutieren (Willems 1990: 419). Hierbei kann die verbale Äußerung in die bildlich-visuelle eingebettet sein, wie beim Comic-Strip, oder das Bild ist umgekehrt in den Text eingebettet, wie bei der Emblematik oder der Verwendung von Bildtiteln. Im ersten Fall dominiert das Bild die Textbedeutung durch Desambiguierung und Referentialisierung, im zweiten Fall erfolgt die Interpretation des Bildes in Abhängigkeit von der festgestellten Textbedeutung, besitzt der Text also einen "repressiven Wert hinsichtlich der Freiheit der Signifikate des Bildes" (Barthes 1990: 36). 3 Auf der Ebene des Inhalts ist zu fragen, welches Medium die Vorlage gab, welches Medium dem Rezipienten als Leitfaden dient und wie aus der Verbindung von Wort und Bild ein inhaltliches Ganzes erwächst. Im Hinblick auf den inhaltlichen Zusammenhang können Wort und Bild a) denselben Stoffjeweils mit ihren eigenen Mitteln wiedergeben (Bilderbibel des MA), b) sich einander wechselseitig kommentieren und auslegen, c) sich in den'Stoff teilen (Bildergeschichte Wilhelm Buschs). Auf der Ebene der inneren Faktur ist die "Gestaltung des Bilds mit Rücksicht auf das benachbarte Wort und die des Worts mit Rücksicht auf das benachbarte Bild" zu erörtern: z.B. Entlastung des Wortes vom anschaulichen Reden angesichts der im Bild gegebenen Anschauung, Entlastung des Bildes von der Entfaltung der Bedeutungszusammenhänge oder Verstärkung der Bedeutungsstrukturen des Bildes, um die Anknüpfungspunkte des Wortes zu erhöhen (Willems 1990: 420, 421). Hermeneutik der Tiefeninformation. Zur Psychologie des digitalen Bildes 131 Die Analyseperspektiven, die hiermit angerissen sind, finden freilich auch im Hinblick auf die Wort-Bild-Beziehung in den digitalen Medien Anwendung. Allerdings fügt die Digitalisierung der Wörter und Bilder dem Komplex weitere Aspekte hinzu. Um diese geht es mir in diesem Beitrag. Das Beispiel Epos der Maschine machte deutlich, wie die Transformation des Wortes in ein Bild sich in diesen Medien gegenüber den Printmedien unterscheiden kann. Das nächste Beispiel führt vor Augen, welch grundsätzlich neue Eigenschaften das Bild im Zeichen seiner Digitalität annimmt. Es gibt ein digitales Portrait von Leslie Huppert, das aus zwei verschiedenen farblichen Fassungen besteht, deren Abfolge an Andy Warhols serielles Marilyn Monroe-Porträt erinnert und doch davon prinzipiell verschieden ist. 4 Während man dort, so wie einst bei der seriellen Malerei und der seriellen Fotografie, von links nach rechts und von oben nach unten 'liest', tritt hier ein Bild an die Stelle des anderen. Statt den Blick bewegen zu müssen, wird das Bild bewegt. Dies geschieht allerdings anders als beim Film, wo das eine Bild das andere zur Seite schiebt, und zwar mit einer solchen Geschwindigkeit, dass der stroboskopische Effekt entsteht, der die Momentaufnahmen zäsurlos als eine durchgängige Bewegung wahrnehmen lässt. Im vorliegenden Fall des digitalen Bildes gibt es dieses analoge, fürs menschliche Auge unsichtbare Zur-Seite-Schieben nicht, sondern einen Austausch, der im Zeichen der Digitalität faktisch nur den Zustand Bild 1 und Bild 1+n kennt. Bemerkenswert ist dabei, dass nicht mehr das materielle Medium bewegt wird, sondern das Dargestellte, nicht Zelluloid, das die Abbildung trägt, sondern gleich die Abbildung selbst: Ausgetauscht werden die Pixel, die die Abbildung sind. Entscheidend an diesem Verfahren ist, dass das Bild selbst die Information seiner Veränderung in sich trägt und nicht etwa ein Apparat, der es dem 24 Bilder/ Sekunde-Takt unterwirft. Im vorliegenden Fall wird Bild A nach 0,3 Sekunden durch Bild B ersetzt. Bild B wiederum, und hier stoßen wir auf einen anderen entscheidenden Unterschied, wird nach der gleichen Zeit durch Bild A ersetzt. Genauer muss es heißen: Die Bilddatei B wird durch die Bilddatei A abgelöst, und nicht durch Bilddatei C mit Bild A. Diese kleine Korrektur ist· entscheidend, denn sie drückt den Sachverhalt aus, dass im Reich des Digitalen die Sequenzen sich nicht auf ihr Ende hin bewegen wie bei der Filmrolle, sondern unendlich wiederholt werden können. Es gibt keine Dauer des Materials mehr, es gibt eine Dauer durch Programmierung. Im vorliegenden Fall wurden übrigens 1000 Loops programmiert. Da jeder Durchlauf nur zwei Dateien umfasst, die sich mit einer Geschwindigkeit von 30/ 100 Sekunden ablösen, benötigt jeder Loop nur 60/ 100 Sekunden, womit die Bewegung nach 600,6 Sekunden mit Datei B endet. Nach etwa 10 Minuten sehen wir nur noch Bild B, das dann wie ein normales Bild aussieht, vergleichbar einem der Monroe-Bilder aus Warhols Serie. Aber so wie jene Serie als Summe ihrer Teile ein Werk darstellt, das seinen Sinn erst in dieser Serialität erhält, so müssen wir auch im vorliegenden Fall jene anderen Bilder mitzählen, die nun nicht mehr zu sehen sind. Wie viele waren es? 1? 2001? Die richtige Zahl ist wohl die höhere, insofern nicht nur die Wiederholung des gleichen eine Aussage ist, sondern auch die desselben. Das Bild hat, so ist festzuhalten, eine Vergangenheit, die, vor Ablauf der 1000 Loops, einmal seine Zukunft war. Worauf will diese Überlegung hinaus? Das Bild, das wir sehen, ist eine Bilddatei, die im Quellcode als solche kenntlich wird. Diese Datei besteht selbst wiederum aus zwei Bilddateien, die im Quellcode nicht sichtbar werden, die sich aber extrahieren lassen, wenn man die Mutterdatei in ein Animationsprogramm lädt, mit dem sie zuvor aus den beiden Dateien 132 Roberta Simanowski erstellt wurde. In einem solchen Animationsprogramm werden die beiden Dateien in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt, das sich im vorliegenden Falle auf der Ebene der Befehlsdaten in 30/ 100 Sekunden und 1000 Loops ausdrückt im ersten Fall gilt die Programmierung den einzelnen Bildern im zweiten ihrer Summe - und auf der sinnlich wahrnehmbaren Ebene gewissermaßen die serielle Malerei bzw. Fotografie aus dem Raum in die Zeit umsiedeln lässt. Diese Befehlsdaten sind die Tiefeninformationen, die zu einem digitalen Bild gehören. Sie bestimmen sein Verhalten, sie schaffen Änderung in der Zeit und geben dem Bild damit einen narrativen Charakter. Das gewichtet zum einen die Funktion des Bildes innerhalb einer wie auch immer gestalteten Text-Bild-Verbindung. Das führt zum anderen zur Frage, wie ein solches Bild dann strukturell noch vom Film zu unterscheiden ist. Die Antwort darauf hängt davon ab, ob man die Spezifik des Filmischen in der Narration sieht (Barthes 1990: 65), in der Montage (Schnell 2000: 99), in "Bewegtbildem" (Dom 1998, 201), im "Diskurs von Fotografien" (Flusser 1993: 124) oder in der Verbindung von Theater und Fotografie (Amheim 1979). Wahrscheinlich wird man das digitale Bild als ein Drittes zwischen Bild und Film auffassen müssen. Dies gilt zumindest dann, wenn der versteckte Text lnteraktionsbefehle beinhaltet, die es weder beim analogen Bild noch beim Film gibt. Ein weiteres digitales Bild von Leslie Huppert zeigt ein nacktes vier- oder fünfjähriges Kind, auf einer Stange zwischen vier Elefantenbeinen sitzend, wobei die Elefantenbeine in der Mitte gespiegelt wurden, so dass oben und unten jeweils Fußpartien zu sehen sind. Dass es sich hier nicht um ein Abbild mit Referenz in der Wirklichkeit, sondern um eine Fotomontage handelt, ist unumstritten; ob diese Montage völlig auf digitalem Wege entstanden ist oder ob sie zunächst analog vorlag, ist unwesentlich. Entscheidend und strittig ist die Frage, inwiefern es sich noch um ein Bild handelt. Da in diesem Fall keinerlei Veränderung der Szenerie vor sich geht, ist man zu einer schnellen Antwort versucht. Andererseits hat sich beim Aufbau der Site bereits gezeigt, dass dieses Bild aus mehreren Teilbildern besteht, die sich innerhalb einer HTML-Site zu einem Bild fügen. Dieser HTML-Site ist als Background wiederum ein Teil des Bildmusters zugeordnet, das automatisch so oft geladen und nebeneinander plaziert wird, bis der gesamte Bildschirm damit bedeckt ist. Und wie beim Tapetenkleben ist es so, dass sich bei professioneller Arbeit am Ende die Bahnen nicht mehr ausmachen lassen. Wie viele Bahnen geklebt werden müssen, liegt an der Größe der Wand: Der 12-Zoll-Monitor eines Laptops ist da freilich schneller gefüllt als der 20-Zoll-Monitor in einer Multimedia-Agentur. Die Endgestalt des Vorliegenden hängt auch vom Computer des Betrachters ab. Aber um diese rezeptionsseitige Tiefeninformation geht es gar nicht, sondern um jene werkspezifische, die im Vergleich zur vorher behandelten geradezu an der Oberfläche liegt: der Quellcode, den man sich im Browser mit zwei Klicks anzeigen lassen kann. Dort liest man schwarz auf weiß, dass das vorliegende Bild aus mehreren Bildern besteht und dass das eigentliche Bild mit Kind und Elefantenbeinen in ein Netz weiterer Befehlsdaten gestellt ist. Die Schlüsselwörter, die für viele nur kryptische Zeichen sein werden, lauten permanentpic, randornfx oder randomaudio. Was dies konkret heißt, erkundet man am besten auf der sinnlichen Ebene der Browseroberfläche. Sobald man das Terrain der zusammengesetzten Bilder in der Mitte des Browserfensters mit dem Cursor betritt, erscheint dort, auf dem zugrunde liegenden Bild, ein weiteres Image einmal ein Frauenkopf, ein andermal ein Phantasiekopf aus Knetmasse verbunden mit Sound. Das Bild lässt ein anderes Bild auftreten und Töne bzw. gesprochenen Text erklingen. Wie der wiederholte Versuch zeigt, lässt es an der immer gleichen Stelle die weitere Hermeneutik der Tiefeninformation. Zur Psychologie des digitalen Bildes 133 Erkundung zeigt, dass das Bild in vier vertikale Zonen mit je einer Kontaktstelle aufgeteilt ist immer andere Bilder und Töne erscheinen. Dies ist die Folge jener Wörter randomfx oder randomaudio, die dafür sorgen, dass auf den Maus-Kontakt hin aus den zur Auswahlgestellten vier Image- und drei Audio-Dateien jeweils eine nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wird. Das anfangs recht überschaubare Bild erweist sich als "ein riesiges labyrinth der subjektiven beziehungsebenen eines menschen". 5 Dieses Labyrinth liegt allerdings nicht schon am Anfang der Rezeption vor, es ergibt sich erst in deren Prozess. Und zwar anders als beim Film erst in Folge der Erkundung durch den Leser. Der Rezeptionsprozess, darauf kommt es an, bestimmt die Präsentation. Anders gesagt: Das Bild wird erst im Prozess seiner Rezeption fertig gestellt. Dieses Prinzip der 'verteilten Autorschaft' ist vom Hypertext her bekannt (Simanowski 2001 ), dessen Gefahr bekanntlich darin liegt, dass der Autor die Navigationsweise des Lesers nicht voraussehen und damit nur begrenzt Aussageintentionen im Text manifestieren kann. Das führt in der Konsequenz zu einer Akzentuierung nicht der Botschaft, sondern der Interaktion und arbeitet im Grunde der Ästhetik des Spektakels zu (Simanowski 2002). Die Interaktion kann freilich· auch streng kalkuliert werden, womit der Autor die Kontrolle behält und der Leser zum Ausführenden einer angelegten Manifestation wird. Dies ist im vorliegenden Beispiel der Fall. Zwar basiert die Ausführung auf einem doppelten Zufall: nämlich der Mouse-Bewegung des Lesers und des programmierten Zufallsprinzips der Mouse-Over- Events. Trotzdem ist das Ergebnis der Interaktion durch die Autorin voraussagbar. Denn es kommt nicht auf die Reihenfolge der erscheinenden Bild- und Tondateien an, sondern auf das Stimmengewirr, das aus der quasi parallelen Abspielbarkeit der Tondateien entsteht und dessen Bedeutung sich im vorliegenden Kontext der Kindheitserinnerung leicht erschließt. Es sind diese Einflüsse, Aussagen und Ansprüche der Welt, denen das Kind ausgesetzt ist. Indem der User dieses Wirrwarr an Aussagen und Ansprüchen durch die Mausbewegung nun selbst erzeugt, gerät er in ein ambivalentes Rollenspiel. Als Betrachter der Szenerie tendiert er einerseits dazu, sich mit dem Kind zu identifizieren und dessen Perspektive auf die Außenwelt einzunehmen. Als Ausführender der programmierten Effekte ist er andererseits zugleich diese Außenwelt, die dem Kind gegenübertritt. Die eigentliche Botschaft könnte gerade in der Kopplung dieser beiden Rollen liegen, wobei die letztere in der vorliegenden Form weder im analogen Bild das nicht dynamisch ist -, noch im Film der nicht bidirektional ist vermittelt werden kann. 3. Anschlüsse Die vorgeführten Fälle der Visualisierung geben einen Eindruck davon, welch neue Eigenschaften das Bild im Zeichen seiner Digitalität annimmt. Es bleibt nachzutragen, dass das Bild sich nicht nur intern ändern kann, also innerhalb seines Rahmens, sondern dass ebenso dieser Rahmen auf dem Bildschirm verschoben werden kann. Die Programmierung der Veränderung außerhalb des Bild-Rahmens liegt auch außerhalb der Bild-Datei, nämlich im Quellcode der HTML-Site, die gewissermaßen als Meta-Rahmen das Bild neben anderen Elementen und Dateien aufnimmt und platziert. Hier wird z.B. das Verhalten von Layern programmiert, als deren Bestandteil die Bild-Datei festgelegt werden kann, etwa indem eine Ausgangs- und Endposition einer Zeitstruktur (Start und Geschwindigkeit der räumlichen Veränderung) unterstellt wird und somit Bewegungen auf der x-y-Achse des Bildschirms oder auf der Tiefenebene generiert werden. 6 134 Roberta Simanowsld Wenn digitale Bilder keine statischen Daten, sondern potentiell dynamische sind, hat dies wesentliche präsentationslogische Konsequenzen. Ganz gleich, ob die Veränderung des Bildes automatisch erfolgt oder aufgrund von User-Inputs, in beiden Fällen ist die Sichtbarkeit des Bildes nicht allein von dessen Oberfläche, sondern auch von dessen Untergrund zu denken. Relationslogisch argumentiert wird die Zeit zu einem Faktor des Strukturzusammenhangs des Bildes. Diskutiert man diesen Umstand innerhalb der Geschichte des Bildes, lässt sich sagen: Während das abstrakte Bild die Repräsentationslogik der Bilder durchbricht und keinen wiedererkennbaren Gegenstand mehr zeigt, durchbricht das digitale Bild die Präsentationslogik, indem es weniger etwas Abwesendes oder Gedachtes als anwesend präsentiert denn etwas Anwesendes als Zukünftiges. Es zielt nicht auf das, was es darstellt, sondern auf das, was es bereithält. Ist das abstrakte Bild ein Angriff auf das traditionelle mimetische Selbstverständnis, so ist das digitale einer auf das kinetische; es ist kein festgehaltener Moment mehr, es hat selbst seine eingeschriebenen Momente. Fragt man nach den Konsequenzen dieser versteckten Befehlstexte für die Semantik des digitalen Bildes, empfiehlt sich, zunächst die Signifikation im Rezeptionsprozess als solchem näher zu betrachten. Nach Michael Titzmann sind dabei zwei Schritte zu unterscheiden: die primäre der vorliegenden Zeichen und die sekundäre, die sich auf der Basis der primären konstituiert. Ein primäres Signifikat ist demnach "die von einem Text oder einem Bild dargestellte Situation" (1990: 376), in der Terminologie Barthes' also das Denotat bzw. die buchstäbliche Botschaft gegenüber dem Konnotat bzw. der symbolischen Botschaft (1990: 45). 7 Während die primäre Signifikation in sprachlichen Äußerungen auf diskreten, an sich schon bedeutungstragenden Elementen (Lexeme) beruht, besitzt sie in bildlich-visuellen Äußerungen eine weit geringere Kodiertheit, denn jedes wahrnehmbare Element (jede Linie, Form, Farbe) und deren Kombination kann bedeutungstragend sein, muss dies aber nicht. Das Bild ist im Gegensatz zum Text "ein Kontinuum nicht-diskreter Zeichen, das erst durch die Projektion hypothetisch angenommener Signifikate auf das Bild als eine Menge diskreter Zeichen strukturiert wird: was Zeichen ist, entscheidet sich in Funktion der Bedeutung" (Titzmann 1990: 378). Dass der Faltenwurf eines Gewandes so oder so verläuft, dass das Gewand blau ist und nicht rot, kann etwas bezeichnen, kann aber auch ohne tiefere Bedeutung sein. Wie Walter A. Koch in seinen Varia Semiotica 1971 festhält, besteht die 'Grammatik' des Bildes nicht aus einem festen Inventar konstanter Elemente, die sich in einer bestimmten Syntax zu komplexen Gestalten zusammensetzen: "Nur über das Modell des Gesamtbildes, den Text", resümiert Winfried Nöth Koch, "kann der Rezipient erkennen, welche Details wichtiger oder weniger wichtig sind, was im Bild differenzierend (wie das Phonem), was minimal bedeutungstragend (wie das Morphem) und was ein gestalthafter Komplex (wie das Wort) ist." (1985: 414) 8 Im Falle unseres Beispiels der versteckten Tondateien lassen sich nun zwei Abweichungen von der herkömmlichen Situation festhalten. 1. Nicht nur die sekundäre Signifikation muss vom Rezipienten erstellt werden, auch die primäre Signifikation ergibt sich erst im Prozess der Rezeption, denn die dargestellte Situation liegt nicht von Anfang an vor. Aufgrund dieser Prozeduralität gibt das digitale Bild sein traditionelles Kennzeichen der synchronen Zustandshaftigkeit auf und nimmt narrative Züge an. Innerhalb dieser Vollendung der primären Signifikation ergibt sich auch erst die Text- Bild-Relation, wobei der Text hier als gesprochene Sprache auftritt. Die verbale Äußerung ist, als Tiefeninformation des Bildes, auf ganz neue Weise in die visuelle eingebettet und übernimmt deren Kennzeichen der zumindest virtuell gegebenen Simultaneität der Elemente. Hermeneutik der Tiefeninformation. Zur Psychologie des digitalen Bildes 135 Zugleich ist die verbale Äußerung in die Rezeptionshandlung eingebettet, in der sie erst zur wahrnehmbaren Äußerung wird. 2. Die Erscheinung des Bildes und der in ihm eingebetteten Texte erlolgt nach den Kodierungsmerkmalen bildlich-visueller Äußerungen. So wie bildlich-visuelle Elemente nicht per se aus diskreten Zeichen bestehen und erst auf der Grundlage von Hypothesen zu solchen werden, so sind auch all jene Zeichen, die hier als Tiefeninformation vorgeführt wurden, nicht-diskrete Zeichen. 9 Das betrifft z.B. die Entfaltungsrichtung der Teleskopsätze in Schreibers Epos der Maschine, das betrifft die Anzahl und Dauer der Loops in Hupperts Doppelbild oder die Anordnung der Mouse-Over-Events in Hupperts Bild-Ton-Collage. Die Interpretation des digitalen Bildes schließt die Verwandlung dieser nicht-diskreten Zeichen in diskrete aufgrund projizierter Hypothesen notwendig ein. Das erlordert die Entwicklung einer entsprechenden Hermeneutik der Tiefeninformation, die eine Hermeneutik der Interaktion, als dem eingeplanten, zumeist nur vage oder gar nicht kalkulierbaren Faktor der Zeichenkonstituierung, einschließen muss. Unter den Fragen, die eine solche Hermeneutik an die beiden besprochenen Werke zu stellen hat, ist z.B. die, inwiefern die Eingabe von 1 000 Loops im ersten Fall etwas bedeutet und inwiefern im Original des zweiten Beispiels die Setzung eines Navigations-Button im unteren rechten Bereich des Bildschirms intendiert, dass die User sich mit der Maus von dort auf das Mittelbild zu bewegen und zwangsläufig zuerst das Mouse-Over-Event des rechten Teilbildes auslösen. Was die 1 000 Loops betrifft, lässt sich vermuten, dass sie den Eindruck der Endlosigkeit erwecken sollen, da kaum jemand die 10 Minuten abwarten wird, bis das Wechselspiel der beiden Bilder stoppt. Andererseits setzte Huppert als Wert 1 000 Loops ein und nicht unendlich, was dazu führt, dass nach 10 Minuten eben doch jenes Ende eintritt. Wie die Reihenfolge von Sprachzeichen - "veni, vidi, vici" zugleich ein Ikon der Rangfolge sein kann (Nöth 1985: 118), kann ebenso die räumliche und zeitliche Anordnung von (lnter)Aktionsbefehlen eine zusätzliche Botschaft vermitteln. Auch wenn die Nachfrage in solchenFällen oft ergibt, dass sich hinter der Entscheidung kein Konzept versteckt,ja dass die Entscheidung selbst gar keine bewusste war, muss doch die Rationalitätsvermutung aufrecht erhalten und eine Bedeutung der vorgefundenen Aktionsbzw. Interaktionssyntax zunächst vermutet werden. So wie man bei Bildern nach der Signifikanz bestimmter Farb- und Formentscheidungen fragt und bei Texten nach der Signifikanz von Wahl und Stellung eines bestimmten Wortes, ist die Frage zu stellen, inwiefern eine Entscheidung auf der Programmierebene zugleich eine Aussage inhaltlicher Art bezweckt, inwiefern also der versteckte Text Bedeutung auf der sichtbaren Fläche des Bildschirms erhält. Anmerkungen Zur Visualisierung vgl. Mitchell 1994, Bolter 1996 und 1997 und Stephens 1998; für eine ausführliche Diskussion im Umfeld digitaler Literatur und Kunst vgl. Simanowski 2002. 2 Dass Leser im Angesicht des Spektakels die hermeneutische Arbeit vernachlässigen, lässt ein Leserkommentar zum Epos der Maschine vermuten: "alleine der umgang schrift und typographie! ich brauche gar nicht mehr zu lesen! wie sich woerter ineinanderschieben und kreisen und erscheinen und verschwinden und und und und und! " (vgl. webring bla2.de) Zu einer ausführlichen Besprechung des Epos der Maschine vgl. Simanowski 2000. 3 VgL Titzmann (1990: 383): "Durch Metapropositionen des Textteils [... ]können primäre Signifikate des Bildes als sekundäre Signifikanten funktionalisiert und ihnen sekundäre Signifikate zugeordnet werden: in der umgekehrten Richtung, von dem Bild auf den Text wirkend, ist dieser Prozeß nicht möglich." 136 Roberto Simanowski 4 Dieses und das folgende Bild befinden sich online unter: <http: / / www.dichtung-digital.de/ Forum-Kassel-Okt- OO/ Simanowski> (Abschnitt 2 und 3). 5 So Leslie Huppert in einer privaten Email am 11. 10. 2000. Die angesprochenen Beziehungsebenen drücken sich v.a. in den Texten der Audiodateien aus: "Komm schon mit", "Trink, Brüderchen, trink", "Nein, ich bin keine Kuh, aber heilig", "Warte auf dein nächstes Leben". 6 Der Layer wird in den Bildschirm hineingeschoben oder, wenn Anfangs- und Endzeit der Aktion fast identisch sind, sofort an der vorgesehenen Stelle platziert, was den Eindruck entstehen lässt, er sei aus dem Nichts bzw. der Bildschirmtiefe aufgetaucht. 7 Es ist anzumerken, dass im Rezeptionsprozess selbst kaum eine klare Trennung zwischen beiden Signifikationsarten bzw. zwischen Analyse und Interpretation vorliegt, sondern Wahrnehmung immer auch schon als Bedeutungszuschreibung erfolgt. 8 Anders ist es bei 'sprechenden Bildern' wie den Emblernatiken der Frühen Neuzeit, die durch ihre tradierten, z.T. in Büchern festgelegten ikonographischen Codes (z.B. Wolf und Lamm als Allegorie für Laster und Tugend) eher wie Texte lesbar sind. 9 Der Begriff diskret bezieht sich im oben benutzten Sinne auf die Bedeutungskodierung eines Elements. Auf der Betrachtungsebene der Speicher- und Präsentationsfonn handelt es sich bei den digitalen Medien freilich immer um diskrete Zeichen. Vgl. dazu Hans H. Hiebels Begriff der "sekundären Digitalität" (Hiebel 1997: 8). Literatur Arnheim, Rudolf 1979 (1932): Film als Kunst, Frankfurt/ Main: Fischer. Arnold, Heinz Ludwig & Roberto Sirnanowski (ed.) 2001: Digitale Literatur, Text und Kritik, Heft 152. Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/ Main: Suhrkamp. Bolter, Jay David 1997: "Die neue visuelle Kultur. Vom Hypertext zum Hyperfilm", in: Telepolis 2: 84-91. Bolter, Jay David 1996: "Ekphrasis, Virtual Reality, and the Future ofWriting", in: Nunberg (ed.) 1996: 253-272. 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