Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2001
243-4
(Un)Tiefen elektronischer Textarchive: Zu Status und Produktionsbedingungen digitaler Literatur
121
2001
Markus Krajewski
kod243-40143
KODIKAS / CODE Ars Semei otica Volume 24 (2001) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen (Un)Tiefen elektronischer Textarchive Zu Status und Produktionsbedingungen digitaler Literatur Markus Krajewski This article describes tbe metbod of production of Das Echolot by Walter Kempowski, a 'collective diary' which contains on more tban 3200 pages plenty ofletters, war reports, diaries, forces' post cards, etc. The particular feature of Das Echolot lies in its composition as a result set of a digital database to which all tbe texts have been added to before. The paper tben focuses on tbe interface between text and database, in order to retrieve this mode of composition as a general as well as fundamental property of digital literature. "Es ist wie bei den Filmemachern, sie wissen, daß die Form, der Schnitt das Wichtigste ist", bemerkt Walter Kempowski, 'Herr der Tagebücher', eifriger Sammler von Ritterburgen und akribischer Archivar des zweiten Weltkriegalltags. "Das Echolot wäre ungenießbar, wenn man alles nur so aneinanderreiht. Man muß eingreifen" (Hetzel 1995). Gemäß diesem Imperativ erscheint 1993 auf 3200 Seiten Kempowskis erstes Echolot, ein Versuch, anhand von Briefen, Tagebüchern, Feldpost, Wehrmachtsberichten, Pressemeldungen, Augenzeugenberichten das Reale des Zweiten Weltkriegs nicht in Form·des Films, der zu jener Zeit nur wenigen Auserwählten als Dokumentar- und Propaganda-Instrument zur Verfügung stand, sondern in Form eines sog. kollektiven Tagebuchs zu rekonstruieren. Das Echolot I sondiert die ersten acht Wochen des Jahres 1943, einen Zeitabschnitt also, in den so folgenreiche Wendungen wie beispielsweise die Entscheidung um Stalingrad fallen. Das Echolot sondiert, um diesen Moment zu vermessen mit der Gleichzeitigkeit und dem Nebeneinander der verschiedensten Stimmen, darunter bekannte wie etwa die von Leutnant Jünger oder Thomas Mann, vornehmlich jedoch mit der Kakophonie der unbekannten und vergessenen Zeitgenossen. Von einem Vorwort im ersten Band abgesehen enthält das gesamte Echolot-Projekt einschließlich der 1999 erschienenen Bände über vier Wochen zu Beginn des Jahres 1945 kein einziges selbst geschriebenes Wort des 'Autors'. Kempowski ist nichts als die Schnittstelle, d.h. der Mann am Regler. Sein Eingriff regelt die Auswahl aus dem Fundus der versammelten Archivalien, ordnet die Stimmen gemäß ihrer Chronologie und arrangiert sie zu einzelnen Tagen, die ihrer zeitlichen Abfolge entsprechend zusammengestellt werden. Das Resultat erscheint in aller Konventionalität als Buch in jeweils vier Bänden. "Wenn man Wind darstellen will, kann man das nur im Kornfeld, wo Millionen von Halmen hin und her gewiegt werden. Der einzelne Halm ist nicht genug" (Philipp 1999). Demzufolge beginnt Kempowski ungefähr ab 1980 systematisch Tagebücher, Leserbriefe von Augenzeugen, zeitgenössische Korrespondenzen sowie Photographien des zweiten Weltkriegs in seinem Haus bei Bremen anzuhäufen, um das Material in seiner Diversifizität nebeneinander bereitzuhalten. Inzwischen beläuft sich die Sammlung auf ca. 5.800 Registratur- 144 Markus Krajewski nummern für Texte neben ca. 300.000 Abbildungen als Photographien in Alben oder als unsortierte Konvolute bzw. Einzelbilder. So versammelt sich seit zwanzig Jahren im Haus Kreienhoop in einem Archiv über Tausende von Seiten hinweg das Kleinste, das im Moment noch wichtig erscheint, um einen real aufzeichnenden Blick auf die Nebensächlichkeiten des Zweiten Weltkriegs im Schatten der Großereignisse freizulegen. Aufgrund eines Aufrufs in großen deutschen Wochen- und Tageszeitungen in den 80er Jahren erreichten täglich bis zu einem dutzend Pakete das Echolot-Archiv, ein bis heute ununterbrochen andauernder Poststrom. Die eingehenden Dokumente werden nach dem bibliothekarisch bewährten Numeruscurrens-Verfahren registriert, d.h. in der Ordnung des Eintreffens aufgestellt und inhaltlich auf Karteikarten im Format DIN A6 erschlossen. Die Karten werden wiederum in Karteikästen alphabetisch sortiert und bilden damit gleichzeitig ein Schlagwortregister. Das in dieser Weise denkbar traditionell und nach herkömmlichen Grundsätzen der unelektronischen Archivwissenschaft versammelte Material wird jedoch anschließend entsprechend der Schlagworte selektiert, um sodann sowohl Manuskripte sorgfältig abschreiben als auch die gedruckten Texte mit einem OCR-Verfahren in digitale Formate überführen zu können. Daraufhin werden die Texte nach Tagen sortiert und in Dateien für die jeweiligen Tage abgelegt. Frage eines Interviewers: "Sie stoßen doch wohl immer noch auf neue Aufzeichnungen. [Kempowski: ] Wir haben das alles im Computer gespeichert. In acht Jahren, (lacht: ) wenn ich da noch lebe, wird das ganze Projekt abgeschlossen sein, und alles wird im Internet jederzeit mit entsprechenden Ergänzungen abrufbar sein die wiederum können aber nur über Nachträge erfolgen, sonst müßte alles neu collagiert werden, weil die Texte bereits sorgfältig aufeinander bezogen wurden. Massen-Bewegungen sind ja schwer zu collagieren. Es ist wie bei einem Zollstock, den man zu weit ausziehen kann. Wenn man dies und das noch unterbringen will, läuft die Sache Gefahr zu kippen. Der Sog muß aber erhalten bleiben. Dieser Sog hat mitunter den eigenartigen Effekt, als würde ein Individuum in viele Einzelteile zersplittern" (Philipp 1999). Erst unter Bedingungen eines digitalisierten Textarchivs beginnt das eigentliche Arrangement, die Auswahl und Zubereitung der Schnittstellen der einzelnen Texte, denen nun ein sie einender Faden eingewoben wird, damit sich Textfragment an Textfragment fügt. Kempowski und ein Mitarbeiter bilden nunmehr ein elektronisches Aufschreibesystem. "Wir haben da einen Simultancomputer, ich sitze links, er rechts, und wenn es ans Collagieren geht, dann sage ich ihm, wie ich das haben möchte." Mit dem Übergang von der unelektronischen in eine digitale Variante des Textfundus ereignet sich ein qualitativer Statuswechsel des Materials, der überhaupt erst die Handhabung des so weit verzweigten wie disparaten Materials ermöglicht. Es soll hier weniger um die möglicherweise dringenden Fragen und Problematiken des Arrangements, der Schnitt-Stelle, der geschliffenen Kante gehen, mit der sich die Textbausteine folgsam aneinander reihen. Dies sei einer literaturwissenschaftlichen Analyse des Echolots vorbehalten. Statt dessen sollen hier die Produktionskontexte in den Blick geraten, auf die ein so umfangreiches Buchstabeneinlese- und Textverschiebungs-Projekt wie das Echolot vertraut und angewiesen ist. Doch bleibt festzuhalten, dass erst der wohlgesetzte Schnitt, die Diskontinuität im Lesefluss, der Ausstieg aus einer vorgeformten Linie von diskreten Zeichen kaum zufällig an hypertextuelle Schriftformen erinnert, wobei die. vorgefertigte Verschaltbarkeit von unterschiedlichen Textfragmenten vielleicht sogar als das Charakteristikum des Hypertexts gelten kann. (Un)Tiefen elektronischer Textarchive 145 Eingriff in den Text? Vorgabe der Schnittstellen? Beziehungen knüpfen zwischen einzelnen Textstellen? Dies alles sind Phänomene, die dem hypertextgeschulten Leser und Schreiber keineswegs unbekannt sind. Ziel soll es hier nicht sein, das Echolot gleichsam als einen Hypertext apres 1a lettre zu entdecken, sondern es geht darum, die performativen Charakteristika herauszustellen, vor die ein Rezipient des Echolots ebenso gestellt ist wie ein surfender Leser. Eine strukturelle Ähnlichkeit beider Leseanforderungen konstatierend, das Echolot also gleichermaßen wie einen Hypertext betreffend, soll weiterhin gefragt werden, inwieweit das Echolot trotz seiner scheinbar konventionellen und unaufregenden Form als ein Text anzusehen ist, dem der Status digitale Literatur nahezu zwangsläufig zukommen muss. Die These lautet daher, dass diese hypertextuellen oder vielleicht allgemeiner digitalen Charakteristika auf bestimmte rechnergestützte Prädispositionen angewiesen sind, die konventionellen Texten abgehen - und zwar auch, wenn sich diese Texte bisweilen selbst als sog. Hyperfiktionen ausweisen, nur weil sie im Internet oder auf CD-ROM abrufbar warten. Daher gelte zunächst ein Blick der Frage, was denn nun digitale Literatur ist, wobei die Betonung bei diesem Terminus selbstredend auf 'dem Digital' liegt und nicht bei der unendlichen Frage verweilen darf, was Literatur sei. Der Vorschlag einer Antwort kann nur provisorisch sein. Er möge als heuristischer Versuch gelten, um vielleicht als Diskussionsvorschlag zu dienen. Sog. Netzliteratur, der Name sagt es bereits, ruht einem Netzwerk jenseits eines textuellen Gewebes auf. Digitale Literatur vertraut also auf ein Medium als Basis, das hochintegrierte Verknüpfungen von sich aus bereitstellt. Dieses Medium ist weniger das Format, in dem die Literatur späterhin erscheint, also Internet, Buch oder CD-ROM, sondern vielmehr die Ansammlung von Daten, aus der heraus der Text entsteht. Kurzum, digitale Literatur ist auf eine Datenbank als Prädisposition und Ausgangsform angewiesen, aus der heraus der Text abgerufen werden kann. Zu fragen ist also nach den zusammenfügenden oder auch entkoppelnden digitalen Prozessierungen, den Übertragungen und Speicherungen, die digitale Literatur konstituieren. Digitale Literatur ist also eine Textstruktur, deren Entstehung unabdingbar auf den Dreischritt von Speichern, Übertragen und Verarbeiten von Daten, hier also von Buchstaben- Mengen, in und mit digitalen Zuständen angewiesen ist. Dabei kommt es weniger darauf an, in welcher Form diese Literatur schlussendlich wieder vorliegt, d.h. in welcher Weise sie veröffentlicht wird; eine Publikation als Buch oder in digitaler Form ist schließlich nichts als ein Derivat, eine Kopie der Stammdaten, die Kopie also einer zuvor anderenorts fixierten, d.h. digital gespeicherten Ausgangsdatei. Entscheidend bleibt jedoch jenseits der Frage der Speicherung die Prozession und Übertragung von Daten, und zwar in und mit einer Form, die Kontingenz ermöglicht. Eine Datenbank liefert ein solches Modell, das Verknüpfungen aus sich heraus anbietet und damit im Gegensatz zu der viel gescholtenen linearen Poetologie eine Varietät und Auswahlmöglichkeit der eingelesenen Textfragmente produziert. Dabei ist es weniger entscheidend, ob die Daten als 'flatfiles' oder gar in differenzierter Form von relationalen Verknüpfungen organisiert sind. Entscheidend bleibt das Potential von Verschaltbarkeit, die vorgegebene Schnittstelle eines jeden Textbruchstücks, die unterschiedlichste Anschlussmöglichkeiten für nachfolgende Textabschnitte ebenso wie für Datenbankabfragen bereithält. Die digitale Datenbank ist die unabdingbare Organisationsstruktur, das flüchtige Durchgangsstadium für Buchstabenmengen, durch das sich die Literatur im Status der Digitalität konfiguriert. Diese Unterscheidung ließe sich nun anhand der einschlägigen Literatur-Projekte der vergangenen Monate kurz durchspielen. Ein Blick auf die Organisation etwa von <www.ampool.de> oder aber Thomas Hettches Null-Projekt zeigt, dass die Stimmen schon allein weil 146 Markus Krajewski es ihrer viele sind einen weitläufigen Datenraum konstituieren. Nun lässt sich gleich einwenden, dass damit mitnichten schon Literatur entsteht, wie sich an den oftmals banalen, manchmal kryptischen Einträgen im pool etwa zeigen ließe. Doch ebenso finden sich Textstellen, deren Erscheinen mit alten Maßstäben gemessen eine Anthologie zieren würde. Und manchmal ereignen sich an eben jenen Stellen auch gegenseitige Bezugnahmen: Jüngst etwa entwickelte sich beiläufig eine kollektive Kommentargeschichte zu Tom Tykwers Film Der Krieger und die Kaiserin. Um aus der Fülle der Einträge nunmehr gezielt die entsprechenden Stellen auszuwählen, bietet sich dem Rezipienten statt des Blättems oder Scrollens die String-Suchfunktion eines jeden Browsers, um unabhängig von gesetzten Hyperlinks unumständlich zu den relevanten Einträgen zu gelangen. Bei Hettches Null-Projekt verläuft der Zugriff graphisch gesteuert, der Lese-Effekt könnte jedoch der gleiche sein; wenngleich von gegenseitiger Verknüpfung eher selten Gebrauch gemacht worden ist. "Man freute sich, wenn man dem Geisterfahrer von Dagmar Leupold dann auch bei Judith Kuckart begegnete, insgesamt aber scherte sich keiner viel um das, was der andere schrieb mit Ausnahme der Diskussion um den Kosovo-Krieg, die von April bis Juli wirklich ein Netz an Meinungen sichtbar machte" (Simanowski 2000). Vermutlich verwundert es kaum noch, dass sich die Stimmen gleich Kempowskis Echolot ausgerechnet beim Krieg rückkoppeln. Und auch Rainald Goetz' Abfallfür alle käme das Prädikat digitale Literatur zu, unabhängig davon, dass das Resultat letztendlich in gewohnter Suhrkamp-Form erschien. Denn sein Ein-Autoren- Projekt, das Internet-Tagebuch über die Dauer eines Jahres, versammelt seinerseits disparate Textkorpora, deren Verknüpfungsleistung an den Leser delegiert wird und damit eine Datenbank gleichsam im Rohformat darstellt. Als eine nicht nur technische, sondern vielmehr beispielhafte Besonderheit bleibt das Projekt 23: 40 <http: / / www.dreiundzwanzigvierzig.de/ > zu erwähnen, das gekoppelt an die kontingente Zeit des Lesezugriffs, dem Rezipienten ein Sample aus dem Fundus der Datenbank liefert. Doch nicht zuletzt um die einleitenden Passagen dieses Textes zu rechtfertigen, steht das Echolot aufgrund seiner Prädisposition in kontingenten digitalen Datenansammlungen ganz vom auf der Liste der Texte, die man als digitale Literatur bezeichnen könnte. Eines der Lektüre-Ziele des Echolots besteht nämlich darin, "durch die Durchbrechung der Chronologie (in der parallelen Anhäufung zeitgleicher Dokumente) den Leser zum 'intellektuellen Zappen' zu animieren, ihn zu bewegen, im Lesen gedankliche Nebenwege zu legen, abzudriften, selbst vom Alltag des Kriegsgeschehens, Assoziationen zu ermöglichen, assoziatives Denken gar zu schulen" (Koch-Schwarzer 2000). Dieser Anspruch ähnelt kaum zufällig den einschlägigen Formulierungen zum Mehrwert des Hypertexts gegenüber herkömmlichen Textstrukturen. Warum, so bleibt schließlich zu fragen, unternimmt Kempowski dann noch den Versuch, einen Text zu schaffen, den es nach eigener Auskunft von vorne bis hinten durchzulesen gilt? Warum vollzieht der Herr der Tagebücher nicht den Verzicht auf das sorgfältige Arrangement, weil es der hypertextgeschulte Leser unter hochtechnischen Bedingungen und dem Paradigma der Interaktivität inzwischen ohnehin versteht, die Beziehungen selbst je nachdem weit oder eng zu knüpfen, seine eigene Autorität über dem Text immer wieder neu zu manifestieren und aus der vorgegebenen Ordnung einfach auszusteigen? Vielleicht bleibt dieses Festhalten einem letzten Anspruch, weniger als 'Arrangeur' denn als 'Autor' zu gelten, geschuldet. Immerhin erscheint das kollektive Tagebuch noch unter dem Namen einer Person und zumindest in den ersten beiden Teilausgaben auch noch in konventioneller Form eines Buchs. Es ist also nur konsequent zu fordern, dass für das Echolot in Buchform schon bald und fortan ein Korrelat im WWW bereit stehen wird. Und tatsächlich zeichnet sich eine rein (Un)Tiefen elektronischer Textarchive 147 elektronische Variante zumindest als Pilotprojekt ab. Eine Woche lang, vom 2. bis 8. Oktober 2000, hat Walter Kempowski E-Mails gesammelt, um diese gemäß der erprobten Echolot- Praxis zu einem kollektiven Tagebuch des zehnten Jahrestags der Deutschen Einheit zusammenzustellen (online unter <www.zdf.de>). Als bemerkenswert bleibt indes hinzuzufügen, dass abgesehen von 23: 40, in dessen Zentrum tatsächlich ein schlichter Algorithmus mit einer Datenbank arbeitet, offenbar keines der erwähnten expliziten Netzliteratur-Projekte früher oder später auf eine Druckfassung für die Gutenberg-Galaxis verzichtet hat, vermutlich nicht zuletzt aus verlags- und vermarktungsrelevanten Erwägungen. Doch eine Unterscheidung digitale/ nichtdigitale Literatur nützt in diesem Falle nur, wenn sie auch Ausschlüsse produziert. Das bisweilen selbst erteilte Attribut 'digital' wäre demnach einer Literatur auch abzusprechen, beispielsweise der angeblich ersten deutschen Hyperfiktion, Die Quotenmaschine von Norman Ohler aus dem Jahre 1995. Dieser Text entstand in denkbarer Linearität und lag bereits vollständig als abgeschlossenes Typoskript vor, bevor Ohler die Textfassung wieder zerstückelte, in kleinere Häppchen aufteilte, in das HTML- Format konvertierte und lange vor der Publikation der konventionellen aber ursprünglicheren Druckfassung effektvoll als Hyperfiktion bzw. Netzroman inszenierte. Das Label digitale Literatur greift hier nicht, weil der Text sich gerade nicht aus heterogensten Fragmenten, aus in loser Kopplung miteinander verschalteten Elementen einer digitalen Datenbank/ Datenansammlung fügt. Vielmehr wurde er aus seiner festen Fügung wiederum gelöst und 'künstlich' fragmentiert, um den vermeintlichen Anforderungen des Netzes gemäß zu erscheinen. Zur weiteren Abgrenzung muss schließlich noch ein Wort zum Wortprozessor namens Textverarbeitung fallen. Der Computer offeriert in einer seiner einfachsten Anwendungen die Simulation einer Schreibmaschine, die in Form sog. Textverarbeitungen zwar bisweilen so schöne Ergebnisse zeitigen wie etwa Gedichte von Durs Grünbein (der hier nur genannt ist, weil von den Gedichten bekannt ist, dass sie mit dem Laptop entstehen). Aber sofern die Textverarbeitungen zu nichts weiterem dienen, als Text in einer ersten linearen Reihung aufzunehmen und digital zu speichern sowie wenn man Mausklick-Manipulationen von Text bereits als eine Form der Verarbeitung betrachten möchte den eingegebenen Text innerhalb seiner Grenzen noch zu verschieben erlaubt, so lange lässt sich dieser Vorgang schwerlich als Arbeit an digitaler Literatur begreifen. Denn es fehlt in diesem Fall die digitale Übertragung, der Transfer von einem Format zum anderen, von einem Textbaustein zum nächsten, die Auswahl und Verschiebung einer Systemstelle aus der Datenbank in ein neues Gefüge, nämlich den zu schreibenden Hypertext, eine Übertragung also, die weit über die Copy&Paste-Funktion hinausgeht. Erst die Vielfalt der Anschlüsse, die Mannigfaltigkeit der vorgegebenen Schnittstellen wie sie eine Datenbank produziert, ermöglicht wiederum hochgradig nichtlineare Textgewebe. Der oftmals genannte Vorwurf an die sog. Netzliteratur, die Linearität des Textes nicht oder zu wenig zu durchbrechen, betrifft also viel weniger das letztendliche Textresulat in Buch- oder Netzform, als viel mehr das Medium seiner Entstehung. Es lohnt also vielleicht die Frage nach der Herkunft des Textes aufzuwerfen, die Frage, ob er einer beschränkten Textverarbeitung (Schreibmaschine) entstammt oder einer lose gekoppelten, gleichwohl hochintegrierten, weil verknüpfenden Datenbank. Ein digitaler literarischer Text, so lautet der Diskussionsvorschlag, ist bei seiner Produktion unabdingbar auf die Dreieinigkeit der computertechnischen Grundoperationen Speichern, Übertragen und Verarbeiten angewiesen. Digitale Literatur zeichnet also weniger das Format oder Medium aus, in dem sie schließlich erscheint, als denn die Form ihrer Entstehung. Das Plädoyer gilt dem Charakteristikum der digitalen Datenbank, dem elektronischen Textarchiv, 148 Markus Krajewski also mithin einer Software, die jenseits von üblichen sogenannten Textverarbeitungen den Argumenten, Formulierungen und heterogenen Textbausteinen Anschlüsse liefert, einer Datenbank also, die darüber hinaus bisweilen selbst Verk: nüpfungen zu schaffen in der Lage ist, um somit dazu beizutragen, der Linearperspektive der Texte entgegen zu stehen. Literatur Koch-Schwarzer, Leonie 2000: " ... vom täglichen Schreiben. Exkursion nach Nartum und Cloppenburg", in: VOKUS, Nr. 1, <http: / / www.uni-hamburg.de/ Wiss/ FB/ 09NolkskuiffexteNokus/ 2000-l/ excursl.html> Hetzel, Peter M. 1995: ''Der Schrifsteller als Komponist", in: Die Welt vom 17.5.1995. Manovich, Lev 1998: "Database as Symbolic Form", <http: / / www.nettime.org/ Lists-Archives/ nettime-I-9812/ msg00041.html> Philipp, Claus 1999: "'Wenn man Wind darstellen will ... ' Katastrophe und Eigensinn. Ein gigantisches Ausnahmeprojekt als literarische, historische Herausforderung", in: Der Standard, 18./ 19. Dezember, S. A2. Simanowski, Roberto 2000: "Poeten-Pinnwand digital. NULL. Thomas Hettches Netz-Projekt als Buch", <http: / / www.dichtung-digital.de/ 2000/ Simanowksi/ 30-Sep/ index.htm>