Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2001
243-4
Ein neues Literaturmilieu
121
2001
Beat Suter
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Ein neues Literaturmilieu KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen [zwischen Transfugalität und 'Event-ualität'] Beat Suter Internet and computing technology create a new environment for a literature which has slowly (and involuntarily) established itself outside of the literary world. The newly created social space of 'hyperfictions' stands out for its high concentration of experiments, hybrid forms, strive for interactivity, and 'event-uality'. The most compelling features of this new culture and literary environment ought to be described with the terms 'transversality' and 'transfugality' which will be layed out in this article. A look into textuality finds that hyperfiction rather qualifies for a complete new way of reading than a new type of text. This performative reading dramatically alters the roles of author and reader. Einleitung Dass ein Medium ein neues Genre erzeugt, ist nichts Ungewöhnliches, eher schon eine Begleiterscheinung der medialen Auseinandersetzung. Dies lässt sich in der Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts immer wieder beobachten: Das Radio erzeugte das Hörspiel, das Kino den Spielfilm, den Experimentalfilm, den Dokumentarfilm und das Fernsehen beispielsweise die Serien, die Krimis und den Fernsehfilm. Wenige dieser Genres haben auf Anhieb eingeschlagen und sofort ihr Publikum gefunden. Der Spielfilm brauchte dazu Jahrzehnte, das Hörspiel hat auch heute nur eine kleine Fangemeinde und selbst diverse Fernsehgenres haben sich erst nach Jahren wirklich durchsetzen können. Neue Formen haben es grundsätzlich nicht leicht in einer gewohnheitsorientierten Kultur- und Medienwelt. Meist ist nur ein kleiner Teil des potentiellen Publikums bereit, sich dem Neuen wirklich vorurteilslos zu öffnen. Wer sich noch nicht an ein neues Medium gewöhnt hat, der reagiert zumeist selbst wenn er keine große Skepsis hegt dem Neuen gegenüber zuerst einmal mit viel Ratlosigkeit und einem unsicheren Gespür der Einschätzung. Die Geschichte einiger Genres wie die des Films und des Hörspiels zeigt dies sehr deutlich: So die öffentliche Vorführung eines der ersten Filme durch die Gebrüder Lumiere 1895 in Lyon. Der Film hieß Vue No. 653: Arrivee d'un train a la Ciotat und brachte einige Zuschauer dazu, in Panik vor dem auf sie zufahrenden Zug aus dem Kinosaal zu flüchten. Die Realität und ihre Abbildung in einem neuen Medium konnten im ersten Augenblick nicht auseinander gehalten werden. Deutlicher noch trat die Unsicherheit des unerfahrenen Publikums beim berühmten Hörspiel von Orson Wells zu Tage, das 1938 uraufgeführt wurde. Die Adaption von H. G. Wells Roman War ofthe Worlds hatte die im Roman geschilderten Angriffe der Marsmenschen mit riesigen Robotermaschinen (The Coming of the Martians) zu einem Hörspiel verarbeitet, das Nachrichten-Beiträge und Live-Berichte von Angriffen in New Jersey simulierte und vor dem Hintergund einer weltpolitisch sehr unsicheren Situation zahlreiche Menschen in New York in Panik versetzte. 170 BeatSuter Avantgarde und Entvertikalisierung Eine Frage, die sich viele Literaturwissenschafter sehr bald stellen, wenn sie auf ein neues Phänomen wie Hyperfiction stoßen, ist jene nach Qualität und Originalität im Vergleich zu bereits kanonisierten Texten und Genres. Doch ob nun die Verfasser von Hyperfiktionen die Avantgarde der Literatur von morgen sind, die nach Erweiterungsmöglichkeiten literarischer Gestaltungs- und Ausdrucksformen mit neuen Mitteln sucht, oder ob sie die Arrieregarde der Literatur von gestern darstellen (Schmundt 1996: 49), die bekannte und bewährte Sprach- und Textspiele epigonal im neuen Medium reproduziert, erscheint vorerst nicht wichtig zur Einschätzung des Phänomens. Oder wie Johannes Auer beziehungsweise sein Künstler-Alter- Ego Frieder Rusmann es mit einer limitierten Ausgabe seiner art wear in Form eines T-Shirts ausdrückt, das die Käufer zu Kunstprodukten macht: "Avantgarde is wurscht! " (Rusmann 1999) ; <; .•: -~, .,.,. r: << 11ho thet fuck is rusmenn? .... ~r.t.! mitlf! l [fig. 1: Avantgarde is ... schön wurscht! ] Die Frage nach Avant- und Arrieregarde ist sogar sehr problematisch, denn k: ultursoziologisch betrachtet zerfällt die Gegenwartskultur in viele unterschiedliche Kulturmilieus, die sich nicht mehr hierarchisch aufeinander beziehen, sondern sich nebeneinander entwickeln. Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt dies mit dem Begriff der 'Entvertikalisierung der Alltags- Ein neues Literaturmilieu 171 ästhetik' (Schulze 1993: 166ff.). Anschaulich ist das besonders im Bereich der Musik, wo sich in den letzten 20 Jahren Dutzende von sehr soliden Szenen in verschiedensten Musikrichtungen herausgebildet haben, die nebeneinander weiter existieren. Aber mittlerweile hat diese "kulturelle Segmentierung" (Schulze 1993: 171f.) auch andere Kunstbereiche erfasst. So können heute Kunstprodukte nicht mehr unbedingt im Verhältnis zu anderen Kunstprodukten - .beispielsweise nach dem Kriterium neu/ alt beurteilt werden, sondern nach der ihnen eigenen Ästhetik. Michael Böhler, Mitherausgeber des Buches Hyperfiction: Hyperliterarisches Lesebuch (Suter/ Böhler 1999) folgerte aus diesem Umstand, "dass eine neue avantgardistische Kunstpraxis nicht mehr notwendigerweise in ein bestehendes Kulturmilieu integriert wird als deren 'Neues', sondern dass sie ein neues Kulturmilieu bildet." Träfe dies tatsächlich zu, so Böhler weiter, "wäre Internetliteratur als Literaturpraxis und Kulturmilieu sui generis zu betrachten und nicht als Fortschreibung eines Alten mit neuen Mitteln." (Suter/ Böhler 1999: 8f.) Die Eigenschaften der neuen Literatur Internetliteratur als neues Kulturmileu? Kann man das so formulieren? Trotz der Unsicherheit bei der Einschätzung des Phänomens lässt sich feststellen, dass in den letzten Jahren ein neues Milieu für Literatur entstanden ist, das sich (nicht ganz freiwillig) außerhalb der etablierten literarischen Welt angesiedelt hat und seine eigenen Entwicklungswege geht. Autoren und Künstler haben sich im Netz einen neuen sozialen Raum geschaff(? n. Ihre Produkte, die man als Hyperfictions, Cyberfictions, Web: fictions, Netzliteratur oder Welttexte bezeichnet, zeichnen sich aus durch ein hohes Maß an Experimentalität, durch künstlerischen Gestaltungswillen, der mehr als nur tradierte Formen transportieren will, durch Hybridität, die neue Formen entstehen lässt, durch narrative Eigenräumlichkeit, durch Nichtendgültigkeit, durch Streben nach Interaktivität und durch 'Event-ualität'. Der Begriff der 'Event-ualität' ist vielleicht etwas irritierend, doch er versucht einen Aspekt zu fassen, der beinahe alle Sparten und Segmente der Kultur sowie sämtliche Szenen durchdringt. 'Event-ualität' heisst Kunst mit Ereignischarakter, Geschwindigkeit, Rastlosigkeit, Punktualität, dauerndes Weitergehen, Aufmerksamkeit, Bühne, Performanz, Spiel. Obwohl die meisten Hyperfictions über mehrere dieser Aspekte verfügen, lassen sich die einzelnen Merkmale doch besonders gut anhand bestimmter Hyperfictions zeigen, die einzelne Eigenschaften besonders markant herausgearbeitet haben. So zeichnen sich die spielerischen Textetango rgb und noise 99 von Oliver Gassner (Gassner 2003) sowie die der Konkreten Poesie nahestehenden 'Poem Art' -Projekte von Johannes Auer in kill the poem (Auer/ Döhl 2000) durch ein besonders hohes Maß. an Experimentalität aus. Den künstlerischen Gestaltungswillen, der mehr als nur tradierte Formen transportieren will, findet man beispielsweise in den Projekten von Olia Lialina wie My Boyfriend Came Back From the War (Lialina 1996) und Heavenfrom Hell (Lialina 1998), sie haben vor allem in der Netzkunst- Szene Bekanntheit erlangt. Ein gutes Beispiel für Hybridität, die neue Formen entstehen lässt, liefert die Aaleskorte der Ölig von Frank Klötgen und Dirk Günther (Klötgen 2003), die den Leser zum Regisseur eines Films macht, der sich bei der Präsentation wandelt. Durch die Erschließung eigener narrativer Räume mittels Umsetzung neuer, einfacher Formen beeindruckt vor allem die Hyperfiction Hilfe! Ein Hypertext aus vier Kehlen von Susanne Berkenheger (Berkenheger 2000), die gleichermaßen auf Chat und Theater aufbaut. 172 BeatSuter [fig. 2: Hilfe! Die Fensterchen reden ... ] Dem Aspekt der Nichtendgültigkeit nehmen sich beispielsweise die lyrischen Projekte von Robert Kendall an (Kendall 1996), in einem weniger großen Maße aber auch die bekannten Storyspace-Hyperfictions Afternoon, a story von Michael Joyce (Joyce 1991) und Victory Garden von Stuart Moulthrop (Moulthrop 1991). Das Streben nach Interaktivität lässt sich in vielen Projekten sehr deutlich wahrnehmen, unter anderem in 23: 40 das kollektive Gedächtnis von Guido Grigat (Grigat 1999), an der Rapmaschine Looppool von Bastian Böttcher (Böttcher 1998), im kollaborativen Projekt gvoon von Heiko ldensen (ldensen 1996) sowie in .diversen Mitschreibeprojekten. Den beschriebenen Aspekt der 'Event-ualität' schließlich findet man in Projekten wie der Aaleskorte der Ölig (Klötgen 2003) oder im populären Assoziationsblaster (Freude/ Espenschied 1999) von Alvar Freude und Dragan Espenschied, der eine neuartige Kombination von Zufall, Wahrscheinlichkeit und Ereignis mit Partizipation darstellt. Transversal Die hervorstechenden Merkmale dieses neuen Kultur- und Literaturmilieus können aber wohl am einprägsamsten mit den beiden Begriffen des 'Transversalen' und des 'Transfugalen' umschrieben werden (Suter/ Böhler 1999: lOf.). Ein neues Literaturmilieu 173 Als 'transversal' hat Wolfgang Welsch in seiner Philosophie der zeitgenössischen Vernunftkritik allgemeine Denk- und Gestaltungsformen der Gegenwartsgesellschaft bezeichnet. "Pluralitätsbewusstsein und Übergangsfähigkeit" (Welsch 1996: 774) stehen dabei im Mittelpunkt. Schreiben und Denken im Netz, beziehungsweise im World Wide Web sind als solche praktische Vollzüge transversaler Vernunft, die im Kontext von Internetliteratur dank der möglich werdenden Überkreuzungen und Verflechtungen durch Hypertext, Multimedia, interaktive Kommunikation und Datentransfer strukturbildenden Charakter haben. Immer aber steht dabei das Streben nach neuen adäquaten Formen im Vordergrund. Schreiben und Denken im Netz sind, das stellt beispielsweise auch Mike Sandbothe fest, nicht zu trennen von der kreativen und ästhetischen Gestaltung der einzelnen Projekte. Schreiben und Denken im Netz heißt kreatives Installieren von Hyperlinks, ästhetisches Gestalten des Designs von Webseiten, geschickter und einfallsreicher Umgang mit Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop und multifunktionalen Editoren wie Go Live oder Dreamweaver beziehungsweise geschicktes Programmieren mit HTML, DHTML, XML, JavaScript, Applets, Flash, ASP, SQL etc. Der Künstler muss sein Spektrum erweitern und sich gewisse Progammierer- und Gestalterqualitäten erarbeiten. "Das alles sind praktische, d.h. künstlerisch-handwerkliche Vollzüge, durch die der Schreibende aus der Position eines reinen Beobachters herausgerissen und in konkrete Handlungszusammenhänge eingebunden wird" (Sandbothe 1997: 82). Die auffallende Bereitschaft, die neuen Denkformen der Verflechtung, Verkreuzung und Vernetzung unterschiedlicher Codes zu erproben, die Welsch in der Sphäre der Kunst in sogenannten Hybridformen entdeckt, lässt sich in der praktischen Arbeit an Hypertexten und Multimedia beobachten und ohne Einschränkung auch auf das neue literarische Genre der Hyperfictions übertragen. "Manche künstlerischen Gestaltungen lassen sich als Darstellungsexperimente von Pluralität und Transversalität auffassen. Dies gilt insbesondere für Hybridformen, wie sie in der gegenwärtigen Kunst und Architektur in den Vordergrund treten" (Welsch 1996: 776). Die sogenannte 'Doppelcodierung', Komplexität (und Widerspruch) sowie Hybridbildung, wie sie sich vor allem die postmoderne Architektur zu erschließen mühte (Vgl. Venturi 1978), war den Hyperfiktionen dank des integralen Nutzens der Computer- und Netzwerktechnik von Beginn an inhärent. Grenzüberschreitungen und fließende Übergänge sind dabei automatisch Bestandteil der kreativen Prozesse geworden. Welsch stellt fest: Mit den "Denkformen des Gewebes" wird statt der "alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse" die sogenannte "Übergängigkeit zwischen den Codes zur Elementarverfassung der Gestaltung und zur Bedingung ihrer Rezeption" (Welsch 1996: 776). Das Transfugale Der Begriff des 'Transfugalen' (Vgl. Suter/ Böhler 1999: lOf.) dagegen umschreibt den Tatbestand der transitorischen Flüchtigkeit, der die neue Literaturform gleich in mehrfacher Hinsicht bestimmt. Zentral ist dabei die durch die Internet-Technologie eröffnete Möglichkeit des Transfers jeglicher Art von Daten und Objekten zu jeder Zeit überallhin. Die transitorische Flüchtigkeit lässt sich grob in drei Aspekte einteilen: 174 BeatSuter 1. Jeder Autor ist sein eigener Herausgeber. 2. Die relative Flüchtigkeit des materialen Datenträgers, bzw. der binären Datenspeicherung auf unterschiedlichsten, schnell veraltenden Datenträgern. 3. Unbegrenzte Eingriffsmöglichkeit über die Funktionen 'Speichern' und 'Löschen' sowie anderer Manipulationen. Unbegrenzter Datentransfer überallhin. Im Grunde genommen brauchen diese drei Aspekte keine weiteren Erläuterungen. Im Umgang mit Computer und Netzwerken sind sie uns selbstverständlich geworden; doch gerade deswegen vergessen wir meist auch, wie grundlegend sie für die neuen Phänomene wirklich sind. Aspekt 1 weist darauf hin, dass Hyperfiktionen Texte sind, welche die traditionellen Produktionsschritte für Literatur zu überspringen vermögen. Alle vermittelnden Instanzen von Lektorat, Produktion, Marketing, Handel und Verkauf, die für 'Papierliteratur' unerlässlich sind, können ausgeschaltet werden. Der Autor wird damit zum Herausgeber, der alle vermittelnden Instanzen selbst übernehmen muss oder sich dafür entscheiden kann, zu Gunsten einer schnellen Veröffentlichung im Netz verschiedene der Produktionsschritte zu überspringen. Aspekt 2 weist darauf hin, dass auf der Ebene des materialen Datenträgers die elektronische Basis der Texte in Form binärer Datenspeicherung und die generell kontrollierte Unkontrollierbarkeit des Mediums Internet sowie die rasante Geschwindigkeit der Datenüber-. mittlung zur Folge haben, dass die einzelnen elektronischen Texte und Werke ebenfalls einen sehr flüchtigen Charakter annehmen. Diese transitorische Flüchtigkeit übt einen nachhaltigen Einfluss auf die neue Literaturform aus. Beweise dafür, dass einzelne ältere Datenträger zerfallen, häufen sich mittlerweile - und dies nicht nur bei audiovisuellen Dokumenten auf Film und Tonband. Chemische Prozesse lassen Filme schrumpfen und ausbleichen, Schallplatten werden spröde und splittern, Magnetbänder entmagnetisieren sich trotz sorgfiiltigster La,gerung, Disketten ebenfalls und bei CDs ist man sich nicht sicher, wieviele Jahre sie wirklich hinhalten. Hinzu kommt selbstverständlich, dass Spulen, Kassetten, Disketten und Festplatten ihren Inhalt nur dann preisgeben, solange noch Lesegeräte und Leseprogramme dafür vorhanden sind. Ein Beispiel: Die N asa stellte fest, dass über 20 Prozent der Informationen, welche die Marssonde Viking auf ihrer Reise durchs Sonnensystem 1976 gesammelt hatte, nicht mehr gelesen werden können. Darunter sind zahlreiche Satellitenaufnahmen von Brasiliens Amazonasbecken aus den 70er Jahren, die man heute für verschiedene Forschungsgebiete äußerst gerne auswerten würde. Jene Aufnahmen sind aber auf Bändern gefangen, die der Markt längst vergessen hat. 25 Jahre später gibt es keine Lesegeräte mehr für die Bänder. Die Nasa hat bis anhin keine Mittel gefunden, die Daten wieder zugänglich zu machen. Aspekt 3 beschreibt die veränderten Manipulationsmöglichkeiten der Daten, die einem Projekt (Text) zugrunde liegen: 'Speichern' und 'Löschen' bestimmen über Verfügbarkeit oder Verlust, über Präsenz oder Absenz der elektronisch gesicherten Daten, die den Text der elektronischen Werke konstituieren. So sind viele der Texte, welche die ersten Gehversuche der Hyperfictions repräsentierten, schon jetzt wieder von den Server-Computern gelöscht, mithin aus dem Raum der Internetliteratur verschwunden und einer weiteren Rezeption unwiderruflich entzogen. Ein Beispiel dafür lieferten die Wettbewerbsbeiträge der ZEIT- und Pegasus-Wettbewerbe von 1996 bis 1998, die Anfang des Jahres 2000 von einem der Sponsoren vom Server gelöscht wurden; ein Akt, der die ganze Netzliteraturgemeinde verärgerte. Erst eineinhalb Jahre später, nach zahlreichen Protesten und einer längeren internen Suche Ein neues Literaturmilieu 175 nach dem Backup-Band, konnte das wertvolle Archiv (Sadigh 2001) wieder aufgeschaltet werden. Allerdings sind zahlreiche Links zu Beiträgen von 1998, die auf eigenen Homepages publiziert waren, nicht mehr aktiv und diese Beiträge heute schwer oder teilweise gar nicht mehr auffindbar. Die bereits getilgten Texte hinterlassen zwar im Netz meist Spuren, doch eine komplette Regenerierung erweist sich wenn die Texte nicht auf einem sicheren separaten Datenträger gespeichert wurden oft als nicht mehr möglich. Dies mussten auch Doris Köhler. und Rolf Krause erfahren, deren beispielhaftes Projekt Interstory bei einem Systemwechsel im Rechenzentrum der Universität Hamburg 1998 aus Versehen vollständig gelöscht wurde und unwiderruflich verloren ist (Vgl. Köhler/ Krause 1995/ 1996). Diese drei Aspekte verdeutlichen, dass der Internetliteratur der prekäre Status des Flüchtigen eingeschrieben ist: eine stete Fluchtbewegung durch das Medium Internet hindurch, das sie gleichsam nur temporär passieren; im Sinne von Deleuze ließe sich auch von einem andauernden Prozess der 'Deterritorialisierung', der temporären 'Reterritorialisierung' und erneuten 'Deterritorialisierung' sprechen (Vgl. Deleuze/ Pamet 1980: 45/ 52ff.). Dieser Prozess verdeutlicht sich beispielsweise in der kollaborativen Schreibumgebung nie-las von Rene Bauerund Joachim Maier (Vgl. Bauer/ Maier 1998 - 2001 ). Anders als in allen kollaborativen Netzliteratur-Projekten und anders als in vielen kollaborativen Schreibumgebungen ist in nielas das Heraufladen, Löschen, Verändern und Manipulieren von eigenen und fremden Daten in Form von Text, Bild, Film etc. für jeden Teilnehmer und Besucher möglich. Die Dokumen- . te können in eine bestehende Struktur eingeordnet werden, welche ebenfalls verändert oder neu aufgebaut werden kann. Nie-las ist ein funktional stark erweiterter kollektiver digitaler Zettelkasten, der verschiedenen Teilnehmern dazu dient, gleichzeitig an verschiedenen Objekten zu arbeiten, miteinander zu kommunizieren und an den Dokumenten zusammen weiterarbeiten zu können. Nie-las ist "offen konzipiert und ermöglicht eine Anpassung der Strukturen an die jeweiligen Bedürfnisse" (Bauer/ Maier 1998-2001). Weiter thematisiert diese kreative Schreibumgebung auch das Manipulieren, Speichern und Löschen ganz explizit, indem einzelne von den Teilnehmern gelöschte oder modifizierte Daten und Objekte auf einmal aus einem sogenannten 'Deleuze'schen Unbewussten' (verschiedene gelöschte, modifizierte und aktuelle Dokumente werden angezeigt) oder einem 'Freud' sehen Unbewussten' (nur Gelöschtes wird an die Oberfläche getragen) wieder auftauchen können. Der in diesem Abschnitt beschriebene Aspekt der 'Durch-Flucht' zeigt, dass nicht nur auf der materialen Ebene des Mediums das Konstitutionsmoment des Transfugalen gilt; es bestimmt auch die Modalitäten des Umgangs, der Produktion und der Rezeption, ebenso wie der Textstruktur. Performatives Lesen Doch schließlich ist Hyperfiction weniger eine neue Textsorte als eine neue Lektüreweise: Wichtiges Merkmal von Hyperfictions bzw. des neuen Literaturmilieus ist das peiformative Lesen. Der Leser wird vom Autor ins Stück miteinbezogen und kann eine mehr oder weniger aktive Rolle annehmen. Auf dem Theater ist dieser Umstand nichts Neues, in einer Literaturinszenierung auch nicht, in der direkten Beziehung zwischen Text und Leser aber schon eher. Denn die Beteiligung des Lesers an einem Text spielt sich normalerweise im eigenen Kopf ab. Man liest und imaginiert das Gelesene und knüpft dabei die Fäden im eigenen Kopf zusammen. Der Hyperfiction-Leser dagegen muss seine Rolle wahrnehmen und sei dies auc~ nur über die Entscheidung, einen Link anzuwählen und den andern sein zu lassen denn wenn er nichts tut, entwickelt sich auch keine Story. 176 BeatSuter Das heißt aber, dass der Prozess des Imaginierens in Hyperfictions externalisiert wird. Es entsteht ein virtueller Raum, in dem der Leser mehr oder weniger eingeschränkt je nach Hyperfiction entscheiden und handeln, ja manchmal sogar konkret mitschreiben kann. Der Leser wird also zu einem Mit-Arbeiter am Text. Zwar ist auch das Lesen und Interpretieren eines Buchromans immer ein nicht zu unterschätzendes Stück Arbeit und Mitarbeitdies soll überhaupt nicht in Abrede gestellt werden-, das Neue an vielen Hyperfictions ist jedoch die Möglichkeit, diese Mit-Arbeit ganz konkret in einem eigens dafür konstruierten bzw. fingierten Raum leisten zu können. In diesem virtuellen Raum kann sich der Leser mittels Navigationshilfen bewegen. Das heißt, der Benutzer bewegt sich in diesem Raum, wie wenn er ein Schiff übers Meer steuert. Dabei ist das Virtuelle entgegen dem Realen ein Imaginäres, ein erzeugbares Mögliches. Mit der Übersetzung des elektronischen Innenlebens eines Computers in Text und Bild über ein Interface wurde Computer-Virtualität überhaupt geboren. Dabei geht es um die technisch oder narrativ erzeugte Vision eines Raumes, jedoch nicht um die eigentlichen Datenräume, sondern um einen künstlichen Raum, "den unser Gehirn aus den sinnlich ermittelten Daten erstellt, über den sich unser Bewusstsein sozusagen 'erhebt' und an den wir als einen wirklichen gerne glauben möchten" (Krapp/ Wägenbauer 1997: 7f.). Einen solchen virtuellen Raum stellt man sich am besten als dreidimensionales Spielfeld oder eben als Meer vor, auf welchem man sich mehr oder weniger gut je nach technischer Implementierung mittels einer Steuerung (z.B. der Navigation eines Schiffes) bewegen kann. Dabei gibt es zur Steuerung zahlreiche Zwischenstufen von der einfachen Richtungswahl per Pfeil bis zum Ganzkörper-VR-Anzug, der einen Beteiligten vollkommen in eine neue Realität integriert. Die komplexen virtuellen Welten werden so für den Benutzer zu einer immersiven Welt, einer zweiten Realität, in der er soziale Entscheidungen fällen und Handlungen vollziehen kann. Literatur Auer, Johannes & Reinhard Döhl, 2000: "kill the poem'' (=Edition Cyberfiction 2), Zürich: Update Verlag. Bauer, Rene & Joachim Maier, 1998-2001: "Nie-las", Nie-las. <http: / / www.nic-las.com> (29.08.2001). Berkenheger, Susanne 2000: Hilfe! Ein Hypertext aus vier Kehlen (Edition Cyberfiction 1), Zürich: Update Verlag. Böttcher, Bastian 1998: Looppoolein Hyperpoetry-Clip, <http: / / www.looppool.de> (29.08.2001). Deleuze, Gilles & Claire Pamet, Espenschied, 1980: Dialoge, Frankfurt a. Main: Suhrkamp. 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