eJournals Kodikas/Code 24/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2001
243-4

KI-Forschung und Ästhetik digitaler Literatur: Zur Diskussion des Künstlichen

121
2001
Gesine Leonore Schiewer
kod243-40179
KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen KI-Forschung und Ästhetik digitaler Literatur: Zur Diskussion des Künstlichen Gesine Lenore Schiewer The artificial and the interactive are the topics discussed in this article. Following Espen Aarseths description ofinteractivity and his definition of 'ergodic literature' Herbert A. Simon' s term of the artificial is related to complexity and discussed under a new perspective. On this basis an aesthetics of digital literature is anticipated. The leading question should be, if the new multiple possibilities of reading and perceiving still enable the reader to develop new and appropriate insights. Besides a playful and interactive approach towards literature he or she should gain an awareness aboutthe control and limitation which is inherent in digital literature at the same time. Einer der Pioniere interaktiver Computerkunst 1, Myron W. Krueger, sieht Aufgabe und Relevanz zeitgenössischer Kunst darin, mit der neuen Technik nicht traditionelle Kunstwerke zu schaffen, sondern der Einzigartigkeit der durch den Computer eröffneten Möglichkeiten gerecht zu werden die Frage, warum es zuwenig Dichtung im Netz gibt, die ihrem Medium entspricht, ist noch jüngst gestellt worden. 2 Dieser Ansatzpunkt war für Krueger grundlegend für die Hervorhebung der ästhetischen Bedeutung von Interaktivität, die er umreißt im Rückblick auf seine ersten Überlegungen in den späten sechziger Jahren: "Ein von einem Computer kontrolliertes Kunstwerk würde seinen Betrachter wahrnehmen und in Echtzeit auf sein Verhalten reagieren können. Reaktion war das Medium! " 3 Kruegers Auslotung solcher Installationen im Bereich der darstellenden Kunst .hatte zum Ziel, völlig neue Formen von ästhetischer Erfahrung möglich zu machen und sich von früherer Kunst dadurch zu unterscheiden, dass der Künstler das Kunstwerk nicht abschließt. Es soll seine Vollendung finden im einzigartigen Verhalten jedes Individuums, das mit ihm interagiert. 4 In einer knappen Skizze umreißt Krueger 1983 Möglichkeiten der Übertragung dieses Kunstprinzips auf literarische Werke. Er nennt verschiedene Formen der Einbeziehung des Rezipienten, wie z.B. das Einbringen eigener Wörter in Gedichte oder die Auflösung der Linearität von Zeit- und Handlungsverlauf in Prosastrukturen, womit zur Aktivität im Umgang mit Kunst veranlasst werden soll. 5 1997 nimmt Espen J. Aarseth vergleichbare Erwägungen vor. Er bemerkt, dass beim Cybertext als einem Instrument zur Herstellung einer Auswahl von Ausdrücken 6 das Medium ein wichtiger Teil des literarischen Prozesses sei, bei welchem der Leser in hohem Maß integriert werde. Er nehme nicht nur rein gedanklich teil; vielmehr handle er auch in 'extranoematischem Sinn', indem er in einem beachtlichen Maß Wahlentscheidungen treffen müsse, um einen Text überhaupt rezipieren zu können. Aarseth spricht daher von 'ergodischer Literatur' . 7 Die Rezeption eines solchen Textes erinnere beständig an die ungenutzten Möglichkeiten und die nicht beschrittenen Wege. Jede Entscheidung mache Teile des Textes 180 Gesine Lenore Schiewer mehr, andere weniger zugänglich; die genauen Ergebnisse einer Entscheidung d.h., was ausgelassen wirdseien aber nicht bekannt. 8 Dieses Entscheidungspotential des Lesers eines Cybertextes bezeichnet Aarseth ebenfalls als Form der Aktivität. 9 Aarseth betont die Komplexität entsprechender Text-Systeme 10 und die Unvorhersagbarkeit ihrer Entwicklung, ausgehend von einer anfänglichen Menge einfacher Elemente. 11 Aarseth verweist hier auf Untersuchungen der Künstlichen Intelligenz-Forschung. Seine kritische Diskussion vorliegender Konzepte bezieht sich aber auf den Begriff der Interaktivität. Aarseth wendet sich gegen die Annahme, dass technische Innovation der Grund sozialer Verbesserungen sowie politischer und intellektueller Befreiung sein könne. Er kritisiert vor diesem Hintergrund die mit dem Begriff oftmals verknüpfte Vermutung einer Aufhebung der Unterscheidung von Autor und Leser. 12 Weiterhin betont er, dass die ideologische Implikation des Begriffs in der Annahme bestehe, dass Menschen und Maschinen vergleichbare Kommunikationspartner seien. 13 Bisherige Definitionen berücksichtigten nicht, dass der Beitrag des Verwenders dazu führe, dass der Gegenstand, das Thema, im voraus nicht bekannt respektive Veränderungen unterworfen sei. 14 Aarseth bezieht sich dabei bestätigend auf Umberto Ecos Beschreibung von "Kunstwerken in Bewegung", die ausgezeichnet sind durch die "Fähigkeit, verschiedene unvorhergesehene, physisch noch nicht realisierte Strukturen anzunehmen". 15 Ohne hier auf die Diskussion von Für und Wider der Begriffe der Interaktivität und der 'interactive fiction' einzugehen 1 6, soll die Offenheit des Ergebnisses entsprechender Kunstformen aufgrund des Entscheidungspotentials des Rezipienten genauer beleuchtet und Aarseths beiläufigem Verweis auf die Künstliche Intelligenz-Forschung nachgegangen werden. Der schon für Myron W. Krueger zentrale Aspekt der Neuheit von Erfahrungen hat Herbert A. Simon hervorgehoben für die Herausbildung veränderter Kriterien auch im Bereich der Kunst. Hierauf bezieht sich sein Stichwort "Entwerfen ohne endgültige Ziele". Die Nähe des Entwerfens zu dem Komplex des Künstlichen begründet Simon damit, dass künstliche Phänomene nur deshalb sind "wie sie sind, weil ein System durch Zwecke oder Ziele in die Umgebung, in der es lebt, eingepasst ist." 17 Es gehe nicht um das Notwendige, sondern den Freiheitsspielraum, um Aussagen über Systeme, die unter anderen Bedingungen anders wären, als sie gerade sind; also wie sie sein könnten, und das heißt, um Design. 18 Von zentraler Bedeutung sind hier komplexe Systeme, so dass die Themen von Künstlichkeit und Komplexität Simon zufolge untrennbar miteinander verbunden sind. 19 Ergänzt wird der Ansatzpunkt der Komplexität durch den Gegenbegriff der Einfachheit: "Ein Mensch, betrachtet als System mit bestimmtem Verhalten, ist recht einfach. Die scheinbare Komplexität seines Verhaltens in der Zeit spiegelt weitgehend die Komplexität der Umgebung wider, in der er sich befindet." 20 Der Begriff des Künstlichen wird von Simon damit auch auf den Menschen bezogen 21 : "DieAdaptivität des menschlichen Organismus, die Leichtigkeit, mit der er neue Strategien erwirbt und sich in hochspezialisierten Umgebungen zurechtfindet, macht aus ihm ein schwer faßbares und faszinierendes Ziel unserer wissenschaftlichen Untersuchungen - und den wahren Prototyp des Künstlichen." 22 Das Künstliche wird so zu einem konstitutiven Faktor von Entwurfsprozessen mit den Vorgängen des Urteilens, Entscheidens, Auswählens und Erschaffens unter anderem in künstlerischen Bereichen. 23 Bei dem erwähnten "Entwerfen ohne endgültige Ziele" geht es nicht darum, dass die späteren Entwicklungsstufen mit den ersten übereinstimmen und die ursprünglichen Entwürfe verwirklicht werden. Vielmehr entsteht auf jeder Stufe eine neue Situation, ·die dann Ausgangspunkt für eine neue Entwurfstätigkeit wird. Dabei hat die Entwicklung komplexer KI-Forschung und Ästhetik digitaler Literatur 181 Entwürfe 24 , welche lange Zeit zu ihrer Durchführung brauchen und im Verlauf der Durchführung ständig verändert werden, Simon zufolge viel mit der Ölmalerei gemeinsam. Denn hier ist der Malvorgang ein Prozess zyklischer Interaktion zwischen Maler und Leinwand: "Bei der Ölmalerei schafft jeder neu auf die Leinwand aufgetragene Farbtupfer einen Zusammenhang, der für den Maler zu einer kontinuierlichen Quelle neuer Ideen wird." 25 Vergleichbar weist Espen J. Aarseth hin auf die Möglichkeiten des Autors, an einem Netztext Veränderungen und Ergänzungen vorzunehmen: Ein Netztext sei der Malerei vergleichbar, in der der Künstler sein Werk in einem jahrelangen Prozess verändern kann. Bei literarischen Texten hingegen sei nach der Publikation eine Überarbeitung nicht üblich und werde wenn überhaupt meist nur einmal vorgenommen. Der Netztext könne dahingegen täglich mit geringem Aufwand mehrfach abgeändert werden. 26 Zwischen Simons in der zitierten Passage verwendetem Interaktionsbegriff und den Charakteristika einer 'ergodischen Literatur' lassen sich somit Bezüge erkennen. Simons Rückbindung des Begriffs des Künstlichen an die Komplexität kann einer Ästhetik digitaler Literatur zugrunde gelegt werden, da in die Entwicklung von Entwürfen die Möglichkeit stufenweiser Entscheidungen bei offenem Ergebnis einbezogen wird.2 7 1991 hat Massimo Negrotti darauf hingeweisen, dass neben diesem Ansatz Herbert A. Simons aus dem Jahr 1969 kein wesentlicher Versuch unternommen worden ist, den Begriff des Künstlichen zu klären. 28 Er knüpft hier mit verschiedenen Publikationen an, zuletzt Negrotti 1999, The Theory of the Artificial. Negrotti bezieht abweichend von Simon den Begriff des Künstlichen auf Objekte, Prozesse und Maschinen, welche bestehende natürliche Objekte oder Prozesse mittels anderer Materialien und Abläufe reproduzieren. 29 Das Künst-. liehe oszilliert seinem Ansatz zufolge zwischen Gegebenheiten der Realität und dem auswählend-erfindenden menschlichen Denken. 30 Negrotti verbindet seine Überlegungen daher mit der Frage nach dem Einfluss äußerer Gegebenheiten auf das Denken. 31 Er hofft, mit der Ausbildung einer theoretischen Basis für den Begriff des Künstlichen eine Grundlage für die Beschreibung der Beziehung von Mensch und Welt zu schaffen. 32 Auch Negrotti hebt den Prozess der Verfertigung des Künstlichen mit seinen stufenweisen Entscheidungsmöglichkeiten hervor, die zu einem vom ursprünglichen Plan abweichenden Ergebnis führen können. 33 Bereits der Prozess des Entwurfs soll aus einer Reihe von Wahlentscheidungen bestehen, die wegführen von dem natürlichen ·Beispiel und ein zunehmend spezifisches künstliches System hervorbringen. 34 Auch in der Auseinandersetzung mit der Realität selbst ist der Mensch nach Negrotti zur Selektion gezwungen. 35 Diskussionen des Künstlichen im Umfeld der KI-Forschung fokussieren damit unter anderem das Entwerfen im Rahmen komplexer Systeme ohne zwingend von Beginn an gegebene Zielvorstellung. Massimo Negrotti umreißt darüber hinaus erkenntnisorientierte Gesichtspunkte vor dem Hintergrund seiner Eingrenzung des Künstlichen in Bezug auf ein in der Natur gegebenes Beispiel. Der Begriff des Künstlichen wurde jedoch auch in ganz anderem Umfeld diskutiert. Um 1800 hat Novalis ihn im Rahmen seines poetologischen Programms erwogen. Er bezieht sich auf das Künstliche in den Fragmenten und Studien 1799-1800 im Sinn einer ''Opposition des Einfachen[,] Natürlichen und popularen gegen das Zusammengesezte[,] Künstliche und Individuelle " 36 und verknüpft ihn in derselben Fragmentsammlung mit seinen poetologischen Vorstellungen: "So muß auch die Poesie schlechthin bloß verständig künstlich erdichtet -Fantastisch! etc. seyn." 37 Das Wesen der Poesie sei ''unendlich zusammengesezt und doch einfach" 38 , wobei es "auf die künstlerische Wählungs und Verbindungskunst" 39 ankomme. In den etwas früheren Vermischten Bemerkungen und Blüthenstaub aus dem Jahr 1797 notiert 182 Gesine Lenore Schiewer Novalis: "Man versteht das Künstliche gewöhnlich besser, als das Natürliche. Es gehört mehr Geist auch zum Einfachen, als zum Complicirten aber weniger Talent." 40 Diese Oppositionen von natürlich künstlich, einfach kompliziert, Geist - Talent verweisen auf die Enzyklopädistik und Wissenschaftslehre Novalis', der an die Bestrebungen um Fundierung des Enzyklopädie-Gedankens des 18. Jahrhunderts anknüpft. 41 In aller Kürze seien die Grundannahmen Novalis' angeführt: In seinen Vorüberlegungen zur Enzyklopädistik fordert er die "poetische Behandlung der Wissenschaften" 42 , um einer Zersplitterung der Erkenntnisse der im 18. Jahrhundert noch eng miteinander verschränkten Bereiche in Einzelwissenschaften entgegenzuwirken. Vorrang wird der Poesie gegenüber der Philosophie und den übrigen Wissenschaften eingeräumt, da die Trennung der Wissenschaften zurückzuführen sei auf die mangelnde Fähigkeit, die unter ihnen bestehenden Beziehungen zu erkennen. Das Ungenügen reiner Verstandestätigkeit in der Verbindung entfernter Gedanken ist Novalis zufolge unter Zuhilfenahme des poetischen Genies zu beheben. Dieses unterstützt den Philosophen, da die Einbildungskraft als das Organ der Poesie die Kombination von Ideen ermöglicht. 43 Kombinatorik soll die Verbindung 'gegebener Kenntnisse' der 'Gedächtnißwiss[enschaften]' d.h. der Erfahrungsdaten der empirischen Wissenschaften, welche auf die sogenannten 'niederen' Erkenntniskräfte verweisen mit 'gemachten (erworbenen)' der 'Vernunftw[issenschaften]' den allgemeinen Begriffen der theoretisch-abstrakten Wissenschaften erlauben. Diese für eine Erkenntnis der 'vollen Wahrheit' erforderliche Verknüpfung wird in der Literatur geleistet. 44 Auf der Verbindung von gegebenen mit abstrakt erschlossenen Kenntnissen gründet der Anspruch der Enzyklopädistik, ein System aller Wissenschaften durch die Kombination von Einzelerkenntnissen darzustellen. Diese Verknüpfung erfasst Novalis in dem Begriff der Kritik. 45 Den im Rahmen seiner Enzyklopädistik entwickelten Kritik-Begriff verbindet Novalis mit der Idee der Kunst. Kritik heißt hier, von Gegebenem ausgehend selbständig und folgerichtig weiterzudenken, um zu immer wieder neuen, potentiell unendlichen Erkenntnissen zu gelangen. 46 Es soll daher vermieden werden, dass das Kunstwerk als eine abgeschlossene und allgemeine Aussage verstanden werden kann, da es in diesem Fall nicht mehr kritisiert werden könnte. 47 Diesem Kritik-Begriff zufolge soll der Leser Dichtung zur Grundlage eines eigenen Denk- und Erkenntnisprozesses machen. 48 Es ist zu fragen soll all das nicht nur ein historischer Exkurs sein -, inwiefern diese Reflexionen im Zusammenhang einer Ästhetik digitaler Literatur eine Rolle spielen können. Hier soll angeknüpft werden an die Auseinandersetzung der aktuellen Enzyklopädistik mit einer von Edward Feigenbaum vertretenen Ansicht. Sie bezieht sich darauf, dass es mit der Expertensystemtechnik möglich geworden sei, dem Anspruch der Enzyklopädistik des 18. Jahrhunderts zu entsprechen. Gegeben sei sowohl die Sammlung von Beobachtungen oder das empirisch fundierte 'Gedächtniswissen' die Daten als auch die Generierung abstrakter Fakten oder das 'Vernunftwissen' d.h. die Erzeugung von Wissen durch Produktionsregeln sowie die Kombination von Daten und Fakten in der Integration beider Aspekte, der Kritik. Bezugnehmend auf die Enzyklopädistik d' Alemberts und Diderots sowie insbesondere des Novalis spricht Peter Matussek daher von einer "Aufhebung der Enzyklopädie im Expertensystem".49 Matussek erinnert jedoch daran, dass erst die Einbeziehung des pragmatischen Adressatenbezuges der enzyklopädischen Idee gerecht werde. Sie lasse sich nicht ausschließlich auf das jeweilige Medium beziehen, sondern lebe von der impliziten Spannung zwischen Dokumentation und Interpretation. Es sei der dialektische Gegensatz zwischen Werk und Wissen, Kl-Forschung und Ästhetik digitaler Literatur 183 der den Wert einer Enzyklopädie bestimme: "Erst der Rezipient verwandelt tote Daten in lebendiges Wissen, indem er sie auf seine individuellen Interessen und Erwartungen bezieht, aus den transitorischen Aspekten des Wirklichen Einsichten in das Mögliche gewinnt." 50 Gerade weil jedoch die Künstliche Intelligenz den mechanischen Aspekt des Enzyklopädismus wesentlich effizienter erfülle als das Buch, bestehe die Gefahr, dass der 'Stimulus des Unvollkommenen' schwinde und die menschliche Intelligenz verkümmere: "Beruhigend zuverlässige Wissensbasen anästhesieren die Gedächtnisaktivität. Neugier, Spontaneität und Eigeninitiative werden beschäftigungslos[ ... ]." 51 Daher sei das Ungenügen amstatus quo der Daten und Fakten auch in der Expertensystem-Technik wach zuhalten und die Eigeninitiative des Benutzers zu fördern. Diese Stellungnahme bei der der erhobene Zeigefinger nicht ganz zu übersehen ist wird implizit ausdifferenziert von der Kunsthistorikerin Söke Dinkla in ihrer Studie Pioniere interaktiver Kunst von 1970 bis heute, erschienen 1997. Sie sieht drei verschiedene Grundeinstellungen gegenüber der Computertechnologie und spricht von einem technologischen Idealismus, einer fatalistischen und sozialkritischen Haltung sowie einem Fortschrittsskeptizismus. 52 Der technologische Idealismus soll von dem Gedanken geprägt sein, dass die Konstruktion von Systemen möglich sei, die neue, noch nicht erprobte Verhaltensweisen initiierten; er gründe auf der Annahme, dass eine Entwicklung der Technik auch sozialen Fortschritt bedinge. 53 Das entsprechende System soll als Dialogpartner akzeptiert werden, wobei dem Rezipienten das Gefühl vermittelt werde, dass er der Kontrollierende sei. Dies birgt Dinkla zufolge jedoch die Gefahr, dass internalisiertes soziales Regelverhalten affimiert werde. Espen J. Aarseths Kritik an dem Begriff der Interaktivität zielt auf eine solche Position ab. Demgegenüber mache eine fatalistische und zugleich sozialkritische Haltung in der Nachstellung sozialer und psychologischer Regelsysteme deutlich, dass die Möglichkeiten zum selbstbestimmten Handeln nach noch nicht erprobten Mustern zum Scheitern verurteilt seien. Die dritte, von Dinkla als Fortschrittsskeptizismus bezeichnete Variante gehe hinaus über das Prinzip jeder interaktiven Kunst, latent unvollendet zu sein und erst in der Rezeption realisiert zu werden. Denn es würden Strategien entwickelt, die eine intellektuelle Partizipation des Rezipienten am Werk zuließen. Der Rückgriff auf gewohnte Verfahren der Bedeutungszuschreibung werde verunmöglicht, so dass die Eigenleistung in besonderem Maß herausgefordert sei. Es gehe nicht wie bei der ersten Variante um einen künstlichen Dialogpartner, sondern um einen "unaufhörlichen Prozess der Rekombination angebotener Elemente nach noch nicht etablierten Regeln". 54 Eine Kritik an der Annahme, dass Technik mit sozialem Fortschritt verbunden sei, folge aus der Erkenntnis des Rezipienten, dass er an einem System teilhabe, in dem er zugleich Kontrolleur und Kontrollierter sei. Es geht Dinkla zufolge nicht darum, die Handlungsspielräume des Anwenders möglichst weit zu halten, denn das kybernetische Prinzip des Computers mache es dem Rezipienten unmöglich, eine prinzipiell externe Rolle einzunehmen. Sie hebt jedoch hervor, dass der Computer das einzige künstlerische Medium sei, mit dem diese Kritik überzeugend angebracht werden könne, ohne in erster Linie fortschrittsfeindlich zu sein. Aufgrund dieser Kategorisierung ist für eine Ästhetik digitaler Literatur die Frage grundlegend, ob es gelingt, den Rezipienten nicht nur auf den selbst zu suchenden Weg durch den Text zu schicken, sondern ihn zu einer eigenen Erkenntnisleistung zu veranlassen, so dass 184 Gesine Lenore Schiewer ihm seine Position in ihren aktiven Handlungsmöglichkeiten und gleichzeitig bestehenden Beschränkungen bewusst wird. Eine Übertragung des von Dinkla vorgeschlagenen Rasters auf digitale Literatur lässt sich so formulieren: Bei der Form des technologischen Idealismus geht es um Varianten, die den Rezipienten schlicht beschäftigen mit dem Spiel seiner Interaktionsmöglichkeiten. Z.B. sind bei der digitalen Fassung von Andreas Okopenk: os 55 Lexikon-Roman ELEX (CD-Rom) die angebotenen Bausteine als solche von zentralem Interesse. Das Ziel, aus diesen "einen Roman zu basteln", ist vorgegeben. Der fatalistischen und sozialkritischen Haltung sind Varianten zuzurechnen, die den Rezipienten gewissermaßen "ins offene Messer laufen" lassen, das heißt ihm zum Bewusstsein bringen, dass das System ihm keinen eigenen Spielraum lässt. So kann er sich im Fall von Antonio Muntadas' File Room mit dem Thema "Zensur" aufgrund der Systembeschränkungen seinerseits zensiert fühlen. Auf einen Fortschrittsskeptizismus beziehen sich hingegen Beispiele, die gegenwärtig als Extremformen der Netzkunst aufgefasst werden können. Sö nennt Christiane Reibach das System Oss des Künstlerduos Jodi und beschreibt, wie hier der Benutzer vollständig die Kontrolle über seine Browserfenster verliert, selbst nachdem er das Internet verlassen hat. Dennoch kann er in gewissem Maß auf deren sich verselbständigende Bewegungsabläufe Einfluss nehmen: "Durch den Zustand der Hilflosigkeit, in dem der Benutzer sich befindet, lernt dieser [ ... ] einiges über sein eigenes Verhalten gegenüber dem Computer ihm wird deutlich gemacht, wie viele Prozesse unkontrolliert und unbeeinflusst ablaufen und wie hilflos er einem (hier nur scheinbaren) Fehlverhalten der Programme gegenübersteht. [ ... ] Die Ironie dieses Projekts besteht darin, dass erst die Resignation und die Aufgabe des Willens zur Kontrolle den Genuss möglich macht hat man z.B. den Fenstertanz erst mal akzeptiert, findet man auch Vergnügen daran und fängt an, mit möglichen Einflussnahmen auf die Performance zu experimentieren. Somit ist Oss mehr als nur eine Verfremdung der Computerwerkzeuge es ist ein Verhaltensexperiment, das mit dem Benutzer gemacht wird, ein Werk, das zur Reflexion und Veränderung der eigenen Reaktionen gegenüber dem Computer auffordert." 56 Dieses Beispiel kann als Anregung zur Auseinandersetzung mit dem Medium betrachtet werden, in der die ambivalente Position des Anwenders anschaulich wird. Es illustriert daher die skizzierte Auffassung einer Differenzierung des Begriffs der Interaktivität. Denn dieser enthält ein kritisches Potential, welches Netzliteratur entfalten kann, wenn sie die speziellen Bedingungen des Mediums nicht nur nutzt, sondern auch zu Bewusstsein bringt. Anmerkungen 1 Vgl. Rötzer/ Weibel 1993, 368. 2 Vgl. Cramer 2000, These 2. 3 Krueger 1993, 290f. 4 Vgl. Krueger 1993, 296f. 5 1983 hat Myron W. Krueger in seiner Monographie Anificial Reality den Aspekt der Aktivität des Rezipienten beschrieben: ''The traditional arts usually presuppose a passive audience that bears witness to the creativity of the artist. There is no denying that the audience may invest emotional energy in this process, but nothing in the work itself demands it. However, the possibility exists for creating [ ... ] poems, and novels that require audience involvement and induce a more active aesthetic experience. [ ... ] The best way to integrate the computer and the arts is to focus on the aesthetic process rather than on producing a finished work of art." Krueger 1983, 186f. 6 Vgl. Aarseth 1997, 24. Kl-Forschung und Ästhetik digitaler Literatur 185 7 "During the cybertextual process, the user will have effectuated a semiotic sequence, and this selective movement is a work of physical construction that the various concepts of 'reading' do not account for. This phenomenon I call ergodic, using a term appropriated from physics that derives from the Greek words ergon and hodos, meaning 'work' and 'path'. In ergodic literature, nontrivial effort is required to allow the reader to traverse the text." Aarseth 1997, 1. 8 Vgl. Aarseth 1997, 3. 9 Vgl. Aarseth 1997, 4. Jedoch ist ein Cybertext nicht per se ein literarischer Text, sondern bezieht sich auf die kommunikativen Möglichkeiten dynamischer Texte im allgemeinen. Vgl. Aarseth 1997; 5. 10 Aarseth diskutiert hier Möglichkeiten semiotischer Konzepte, den Begriff des Cybertextes zu fassen, hält sie jedoch nicht für zielführend. 11 ''Tue crucial issue here is how to view systems that feature what is kuown as emergent behavior, systems that are complex structures evolving unpredictably from an initial set of simple elements." Aarseth 1997, 29. 12 "In the context ofliterature, this has led to claims that digital technology enables readers to become authors [ ... ] and that the reader is allowed to create his or her own 'story' by 'interacting' with the computer''. Aarseth 1997, 14. 13 "[ ... ] that hunians and machines are equal partners of communication, caused by nothing more than the machine' s simple ability to accept and respond to human input." Aarseth 1997, 48. 14 Vgl. Aarseth 1997, 49. 15 Beo 7 1996, 42. Entsprechende Phänomene erklärt Aarseth zum Gegenstand seiner Untersuchung, vgl. Aarseth 1997, 51. 16 Vgl. Aarseth 1997, 47ff., der die Diskussion seit Beginn der achziger Jahre kritisch skizziert; siehe aber beispielsweise auch die Verwendung des Ausdrucks "interactive art on the internet" bei Eduardo Kac und anderen. 17 Simon betont: "Wenn natürliche Erscheinungen, in ihrer Bindung an die Naturgesetze, eine Aura von 'Notwendigkeit' um sich haben, so zeigen künstliche Phänomene, in ihrer Verformbarkeit durch die Umwelt, eine Aura von 'Unabhängigkeit'." Simon 1994, VII. Einen Überblick über Aspekte des Begriffs der Künstlichkeit in der Kunst gibt Frieder Nake, vgl. Nake 1989. Jüngst hat Manfred Faßler das Desiderat einer Klärung des Verhältnisses von Kunst und Künstlichkeit betont, vgl. Faßler 1999, 218. 18 Vgl. Simon 1994, VII und Vill. Die Einpassung eines künstlichen Systems in eine Umgebung macht es zu einem Punkt der Begegnung oder einer Schnittstelle zwischen einer 'inneren' Umgebung, der Substanz und inneren Gliederung des Artefakts selbst, und einer 'äußeren' Umgebung, der Umwelt in der es operiert. Vgl. Simon 1994, 6. 19 Vgl. Simon 1994, IX. 20 Simon 1994, 47. Im Rahmen aktueller KI-Forschung zum Planen wird unter der Bezeichnung 'Agenten' dieser Ansatzpunkt Simons als 'Ameisenprinzip' einbezogen, vgl. Görz/ Rollinger/ Schneeberger2000, 490f., 994f. Das Paradigma, das intelligentes Verhalten in der verteilten Tätigkeit vieler kleiner Systeme ("Agenten") begründet sieht, wird aufMarvin Minskys Society ofMind, 1986, zurückgeführt, vgl. Görz/ Rollinger/ Schneeberger 2000, 9. "Mit diesem Buch will ich zu erklären versuchen, wie Geist funkrioniert. Wie kann Intelligenz aus Nicht- Intelligenz entstehen? Um diese Frage zu beantworten, werde ich zeigen, wie man Geist aus kleinen Teilen zusammensetzen kann, die jedes für sich ohne Geist sind. Ich nenne diesen Entwurf 'Mentopolis', [ ... ] da ihm zufolge jeder Geist aus vielen kleineren Prozessen entstanden ist. Diese Prozesse nenne ich Agenten. Jeder mentale Agent ist für sich allein genommen nur zu einfachen Tätigkeiten fähig, die weder Geist noch Denken erfordern. Wenn wir diese Agenten jedoch auf eine ganz bestimmte Weise zu Gesellschaften zusammenfassen, ist das Ergebnis echte Intelligenz. [ ... ] Eine Schwierigkeit besteht darin, daß diese Ideen eine Menge Querverbindungen besitzen. [ ... ] Ich wünschte, ich hätte Sie, meine Leser, geradewegs zum Gipfel empor geleiten können, auf geistigen Stufen; Schritt für Schritt. Statt dessen werden Sie sich in einem vertrackten Spinnennetz gefangen finden. [ ... ] ich neige dazu, der Natur des Geistes die Schuld zu geben: Er scheint seine Macht zum großen Teil der ungeordneten Art zu verdanken, in der seine Agenten Querverbindungen herstellen." Minsky 1990, 17. Dieses Paradigma hat die Konzipierung einer 'Verteilten Künstlichen Intelligenz' angeregt. Sogenannte Multi- Agenten Systeme stellen den Aspekt der aufgabenbezogenen Kooperation im Wettbewerb unabhängiger Teilsysteme (Agenten) heraus, bei welchen kein Agent eine globale Sicht des gesamten Problemlöseprozesses innehat, also keine zentrale Systemsteuerung vorliegt, vgl. Görz/ Rollinger/ Schneeberger 2000, 9. Ein Beispiel ist die Steuerung von flexiblen Fertigungsanlagen: Die Umwelt ändert sich fortwährend durch neue Aufträge und den zeitweiligen Ausfall von Maschinen. Gesucht sind Planungsverfahren für den optimalen Betrieb. Es 186 Gesine Lenore Schiewer geht weniger um die einmalige Berechnung eines optimalen Plans, sondern vielmehr um die ständige optimale Anpassung an veränderte Bedingungen, vgl. Görz/ Rollinger/ Schneeberger 2000, 944. 21 Vgl. Simon 1994, 67. Er geht dabei davon aus, daß es nur wenige 'intrinsische' Eigenschaften der inneren Umgebung des denkenden Menschen seien, welche die Anpassung des Denkens an die Form der Problemumgebung beschränkten. Alles übrige beim Denken und Problernlöseverhalten sei künstlich; es sei erlernt und könne durch Erfindung besserer Entwürfe und Speicherung derselben im Gedächtnis weiterentwickelt werden. Vgl. Simon 1994, 48. Dieser Ansatz setzt voraus, "daß wir den Kokon von Information, den der Mensch in seinen Büchern und in seinem Langzeit-Gedächtnis spinnt, einschließen in das, was wir seine Umgebung nennen. Diese Information, gespeichert in Form von Daten und von Prozeduren und mit einem reichhaltigen Register versehen, das zugänglich ist, wenn die geeigneten Stimuli vorliegen, stattet die einfachen Grundprozesse mit einem sehr großen Informations- und Strategierepertoire aus, und sie erklärt die Komplexität ihres Verhaltens. Die innere Umgebung, die Hardware, ist einfach. Komplexität entsteht aus dem Reichtum der äußeren Umgebung, sowohl der durch die Sinne erfahrenen Welt als auch der im Langzeit-Gedächtnis gespeicherten Information über die Welt." Simon 1994, 93f. 22 Simon 1994, 94. 23 "Jeder ist ein Designer, der Abläufe ersinnt, um bestehende Situationen in erwünschte zu verwandeln." Simon 1994, 95. Vgl. auch Simon 1994, ll7ff. Neben entworfenen gibt Simon zufolge jedoch auch 'gewachsene' künstliche Systeme wie z.B. die Architektur mittelalterlicher Städte, die eine in sich geordnete Strnkur aufweisen, ohne daß sie von einem einzelnen Planer entworfen wurden, sondern vielmehr in Reaktion auf unzählige individuelle menschliche Entscheidungen entstanden seien, vgl. Simon 1994, 29. Grundsätzlich kann daher ein Artefakt entstehen aufgrund des Entwurfs eines Schöpfers oder in sich entwickelnder Reaktion auf eine selektive Kraft, vgl. Simon 1994, 38. 24 Simon versteht unter einem komplexen System "ein System, das aus einer großen Zahl von Teilen zusammengesetzt ist, wenn diese Teile nicht bloß in der einfachsten Weise interagieren. In solchen Systemen ist das Ganze mehr als die Summe der Teile nicht in einem absoluten, metaphysischen Sinn, sondern in dem wichtigen pragmatischen, daß es keine triviale Angelegenheit ist, aus den gegebenen Eigenschaften der Teile und den Gesetzen ihrer Wechselwirkung die Eigenschaften des Ganzen zu erschliessen." Simon 1994, 145. 25 Simon 1994, 139f. "Die Vorstellung von Endzielen läßt sich mit unserer beschränkten Fähigkeit zu Vorhersage oder Festlegung der Zukunft nicht in Einklang bringen. Die eigentlichen Resultate unserer Handlungen sind die neuen Anfangsbedingungen für die nächstfolgende Handlungsstufe. Unsere 'Endziele' sind in Wahrheit Kriterien zur Auswahl jener Anfangsbedingungen, die wir unseren Nachfolgern hinterlassen werden." Simon 1994 140. 26 "The ontology of the Web text is close to that of a painting, where the artist may modify and revise the same work in a process that may take many years. With novels, revision after publication is not common, and happens, when it does, only once in most cases. But the Web text may be modified many times a day, with little effort." Aarseth 1997, 8 l. 27 Vgl. Simon 1994, 4. 28 Vgl. Negrotti 1991, Preface. "But we are particularly emphasising the need, which is completely avoided by definition in the AI field, to go deep into the concept and the phenomenology of 'the artificial', conceived as a field of things and facts different from the natural, but rationally understandable and adaptable to human needs andinterests." Negrotti 1991, 2. "Foryears we have inquired 'what is intelligence? ' but we never asked what the artificial is." Negrotti 1999, 40. 29 Vgl. Negrotti 1999, 1. Seine Prämisse besteht darin, daß der Mensch artifizielle Dinge herstelle, indem er etwas in der Natur Existierendes als Beispiel betrachte: "'The concept of the artificial, in this work, denotes the final product of a human beings's action to reproduce his own representations ofthe world, whether it is external or internal to him." Negrotti 1999, 15. 30 "The inexorable destiny of the artificial places it in a necessary oscillation between the inseparable wholeness ofreality and the selective and inventive attitude ofhuman reason." Negrotti 1999, 6. 31 "[ ... ] the future of AI[ ...] is seen as linked to a deeperunderstanding ofthe relationship between what we could call 'non-perturbed intelligence', i.e. the ability to follow formal rules and algorithms, and the external environment with its variety and fluctuations which 'perturb' our clarity of reasoning." Negrotti 1991, 3. 32 Negrotti 1999, l. Er geht aus von einem 'funktionalen Dualismus' der philosophischen Positionen von Empirismus und Rationalismus, der keine Priorität von Materie oder Geist annehme, vgl. Negrotti 1999, 7 und 10. 33 "lt is not uncommon that sudden events and side performances exhibited by the artificial persuade the artificialist to follow new plans which are inducedjust from that unexpected phenomena or behaviour." Negrotti 1999, 49. KI-Forschung und Ästhetik digitaler Literatur 187 34 ''The entire process of ideation and of design consists, therefore, in a series of increasingly narrow inclusive selections that take us far from the exemplar as a whole; they describe in some way and measure how we enter into reference systems which are more and more specific and cogent." Negrotti 1999, 59. 35 Vgl. etwa Negrotti 1999, 74. Als ein Anwendungsbeispiel erwähnt Negrotti Erzählungen von persönlichen Erlebnissen, die niemals eine vollständige Schilderung eines Ereignisses darstellen können. Dennoch betont Negrotti, "the chain of selections operated by A, when combined with the precariousness ofB' s ability to decode the message, makes the success of the enterprise unpredictable." Negrotti 1999, 90. 36 Novalis 1968, III, Nr. 512, 640. Diese Belegstelle ist im Registerband V irrtümlich ausgewiesen als II 640. 37 Novalis 1968, III, Nr. 695,691. Phantasie versteht Novalis als Erfindungskraft, vgl. Novalis 1968, III, Nr. 611, 670. 38 Novalis 1968, III, Nr. 690,690. 39 Novalis 1968, III, Nr. 549,649. 40 Novalis 1965, II, Nr. 86, 450/ 452. 41 Auf Zusammenhänge von Netzliteratur und Enzyklopädie hat schon Heiko Idensen hingewiesen, vgl. Idensen 1996. S. auch Idensen 1991, 379f. 42 Novalis 1965, II, 316. 43 Den Ansatz einer poetischen Behandlung der Wissenschaften bezeichnet Hans-Joachim Mähl als die Wurzel der Idee einer Enzyklopädistik bei Novalis. Novalis 1965, II, 316. 44 Vgl. Novalis 1968, III, Nr. 327,298 und Nr. 331,299. 45 Den Begriff der Kritik bezeichnet Novalis als Lehre von der "Construction der Aufgabe [ ... ] als Wissenschaft", Novalis 1968, III, Nr. 488,347. Eine 'Aufgabe' umfaßt die vier Bestandteile der Frage, ihrer Auflösung, dem Beweis oder der Kritik dieser Auflösung und ihrer Probe. Kritik und Probe sind somit einander ergänzende Vorgehensweisen und erlauben die Herstellung einer Verbindung zwischen Frage und Auflösung bzw. zwischen einem besonderen Erfahrungssatz und einer allgemeinen Vemunfterkenntnis. Wenn das Anliegen der Enzyklopädie-Konzeption nach Herbert Uerlings aufgefaßt werden kann als eine Synthese von Vorstellung und Beobachtung, Idee und Erfahrung, dann ist dies zu verstehen als eine systematische Erfassung von Wirklichkeit, die der Mensch vermöge seiner sinnlichen Empfindungen wahrnimmt, und die Anwendung abstrakten Wissens auf die konkrete Welt, vgl. Uerlings 1991, 193, Schiewer 1993 und Schiewer 1996, 239ff. 46 Diese Dimension des Kritik-Begriffs wird von Novalis auf die grundsätzliche Bedeutung von Dichtung übertragen und diese damit in menschliche Erkenntnisprozesse eingebunden. 47 Der hier implizierte Grundsatz von der Unkritisierbarkeit des Schlechten stellt nach Walter Benjamin eine der charakteristischsten Ausprägungen der romantischen Konzeption der Kunst und ihrer Kritik dar. Vgl. Benjamin 1973, 73. 48 Verbunden mit dem postulierten Aspekt von Freiheit als Voraussetzung jedes selbständigen und kritischen Denkprozesses sowie der Einbindung der Dichtung in ein erfabrungsgebundenes Erkenntnismodell ist eine Relativierung dogmatischer Normen in der Kunstproduktion und -rezeption. Die konkreten literarischen Konsequenzen, die Novalis skizziert, sind in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert: "Die Schreibart des Romans muß kein Continuum es muß ein in jeden Perioden gegliederter Bau seyn. Jedes kleine Stück muß etwas abgeschnittnes begränztes-ein eignes Ganzes seyn." Novalis 1968, III, Nr. 45, 562. "Dramatische Darstellung in einzelnen unabhängigen Capiteln. Unbequemlichkeiten einer chronologisch fortschreitenden Erzählung." Novalis 1968, III, Nr. 532, 645. "Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedem Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl, vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beym Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs - und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein 2ter Leser no.ch mehr läutern, und so wird dadurch daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischthätige Gefäße kömmt die Masse endlich wesentlicher Bestandtheil - Glied des wircksamen Geistes." Novalis 1965, II, Nr. 125, 470. 49 Vgl.Matussek 1988, 57. 50 Vgl. Matussek 1988, 69f. 51 Matussek 1988, 71. 52 Vgl. Dinkla 1997, 227ff. 53 Dinkla ordnet solche Arbeiten der Tradition der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zu, vgl. Dinkla 1997, 227. 54 Dinkla 1997, 228. 188 Gesine Lenore Schiewer 55 Deutlich wird der Ansatz in der Gebrauchsanweisung der schriftlichen Romanfassung: "Aus dem Lexikon sind Tonen auch die Hinweispfeile bekannt (-> ), die Tonen raten sollen, wie Sie am besten weiterghen, wie Sie sich zusätzlich informieren oder wie Sie vom Hundertsten ins Tausendste gelangen können. Wie im Lexikon haben Sie die Freiheit, jeden Hinweispfeil zu beherzigen oder zu übergehen. (Selbst übergangene Pfeile geben dem Reizwort ja eine gewisse räumliche Tiefe.)" Okopenko 1996, 5. 56 Reibach 2000, 253f. Literatur Aarseth, EspenJ. 1997: Cybertext. Perspectives ofErgodic Literature, Baltimore/ London: Johns Hopkins University Press. Benjamin, Walter 1973: Der Begriffder Kunstkritik in der deutschen Romantik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 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