Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2002
251-2
Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit
61
2002
Ulrike Schröder
Das Phänomen 'Liebe' nicht – wie im Alltagsgebrauch – als substantielle Entität, sondern als kommunikativ erzeugte Lebenswirklichkeit zu begreifen, ist Ziel der Untersuchung gewesen. Zu diesem Zweck wurde eine vergleichende Fallstudie zum Liebeskonzept brasilianischer und deutscher Studenten durchgeführt. Theoretische Grundlage der Untersuchung bildete ein im weitesten Sinne konstruktivistisches Verständnis von Kommunikation als wirklichkeitserzeugendem Verhaltensbereich. In einer theoretischen Engführung wurde der Wirklichkeitsbereich 'Liebe' unter Einbeziehung des jeweiligen historisch-kulturellen Hintergrundes fokussiert. Die methodische Vorgehensweise bei der Durchführung der Studie war schließlich überwiegend qualitativ angelegt, um das für den Einzelnen tatsächlich relevante Begriffsinventar ermitteln zu können. In der Auswertung sind dann die Unterschiede im Hinblick auf die Internalisierung eines Liebesideals, die Strukturen der Beziehungswirklichkeit, ihre sprachliche Handhabung, die Verhaltenskoordination, die Funktion von Beziehungen sowie die Folgen für die Kommunikationspraxis herausgestellt worden. Es zeigte sich, dass Liebesbeziehungen unter deutschen Studenten stark vom romantischen Liebesideal geprägt sind, unter brasilianischen Studenten dagegen am ehesten dem passionierten Liebesideal entsprechen.
kod251-20039
Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit Eine vergleichende Fallstudie zum Liebeskonzept deutscher und brasilianischer Studenten Ulrike Schröder Zusammenfassung / Summary Das Phänomen Liebe nicht - wie im Alltagsgebrauch - als substantielle Entität, sondern als kommunikativ erzeugte Lebenswirklichkeit zu begreifen, ist Ziel der Untersuchung gewesen. Zu diesem Zweck wurde eine vergleichende Fallstudie zum Liebeskonzept brasilianischer und deutscher Studenten durchgeführt. Theoretische Grundlage der Untersuchung bildete ein im weitesten Sinne konstruktivistisches Verständnis von Kommunikation als wirklichkeitserzeugendem Verhaltensbereich. In einer theoretischen Engführung wurde der Wirklichkeitsbereich Liebe unter Einbeziehung des jeweiligen historisch-kulturellen Hintergrundes fokussiert. Die methodische Vorgehensweise bei der Durchführung der Studie war schließlich überwiegend qualitativ angelegt, um das für den Einzelnen tatsächlich relevante Begriffsinventar ermitteln zu können. In der Auswertung sind dann die Unterschiede im Hinblick auf die Internalisierung eines Liebesideals, die Strukturen der Beziehungswirklichkeit, ihre sprachliche Handhabung, die Verhaltenskoordination, die Funktion von Beziehungen sowie die Folgen für die Kommunikationspraxis herausgestellt worden. Es zeigte sich, dass Liebesbeziehungen unter deutschen Studenten stark vom romantischen Liebesideal geprägt sind, unter brasilianischen Studenten dagegen am ehesten dem passionierten Liebesideal entsprechen. Not to grasp the phenomenon love - as we do in everyday life - as a substantial entity, but as a fact of life created in a communicative way, was the aim of the investigation. For this purpose, a comparative case study about the concept of love of Brazilian and German students has been made. The theoretical basis for the study formed a - in the broadest sense constructivistical - understanding of communication as a sphere of behaviour creating reality. In a theoretical funnel, the sphere of reality love was focussed in respect of the historical-cultural background of the particular culture. Finally, the methodilogical proceeding concerning the realization of the study was mainly structured in a qualitative way in order to discover the actually used stock of notions of each individual. In the interpretation, the differences concerning the internalization of an ideal of love, the structures of the reality of the love affair, its linguistic handling, the coordination of behaviour, the function of affairs as well as the consequences for the practice of communication were emphasized. It turned out that love affairs among German students were strongly determined by the romantical ideal of love, whereas these among Brazilian students correspond more to the passionate ideal of love. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrike Schröder 40 I. Fragestellung Wenn über Liebe gesprochen wird, steht hinter diesem Begriff in der Regel die Auffassung, es handele sich dabei um ein universelles substantielles Gefühl. Dies ist ein institutionalisierter, kultureller Glaube, der in Musik, Religion, Literatur und Film ebenso wie in Sprichwörtern und im Alltagsgebrauch fest verankert ist, wie die nachstehenden Beispiele demonstrieren: Wo die Liebe hinfällt … Amors Pfeil. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, … 1 Liebe - sagt man schön und richtig Ist ein Ding, das äußerst wichtig. Nicht nur zieht man in Betracht, Was man selber damit macht, Nein, man ist in solchen Sachen Auch gespannt, was andre machen. 2 For stony limits cannot hold love out, And what love can do. that dares love attempt. 3 O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen, der ersten Liebe goldne Zeit. Das Auge sieht den Himmel offen, Es schwelgt das Herz in Seligkeit; O daß sie ewig grünen bliebe, Die schöne Zeit der jungen Liebe. 4 Liebe nicht als substantielle Entität, sondern als kommunikativ erzeugte Lebenswirklichkeit zu beschreiben, ist Ziel meiner kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung gewesen. Zu diesem Zweck wurde eine vergleichende Fallstudie zum Liebeskonzept brasilianischer und deutscher Studenten durchgeführt. Zunächst soll deshalb kurz skizziert werden, auf welcher theoretischen Grundlage die Untersuchung erfolgte. Dabei steht ein konstruktivistisches 5 Verständnis von Kommunikation als wirklichkeitserzeugendem Verhaltensbereich im Vordergrund. Daß meine Wahl dabei gerade auf einen Vergleich zwischen der brasilianischen und der deutschen Kommunikationsgemeinschaft gefallen ist, liegt vor allem an der völlig gegensätzlichen Formation beider Kulturen. Durch eine solch historisch-kulturell unterschiedliche Formation zweier Kommunikationsgemeinschaften müssen im Rahmen der oben aufgestellten These, Wirklichkeit werde erst im sozialen Kontext kommunikativ erzeugt, auch zwei unterschiedliche Weltbezüge aufzuspüren sein. Sich der in kommunikationswissenschaftlicher Perspektive aufgeworfenen Frage, inwieweit unsere Lebenswirklichkeit eine sprachlich konstruierte und damit kulturabhängig ist, mittels einer solchen Fallstudie anzunähern, soll zugleich illustrieren, wie kommunikations- Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 41 wissenschaftliche Theorieentwürfe bei der Analyse verschiedenster Wirklichkeitsausschnitte in die Praxis umgesetzt werden können. II. Vorüberlegungen 1. Eine interkulturelle Studie im Rahmen der Kommunikationswissenschaft Das Aufeinandertreffen mit anderen Kultur- und Lebensgemeinschaften ist im Laufe der Menschheitsgeschichte entscheidender Auslöser für das Hinterfragen von Gewohntem geworden, das uns als Wirklichkeit gegenübertritt. Vor diesem Hintergrund ist das Zustandekommen eines Erkenntnisinteresses zu erklären, wie es die Kommunikationswissenschaft als Grundlagenwissenschaft verfolgt. Eines ihrer Hauptanliegen ist es demzufolge, Selbstverständliches zu hinterfragen und epistemologisch nach den Bedingungen von Wirklichkeit zu fragen, das „Wie“ unserer Erklärungen zu observieren. Das impliziert den Bruch mit einer substantiellen Auffassung abstrakter Begriffe, die durch die Annahme kommunikativ erzeugter Wirklichkeit ersetzt wird. In diesem Sinne kann die Kommunikationswissenschaft als perspektivische Grundlage einer Untersuchung von Wirklichkeitskonstrukten verstanden werden. Der anvisierte konstruktivistische Blickwinkel auf das Kommunikationsphänomen „Liebe“ liefert demnach das grundlegende Begriffsinventar als adäquate Entwicklung und Fundierung eines Verfahrens von Wirklichkeitsanalyse, nicht jedoch die im traditionellen Wissenschaftsverständnis erforderliche Bereitstellung eines Analyseinstruments. Mit einem solchen Instrumentarium von Vorbegriffen wäre Fremdverstehen - soweit überhaupt möglich - blockiert. 2. Liebe als kommunikativ erzeugte Wirklichkeit Ausgangspunkt meiner Untersuchung war das Verständnis von Kommunikation als wirklichkeitserzeugendem Verhaltensbereich. Eine solche Perspektive schien in zweifacher Hinsicht sinnvoll: Erstens ging es um die Ermittlung von etwas vermeintlich Selbstverständlichem, dem Lebensbereich Liebe. Selbstverständliches zu hinterfragen, erfordert eine grundlegende Analyse des Zustandekommens von Wirklichkeitskonstrukten. Zweitens geschah dies im interkulturellen Vergleich. In der Untersuchung sollte damit in zweierlei Hinsicht eine Gewißheit dekonstruiert werden: vertikal in der Analyse von Liebe als ein im historischen Prozeß entstehendes Kommunikationsmedium und horizontal in der Analyse der daraus folgenden unterschiedlichen kulturspezifischen Konstitution dieses Kommunikationsmediums. Zwei zentrale Thesen bildeten somit den Ausgangspunkt der Untersuchung: a. Kommunikation wird als wirklichkeitskonstituierender Verhaltensbereich verstanden, so daß die Erzeugung von Wirklichkeit als menschliches Verhalten und als Ergebnis von Kommunikationsprozessen untersucht werden muß. b. Dieses Verständnis von Kommunikation impliziert die Annahme kulturspezifischer Interdependenzen zwischen Begriffen und Verhalten. Ulrike Schröder 42 III. Die konstruktivistische Perspektive als theoretischer Rahmen der Untersuchung 1. Kognitionstheoretische, wissenssoziologische und kultursemiotische Grundlagen Der Beitrag der Kognitionstheorie: Propädeutischer Ausgangspunkt der Untersuchung sollte eine Theorie sein, die die Voraussetzungen für soziale Interaktion zwischen Individuen in der Konstitution der Individuen selbst sucht. Mit seiner Theorie lebender Systeme entwickelt Humberto Maturana eine Kognitionstheorie an der Schnittstelle von Erkenntnis-, Wissenschafts- und Systemtheorie, die in ihrer Perspektivenverschiebung von der Welt zum Subjekt als Ausgangspunkt jeder Betrachtung imstande ist, materielle und geistige menschliche Phänomene auf das gleiche Ordnungsprinzip zurückzuführen, und die insofern universalen Anspruch erheben kann. 6 Menschliche Wirklichkeitserzeugung wird dabei als Resultat von sprachlichem Verhalten in sozialer Interaktion beschrieben. 7 Auf der Grundlage seiner neurophysiologischen Untersuchungen kommt Maturana zu der Schlußfolgerung, daß Informationen aus der Umwelt niemals im instruktiven Sinne festlegen können, was in einem Organismus tatsächlich geschieht: Umweltinformationen stellen lediglich Auslöser für strukturdeterminierte Prozesse innerhalb des Systems dar. 8 Gleiches gilt auf zwischenmenschlicher Ebene für Sprache als Bereich gegenseitiger Verhaltenskoordination, der weder die Außenwelt noch die Innenwelt des Anderen abzubilden vermag. 9 Sprache kann demzufolge nicht länger als außerhalb des Interaktionsbereichs angesiedeltes symbolisches Kommunikationssystem verstanden werden, sondern muß als „koordinierte Verhaltenskoordination“, 10 als wechselseitige Strukturveränderung in einem konsensuellen Bereich - dem Sprachbereich - begriffen werden. 11 Durch das Dahintreiben zweier oder mehrerer Organismen in einem solchen „Prozeß deckungsgleicher Strukturveränderungen“ 12 entstehen nach und nach sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Hinsicht Invarianten der Erfahrung, die wir als Wissen erleben und die nicht mit einer unabhängig existierenden Welt verbunden sind. 13 Durch die Kognitionstheorie Maturanas erhält der soziale Konstruktivismus ein empirisches Fundament, dessen kommunikationswissenschaftliche Relevanz in der Ablösung des informationstechnischen Modells durch ein Modell der Informationskonstruktion innerhalb des kognitiven Bereichs autopoietischer Systeme liegt. 14 Der Beitrag der Soziologie: Während Maturana die grundlegenden Prozesse lebender Systeme, die zur Wirklichkeitskonstruktion führen, beschreibt und seine Analyse in die Untersuchung des Phänomens sprachlichen Verhaltens in konsensuellen Bereichen mündet, setzen die beiden Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann ihre Betrachtung genau an diesem Punkt - dem Interaktionsbereich - an und analysieren den Wissensbegriff in seinem Verhältnis zu einer gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit. Im Anschluß an Alfred Schütz knüpfen sie im Rahmen des Interpretativen Programms an das Lebenswelt-Konzept des Phänomenologen Edmund Husserls an und untersuchen Wissen als Grundlage von Wirklichkeit und nicht umgekehrt: Die Wirklichkeit, in der wir uns tagtäglich bewegen - so die Kernthese -, sei eine konstruierte Wirklichkeit, wobei die Gesellschaft der Ort ist, an dem diese Wirklichkeit produziert wird. Grundlagen unseres Wissens in der Alltagswelt stellen demnach Objektivationen subjektiv sinnvoller Vorgänge dar, 15 die schließlich Invarianten der Erfahrungswirklichkeit hervorbringen: Gewißheiten, Wissensvorräte, Gewohnheits- und Rezeptwissen als kognitive Rahmen für eine intersubjektiv sinnvolle Welt. Durch so geschaffene Objektivationen wird die Alltagswelt überhaupt erst als wirklich empfunden 16 und als vor-arrangierte Wirklichkeitsordnung erfahren, die sprachlich bestimmt ist und sich als Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 43 wechselseitiger Prozeß konstituiert: Der Einzelne internalisiert eine gesellschaftlich objektivierte vorstrukturierte Wirklichkeit und sorgt für deren Aufrechterhaltung, indem er sie im Alltag durch jede seiner Handlungen reproduziert und modifiziert. Gesellschaftliche Sinnsysteme resultieren demzufolge aus Sinnsetzungstraditionen, indem „Stileinheiten des Sinns als kommunikative Gattung“ 17 objektiviert werden. Der Sprache wohnt dabei eine Integrationsfunktion inne: Sie überspannt die Wirklichkeit und weist den Erlebnissen einen Platz in einer Symbolwelt zu. 18 Der Beitrag der Ethnologie: Einen ethnologischen Beitrag zur entworfenen Perspektive auf Sprach- und Kulturphänomene liefert der Kultursemiotiker Clifford Geertz, der seine Aufmerksamkeit auf den Kontext von Sprachgemeinschaft und Sprachgebrauch richtet. Geertz sieht in der menschlichen Erfahrung immer schon „mit Bedeutung versehene Empfindung, d.h. interpretierte Empfindung, begriffene Empfindung.“ 19 Eine Untersuchung von Kulturphänomenen muß demzufolge als interpretativer Verstehensprozeß verstanden werden, da Symbolsystemen erst im Gebrauchskontext Sinn verliehen werden kann. Um diesem Kontext gerecht werden zu können, muß der Kulturforscher eine dichte Beschreibung des beobachteten Verhaltens vornehmen, die mikroskopisch und deutend angelegt ist. 20 Verschiedene Kultursysteme produzieren auch verschiedene Sinnwelten, wobei Geertz unter Kultursystem in Anlehnung an Max Weber einen Kontext semiotischer Art versteht: „ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“, in das der Mensch „verstrickt“ ist. 21 Für Geertz wird darum common sense als Gebrauchs- und Handlungswissen eines kulturellen Systems zum Angelpunkt für das Fremdverstehen. 22 2. Vorteile des konstruktivistischen Sprach- und Kulturbegriffs für die durchgeführte Studie Mit der entworfenen konstruktivistischen Perspektive liegt der durchgeführten interkulturellen Studie eine sich abseits der vorstrukturierten Begriffe universaler Ansätze befindliche Sprach- und Kulturkonzeption zugrunde: a. Das Verständnis von Sprache Sprache wird nicht als ein System von Repräsentationen, sondern als ein Netzwerk von Verhalten betrachtet. b. Das Verständnis von Kultur Kultur stellt sich als ein im historischen Prozeß einer Gesellschaft oder einer Gruppe ausdifferenziertes System von Bedeutungen dar, das sich in symbolischer Form ausdrückt und sich als gemeinsame Sinnwelt, als common sense oder als kollektives Sprachverwendungswissen beschreiben läßt. Demzufolge verändert sich Kultur auch kontinuierlich im wechselseitigen Prozeß von Internalisierung und Externalisierung. Mit diesem konstruktivistischen Grundverständnis von Sprache und Kultur wird am ehesten eine weitestgehend voraussetzungslose Dekonstruktion von Begriffen gewährleistet, die an Gefühlstraditionen gebunden sind und auf diese Weise Aufschluß über den Wirklichkeitscharakter einer Kulturgemeinschaft geben können: a. Anstatt unhinterfragbare erkenntnistheoretische Kriterien vorauszusetzen, orientiert sich die entworfene konstruktivistische Sichtweise an einer naturalistischen Epistemologie. Ulrike Schröder 44 b. Im konstruktivistischen Verständnis von Kommunikation als wirklichkeitserzeugendem Verhaltensbereich erscheint damit eine Ermittlung des Relevanzsystems des Subjekts zur Bestimmung von Begriffen sinnvoller als die Einordnung eines Problems unter vorstrukturierte Begriffswelten. c. Indem das konstruktivistische Programm die prinzipielle Subjektabhängigkeit von Verstehen stärker fokussiert, wird Kommunikation letztlich als konnotativ beschrieben. Das heißt, es ist niemals gesichert, daß die beim Kommunikationspartner zu aktivierenden kognitiven Konstrukte den eigenen entsprechen. d. Dementsprechend begünstigt eine Theorie der Wirklichkeitskonstruktion gerade die Perspektive des Kulturforschers, dem nun auch die eigene Wirklichkeit als eine von unendlich vielen erscheint. Dieses Bewußtsein schafft die nötige Distanz zur eigenen Kultur. IV. Engführung: Fokussierung der kommunikativ erzeugten Wirklichkeit Liebe unter Einbeziehung des jeweiligen historisch-kulturellen Hintergrunds 1. Luhmanns Beschreibung von Liebe als ein im historischen Prozeß ausdifferenziertes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium Niklas Luhmann, dessen Theorie sozialer Systeme im Autopoiese-Konzept Maturanas 23 wurzelt, hat sich in seiner Abhandlung „Liebe als Passion - Zur Codierung von Intimität“ der Analyse des Phänomens Liebe aus konstruktivistischer Sicht gewidmet und untersucht sie als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“. 24 Ihre soziogenetische Institutionalisierung betrachtet er dementsprechend als Ausdifferenzierungsprozeß. Damit bricht Luhmann ebenfalls mit der substantiellen Auffassung von Liebe als einem universellen Gefühl: Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden. 25 Die Ausdifferenzierung einer Liebessemantik in Europa erfolgt Luhmann zufolge in drei Etappen: ihrer Entstehung durch Idealisierung im Mittelalter, ihrer Paradoxierung in der Französischen Klassik und schließlich in der Reflexion von Selbstreferenz durch das romantische Liebesideal als Resultat eines veränderten Subjektverständnisses. 26 Während bis ins 18. Jh. hinein Liebe nur in ihrer Inkonstanz denkbar war, 27 da das Anziehende in Allgemeinbegriffen präsentiert wurde, das demzufolge auch bei anderen Personen anzutreffen war und die Person selbst als konstant betrachtet wurde, kommt es jetzt zu einer Umkehrung: Das Subjekt wird individualisiert und damit wandlungsfähig. Dieses Neuverständnis vom Subjekt bildet die Grundlage für die Möglichkeit, Liebe dauerfähig zu machen. Auf diese Weise lassen sich Freundschafts- und Liebeskonzept miteinander verbinden, die ja im Mittelalter noch strikt voneinander getrennt waren. 28 Mit der damit einhergehenden Ausdifferenzierung eines eigenen Kommunikationscodes und dessen semantischer Geschlossenheit, die zunehmend Bedeutungsinhalte anderer Lebensbereiche übersetzbar macht, kommt es gleichzeitig zu einer Selbstreferentialität als Selbststeuerung des Medienbereiches. 29 Dadurch wird Liebe in der Folge nicht mehr - wie noch beim passionierten Liebesideal - mit etwas außerhalb ihres Bereichs befindlichen wie Schönheit, sondern mit Liebe als nicht weiter zerlegbarem Motiv begründet wird: Liebe um der Liebe willen. Liebe wird in diesem Sinne durch „die im Code verankerte Bedeutungs- Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 45 steigerung“ 30 zu einer Art Selbstläufer; parallel dazu konstituiert sich die Identität der Liebenden „an-der-Liebe-wachsend“ als Stabilitäts- und Steigerungsbegriff, womit die Liebe dauerfähig wird. 31 Diese grenzenlos steigerbare Individualität durch reziproke Selbstbildungsprozesse sowie die daran gekoppelte Aussicht auf Dauer konstituieren auf diese Weise die Grundlage für die Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Sonderwelt. 32 2. Die unterschiedliche Ausgangsbasis: Antagonistische Einflußfaktoren bei der Herausbildung des brasilianischen Liebeskonzepts Während sich also in Deutschland das Kommunikationsmedium Liebe in einem historisch relativ kontinuierlichen Prozeß parallel zu einer gesamtgesellschaftlichen funktionalen Differenzierung als zunehmend verfeinerte Liebessemantik ausdifferenziert hat, die weitgehend durch alle Schichten hindurch einen Grundstock an Auffassungen konstituiert, der als common sense geteilt wird, 33 zeichnet sich Brasilien gerade durch das Fehlen eines durchgängigen Konzepts aus. Statt dessen findet man hier ambivalente und pluralistische Wirklichkeitsentwürfe vor: Der zivilisatorische Prozeß, der erst vor fünfhundert Jahren begann, hat sich in jeglicher Beziehung - ethnisch, sozial, historisch, geographisch, religiös, geistig und sprachlich - äußerst heterogen vollzogen. 34 Die Ursache hierfür ist in der unterschiedlichen Formation der Völker zu suchen. Das Aufeinandertreffen verschiedener Ethnien: Einer Klassifikation des brasilianischen Kulturforschers Darcy Ribeiros zufolge läßt sich Deutschland als „povo testemunho“, Brasilien hingegen als „povo novo“ 35 beschreiben: „Povo testemunha“ bezeichnet antike Völker mit einer langen Kulturtradition, zu der neben den Europäern auch einige asiatische Nationen zählen. Unter „povo novo“ wird dagegen ein noch junges Volk verstanden, das durch Vermischung verschiedener Ethnien zustande gekommen ist. 36 In ihrer Geschichte wechselnd mit maurischen und europäischen Besatzern und demzufolge auch mit zwei vollkommen verschiedenen Lebensentwürfen konfrontiert, wurzelt die Formation des portugiesischen Volkes bereits in einer Bikontinentalität. 37 Im Zusammenprall mit den Ureinwohnern Brasiliens - den Indios - wird die Weltoffenheit Portugals als See- und Handelsmacht schließlich zur Grundlage für die Bildung einer hybriden Gesellschaft durch Polygamie. 38 Den dritten ethnischen Einflußfaktor stellen schließlich die aus Afrika importierten schwarzen Sklaven dar. Da das Land bis zu diesem Zeitpunkt noch nahezu menschenleer ist, kommt ihnen neben ihrer Ausbeutung als Arbeitskraft ebenfalls die Funktion der „Deckhengste und reproduktiven Bäuche“ 39 zu. Die Sozialstruktur von Herrenhaus und Sklavenhütte: Die sozialgesellschaftliche Entwicklung Brasiliens vollzieht sich auf der Basis des patriarchalischen Antagonismus von Herrenhaus und Sklavenhütte, der noch bis heute Grund vieler gesellschaftlicher Probleme ist. 40 Das Herrenhaus gleicht einem autarken Mikrokosmos. 41 Während in Deutschland das Liebesleben parallel zu anderen Abkoppelungen wie menschlichen Verrichtungen, dem Schlafen etc. immer stärker aus der öffentlichen Sphäre in den Privatbereich gedrängt wird, 42 fallen in Brasilien durch das Herrenhaus als Schauplatz des Lebens öffentliches und privates Leben noch bis ins 20. Jh. hinein zusammen. 43 Das Aufeinandertreffen von Kirche und Bevölkerung: Mit der Errichtung des „Santo Tribunals“ 44 dominiert die katholische Kirche als bestimmende Kraft ab dem 16. Jh. die geistig- Ulrike Schröder 46 moralischen Formationsversuche des brasilianischen Volkes in der Einübung des Christentums und der Auferlegung der ihm inhärenten Konzepte. Allerdings hat sie dabei nur mäßigen Erfolg. Während in Deutschland die Ehe schon ab dem 12. Jh. die Öffentlichkeit durch Teilnahme an der kirchlichen Feier und der schriftlichen Registrierung der Ehe miteinschließt, was der Heiratsentscheidung den Status eines „Präzedens“ verleiht, das verhindert, „daß die Ereignisse vergingen oder sich wandelten“, 45 setzt sich das Modell der Registratoren in Brasilien nicht durch. 46 Was vom katholischen Glauben übernommen wird, wird in die eigene Kultur übersetzt und mit Lebensnähe ausgestattet. 47 Demzufolge ist die Glaubenspraxis in Brasilien immer von kultischen, mystischen und rituellen Elementen durchsetzt, die auf die schwarzen Sklaven und Indianer zurückgehen. Da deren Kulte Körperlichkeit und Sexualität einschließen, 48 kommt es auch niemals zu einer wirklichen Übernahme der sexualitätsfeindlichen Moralvorstellungen der katholischen Kirche. Die Indianer beispielsweise übernehmen den Glauben von den Jesuiten Freyre zufolge aufgrund ihrer Freude an der Musik. 49 Das Monogamie-Konzept wird umgangen, indem es keine Sünde darstellt, mit einer Indio-Frau zu schlafen. 50 Das Aufeinandertreffen von europäischer Denktradition und Volkskultur: Der diskursive Überbau - Ideologie, Philosophie, Literatur - ist in Brasilien wie in ganz Lateinamerika bis ins 19. Jh. hinein ausschließlich von europäischem Ideengut geprägt. 51 Als die Brasilianer schließlich mit eigener schriftlich fixierter Kulturproduktion beginnen, 52 verschmilzt das importierte Gedankengut mit kultureigenen Elementen, das Abstrakte mit konkreter Lebensnähe. 53 So spricht der Peruaner Miro Quesada beispielsweise statt von einer „filosofia latinoamericana“ von einem „filosofar latinoamericano“, um dadurch den Prozeßcharakter „lateinamerikanischen Philosophierens“ zum Ausdruck zu bringen; 54 Identitätsbildung verläuft in viel stärkerem Maße als bei uns über Volkskultur. 55 Das spiegelt sich beispielsweise in der breiten Rezeption der Música Popular Brasileira wider, die durch alle Schichten und Altersgruppen gehört wird. Fragt man nun in diesem Kontext nach einer Adaption des romantischen Liebesideals in Brasilien, so zeigt sich, daß die diesem Konzept immanente Gefühlsbejahung aufgenommen wird, die - wie Luhmann es skizziert - romantische Paradoxie der Erfahrung der Steigerung des Sehens, Erlebens und Genießens durch Distanz, 56 die zu einer verstärkten Verbalisierung des Emotionalen überleitet und darin ihre Erfüllung sucht, jedoch nicht nachvollzogen wird. 57 Die importierte Romantik mit ihrem didaktischen Ansatz im Gegensatz zur brasilianischen Körperbetontheit erhält zwar Einzug in die Literatur, bleibt aber grundsätzlich etwas dem brasilianischen Menschentyp Fremdes. 58 Das Aufeinandertreffen von Schrift- und Volkssprache: Durch das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen läßt sich Brasilien auch als sprachlicher Schmelztiegel beschreiben: Während der Kolonialzeit herrscht eine Zweisprachigkeit vor: Einerseits etabliert sich die literalisierte Sprache Portugals; andererseits setzt sich auch eine indianisch-basierte Verkehrssprache - die „Lingua geral“ - durch, die später zusätzlich afrikanische Einflüsse erhält und alltagspraktisch angelegt ist. 59 Insbesondere durch das indianische Tupi-Guarani, das Sinneinheiten durch Präfixe und Suffixe ausdrückt, wird die Sprache in Brasilien im Gegensatz zur europäischen Diskursivität nochmals gestaltiger: Sie ist weniger formell, 60 übernimmt Begriffe anderer Sprachsysteme wie dem amerikanischen, 61 kürzt ab 62 und kreiert Wortmischungen. 63 Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 47 V. Methodische Vorgehensweise Wenn sich das methodische Vorgehen nur auf der Basis der aus der Theorie gewonnenen Schlußfolgerungen bewegen kann, bedeutet das einerseits, daß die gewählten Wirklichkeitsausschnitte nicht isoliert betrachtet werden konnten: Zur Ermittlung der Entstehung der vorliegenden Konzepte unter Studenten 64 spielte die historische Kontextgebundenheit eine enorm wichtige Rolle für das Verständnis des Liebeskonzepts als ein im historischen Prozeß einer Kulturgemeinschaft entstandenes Konstrukt. Andererseits war es für die Ermittlung der sprachlichen Konstrukte und den dahinter befindlichen Vorstellungen für die Durchführung der Studie unerläßlich, so voraussetzungslos wie möglich vorzugehen: Jede Vor-Kategorisierung steht in ihrer apriorischen Begriffssetzung einer Aufzeichnung der Art und Weise, auf die eine Kulturgemeinschaft Wirklichkeit entwirft und strukturiert, bereits im Wege. Durch diese Grundüberlegungen wurde eine Orientierung an standardisierten empirischen Sozialforschungsmethoden, die quantitativ mit vorgegebenen Kategorien operieren, unbrauchbar. Die Strukturierung und Systematisierung des Felds konnte somit also nur während der Durchführung als Prozeß „analytischer Induktion“ erfolgen. 65 Durchgeführt wurden qualitative schriftliche Befragungen - in Brasilien wie in Deutschland sind schließlich je 106 Fragebögen ausgewertet worden -, jeweils fünf Interviews zur Vertiefung, ein Experteninterview 66 und ein Interview mit einem brasilianischen Studenten, der vier Jahre lang in Deutschland gelebt hatte. 67 Daneben spielte die nichtstandardisierte teilnehmende Beobachtung eine Rolle, die sich insbesondere im Falle Brasiliens als fremder Kultur als unverzichtbar erwies. Da es sich bei der durchgeführten Studie um eine rein qualitative Studie handelt, bei der die Ermittlung der Konstrukte auf der Basis interpretativer Verstehensprozesse erfolgte, sind die Ergebnisse weder repräsentativ noch generalisierungsfähig. Die Studie sollte vielmehr dem Versuch dienen, durch Fokussierung eines konkreten Wirklichkeitsausschnitts einen verstehenden Zugang zur divergierenden Wirklichkeitsauffassung der Brasilianer zu finden. VI. Auswertung der Untersuchungsergebnisse 1. Internalisierung Im Vergleich der Antworten deutscher und brasilianischer Studenten auf die Frage nach den ersten Vorstellungen von Liebe ließen sich in der Auswertung bereits drastische Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftlichen Prägung festhalten: Während unter den brasilianischen Befragten das romantische Liebesideal lediglich einmal erwähnt wird, benennen es 32 deutsche Befragte explizit als erste Konfrontation mit einer Vorstellung von Liebe. Daneben erscheinen eine Reihe von Formulierungen, die auf das romantische Liebesideal verweisen: Wunschbild / Knutschen / Händchenhalten / Romeo und Julia / traute Zweisamkeit / man kann nur einmal lieben / Hollywood, alles happy / Ich gehör’ zu Dir, Du gehörst zu mir Ein Student schrieb: Ziemlich konservative Vorstellungen: Treue, Respekt, Verständnis, Rücksichtnahme, Zerfließen in Romantik, geistige Befruchtung, kurz: das Klischee der wahren Liebe. 68 Ulrike Schröder 48 In Brasilien dominieren dagegen affektive Begriffe, die eher die subjektive Erlebniserfahrung als eine vorgefundene Welt institutionalisierter Vorstellungen widerspiegeln: 23 Studenten beschreiben ihre ersten Eindrücke als boas com naturalidade, 69 sieben als fantástico, maravilhoso und ótima, 70 20 begegneten der Liebe mit ansiedade, 71 sechs mit curiosidade, 72 acht assoziieren damit rückblickend dor und sofrimento. 73 Daneben lassen sich Beschreibungen wie quente e intensas/ confuso/ seduç-o/ prazer física/ encarei com impulsividade/ muito forte/ euforia 74 finden. 75 Die gesellschaftliche Institutionalisierung in bezug auf ein Liebeskonzept scheint also in Brasilien im Gegensatz zu Deutschland nur sehr schwach ausgeprägt zu sein. Der brasilianische Soziologe Vieira betrachtet dieses Phänomen im Rückgriff auf die von Ribeiro skizzierte Formation des brasilianischen Volkes als „povo novo“ als Folge der starken Interethnie: Você tem uma criança que é filha ou filho de pais de etnias distintas. Nesse caso a cultura do pai é diferente da cultura da m-e. E agora há a pergunta: Qual das duas culturas o filho vai seguir? A resposta é: Ele vai tentar seguir as duas. Portanto n-o vai seguir nenhuma para valer, seriamente. Esse é um fenômeno que ocorre sempre quando, numa populaç-o, o interetnismo é muito pesado. Isto instaura uma ambigüidade, onde o modo de se comportar n-o se coincide com os conceitos dados. […] E mais, a educaç-o com relaç-o ao amor no processo familiar do brasileiro, ela é praticamente inexistente. O amor no Brasil de maneira geral devido a uma série dos fatores se aprende na rua, n-o se aprende em casa. 76 (Du hast ein Kind, das Tochter oder Sohn ethnisch unterschiedlicher Eltern ist. In diesem Fall ist die Kultur des Vaters von der der Mutter verschieden. Und an diesem Punkt taucht die Frage auf: Welche der beiden Kulturen wird der Sohn annehmen? Die Antwort ist: Er wird versuchen, beiden zu folgen. Folglich wird er keiner von beiden wirklich und ernsthaft folgen. Dies ist ein Phänomen, das immer dann innerhalb einer Bevölkerung auftaucht, wenn es eine starke Interethnie gibt. Das schafft eine Ambiguität, wobei sich die Verhaltensweise nicht mit den gegebenen Konzepten deckt. […] Außerdem ist die Erziehung im Hinblick auf die Liebe im brasilianischen Familienprozeß quasi inexistent. Infolge einer Reihe von Faktoren wird die Liebe in Brasilien generell auf der Straße erlernt, nicht Zuhause.) So ist es auch nicht verwunderlich, daß 24 deutsche Studenten ihre Eltern als Einflußfaktor bei ihren ersten Vorstellungen von Liebe nennen; in Brasilien dagegen werden die Eltern gar nicht erwähnt. Während deutsche Studenten eine Einheit zwischen Konzept 77 und Realität anstreben und sich stärker in moralischen Termini verhalten, stößt man bei den brasilianischen Studenten auf ein „vácuo normativo dentro de quase uma ausência de superego dentro da moralidade interna dos estudantes.“: 78 Allgemein läßt sich eine viel stärkere Linearität in den Antworten der deutschen Studenten im Gegensatz zur augenfälligen Widersprüchlichkeit in den Antworten brasilianischer Studenten bemerken. Bei den Beschreibungen zu den Idealvorstellungen einer Beziehung taucht bei einigen Studenten beispielsweise häufig ein Wechsel von dem Personalpronomen „eu“ zu dem Personalpronomen „você“ 79 auf, worin sich zeigt, daß es zwar eine Vorstellung davon gibt, wie eine Liebesbeziehung auszusehen hat, diese Vorstellung jedoch nicht wirklich internalisiert und zur eigenen Lebenswirklichkeit geworden ist. Ein Interviewpartner gibt eine explizite Beschreibung seiner Konfrontation mit den Strukturen des europäischen Konzepts: Depois eu fui meio quadrado, meio tradicional […]. Eu namorei com a Claudia que é uma colega da física, que vive em França, eu comecei me contaminando com uma certa possessividade que ela tinha em relaç-o ao mim, foi uma coisa muito estranha … 80 Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 49 (Danach war ich mehr oder weniger schematisiert, mehr oder weniger traditionell […] Ich war mit Claudia zusammen, die eine Kommilitonin der Physik ist, die aus Frankreich kommt, ich begann damit, mich mit einer totalen Besitzergreifung anzustecken, die sie in bezug auf mich hatte, das war etwas sehr Befremdliches.) 2. Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt versus heterogene Strukturen in der Beziehungsrealität Geschlossenheit versus Offenheit: Als brasilianischer Student eine feste Beziehung zu haben, muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß die beiden Akteure der Beziehung der Auffassung sind, Liebe sei das Motiv für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung ihrer gemeinsamen Lebenswirklichkeit. So gibt bei der Frage nach den Gründen für den Zusammenhalt der aktuellen Beziehung jeder zehnte Student pragmatische Motive wie Geld oder gemeinsame berufliche Projekte an, betrachtet die Beziehung jedoch nicht - und das ist in Deutschland schwer vorstellbar - als negativ. Einen One-night-stand oder eine Affäre zu haben, ist andererseits auch nicht automatisch mit einem oberflächlichen Abenteuer gleichzusetzen, das mit „Liebe“ nichts zu tun hat und keine weiteren Spuren hinterläßt. 81 So erstaunt es nicht, daß alle brasilianischen Interviewpartner bei der Frage nach der Anzahl bislang geführter Beziehungen im Gegensatz zu den deutschen Interviewpartnern nachhaken, was damit genau gemeint sei. Die deutsche Zweipoligkeit „eine Beziehung haben/ nicht haben“ verwischt in Brasilien dabei zusätzlich zum einen durch die Unterscheidung „ficar“ und „namorar“, 82 zum anderen durch die Inexistenz verbal klar gesetzter Anfangs- und Ende-Interpunktion von Beziehungen. So beschreibt eine Interviewpartnerin das Ende einer Beziehung beispielsweise als Demonstration und nicht als Definition: „Eu torno-me mais ausenta.“ 83 In dieser Divergenz diskursiver und demonstrativer Behandlung der Erfahrungswirklichkeit Liebe zeigt sich bereits, wie Sprache - im Sinne von Schütz und Berger/ Luckmann - Erleben durch Sinnsetzung zergliedert und ihm duale Kategorien zuordnet. 84 „Basis“ versus „complemento“: Der Bedeutungszuwachs - als Konstruktion und Absicherung subjektiver Wirklichkeit -, 85 der einer Liebesbeziehung durch Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt für das eigene Leben anheimfällt, ist bei deutschen Studenten weitaus höher als bei brasilianischen: Für 51 der insgesamt 106 deutschen Befragten hat die Liebesbeziehung den höchsten Stellenwert im Leben, 45 stellen sie neben andere Lebensbereiche, und lediglich vier halten sie für unbedeutender. Bei den brasilianischen Befragten rangiert dagegen die Gleichstellung neben andere Lebensbereiche an erster Stelle mit 38 Befragten, zehn setzen die Liebesbeziehung an oberste Stelle, und für 13 Studenten spielt sie eine untergeordnete Rolle. Auffällig ist, daß 20 deutsche Studenten die Liebesbeziehung als Basis bezeichnen - ein Begriff, der bei den brasilianischen Studenten lediglich dreimal auftaucht, während sich hier eher die Tendenz abzeichnet, die Liebesbeziehung als complemento oder lucro 86 zu beschreiben - Begriffe, die bei den deutschen Studenten gar nicht erscheinen. Die Antworten brasilianischer Studenten scheinen auf die Wirkung abzuzielen, die eine Liebesbeziehung ergänzend für andere Lebensbereiche hat, während das Basisverständnis von einer Liebesbeziehung unter deutschen Studenten per se die anderen Lebensbereiche mitkonstituiert. Ulrike Schröder 50 Einmaligkeit versus Gleichwertigkeit der Personen: Mit diesem unterschiedlichen Stellenwert, den die Beziehung im Leben des Einzelnen einnimmt, korreliert auch die Bewertung des Partners: 81 deutsche Studenten und nur 53 brasilianische Studenten glauben daran, in ihrem Partner eine einzigartige Person angetroffen zu haben. In Korrelation zu der oben beschriebenen kontinuierlichen Ausdifferenzierung der Privatssphäre im historischen Prozeß in Deutschland im Gegensatz zu Brasilien läßt sich heute beobachten, daß die „Territorien des Selbst“ 87 in Deutschland klarer definiert und abgegrenzt sind als in Brasilien. 88 Das viel engmaschigere soziale Netz, das die einzelnen Wirklichkeitssphären überspannt und mehr in sie hineingreift, als dies in Deutschland der Fall ist, fängt in Brasilien auch den hohen Stellenwert des Partners als nahezu einziger Primärgruppen-Beziehung ab. Die Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt im Sinne Luhmanns muß somit insbesondere als Resultat zunehmender unpersönlicher Beziehungen betrachtet werden, in denen der Mensch „nicht oder nur in den engen Grenzen des jeweiligen Systems, über sich selbst kommunizieren kann“. 89 Die Suche nach dem Ich als Einheit wird demzufolge in die Liebesbeziehung hinein verlagert, in der der Partner die „Validierung der Selbstdarstellung“ 90 des Einzelnen sicherstellen muß. Das sich daraus ergebende kompensatorische Interesse an Intimbeziehungen führt auf diese Weise zu ihrer Autonomisierung, in der die Stabilität aus rein persönlichen Ressourcen im gleichzeitigen Sicheinlassen auf den Anderen ermöglicht werden muß. 91 Durch die daraus zwangsläufig resultierende Doppeltwertung aller Ereignisse unter Führung der Differenz persönlich/ unpersönlich fördert der Code allmählich eine als bedeutungsgeladen wahrgenommene eigenständige Lebenswirklichkeit zutage. Vielleicht läßt sich daraus die Tendenz deutscher Studenten erklären, den Partner dem romantischen Liebesideal entsprechend als etwas Einzigartiges und Besonderes wahrzunehmen, wohingegen brasilianische Studenten stärker im Sinne eines passionierten Liebesideals ihren Partner als Träger von Eigenschaften betrachten, die auch bei anderen zu finden sind: N-o consegui idealizar uma pessoa. Tem tantas pessoas. 92 (Ich bin nicht in der Lage, jemanden zu idealisieren. Es gibt so viele Menschen.) Er war einfach zu der Zeit einfach meine zweite Hälfte. 93 3. Fixierung durch Sprache versus Momenterleben Der Gebrauch abstrakter versus konkreter Begriffe zur Beschreibung unterschiedlicher Erwartungen: Indem Sprache - im Sinne Schütz’ und Berger/ Luckmanns - die Eigenschaft besitzt, Erlebnisphänomene über den Moment hinaus zu fixieren und ihnen damit Kontinuität zu verleihen, erwachsen Erwartungsstrukturen, so daß es auch hinsichtlich der Rolle des Partners im Leben des Einzelnen zu einer Kristallisation solch sprachlich fixierter Vorstellungen und der damit verbundenen Erwartungen kommt. Je mehr Invarianzen und Idealtypen eine sprachlich ausdifferenzierte Symbolwelt dann ich sich trägt, um so mehr lenkt sie auch künftige Wirklichkeitsbestimmungen. Deutsche Studenten beschreiben ihre Vorstellungen von einer Liebesbeziehung in Abstrakta: Am häufigsten werden bei der Frage nach den Gründen für den Zusammenhalt der Beziehung gemeinsame Interessen und gemeinsame Einstellungen angegeben; 94 an gleicher Stelle stehen die Begriffe Vertrauen/ Verständnis/ Respekt/ Ehrlichkeit/ Offenheit. 95 Brasilianische Studenten nennen dagegen am häufigsten atraç-o física/ sexo/ tes-o. 96 Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 51 Ein ähnliches Ergebnis findet sich parallel dazu bei den Angaben der Befragten, die der Meinung sind, in ihrem Partner etwas Besonderes gefunden zu haben: 45 deutsche Studenten beschreiben das Besondere in den Termini Verständnis/ Vertrauen/ Ehrlichkeit/ Respekt/ Toleranz; 18 erwähnen die Gemeinsamkeiten. Zwölf brasilianische Studenten bezeichnen amor/ carinho 97 als das Einzigartige, was sie in ihrem Partner gefunden haben, neun sensualidade/ beleza/ sexo/ cheiro/ a voz 98 und weitere neun amizade/ cúmplizidade. 99 Mangel an Verständnis/ Aufmerksamkeit/ Respekt/ Vertrauen/ Aufrichtigkeit rangiert als am häufigsten genannter Kritikpunkt am Partner unter deutschen Studenten an oberster Stelle. 100 Diese Ergebnisse verweisen auf den Vorrang abstrakter Vorstellungen von einer gemeinsamen Beziehung unter deutschen Studenten gegenüber der stärkeren Betonung körperlicher Nähe bei brasilianischen Studenten. Verbale versus non-verbale Konstitution und Reproduktion der Liebesbeziehung - Kontaktherstellung: Kontaktherstellung findet unter deutschen Studenten über verbale Kommunikation statt, die von zwei Erwartungshaltungen getragen wird: Darstellung der eigenen Originalität sowie deren Validierung durch den Anderen. Die Kommunikation soll nicht als inhaltsleeres Ritual ablaufen sondern den Akteur „ins Licht rücken“ 101 und Informationen über ihn bereitstellen. Gelingt es ihm, eine grundlegende Bejahung seiner Darstellung zu erzielen, beginnt die Suche nach den Gemeinsamkeiten: Ich versuche, ihr näherzukommen. Das beginnt natürlich bei der Vertiefung eines Gesprächs. Ich versuche, Gemeinsamkeiten auszukunden und daran anzuknüpfen, sei’s nun Musik oder Studium oder irgendwas anderes, eine Meinung, eine gemeinsame Einstellung. 102 Um ein gewünschtes Image zu erzielen und aufrechtzuerhalten, muß der Akteur über ausgefeilte Techniken der Gratwanderung verfügen, die die Kontaktherstellungsphase auch belasten oder die Bekundung von Interesse gar blockieren können: Die Angst, das Gesicht zu verlieren und dem Originalitätsdruck nicht standhalten zu können, überwiegt dann. Der Kontaktherstellung über Körpersignale unter brasilianischen Studenten kommt dagegen eine Entlastungsfunktion zu: Der Blickkontakt, der hier an die Stelle der erwartungsgeladenen Verbalisierung von Interesse tritt, sorgt dafür, daß es in Brasilien nicht das Initiationsproblem wie in Deutschland gibt. Entscheidender sei neben dem Blickkontakt auch „sua maneira de falar, sua atonalidade de voz, sua posiç-o corporal“. 103 Das „Wie“ als sexuelle Komponente erhält einen höheren Stellenwert als das „Was“ als intellektuelle. Indem das sprachliche Verhalten unter deutschen Studenten einen höheren Stellenwert einnimmt, wird das momentan Erlebte auch stärker auf Vergangenheit und Zukunft projiziert, wohingegen dieses Phänomen bei brasilianischen Studenten weniger stark in Erscheinung tritt, da die stärkere Akzentuierung des Moments und die daran gekoppelte Tendenz zu nonverbaler Kommunikation das Hier und Jetzt nicht transzendieren kann. Durch diese Abstraktions- und Integrationsfunktion von Sprache wird dem Erlebten unter deutschen Studenten auch mehr Sinn zugeschrieben und mehr Bedeutung verliehen. Dauer versus Moment als Konstituenten der Beziehungswirklichkeit: Wie bereits angeführt, wird durch sprachliche Fixierung ein Rahmen konstituiert, innerhalb dessen über den Moment hinaus im Zeitbezug von Vergangenheit und Zukunft Bedeutungszuweisungen zu einem sinnvollen Ganzen projiziert werden. Damit stellt sich das Leben in der raum-zeitlichen begrifflichen Welt dem schlichten Hinleben gegenüber. Die reinen Erlebnisphänomene lassen sich im „Strom des Bewußtseins“ 104 sinnhaft erfassen und in eine biographische Ordnung Ulrike Schröder 52 einfügen, die sich ihrerseits auf gesellschaftliche Institutionalisierungen stützt, die Bewertungskategorien offerieren. Erfahrung gerinnt so zur Erinnerung, und Erlebnisphänomene tendieren zur Beharrung, indem sie als Entität wahrgenommen werden. 105 Die damit aus den sprachlich gewonnenen Invarianten der Erfahrung erstellte Sinnwelt ist in Deutschland ausgeprägter als in Brasilien, wo sich das Leben durch eine viel stärkere Orientierung am Moment auszeichnet. Der Durchschnitt bisheriger Beziehungen liegt in Brasilien deutlich höher als in Deutschland; 106 damit korreliert auch der Durchschnitt der Beziehungsdauer, der in Brasilien 1,75 und in Deutschland 3,1 Jahre beträgt. Einige brasilianische Studenten können nicht einmal genau angeben, wie viele Beziehungen sie schon hatten. Auffällig ist außerdem, daß die brasilianischen Befragten immer wieder darauf verweisen, daß das Gesagte nur für den Moment Gültigkeit besitze. 107 Ebenso weisen die Fragebogenergebnisse der brasilianischen Studenten größere Unentschlossenheit als die deutscher Studenten auf: 62 deutsche und 44 brasilianische Studenten können sich vorstellen, mit ihrem derzeitigen Partner ein weiteres Jahr zusammen zu sein; 45 deutsche und 25 brasilianische Studenten wünschen sich die Beziehung für den Rest ihres Lebens. 32 brasilianische Studenten entscheiden sich bei den im Fragebogen zur Disposition gestellten idealen Beziehungskonstellationen nicht für eine dauerhafte sexuell treue Beziehung; in Deutschland lediglich 20. 4. Verhaltenskoordination im Interaktionsbereich: Angleichung der Perspektiven als Resultat dauerhafter Verstehensfiktion versus Fremdfaszination als Resultat momenthaften Erlebens Luhmann beschreibt die Entstehung des romantischen Liebesideals als Resultat einer Inversion des Personenverständnisses: An die Stelle der Inkonstanz von Beziehungen, die aus der Annahme der Konstanz der Person folgt, tritt die Möglichkeit der Konstanz von Beziehungen, die aus der Annahme der Inkonstanz - positiv umgewertet in die Wandlungsfähigkeit von Personen - folgt. Diese Grundannahme ist Fundament der Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt, in der die Akteure „aneinander wachsend“ eine ideale Sphäre zu bewohnen anstreben. Aussicht auf Dauer, die nun realisierbar geworden zu sein scheint, stellt damit die Basis für einen auf die Zukunft projizierten besiedelbaren imaginären Raum dar; die grundsätzliche Annahme der Möglichkeit von Verstehen 108 wird somit zur Saat der Besiedelung der geschaffenen Sinnprovinz. Dadurch, daß im Falle Brasiliens weniger von klar verfaßten Konzepten als vielmehr von heterogenen und ambivalenten Entwürfen gesprochen werden muß, tritt hier auch die hohe Erwartung gegenseitigen Verstehens stärker in den Hintergrund. Unter deutschen Studenten dagegen wird sie zur Grundforderung und daran gekoppelt auch zum Grundproblem der Beziehung. Gegenseitiges Verstehen wird zur Forderung nach einer „ähnlichen Wellenlänge“, 109 die Kommunikation „über pure Plattheiten“ 110 hinaus sichern soll, bei äußerer Deckungsgleichheit 111 beginnt und schließlich in das Ideal des Einsseins mündet: „Das Ideal bedeutet eigentlich auch blindes Vertrauen, blindes Kennen …“. 112 Mit dieser Basiserwartung sind zwei weitere Erwartungen eng verknüpft: Vertrauen als Erfahrungsersatz und Offenheit bzw. Ehrlichkeit. Die an diese Erwartungen gekoppelten Probleme gerinnen dann zur Ursache für Mißverständnisse, Enttäuschungen und Unsicherheiten. Mißverständnisse werden von allen deutschen Interviewpartnern als ein Problemfeld Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 53 genannt, das innerhalb der Beziehung einen großen Raum einnimmt. Bei genauerer Beleuchtung des Begriffs „Mißverständnis“ fällt auf, daß seiner Verwendung die beruhigende Möglichkeit des Richtig-verstanden-Werdens anhaftet, womit die prinzipielle Möglichkeit der Richtigstellung erhalten bleibt: I: Was sind Auslöser für Mißverständnisse? P: […] was wurde nicht direkt angesprochen, was schwebt so im Raum, was liegt zwischen den Zeilen und naja, und das läßt sich dann eben aufblasen bis zu einem riesigen Mißverständnis und eben bis zum Streit, naja, und dann geht das ja üblicherweise: „Du hast aber gesagt, das ist so und so.“ Und dann hat der eine das darunter verstanden, der andere aber etwas vollkommen anderes usw. usf., bis man dann irgendwann zur Lösung des Streits dahinter kommt: Ich hab’s eigentlich ganz anders gemeint, denn es war eigentlich die und die Situation …, usw. usf., bis es dann abgeklärt ist. 113 Dieses Zitat demonstriert sehr anschaulich den wirklichkeitskonstruierenden Aspekt von Kommunikation in der Beziehung: Unverständnis wird in Mißverständnis transformiert, das die Chance zur scheinbaren Angleichung zweier unterschiedlicher Auffassungen sicherstellt und neue Fiktionen erzeugt. Versagt die Verstehensfiktion, werden eigenmächtig erstellte Erklärungsmodelle herangezogen, um die Aufrechterhaltung und Stabilisierung der erwünschten Situation zu gewährleisten: Wenn er mich in sein Leben einfach nicht einplant und unfähig ist, seine Gefühle für mich genau zu definieren. Ich glaube, daß es zum großen Teil an seiner eigenen Unsicherheit und Lebensangst liegt und daran, daß er von seiner Familie nie richtig kritisiert wurde, sondern (als einziger Junge) immer nur bestärkt und idealisiert worden ist (besonders von seiner Mutter). 114 Gerade auf der Beziehungsebene wird Sprache so zum Hersteller verführerischer Sinnpuzzle mit Wirklichkeitsanspruch. Dadurch bleibt die Vergangenheit nicht „starr und unveränderlich“, sondern wird „geschmeidig und biegsam“: 115 Immer dann etwa, wenn das gegenwärtige Verhalten eines Menschen, mit dem wir zu tun haben, uns in seiner Vergangenheit gewisse Handlungen finden läßt, die zusammengenommen etwas über seinen Charakter oder seine Persönlichkeit auszusagen scheinen, aufgrund dessen kaum etwas anderes als eben sein gegenwärtiges Verhalten zu erwarten war, dann haben wir ein rahmensmäßig tückisches Spiel begonnen, das jedes beliebige Bild zu zeichnen erlaubt, und es gibt ja viele starke Beweggründe, diese Kunst anzuwenden. 116 Die zunehmende Selbstreferentialität kommunikativer Prozesse im Beziehungssystem führt auch zu einer stärkeren Thematisierung der Beziehung selbst: So rangiert unter den deutschen Studenten die „Beziehung selbst“ als Gesprächsthema zwischen den Partnern im Gegensatz zu Gesprächsthemen mit anderen an erster Stelle, 117 während dieses Thema unter brasilianischen Studenten lediglich von acht Befragten genannt wird. An die Stelle einer allmählichen Angleichung der Akteure im Beziehungsprozeß tritt unter den brasilianischen Studenten eine augenblickliche gesteigerte Impulsivität, bei der der Andere aufgrund seiner Andersartigkeit als Auslöser für die eigene Verzückung empfunden wird. 118 Diese auf den Moment gerichtete Impulsivität, die eher an das passionierte Liebesideal erinnert, taucht auch in den Interviews auf. So überwiegen hier lebendige Situationsbeschreibungen, in denen sich die Befragten häufig in paradiesischen Schwärmereien ergießen 119 Dabei erklingen gelegentlich auch tropikalistische Untertöne: Ulrike Schröder 54 Aqui no Brasil essas coisas s-o mais naturais. N-o existe tanto imposiç-o, tanto disciplinamento com relações, com esse tipo de relacionamento … 120 (Hier in Brasilien sind diese Dinge viel natürlicher. Es gibt nicht so viele Regeln, soviel Disziplin in bezug auf Beziehungen, mit dieser Art von Beziehung …) 5. Funktion von Liebesbeziehungen: Refugium versus Ventil Eine Hauptfunktion, die die Liebesbeziehung unter deutschen im Unterschied zu brasilianischen Studenten erfüllen soll, liegt in der Vermittlung von Sicherheit: Der Entzug psychologischer und sozialer Basissicherheiten als Folge wachsender funktionaler Differenzierung, die mit einer Zunahme unpersönlicher Beziehungen und einer Abnahme persönlicher Beziehungen verbunden ist, korreliert mit einem verstärkten Bedürfnis nach der Gewährleistung des Lebensglücks durch die Liebesbeziehung. Die Beziehung funktioniert so als Refugium. 25 deutsche Studenten beantworten die Frage nach dem Besonderen, was sie in ihrem Partner gefunden hätten mit Treue/ Sicherheit/ Halt/ Fürsorge/ Geborgenheit - Begriffe, die bei den brasilianischen Antworten nicht einmal erscheinen. Bei der Frage nach den Gründen für den Zusammenhalt der Beziehung wird neunmal Treue genannt. 121 Eine Studentin schreibt: „Die Gewißheit, daß ich ihm am wichtigsten bin.“ 122 Enttäuscht fühlt sich ein Student in folgender Situation: Wenn ich nicht weiß, wo mein Partner ist und was er macht. Ich muß es meistens wissen. 123 Ein Interviewpartner hält „eine tiefe Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden, wie ich sie bei mir festgestellt habe“ 124 für das Besondere, was er in seiner Partnerin gefunden hat; ein weiterer erwähnt, daß er, wenn er seine Freundin besucht, „keine Action“ machen will, sondern daß es ihm statt dessen darum ginge, „das Gefühl zu haben, angekommen zu sein.“ 125 ; ein anderer hält „… bis daß der Tod Euch scheidet“ für sich persönlich mit der Begründung für realisierbar, daß er zunehmend merkt, daß er endlich „zur Ruhe kommen möchte“: 126 Beziehung als kalkulierbarer Stillstand. Dieser tiefen Sehnsucht nach einer Beziehung zur Schaffung und Erhaltung einer Ruhepol-Provinz wohnt auch eine viel höhere Kompromißbereitschaft inne, als es in Brasilien der Fall ist: Auf die Frage nach den Kompromissen, die der Befragte eingehen würde, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, rangiert alles 127 unter deutschen Studenten mit 27 Befragten an erster Stelle, bei den brasilianischen dagegen nenhum 128 mit 24 Befragten. Immerhin fünf Studentinnen schreiben, daß die Beziehung erst dann zuende sei, „wenn er mich nicht mehr liebt“. Stirbt für einen großen Teil der brasilianischen Studenten die Beziehung mit dem Auslaufen der sexuellen Komponente, sind deutsche Studenten offenbar dazu bereit, für den Erhalt der Beziehung mehr Rückschläge in Kauf zu nehmen, wie sich an der verwendeten Termini zur Beschreibung der Kritikpunkte am Partner zeigen läßt: Normalität/ Sturheit/ besserwisserisch/ rechthaberisch/ prinzipientreu/ labertrum/ selbstgerecht/ verwöhnt/ festgefahren/ Langeweile/ engstirnig/ entwickelt sich nicht weiter Hinter solchen Aussagen steht die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen Erwartung und ihrer Nichterfüllung, die aber keine Konsequenzen nach sich zu ziehen scheint. Bei den brasilianischen Studenten trifft man demgegenüber auf eine stärkere Akzentuierung der aktionsstiftenden Funktion von Beziehungen: Neben Tanzen, Musik, Amüsieren und Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 55 Spaß als Gründe für den Zusammenhalt der Beziehung spielt das Sexualleben eine wichtigere Rolle als in Deutschland: Eu acho que em America Latina os relacionamentos s-o mais sensuais, s-o mais daquele lado da conquista pela sensualidade por uma pessoa mostra os atrativos físicos. 129 (Ich glaube, hier in Lateinamerika sind die Beziehungen sinnlicher, sie sind mehr vom Typ Eroberung durch die Sinnlichkeit, indem jemand seine physischen Attraktionen zur Schau trägt.) Unter Liebesbeweisen verstehen die brasilianischen Interviewpartner durchweg spontane Körpersignale wie „olhar“, „tocar“, „a dança“ und „um riso“, 130 auf die sie sehr viel Wert legen, während die deutschen Interviewpartner damit eher den Satz „Ich liebe Dich.“ oder Aufmerksamkeiten wie Blumen etc. in Verbindung bringen, die sie für weniger bedeutsam halten als die Zuverlässigkeit des Anderen. 6. Konsequenzen für die Kommunikation: Duplizierung aller Informationen beim romantischen Liebesideal versus Spielcharakter in der „aktivierten Passion“ Die erwähnte Ausdifferenzierung einer Spezialsemantik für Liebe, die im Übergang zum romantischen Liebesideal immer mehr Lebensbereiche absorbiert, bis schließlich jede Information auch in den Liebescode übersetzbar wird (Duplizierung aller Informationen), stellt sich in der Beziehungspraxis deutscher Studenten ebenfalls deutlicher heraus als in der brasilianischer Studenten: Bei der Frage nach den Verhaltensweisen des Partner, über die sich der Befragte ärgert, nennen deutsche Studenten häufiger Verhaltensweisen, die außerhalb des reinen Beziehungskontextes angesiedelt sind: Fehlende Bildung und fehlendes Interesse an Themenkomplexen, die den Befragten interessieren, werden 19 Mal angegeben, von brasilianischen Studenten hingegen lediglich sechsmal. Daneben finden sich auch Kommentar wie Beim Einschlafen nimmt sie den größten Teil des Bettes ein / Nachlässigkeiten im Haushalt / Qualitäten als Autofahrerin (3x) / Fernsehsucht / bei ihr sieht’s aus wie im Schweinestall / zerquetschte Zahnpastatube / gibt zuviel Geld für Scheiße aus / schläft zuviel / keine Arbeitsmoral / wenn er mir nicht die Fernbedienung überläßt / wenn er nicht zum Friseur geht / wenn sie Ecstasy nimmt Durch die stärkere Ausrichtung am Moment konzentriert sich die Codierung von Liebe unter brasilianischen Studenten stärker auf Kontaktherstellung als auf die Beziehung selbst als ein geschlossenes System mit eigenem Regelwerk. Dementsprechend machen sich hier am ehesten Einflüsse des passionierten Liebesideals bemerkbar. 131 So erscheint die „aktivierte Passion“ 132 im verbalen „Balzritual“ brasilianischer Studenten auch inhaltsleerer: A ritualizaç-o geralmente tem a base na linguagem. E, no caso brasileiro, essa linguagem n-o é estabelizada, isso significa um alto grau de ruído e um baixo grau de informaç-o. Portanto, a informaç-o relativa ao amor é muito baixa. 133 (Die Ritualisierung hat ihre Basis normalerweise in der Sprache. Und - im brasilianischen Fall - ist die Ausdrucksweise nicht stabilisiert; das bedeutet einen hohen Grad an Geräusch und einen niedrigen Grad an Information. Folglich ist die Information bezüglich der Liebe sehr niedrig.) Ulrike Schröder 56 Ritualisierung ist unter brasilianischen Studenten innerhalb des Beziehungssystems nur marginal ausgeformt und erscheint insbesondere bei der Kontaktherstellung als eindeutig umrissenes Repertoire von Spielregeln, die jedermann zugänglich sind. Soll unter deutschen Studenten schon beim ersten Aufflackern von Interesse am Anderen die eigene Originalität möglichst unauffällig in die Kommunikation eingeschmuggelt werden und bedingt das bereits die Beherrschung differenzierter, reflektierter und komplizierter Konversationskunststückchen, deren oberstes Gesetz es ist, sich als abseits jeder gängigen Ritualisierung stehend zu präsentieren, tritt unter brasilianischen Studenten klassische Galanterie auf den Plan. In solchen Kommunikationsabläufen findet sich die konventionelle Rollenverteilung, die hier in der passionierten Version zweier gegenläufiger Symmetrien auftritt: Belagerung und Eroberung der Frau als Selbstunterwerfung unter ihren Willen. 134 Die Verführung ist dann gewolltes Spiel zweier Parteien. 135 Bewußt sind in diesem Sinne auch die taktischen Spiele, die innerhalb der Beziehung angewendet werden: Mas quando eu me sinto minorida numa relaç-o, eu faço jogo, sim. Um jogo de seduç-o e de desinteresse. A única tática que eu vejo que eu assumo em defesa das minhas emoções é que me torno numa pessoa desinteressada com tendências de : Há um milh-o parceiros. Mas eu controlo isso, porque eu sei que eu gosto de fazer este jogo. 136 (Aber wenn ich mich in einer Beziehung zurückgesetzt fühle, spiele ich, ja. Ein Spiel der Verführung und des Desinteresses. Die einzige Taktik, die ich sehe, die ich zur Verteidigung meiner Gefühle einsetze, ist, daß ich mich in eine desinteressierte Person verwandele mit der Tendenz: Es gibt eine Million Partner. Aber ich kontrolliere das, denn ich weiß, daß ich es liebe, dieses Spiel zu spielen.) Das Paradox der momenthaften Übersteigerung im Exzeß auf der einen und der bewußten Verhaltensplanung auf der anderen Seite könnte vielleicht auch als Erklärung dafür dienen, daß die Mehrheit der brasilianischen Studenten die Auffassung vertritt, Liebe sei in erster Linie Zufall, das damit verbundene Gefühl ein kreiertes, 137 während 69 deutsche Studenten Liebe in romantischer Tradition dem Schicksal zuschreiben. VII. Schlußfolgerungen Die durchgeführte Fallstudie zum Liebeskonzept deutscher und brasilianischer Studenten hat ergeben, daß das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Liebe in zwei verschiedenen Kommunikationsgemeinschaften auch zwei unterschiedliche Erfahrungswirklichkeiten zutage fördert. Durch die konstruktivistische Perspektive wurde dabei ein Beobachtungsrahmen geschaffen, der die Entdeckung dieser divergierenden Konstruktion von Erfahrungswirklichkeit ermöglichte, die ohne diese Perspektive unter Umständen nicht entdeckt worden wäre. Versteht man nun den vorgenommenen Vergleich des Liebeskonzepts deutscher und brasilianischer Studenten als exemplarische Gegenüberstellung zweier Erfahrungswirklichkeiten, ergeben sich mit einem solchen Ergebnis eine Reihe von Feldern, auf denen die Kommunikationswissenschaft in ihrer interdisziplinären Ausrichtung tätig werden kann: In diesem Zusammenhang wäre insbesondere nach kulturspezifischen Interdependenzen zwischen Begriffen und Verhalten auf verschiedensten Wirklichkeitsebenen zu fragen. Kontextgebundene Analysen von Begriffswelten, die solche Wirklichkeitssphären abstecken, könnten dann darauf abzielen, Begriffe wie „Angst“, „Wahrheit“ oder „Stolz“ aus ihren substantiellen Kategorien herauszuheben und in ihrer Entstehung, in ihrem Gebrauch und in ihrer Relevanz Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 57 für die jeweiligen Kommunikationsteilnehmer ausfindig zu machen. Erst ein solch profunder verstehender Zugang zu den hinter der Verwendung von Begriffen stehenden Sinnwelten einer Kulturgemeinschaft kann adäquate Grundlage dessen werden, was gemeinhin als interkulturelles Verstehen bezeichnet wird. Anmerkungen 1 Die Bibel: 1.Kor.12.13. 2 Busch (1959), S. 123. 3 Shakespeare (1988), S. 1064. Akt 2 Szene 2. 4 Schiller (1952), S. 42. 5 Mit konstruktivistisch ist hier und im folgenden keine bestimmte Theorierichtung angesprochen. Gemeint ist vielmehr die den nachfolgend vorgestellten Konzeptionen zugrunde liegende Annahme, Wirklichkeitserzeugung müsse als menschliches Verhalten, als Ergebnis von Kommunikationsprozessen untersucht werden. Auf eine Gegenüberstellung der im weiteren Verlauf sehr unterschiedlichen Ansätze wird hier deshalb verzichtet. 6 Mit dieser Theorie gelingt Maturana die Etablierung einer biologisch fundierten Erkenntnistheorie auf der Basis der Neurophysiologie. Interdisziplinäre Beiträge auf der Grundlage von Maturanas Theorieentwurf liefert insbesondere der Radikale Konstruktivismus als zusammenfassender Begriff der von Siegfried J. Schmidt initiierten Siegener Schule (vgl. Schmidt 1994a und 1994b). 7 Ausgangspunkt seiner Theoriekonzeption ist für Maturana die Annahme, daß unter menschlicher Wahrnehmung die Unterscheidungsoperation eines Beobachters verstanden werden müsse, wobei „beobachten“ mit „unterscheiden“ gleichzusetzen ist (vgl. Maturana 1997: 39). Beobachtungen sind demnach keine subjektiven „Abbildungen“ der Erkenntnisgegenstände; diese sind umgekehrt als Konstrukt des Beobachtungsprozesses selbst zu verstehen. Demzufolge ist „eine Einheit durch einen Akt der Unterscheidung definiert.“ (Maturana/ Varela 1987: 46). 8 In diesem Kontext entwickelt Maturana das Autopoiesis-Konzept: Durch Netzwerke molekularer Reaktionen reproduziert sich das System einerseits selber (Selbstherstellung), andererseits grenzt es sich in eben diesem Prozeß von einem Raum - der Umwelt - ab (Selbsterhaltung). Dieses spezifische Organisationsprinzip der operationalen Geschlossenheit nennt Maturana „autopoietische Organisation“ (vgl. Maturana 1982: 141). 9 Die an einer Interaktion beteiligten Organismen verwirklichen ihre individuellen Ontogenesen als Teil eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesesn und bringen so einen neuen phänomenologischen Bereich - den Sprachbereich - hervor (vgl. Maturana/ Varela 1987: 196ff.) Eine grundlegende komprimierte Darstellung zum Bereich gegenseitiger Verhaltenskoordination findet sich in Maturana 1982: 50ff. 10 Maturana 1997: 118. 11 Der rekursive Charakter der Sprache entsteht dann in der Fabrikation „konsensueller Bestimmungen von konsensuellen Bestimmungen“ (Maturana in: Schmidt 1994: 109). 12 Maturana in: Riegas/ Vetter 1990: 22. 13 Vgl. Richards/ Glaserfeld in: Schmidt 1994: 192ff. 14 Der Informationstheorie liegt die Annahme isomorpher Strukturen von Sender und Empfänger zugrunde; diese Isomorphie existiert nach Maturana jedoch zwischen Organismus und Umwelt nicht (vgl. Maturana in: Riegas/ Vetter 1990: 15). 15 Vgl. Berger/ Luckmann 1980: 21ff. 16 Vgl. ebd.: 37f. 17 Schütz/ Luckmann 1984: 13. 18 Vgl. Berger/ Luckmann 1980: 42. 19 Geertz 1995: 193. Geertz’ Ethnographieverständnis darf dabei nicht als revolutionär verstanden werden. Sie folgt vielmehr einer Linie, die mit Malinowskis Konzept der „teilnehmenden Beobachtung“ als Einsicht in die Kontextabhängigkeit adäquater Interpretationsverfahren von funktionalistischer Seite her (vgl. Malinowski 1949) sowie mit Boas’ Aufruf zu einer Untersuchung fremder Kulturen auf der Basis nicht unserer, sondern der Konzepte der zu untersuchenden Gemeinschaft von strukturalistischer Seite her (vgl. Boas 1966) bereits ihren Ausgang nahm. Die stärkere Hinwendung zu Sprachphänomenen bei Kulturuntersuchungen wurzelt insbesondere im Sprachdeterminismus von Sapir/ Whorf (vgl. hierzu Sapir 1973 und Whorf 1978). Allerdings Ulrike Schröder 58 münden sowohl die funktionalistische als auch die strukturalistische Richtung sowie ihre Fortführungen letztlich immer wieder in Formalisierungsversuche, die darauf abzielen, geschlossene Systeme zu Erfassung von Kulturphänomenen bereitzustellen. 20 Vgl. Geertz 1995: 30. 21 Ebd.: 9. 22 Vgl. ebd.: 25. Common sense wird von Geertz demzufolge als intersubjektiv geteiltes Wissen über Welt und Wirklichkeit verstanden. Damit lehnt sich Geertz an das vorherrschende common sense-Verständnis seit Schütz an; vgl. zur Entwicklung des common sense-Begriffs Albersmeyer-Bingen 1986. 23 Dieser Luhmannsche Begriff des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums entspricht in etwa dem, was Maturana als Bereich gegenseitiger Verhaltenskoordinationen beschreibt. Luhmann zufolge sind soziale wie psychische Systeme als selbstreferentiell geschlossene, autopoietische Systeme zu verstehen (vgl. Luhmann 1991: 15ff.). Damit wird das von Maturana ausschließlich auf die zelluläre Ebene lebender Systeme bezogene Autopoiesis-Konzept generalisiert. 24 Jedes symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium wird Luhmann zufolge mit Bezug auf ein spezifisches Schwellenproblem ausdifferenziert (Vgl. Luhmann 1996: 24). Das Medium Liebe differenziert einen Bereich aus, nach dessen Regeln intime Kommunikation und Gefühle codiert werden können. 25 Luhmann 1996: 9. 26 Vgl. Luhmann ebd.: 51. 27 Der Exzeß, der nur momentfähig sein kann, begründet bis hierhin noch das Wesen der Liebe, die sich in Differenz zur Ehe versteht. Deshalb sind auch Widerstand, Umweg und Verhinderung vonnöten, da sie der Liebe Dauer verleihen (vgl. ebd.: 89). 28 Vgl. hierzu Baumgart 1985: 129f. 29 Vgl. Luhmann 1996: 36f. 30 Ebd.: 24. 31 Vgl. ebd.: 45. 32 Vgl. ebd.: 176ff. 33 Dieser Grundstock impliziert beispielsweise die von allen geteilte Auffassung, Probleme, die innerhalb einer Liebesbeziehung auftreten, im sprachlichen Prozeß reflexiv lösen zu können und die dieser Auffassung inhärente generelle Annahme von der Notwendigkeit verbaler Behandlung dieser Lebenswirklichkeit. 34 Vgl. Freyre 1990: 80. 35 Die Begriffe werden im Deutschen mit „residuale Völker“ und „neue Völker“ übersetzt (vgl. Ribeiro 1988). 36 Vgl. Ribeiro 1972: 9ff. 37 Vgl. Freyre 1990: 199. 38 Vgl. Freyre 1990: 60ff. 39 Ebd.: 199. 40 So stoßen politische Erneuerungsversuche oft auf Widerstände, die durch die Diskrepanz zwischen einer - in Luhmannscher Terminologie gesprochen - funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in Gebieten wie dem Bundesstaat S-o Paulo und einer stratifikatorischen Differenzierung der Gesellschaft im Norden des Landes, hervorgerufen werden, wie z.B. das Problem der Bodenreform zeigt. 41 Vgl. Buarque de Holanda 1995: 82. 42 Vgl. Elias 1976: 161ff. Elias veranschaulicht an dieser Stelle, wie der wachsende Selbstreflexionsprozeß und das Vorrücken der Schamgrenze miteinander verflochten sind, so daß es in der Soziogenese der europäischen Gesellschaft zu einer immer mehr Lebensbereiche absorbierenden Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre kommt. 43 Vgl. hierzu Vainfas’ Ausführungen zur Wohn- und Lebenssituation der Brasilianer zum Ende der Kolonialzeit in: De Mello e Souza 1997: S. 226ff und seine Darstellungen zur ungebrochenen Präsenz sexueller Inhalte in der Kommunikation ebd.: 227ff. 44 Vgl. Vainfas 1989: 18ff. 45 Ariès in ders. 1986: 57. 46 Vgl. Vainfas in ders. 1986: 48ff. 47 Buarque de Holanda 1995: 179. Hier sind auch die Wurzeln für die Lebensnähe der katholischen Glaubenspraxis im heutigen Brasilien zu finden, wie es sich z.B. in der Entstehung der Basisgemeinden zeigt (vgl. Briesemeister in ders. 1994: 381f). 48 Die schwarzen Sklaven kennen beispielsweise eine umfangreiche Sexualmagie (vgl. Freyre 1990: 253ff). Die Indianer kultivieren Bisexualität, Couvade, Sodomie, Animismus und Totemismus (vgl. ebd.: 100ff). Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 59 49 Vgl. ebd.: 153. 50 Vainfas in: De Mello e Souza 1997: 241. Selbst der sexuelle Akt ist mit heiligen Ritualen durchsetzt (vgl. ebd.: 250ff). 51 Vgl. Werz 1991: 258ff. 52 Diese wird in ihren Anfängen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vor allem durch Machado de Assis und Euclides da Cunha vorangetrieben (vgl. Strausfeld in ders. 1984: 12). 53 Das ist bis heute evident: Politische Theorien, Gesellschaftsanalysen oder historische Abhandlungen sind beispielsweise weniger streng wissenschaftlich ausformuliert als bei uns und schrecken nicht vor einer Stellungnahme mit gelegentlich kämpferischen Untertönen zurück. 54 „lateinamerikanische Philosophie“ - „lateinamerikanisches Philosophieren“ (vgl. Werz 1991: 222). 55 Das beginnt im Zuge des Modernismus, der mit der Semana de Arte Moderna 1922 eingeleitet wird. Auf politischer Ebene wird diese Wende durch Getúlio Vargas fortgesetzt, der 1930 Präsident wird und mit dem Schlagwort „Estado Novo“ die Industrialisierung des Landes beginnt. 56 Vgl. Luhmann 1996: 172. 57 Priore verweist in diesem Zusammenhang auf den „impulso de incorporaç-o do objeto do desejo“ („einverleibenden Impuls des begehrten Objektes“) hin, der in der romantischen Poesie Brasiliens mit der hohen Frequenz von Wörtern wie „boca“, „beijos“, „seios“ („Mund“, „Küsse“, „Brüste“) präsent ist (vgl. Priore in: D’Incao 1989: 40. 58 D’Incao (1989: 66) beschreibt die Konfrontation mit der romantischen Liebe nach europäischem Vorbild wie folgt: „O amor parece ser uma epidemia que contagia as pessoas, as quais, uma vez contaminadas, passam a suspirar e a sofrer no desempenho do papel de apaixonados. Tudo isso em silêncio, sem aç-o, sen-o as permitidas pela nobreza desse sentimento novo: suspirar, pensar, escrever e sofrer. Ama-se, ent-o, um conjunto de idéias sobre o amor.“ („Die Liebe schien eine Epidemie zu sein, die die Menschen ansteckt, welche dann - einmal verunreinigt - in Einlösung der Rolle der Liebenden, ihre Zeit mit Seufzen und Leiden verbringen. All das in Stille, ohne Aktion, lediglich mit dem, was durch den Edelmut dieses neuen Gefühls zugelassen wird: Seufzen, Denken, Schreiben und Leiden. Man liebt dann eine Sammlung von Ideen über die Liebe.“) 59 Vgl. Franzke in: Briesemeister u.a. 1994: 435f. Schon in der portugiesischen Sprache kommt es durch keltiberische, germanische und arabische Einflüsse zu einer Lockerung der lateinischen Regeln. 60 Vgl. hierzu das Ersetzen der 2. Person Singular „tu“ und des Plural „vos“ durch die 3. Person Singular bzw. Plural „você/ vocês“ oder grammatikalische Simplifizierungen durch Generalisierung der Stellung des Personalpronomens vor das Verb, z.B. in „me diga“. 61 Vgl. hierzu z.B. das Ersetzen von „comboio“ durch „trem“ von „train“ aus dem Englischen. 62 Das läßt sich z.B. in Zeitungen beobachten: Hier wird der ehemalige Präsident kurz FHC genannt (Fernando Henrique Cardoso). 63 Vgl. hierzu z.B. „portunhol“=português e espanhol. Lateinamerikanern, deren Muttersprache Spanisch ist und die Portugiesisch mit spanischem Akzent sprechen, wird z.B. gesagt, sie sprechen „portunhol“. Daneben werden an Wörter auch oft Anhängsel wie z.B. „inho“ gesetzt, die verniedlichen, vertrauter machen und sprachlich Lebensnähe zum Ausdruck bringen; vgl. z.B. „um beijo“ - „um beijinho“ („Kuß“ - „Küßchen“). 64 Daß die Wahl hinsichtlich der zu untersuchenden Kommunikationsgemeinschaft auf die Gruppe der Studenten gefallen ist, hängt neben der besseren Zugänglichkeit insbesondere in Brasilien damit zusammen, daß Studenten am ehesten eine von beziehungsexternen Zwängen befreite selbstbestimmte Konzeptualisierung garantieren. Sie resultiert aus der höheren Reflexivität hinsichtlich internalisierter Normen, der verminderten Beschäftigung mit existentiellen Grundproblemen und einem höheren Grad an Selbstbestimmung auch bezüglich der Ausgestaltung der Beziehungsrealität durch bessere Zukunftsperspektiven. 65 Vgl. hierzu auch Lamneks Grundriß einer qualitativen Sozialforschung in Abgrenzung zu quantitativen Methoden. Wichtigster Punkt hierbei ist meines Erachtens die Einsicht, daß qualitative Sozialforschung als „hypothesengenerierendes Verfahren“ und nicht als „hypothesenprüfendes Verfahren“ betrachtet werden muß (Lamnek 1995: 23). 66 Im Experteninterview wurden spezifische Fragen zur brasilianischen Entstehung und Ausformung der Konzeptualisierung von Liebe an den Soziologen Mirim Vieira gerichtet, der Begründer des Instituts „Familialística“ in S-o Paulo ist. 67 Bei diesem Interview stand die Wahrnehmung unterschiedlicher Auffassungen von Liebe in beiden Ländern im Vordergrund. 68 Männlich, 26 Jahre Ulrike Schröder 60 69 gut mit Natürlichkeit. 70 phantastisch, wunderbar und toll. 71 Angst. 72 Neugier. 73 Schmerz und Leiden. 74 heiß und intensiv/ konfus/ Verführung/ körperliches Vergnügen/ ich begegnete ihr mit Impulsivität/ sehr stark und Euphorie. 75 Zwei Interviewpartner beschreiben ihre erste Konfrontation mit Liebe konkret: Eine Interviewpartnerin berichtet von einer beobachteten sexuellen Annäherung ihres Vaters an die Mutter; ein Interviewpartner berichtet von Pornos, die er im Alter von zwölf Jahren geschaut habe: Es handelt sich hierbei also nicht um verbal und abstrakt vermittelte Vorstellungen zu dem Thema. 76 Auszug aus dem Interview mit Mirim Vieira. 77 Hierbei ist es zunächst irrelevant, ob es sich bei dem Konzept lediglich um adaptierte, modifizierte oder gar bewußt konträre Verhaltensnormen handelt. 78 Auszug aus dem Interview mit Mirim Vieira: „… normatives Vakuum innerhalb einer quasi Abwesenheit des Über-Ichs innerhalb der internen Moralität der Studenten …“. 79 „man“ 80 Interviewpartner, 29 Jahre. Bei der Frage nach der Vorstellung von deutschen Liebesbeziehungen antworten alle brasilianischen Interviewpartner, daß sie glauben, Liebesbeziehungen seien in Deutschland viel konzeptualisierter und rationaler als in Brasilien. 81 Eine Interviewpartnerin (28 Jahre) berichtet: „Tive um amor por exemplo durante duas semanas e foi muito louco, foi muito bom também, foi muito intenso …“ („Ich hatte zum Beispiel eine Liebe für zwei Wochen und die war sehr verrückt, die war auch sehr gut, die war sehr intensiv.“) 82 Die beiden Begriffe haben deshalb auch kein deutsches Korrelat. „Ficar“ erfährt jedenfalls eine emotionale Abschwächung gegenüber „namorar“ (vgl. hierzu Rieth 1997). 83 „Ich werde abwesender.“ (Interviewpartnerin, 26 Jahre). 84 Aus der Perspektive des Subjekts betrachtet definiert sich Sinn in diesem Kontext dann in Anlehnung an Schütz als „… Bezeichnung einer bestimmten Blickrichtung auf ein eigenes Erlebnis, welches wir, im Dauerablauf schlicht dahinlebend, als wohlumgrenztes nur in einem reflexiven Akt aus allen anderen Erlebnissen ‚herausheben‘ können.“ (Schütz 1993: 54). 85 Vgl. Berger/ Luckmann 1980: 163. 86 Von 28 Befragtem angegeben: Ergänzung oder Gewinn. 87 Vgl. Goffman 1982: 67ff. Mit Hilfe dieser Metapher demonstriert Goffman, wie Menschen - konkret und abstrakt, situativ und mit Anspruch auf Dauer - Räume schaffen, auf die sie Besitzanspruch erheben und deren territoriale Übertretungen durch Andere sanktioniert werden. Generell stellt Goffman für Analysen der Alltagswelt aus ethnologischer Sicht einige hilfreiche Metaphern - Theater-, Spiel-, oder Rahmenmetapher bereit (vgl. Goffman 1996a, 1996b, 1996c). Seine Hinwendung zur Dramaturgie des Subjekts innerhalb der Interaktion ermöglicht damit eine Perspektive, durch die gerade die Kommunikation und ihre Schwierigkeiten im Bereich von Liebesbeziehungen veranschaulicht werden können. 88 Dazu zählen u.a. Besitzterritorien, Informationsreservate, Gesprächsreservate und ihre Übertretungen; vgl. ebd. 89 Luhmann 1996: 194. 90 Ebd.: 208. 91 Vgl. ebd.: 198. 92 Interviewpartnerin, 28 Jahre. 93 Weiblich, 23 Jahre. 94 Von 34 Befragten angegeben, bei den brasilianischen Studenten dagegen nur von 10 Befragten. 95 Von 34 deutschen und 23 brasilianischen Studenten angegeben. 96 Von 27 Befragten angegeben; körperliche Anziehung/ Sex/ Geilheit. 97 Liebe/ Zärtlichkeit. 98 Sinnlichkeit/ Schönheit/ Sex/ Geruch/ die Stimme. 99 Freundschaft/ Kameradschaft. 100 Von 45 deutschen und 20 brasilianischen Studenten angegeben. 101 Interviewpartner, 27 Jahre. 102 Interviewpartner, 29 Jahre. Kommunikative Erzeugung von Lebenswirklichkeit 61 103 Interviewpartner, 27 Jahre: „… deine Art zu reden, der Tonfall deiner Stimme, deine Körperposition.“ 104 In Anlehnung an Husserl beschreibt Schütz diese Sinngebung durch Zuwendung als „attentionale Modifikationen“: Das „Wie“ der jeweiligen Zuwendung macht das aus, was als Sinn des Erlebnisses aufgefaßt werden kann (vgl. Schütz 1993: 96). 105 Ebd.: 62. Auf diese Weise erscheint dann auch der Imperfekt im Zusammenhang mit Liebe als „Zeit der Faszination“ mit Szenen, die darauf brennen, „eine Rolle zu spielen“ (Barthes 1988: 116). 106 5 versus 3,25 Jahre. 107 Auf die Frage nach dem Stellenwert der Beziehung im Leben des Befragten antworteten viele brasilianische Studenten, daß sie augenblicklich sehr wichtig sei; auf die Frage, ob man sich vorstellen könne, mit seinem Partner bis ans Ende seines Lebens zusammen zu sein, war oft zu hören oder lesen, daß man es vorziehe, an den Moment zu denken oder daß man sich darüber noch keine Gedanken gemacht habe. 108 Verstehen wird hier im alltäglichen Sinne als Zugang zur Innenwelt des Anderen aufgefaßt. Die bisherige Verwendung des Begriffs „Verstehen“ im wissenschaftlichen Kontext dagegen bezieht sich immer auf etwas, was ausschließlich im Kommunikationsbereich stattfindet. Hier sei auf eine Definition Luhmanns verwiesen, derzufolge „Verstehen“ dann vorliegt, wenn sinnkonstituierende Systeme eigenes Sinnerleben in einem Sinnbereich auf andere Systeme mit eigener System/ Umwelt-Differenz projizieren. Erleben wird dann in Verstehen transformiert (vgl. Luhmann 1991: 110f). 109 Interviewpartnerin, 26 Jahre. 110 Inteviewpartner, 27 Jahre. 111 Eine Interviewpartnerin (29 Jahre) gibt als Kriterium für den richtigen Partner an, daß er nicht rauchen dürfe. 112 Interviewpartner, 29 Jahre. 113 Interviewpartner, 27 Jahre. 114 Weiblich, 22 Jahre; Antwort auf die Frage, über welche Verhaltensweisen des Partners man sich ärgere. 115 Berger 1969: 69. 116 Goffman 1996: 228. 117 Von 33 Befragten genannt. 118 Typische Antworten auf die Frage, was die Beziehung zusammenhalte, sind unter brasilianischen Studenten etwa folgende: „Sua personalidade forte, seu altruismo e sua simpatia fundidas geram esta pessoa maravilhosa.“ („Ihre starke Persönlichkeit, ihr Altruismus und ihre tiefe Sympathie erzeugen diese wunderbare Person.“; männlich, 24 Jahre) oder „Ela é linda, carinhosa e me ama.“ („Sie ist hübsch, zärtlich und liebt mich“, männlich, 22 Jahre). 119 Eine Interviewpartnerin (28 Jahre) etwa spricht von „paix-o louca“ („verrückte Leidenschaft“); eine weitere (26 Jahre) beschreibt ihre Vorstellungen von eine Liebesbeziehung wie folgt: „Gosto de agir com as minhas emoções fluídas. Gosto das coisas mais autênticas, que a gente perde a cabeza quando se torna apaixonado.“ („Ich möchte gerne mit meinen fließenden Gefühlen agieren. Ich mag die authentischeren Dinge, daß die Leute den Kopf verlieren, wenn sie sich verlieben“). 120 Auszug aus dem Interview mit einem Chemieingenieur (40 Jahre), der als Student vier Jahre lang in Deutschland gelebt hatte. 121 Vgl. dazu auch eine Hamburger Studie, die in drei Etappen (1966, 1981, 1996) das Sexualverhalten deutscher Studenten untersucht hat und feststellt: „Im Vergleich von 1981 und 1996 fällt zunächst und vor allem auf, daß sexuelle Treue in festen Beziehungen heute deutlich höher bewertet und häufiger gewünscht oder verlangt wird. […] Viele andere Befunde zeigen die zunehmende Bedeutung der Treue: So werden zum Beispiel lange und treue Beziehungen heute deutlich öfter als Ideal gewünscht als noch vor 15 Jahren. Und die heutigen Studenten und Studentinnen sind tatsächlich auch treuer als in den 80er Jahren.“ (Schmidt/ Klusmann u.a. 1997: 8). 122 Weiblich, 24 Jahre. 123 Männlich, 29 Jahre. 124 Männlich, 22 Jahre. 125 Interviewpartner, 27 Jahre. 126 Interviewpartner, 29 Jahre. 127 Teils eingeschränkt durch bei Gegenseitigkeit. 128 Keinen. 129 Interviewpartner, 29 Jahre. 130 „angucken“, „berühren“, „das Tanzen“ und „ein Lachen“. Ulrike Schröder 62 131 Das korreliert im übrigen auch mit den sozial-gesellschaftlichen Gegebenheiten. Einer Schätzung Vieiras zufolge handelt es sich im Norden Brasiliens lediglich bei 30% Prozent der Heiraten um eine sogenannte „Liebesheirat“, während er die Zahl im europäisch beeinflußten Süden auf 70% schätzt. 132 Luhmann 1996: 75. 133 Auszug aus dem Interview mit Mirim Vieira. 134 Vgl. Luhmann 1996: 77. 135 Daß es sich bei diesem als Spiel konzeptualisierten Regelwerk um ein Ablaufprogramm handelt, das nicht nur jeder kennt, sondern auch durchschaut, demonstriert das verwendete Vokabular. So gibt es beispielsweise das auch unter Studenten geläufige brasilianische Sprichwort: Água mole/ em pedra dura/ tanto bate/ até que fura, was in etwa dem deutschen Sprichwort Steter Tropfen höhlt den Stein entspricht und dort auf sexuelle Kontaktknüpfung bezogen ist. In diesem Kontext findet sich desweiteren ein häufiger Gebrauch von Redensarten wie entrar no jogo, vencer pela insistência und o parte de conquista (ins Spiel einsteigen, durch Insistieren gewinnen und der Part der Eroberung). 136 Interviewpartnerin, 26 Jahre. 137 Von 71 Befragten angegeben. Literatur Albersmeyer-Bingen, Helga: Common Sense. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie. Berlin: Duncker&Humblot 1986. 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