eJournals Kodikas/Code 25/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2002
251-2

Verbrechen auf engstem Raum": die Kriminalromane von Dürrenmatt, Glauser und Mettler als kulturgeschichtliche Kronzeugen

61
2002
Uwe Wirth
kod251-20121
“Verbrechen auf engstem Raum”: Die Kriminalromane von Dürrenmatt, Glauser und Mettler als kulturgeschichtliche Kronzeugen Uwe Wirth Glaubt man Friedrich Dürrenmatts These von der Schweiz als Gefängnis, so befinden sich die Schweizer in einer paradoxen Situation: Sie sind Gefangene, die ihre Freiheit dadurch beweisen, daß sie ihre eigenen Wärter sind. “Der Schweizer”, schreibt Dürrenmatt, “hat damit den dialektischen Vorteil, daß er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist” (vgl. Dürrenmatt 1997). Dieser Gedanke findet sich - wenn auch in anderer Form - bereits in einem Manuskript aus dem Jahre 1952, das den Titel “Aus den Papieren eines Wärters” trägt. Dürrenmatt schildert darin die Erlebnisse eines Außenseiters, eines unangepaßten Querulanten, der nicht in der Masse der Normalbürger aufgehen will und zu einem kriminellen Schluß kommt: “‘Der Einzelne kann nur noch frei sein, wenn er zum Verbrecher wird’” (Dürrenmatt 1991: 196). Der Verbrecher entflieht durch seine Tat dem “engen Raum” der Gesellschaft und der Gesetzeswelt. Wenn er sich dabei fassen läßt, wird das Gesetz der Enge in verschärfter Form auf ihn angewendet, er kommt in die Zelle. Der Verbrecher ist so besehen ein Grenzgänger zwischen der Welt der Freiheit und der Welt der Enge. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Schweizer Kriminalroman, der, wie alle Kriminalromane die Aufklärung von Verbrechen schildert, eine besondere Qualität: Die Detektivfiguren sind nicht nur dem Verbrechen, sondern auch der Freiheit auf der Spur. “Letztenendes”, schreibt Umberto Eco in seiner “Nachschrift zum ‘Namen der Rose’”, ist die Grundfrage des Kriminalromans die gleiche wie die der Philosophie und der Psychoanalyse: “Wer ist der Schuldige? ” Um diese Frage zu beantworten, muß man annehmen, “daß alle Tatsachen eine Logik haben, nämlich die Logik, die ihnen der Schuldige auferlegt hat” (Eco 1984: 64). Dabei fällt dem Detektiv die Aufgabe zu, die Logik des Verbrechens zu rekonstruieren. Die Logik des detektivischen Denkens erscheint als Spiegelbild der Logik des Verbrechens. Dadurch wird aber auch der Detektiv, genau wie der Verbrecher, zum Grenzgänger zwischen Freiheit und Enge. Aus diesem Grund übernehmen, wie mir scheint, die Detektivfiguren vieler Schweizer Kriminalromane nicht nur die Rolle des Ermittlers, sondern auch die des Vermittlers zwischen der “freien, unordentlichen Welt” des Verbrechens und der “engen, ordentlichen Welt” der Justiz. Sie bewegen sich in der Welt der Täter ebenso wie in der Welt der Richter und manövirieren sich so in eine Position, in der sie zugleich Gefangene und Wärter sind. Diese Lage ist nicht nur paradox - das ließe sich zur Not noch ertragen, - sondern auf eine recht unbehagliche Weise schizophren. Und in eben dieser Lage befinden sich Glausers “Fahndungswachtmeister” Studer, Dürrenmatts Kommissar Bärlach und Mettlers Kommissar Häberli. Alle drei sind ältere Herren, die im Dienst des Schweizer Staates stehen und sich K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Uwe Wirth 122 nicht nur mit dem Verbrechen, sondern auch mit ihren engstirnigen Vorgesetzten herumschlagen müssen. Außerhalb ihrer Behörde sind sie Wärter und Jäger, doch innerhalb des institutionellen Apparats sind sie in der Struktur der Hierarchien gefangen, werden selbst zu Angeklagten. “‘Wachtmeister Studer, (…) wie kommt ihr dazu, Euch eigenmächtig - ich wiederhole: eigenmächtig! in einen Fall einzumischen, (…) es scheint mir, als hätten Sie Ihre Kompetenzen überschritten …’ Studer nickte und nickte: natürlich, die Kompetenzen! … ‘Was hatten Sie für einen Grund, den Eingelieferten, den ordnungsgemäß eingelieferten Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen? ” (Glauser 1989: 19) Hier prallen ganz offensichtlich zwei Perspektiven aufeinander. Die administrative Sichtweise eines Beamten, der das Verbrechen verwaltet und die eines Fahnders, der sich als Beamter eine persönliche Sichtweise herausnimmt, der Anteil am Schicksal derer nimmt, die er ins Gefängnis gebracht hat. Im Gegensatz zu den klassischen Privatdetektiven der Kriminalliteratur (denken wir an Dupin, Sherlock Holmes, Poirot, Sam Spade oder Phillipp Marlow) sind Studer, Bärlach und Häberli beamtete Fahnder, die darum kämpfen müssen, sich ihre “private Sichtweise” und damit ihre Individualität bewahren zu können. An die Stelle des privaten Ermittlers, des “private eye”, tritt das “halboffizielle Auge”: Die Polizeifahnder sind zwar noch Teil des offiziellen Systems, sträuben sich aber dagegen, von diesem System “absorbiert” zu werden. Eben deshalb lassen sie eine Fähigkeit vermissen, die nach Helmut Heißenbüttels “Spielregeln des Kriminalromans” unerläßlich ist für die moderne Detektivfigur seit Maigret: “Die Fähigkeit, sich in den staatlichen Apparat einzunisten und sich dort zu halten” (Heißenbüttel 1971: 367). Eben dies tun Studer und Bärlach: Sie haben mit ihrer Karriere bereits abgeschlossen und pflegen im Horizont ihrer bevorstehenden Pensionierung einen wohlverdienten Altersstarrsinn, mit dem sie es sich und ihren Vorgesetzten schwer machen. “‘Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Untersuchungsrichter. Ich reiche gern meine Demission ein, wenn der Fall nicht so untersucht wird, wie ich es wünsche. Aber wenn ich dann demissioniert habe, dann kann ich machen, was ich will. Es wird lustig werden. (…) Sie werden als Zeuge von der Verteidigung vorgeladen werden, und dann wird man Ihnen alle Fehler der Voruntersuchung vorhalten … Wird Ihnen das gefallen? ’ Der Kerl ist ja verrückt! dachte der Untersuchungsrichter. Der richtige Querulant! ” (Glauser 1989: 27ff.) Hier erscheint der Fahnder nicht mehr als Gefangener des Beamtenapparats, sondern als Erpresser, der durch die Drohung, er werde den Staatsdienst quittieren und als Privatmann weiter ermitteln, zum Freigänger wird. Dennoch: An ihrer schizophrenen Doppelbesetzung als Wärter und Gefangener haben die beamteten Detektive des Schweizer Kriminalromans schwer zu tragen: Krebs, Magengeschwüre, Alkoholismus und Zigarrenkonsum sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen - insbesondere die obligatorischen “Brissagos” bei Glauser und Dürrenmatt. Eben diese Zigarren werden zu einem Zeichen (oder sollte man sagen: zu einem Rauchzeichen? ) der Abgrenzung und des Aufbegehrens gegen den “engen Raum” der Behörde. Genau wie Studer hat Bärlach ein gespanntes Verhältnis zu seinem Chef, gegen den er auf seine Weise anstinkt. “Er (…) zündete sich eine Zigarre an, wohl wissend, daß sich der jedesmal über die Freiheit ärgerte, die sich der Alte mit seinem Zigarenrauchen herausnahm” (Dürrenmatt 1955: 13). Auch Wachtmeister Studer ist ein eifriger Zigarrenraucher. “Verbrechen auf engstem Raum” 123 “Der Untersuchungsrichter wartete, und während des Wartens starrte er auf die qualmende Brissago in Studers Hand … ‘Ach so! ’sagte Studer plötzlich. ‘Das also …’ Er ging zum Fenster, stieß die Läden auf und warf die Brissago hinaus. ‘Ich hätt’ daran denken sollen. Leute wie Sie … War das der Grund? Ich hab’s gespürt, daß Sie etwas gegen mich haben, und gedacht, es sei wegen dem Schlumpf … Und dann war’s nur die Brissago? ’” (Glauser 1989: 29). Die Welt, in der Studer und Bärlach ermitteln, ist ausstaffiert mit Angewohnheiten, die einem auf die Nerven fallen können - etwa die Radiostimmen, oder die Bezeichnung “Tschuker”. Dabei fällt insbesondere an Studer auf, daß dieser offensichtlich weniger an der Lösung des Falles und der Entlarvung des Täters interessiert ist, als an den Menschen und der Atmosphäre, in der sie sich bewegen. Ihm geht es um die unbedeutenden Angewohnheiten. Damit der Detektiv aus den “kleinen Unregelmäßigkeiten” sachdienliche Hinweise für seinen Fall ziehen kann, muß er sich in die “enge Welt” des Opfers und des Tatverdächtigen “einfühlen”. Um den Schuldigen zu ermitteln, muß der Detektiv die innere Logik des Milieus, also die innere Logik des engen Raums, verstehen. Und eben hier liegt das Problem: “Lieber zehn Mordfälle in der Stadt als einer auf dem Land. Auf dem Land, in einem Dorf, da hängen die Leute wie die Kletten aneinander, jeder hat was zu verbergen … Du erfährst nichts, gar nichts. (…) Gott behüte uns vor Mordfällen auf dem Land …’” (Glauser 1989: 87). Das oberste Gesetz des engen Raums ist das Schweigen. Deshalb ist es die wichtigste Aufgabe des Detektivs zu erraten, was die Leute sagen würden, wenn sie reden wollten; und wenn die Leute dann doch reden - meist unter dem Einfluß diverser Alkoholika achtet Studer zumeist gar nicht darauf, was die Leute sagen - sie lügen ja doch - sondern wie es sagen, in welchem Tonfall. Die Hintergrundinformationen und den Klatsch besorgt er sich ohnehin lieber aus anderer Quelle. Als er den Mord an Wendelin Witschi aufklären soll, begibt er sich zuerst zum Dorfpolizisten, den er noch von früher kennt. ‘Erzähl’ einmal die Geschichte von Anfang an. Ich brauch weniger die Tatsachen als die Luft, in die Leute gelebt haben, Verstehst? So die kleinen Sächeli, auf die niemand achtgibt und die dann eigentlich den ganzen Fall erhellen … Hell! … Soweit das möglich ist, natürlich.’” (Glauser 1989: 72). Nun gehört der “geniale Blick für die kleinen Sächeli” seit Dupin und Sherlock Holmes zur Grundausstattung literarischer Detektivgestalten - ebenso wie die Fähigkeit, aus ihnen weitreichende Schlüsse zu ziehen. Allerdings muß der Detektiv wissen, wie Dupin bemerkt, “‘was’ zu beobachten ist.” (Poe 1985: 5ff.). Der Detektiv muß also über einen instinktiven Spürsinn verfügen, der ihn, wie eine Kompaßnadel auf jene Kleinigkeiten hinweist, die im Rahmen seiner Untersuchung relevant werden könnten. Wie der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce, der Vater des Pragmatismus und der modernen Zeichentheorie, in einem Aufsatz über das “kontrollierte Raten” behauptet (vgl. Peirce 1929: 267f.), gleicht die Tätigkeit des Detektivs in dieser Hinsicht stark der Tätigkeit des Wissenschaftlers. Beide müssen versuchen, plausible Hypothesen über die möglichen Ursachen erklärungsbedürftiger Phänomene aufzustellen, zu denen sie keinen direkten Zugang haben. Diesen Prozeß des Hypothesenaufstellens nannte Peirce im Unterschied zu Deduktion und Induktion, “Abduktion” und erklärte, die Abduktion sei der erste Schritt jeder gedanklichen Auseinadersetzung mit der Wirklichkeit. Da wir meistens in der Lage sind, nach einer endlichen Anzahl von Rateversuchen die richtige Hypothese zu wählen, geht Peirce davon aus, daß wir über einen “instinktiven Spürsinn fürs Relevante” verfügen, eine innere Kompaßnadel. Peirce schreibt: Uwe Wirth 124 “Eine Beobachtung liefert uns oft einen deutlichen Hinweis auf die Wahrheit, ohne daß wir in der Lage wären, die von uns beobachteten Umstände, die uns diesen Hinweis liefern, genauer zu bestimmen” (Peirce 1929: 282). Nach Peirce gründet der Rateinstinkt auf einer “Affinität” (CP 1.120) zwischen dem Geist des Denkenden und seiner natürlichen und kulturellen Lebenswelt. So behauptet etwa Kommissar Häberli in Felix Mettlers Kriminalroman Der Keiler, daß er sich am Tatort besonders gut auf ein Verbrechen konzentrieren könne, weil er dort die entscheidenden Impulse und Denkanstöße empfängt. “Die Aura des Tatortes schien ihm dabei zu helfen. Allein dieser Art der Betrachtung verdankte er seiner Meinung nach das Kompliment, eine außerordentliche Spürnase oder einen siebten Sinn zu besitzen. Doch trotz seiner Erfolge hatte bisher niemand ernsthaft Interesse an seiner Methode gezeigt” (Mettler 1994: 137). Der abduktive Prozeß beginnt mit einer Reihe von bewußten und halbbewußten Wahrnehmungen und Assoziationen. Hinzu kommen Erinnerungen und Vorstellungsbilder der Phantasie. Aus diesem Gewirr von Ideen und Gedankenfetzen wählt der Detektiv instinktiv einige Elemente aus, verknüpft sie zu einer hypothetischen Behauptung und überprüft diese durch Spurensuche oder Zeugenbefragung. Im Idealfall ist die Abduktion ein Rationalisierungsprozeß, in dessen Verlauf Assoziationen mit Hilfe des detektivischen Rate-Instinkts in eine begründende Argumentation umgewandelt werden. Ein Beispiel hierfür ist Wachtmeister Studers Einfall, Frau Witschi sähe aus, als ob sie “Anastasia” heiße. “Studer hatte Frau Witschi nur flüchtig gesehen, damals, bei seiner Ankunft. Und daß er sie Anastasia getauft hatte, ganz unbewußt (merkwürdigerweise hatte der Name gestimmt), das hatte doch einen ganz verständlichen Grund gehabt. Frau Witschi sah nämlich aus wie eine Karikatur der Zensur. Und die Franzosen hatten während des Krieges die Zensur ‘Anastasie’ getauft …” (Glauser 1989: 106). Der abduktive Prozeß besteht darin, wie Peirce schreibt, “das zusammenzubringen, von dem wir nie zuvor geträumt hätten, es zusammenzubringen” (CP 5.181). Zwar waren “die verschiedenen Elemente der Hypothese zuvor in unserem Geist”, aber erst der Einfall diese Elemente “zusammenzuwerfen”, “läßt blitzartig die neue Vermutung in unserer Kontemplation aufleuchten” (CP 5.181). Der abduktive Gedankenblitz, der Einfall, entsteht im Rahmen eines Spiels mit Gedanken und Assoziationen, die sich auf “sympathetische” Weise anziehen. “Häberli wußte nicht, warum ihm der Keiler in den Sinn kam, als er sich auf dem schmalen Sträßchen dem Waldrand näherte. Sonders eindrucksstarke Schilderung ging ihm durch den Kopf” (Mettler 1994: 186). “Sie müssen etwas Gemeinsames haben, Sonder und der Keiler. Natürlich! Beide sind sie in der Lunge verletzt. (…)” (Mettler 1994: 188). Die Idee, die Gemeinsamkeit zwischen der Jagdgeschichte Sonders und seiner Krankheitsgeschichte könne für den Fall relevant sein, wird für den Kommissar zum Auslöser für ein Gedankenspiel. “Wenn aber im unkontrollierten Spiel des Denkens eine interessante Kombination auftaucht”, schreibt Peirce, “so nimmt die subjektive Intensität für kurze Zeit rasch zu” (Peirce 1986: 225). Und diesen Zustand bezeichnet Peirce als “Musement”; als tagträumerische, “angenehme geistige Beschäftigung”, “eine Art des reinen Spiels, eine lebhafte Übung der eigenen Kräfte, die keine Regeln, sondern nur das Gesetz der Freiheit kennt” (CP 6.458). “Verbrechen auf engstem Raum” 125 Neben dem “reinen Spiel” - Peirce nennt alss Beispiel das Schachspiel - kann das Gedankenspiel auch die Form der ästhetischen Kontemplation über die “kleinen Sächeli” oder der Spekulation über die möglichen Ursachen eines Phänomens annehmen. Die Aufgabe des Detektivs besteht darin, Übergänge zwischen diesen verschiedenen Formen des Gedankenspiels herzustellen. Er muß also das reine Spiel und die ästhetische Kontemplation in Dienst nehmen, um eine plausible Erklärung für die möglichen Ursachen der Tat herauszufinden. Hier kommt noch einmal das eingangs erwähnte Motiv der Freiheit ind en Fokus. Der Detektiv ist der Freiheit auf der Spur, weil er dem Verbrecher auf der Spur ist, der durch sein Verbrecher - zumindest vorläufig - an Freiheit gewinnt. Beide, Detektiv und Verbrecher, sind in einem abstrakten Sinn Freiheitssucher - vielleicht erklärt dies bis zu einem gewissen Grade die komplizenhafte Sympathie zwischen Tatverdächtigem und Detektiv. Doch nun deutet sich an, daß der Detektiv nicht nur der Freiheit eines anderen auf der Spur ist, sondern daß er, indem er die Spur des Verbrechers aufnimmt, selbst frei werden kann, sofern er zum Gedankenspieler wird. Im freien Gedankenspiel wird er zu einem Individuum, das dem “engen Raum” der behördlichen Vorschriften entflieht. Bärlach, Studer und Häberli, führen ihre Ermittlungen letztlich auf eigene Rechnung durch, nicht als staatlich bezahlte Fahnder, sondern als “private I”, als privates Ich. Fast möchte man sagen: Sie lassen sich mit Hilfe des Verbrechens aus ihrem engen Beamtenalltag in die Welt ihrer privaten Gedankenspielen und Tagträume entführen. Der Ausdruck “abduction” bedeutet auch soviel wie “Entführung”. Während ein ordentlicher Fahnder seine Phantasie kontrollieren und seine abduktiven Fähigkeiten für die Rekonstruktion der Wirklichkeit einsetzen, also sein subjektives Erkenntnisinteresse in den Dienst der offiziellen Wahrheitssuche stellen muß, drehen die Bärlachs, Studers und Häberlis den Spieß um. Das Verbrechen dient ihnen zur Stimulation ihres subjektiven Erkenntnisvermögens. Sie benutzen die Wirklichkeit, um ihre Phantasie anzuregen: “Und kaum hatte er die Augen geschlossen, den Gedanken freien Lauf gelassen, stellte sich das bedeutsame Bild wieder ein” (Mettler 1994: 190), heißt es über Häberli, “Ein Gemisch von Faszination und Entsetzen überkam den Kommissar. Bilder von dieser Klarheit waren ihm (…) noch nie aufgestiegen” (Mettler 1994: 191). Auch Glausers Fahndungswachtmeister Studer läßt sich von seinen Tagträumen entführen. Zum Beispiel wenn er sich immer wieder ausmalt, wie die Familie des Wendelin Witschi vor ihrem Bankrott gelebt haben muß. Auch hier steigen vor Studers innerem Auge Bilder auf. Phantasiebilder, die durch das Milieu, in dem die Tat geschah, angeregt wurden. “Studer sah das Bild vor sich. Unter den Fenstern des ersten Stockes glänzte noch, neu und unverblaßt, der Name des Hauses, ‘Alpenruh’, und über der Tür der Spruch: ‘Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein’. Der Wendelin Witschi hockte auf der Bank, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, bisweilen legte er die Zeitung beiseite (er las sicher nur den Gerzensteiner Anzeiger), stand auf, um ein Zweiglein am Spalier anzubinden, das im Wind schaukelte, kam zurück … Im Sand krabbelten die beiden Kinder. Die Luft war still. Heugeruch lag schwer in der Luft (…). Sehr viel Frieden. (…) Und dann, Jahr für Jahr, die Änderungen (…), dann die finanziellen Schwierigkeiten (…), der Garten, der verlottert, der Wendelin, der reisen geht, der Wendelin, der Schnaps trinkt” (Glauser 1989: 73). Ganz nebenbei liefert Glauser hier, maskiert als Imagination des Wachtmeisters, eine Travestie des “Schweizer Traums” und seiner Auflösung in hochprozentigem Alkohol. Obgleich die gedankliche Welt des Detektivs das Reich tagträumerischer Freiheiten ist, um dem engen Raum zu entfliehen, bleibt die Denkwelt der Schweizer Kommissare auf eigentümliche Weise dem Gesetz der Enge unterworfen. Auf eine nachgerade süchtige Weise hängen sie ihren fixen Ideen nach - und werden dadurch selbst schuldig. Glausers Wachtmeister Studer fühlt Uwe Wirth 126 sich schuldig, weil er die Spur eines Daumenabdrucks nicht ordentlich gesichert hat. Er wird immer wieder von dem Alptraum heimgesucht, daß dieses Versäumnis von seinem Vorgesetzten entdeckt werden könnte: “Der Schuldige sitzt zwischen Ihnen, ich will ihn nicht nennen, denn er ist gestraft genug. Er wird in Pension gehen müssen und in seinem Lebensalter verhungern, denn er hat pflichtvergessen gehandelt (…)’. Da stand plötzlich (…) der Polizeihauptmann und sagte laut: ‘Hast dich wieder blamiert, Studer? ’ Komm sofort her …’ (…). Der Polizeihauptmann aber zog ein paar Handschellen aus der Tasche und fesselte Studer. Dazu sagte er: ‘aber ich zahl’ dir keinen Halben Roten im Bahnhofsbuffet. Ich nicht! ’ Studer weinte (und) zottelte hinter dem Polizeihauptmann her” (Glauser 1989: 88f). Auch Dürrenmatts Kommissar Bärlach macht sich schuldig: Er benutzt den Kollegenmörder Tschanz, damit dieser seinen Erzfeind Gastmann tötet. Bärlachs Gedankenspiel ist das eines kühl kalkulierenden Schachspielers, der das Verbrechen seines Untergebenen geschickt für seine eigenen Pläne zu nutzen weiß. “‘Sie haben mit mir gespielt’, sagte Tschanz langsam. ‘Ich habe mit dir gespielt’, antwortete Bärlach mit furchtbarem Ernst. ‘Ich konnte nicht anders. Du hast mir Schmied getötet, und nun mußte ich dich nehmen’” (Dürrenmatt 1955: 114). Mettlers Kommissar Häberli beweist, daß er ein gewiefter Gedankenspieler ist. Dank seiner abduktiven Hellsichtigkeit und der Inspiration des Tatorts, kommt Häberli ohne handfeste Beweise auf den Gedanken, daß der krebskranke Sonder etwas mit dem Mord an Götze zu tun hat. Doch der Kommissar will seinen Verdacht aus Sympathie zu Sonder am liebsten unterdrücken. Mitgefühl und Pflichtbewußtsein liefern sich einen heftigen Kampf: “Plötzlich kam Verärgerung hoch, weniger über den absurden Gedanken an sich, als darüber, mit welcher Vehemenz er sich dagegen sträubte (…). Schlimm war es für Häberli nicht, mit Sonder einen unbescholtenen Bürger in die Untersuchung miteinzubeziehen. Das gehörte zu seinem Beruf. Nein, das Gefühl schockte ihn, er würde das ihm von Sonder entgegengebrachte Vertrauen in verräterischer Art mißbrauchen, sollte er den Gedanken, dieser Mann könnte ein Mörder sein, weiterverfolgen” (Mettler 1994: 189). Schließlich verzichtet Häberli darauf, die Beweise zu sichern und tut alles, damit der mumaßliche Täter seinen Lebensabend in Afrika verbringen kann. An die Stelle der unvoreingenommenen Wahrheitssuche tritt der Therapiegedanke. In allen drei Fällen läßt sich feststellen, daß es zu einer Überschneidung der klassischen Rollen Täter, Opfer, Detektiv, Richter kommt. Der Detektiv wird zur gleichen Zeit zum Komplizen der Tat und zum Richter. Er schwingt sich dazu auf, selbst Gerechtigkeit herzustellen und macht sich eben dadurch schuldig. Anstatt seine Dienstpflicht zu erfüllen und den Täter der Justiz zuzuführen, gehorcht er der Instanz seines privaten Gerechtigkeitssinns. Studer, Bärlach, Häberli “erledigen” ihre Fälle auf ihre Weise. Bärlach läßt den Kollegenmörder Tschanz entkommen. Häberli läßt den todgeweihten Sonder ausreisen, und auch Studer scheint im Zweifelsfall durchaus bereit zu sein, seinen privaten Vorstellungen von Gerechtigkeit den Vortritt zu lassen. “Wenn ich die Sache aufgebe und der Schlumpf wird frei, und das Gericht legt den Fall zu den Akten, wie man sagt, dann ist alles ganz gut und schön. (…) Ihr müßt mit Eurer Tat allein fertigwerden.” (Glauser 1989: 170ff). Der Mörder Aeschbacher freilich entzieht sich durch Selbstmord zeitraubenden Gewissensbissen. Fast will es scheinen, als ob die Verbrecher des Schweizer Kriminalroman am Ende frei ausgingen, während die Detektive in der engen Welt ihres Beamtendaseins, ihrer Angst- “Verbrechen auf engstem Raum” 127 träume oder ihrer fixen Ideen gefangen bleiben. Sie sind - allen Fluchtversuchen zum Trotz - Gefangene ihrer selbst. Der “enge Raum”, in dem Studer, Bärlach und Häberli denken und agieren, ist aber auch eine philosophische Parabel für das Dilemma der Individualität. Individualität definiert sich nicht nur durch den Wunsch nach Freiheit, sondern auch durch die Fähigkeit, schuldig zu sein. Alle drei Detektivgestalten machen sich schuldig. Alle drei müssen - genau wie die Verbrecher, die sie jagen - mit ihrer Schuld allein fertig werden. Was ihre schizophrene Position als Wärter und Gefangene anlangt, ähneln die beamteten Detektivfiguren des Schweizer Kriminalromans einem Kollegen aus Argentinien, der ebenfalls auf Staatskosten lebt: Borges’ Detektiv Don Isidro Parodi: ein Barbier, der fälschlich des Mordes an einem Metzger bezichtigt wurde. Parodi löst seine Fälle aus der Gefängniszelle 273 heraus, in die die Hilfesuchenden ungehindert und in pittoresker Fülle ein und aus gehen. Am Ende der Erzählung “Die langwierige Suche des Tai An”, wird der Gefangene Parodi von seinem chinesischen Auftraggeber Fang She besucht. Wie sich herausstellt, hat Fang She den Mord selbst begangen. Der Täter gesteht. “‘Sie können mich den Behörden übergeben’, sagte Fang She. Doch Parodi antwortet ‘Von mir aus können Sie in aller Seelenruhe warten (…). Die Leute von heutzutage tun nichts anderes mehr als verlangen, die Regierung solle alles in Ordnung bringen (…) laden Sie sich einen Mord auf - statt ihn auf eigene Rechnung zu sühnen, verlangen Sie von der Regierung, sie solle sie strafen. Sie werden sagen, es steht mir nicht zu, so zu reden, da ja der Staat auch mich unterhält. Aber ich bleibe bei meiner Überzeugung. Senor, daß der Mensch für sich selbst einstehen muß’” (Borges 1993: 163f.). Aber zurück in die Schweiz. Zurück in den engen Raum, aus dem es für die Studers, Bärlachs und Häberlis kein Entfliehen gibt - wenn man einmal von Rotwein und Ruhestand absieht. Diese beide Motive spielen denn auch eine zentrale Rolle in Dürrenmatts Krimifragment Der Pensionierte, das er 1969 in Puerto Rico begann, 1979 überarbeitete, aber nie fertigstellte. Am Tag seines Ausscheidens aus dem Polizeidienst besucht der Kommissär Hochstättler eine Reihe von Kleinkriminellen, die er während seiner Dienstzeit hat davonkommen lassen. Urs Widmer verfaßte ein Ende zu diesem Fragment, das eine literarische Verarbeitung der These von der Schweiz als Gefängnis ist. Hochstättler überredet die Tresorknacker Feller und Keller in den Weinkeller eines befreundeten Schriftstellers einzubrechen - eine mehr als offensichtliche Anspielung auf den Weinliebhaber Dürrenmatt. Der Schriftsteller, nicht ahnend, daß es sich bei dem Einbrecher um seinen alten Freund Hochstättler handelt, alarmiert die Polizei. Zwei Beamte erscheinen, einer davon ist Rüfenacht, Hochstättlers ehrgeiziger und mißgünstiger Nachfolger. Er möchte den ehemaligen Vorgesetzten am liebsten verhaften. Doch dann öffnet der Schriftsteller einen teuren Bordeaux und nötigt die beiden Polizisten, zu kosten. Rüfenacht trinkt: “Stimmen riefen. Sonnen schienen. Er atmete tief ein und aus und sein Kopf glühte. ‘Weine aus dem Pauillac sind die besten’, sagte der Schriftsteller. ‘Nichts zu machen.’ Er lächelte Rüfenacht an. Der setzte sich, legte das Käppi vor sich auf den Tisch und brach in Tränen aus” (Dürrenamtt/ Widmer 1997: 102). Vielleicht ist auch dies etwas “typisch Schweizerisches”: daß die Überwindung der behördlichen Engstirnigkeit letztlich nur durch den Genuß eines Latour 1921 gelingen kann. Was nicht bedeutet, daß es am Ende nicht doch noch zu einer Verhaftung kommt. Während Hochstättler und der Schriftsteller in der aufgehenden Morgensonne verschwinden, bleiben Rüfenacht und sein Kollege schwer betrunken zurück: Uwe Wirth 128 “‘Ich hätte sie verhaften sollen’, seufzte Rüfenacht endlich. Er sah seinen Kollegen an (…). ‘Si tu insistes’, murmelte der und legte Rüfenacht mit einem wahrhaft virtuosen Handgriff die Handschellen an” (Dürrenmatt/ Widmer 1997: 104). Auch dies ist eine Möglichkeit, die Schweiz als Gefängnis zu deuten, - aber, um es mit den Worten des Gefangenenwärters Frosch aus der “Fledermaus” zu sagen - als fideles Gefängnis. Literaturverzeichnis Jorge Luis Borges und Adolf Bioy Casares (1993), “Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi”, In: Mord nach Modell, Fischer Frankfurt. (Zuerst 1979). Friedrich Dürrenmatt (1997), Die Schweiz - ein Gefängnis, Zürich: Diogenes Friedrich Dürrenmatt (1997), Der Pensionierte. Fragment eines Kriminalromans. Mit einem möglichen Schluß von Urs Widmer, Zürich: Diogenes. Friedrich Dürrenmatt (1991), Erzählungen, in: Gesammelte Werke Band 5, hg. von Franz Josef Goertz, Zürich: Diogenes. Friedrich Dürrenmatt (1955), Der Richter und sein Henker, Reinbeck: Rowohlt. Umberto Eco (1984), Nachschrift zu ‘Der Name der Rose’, München: Hanser. Friedrich Glauser (1989), Wachtmeister Studer, Zürich: Arche. Helmut Heißenbüttel (1971), “Spielregeln des Kriminalromans”, in: Der Kriminalroman II, hg. von Jopchen Vogt, München: Fink (356 -371). Felix Mettler (1994), Der Keiler, Frankfurt: Fischer. Charles Sanders Peirce, Collected Papers. Abgekürzt als (CP). Band I-VI (1931-1935), Hg. von Ch. Hartshorne und P. Weiß. Band VII und VIII (1958), Hg. von A.W. Burks. Harvard University Press. Charles Sanders Peirce, (1929), “Guessing”. The Hound and Horn: 267-285. Charles Sanders Peirce (1986), Semiotische Schriften. Bd.1. Hg. von Ch. Kloesel und H. Pape. Frankfurt: Suhrkamp. Edgar Allan Poe (1985), Detektivgeschichten. München: dtv.