eJournals Kodikas/Code 25/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2002
251-2

Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand

61
2002
Sonja Neef
Im Standardtext fallen Papier und Körper, Schrift und Seele auseinander. Schreibmaschinen speichern kein Individuum, ihre Buchstaben übermitteln kein Jenseits, das perfekte Alphabeten dann als Bedeutung halluzinieren können. (Kittler, "Grammophon Film Typewriter", 27) Ein genußvoller Ausdruck erschien auf seinem Gesicht: einige Buchstaben waren seine Favoriten, wenn er an diese geriet, war er geradezu außer sich: er kicherte in sich hinein und zwinkerte mit den Augen, und half mit den Lippen nach, so daß man an seinem Gesicht, so schien es, jeden Buchstaben ablesen konnte, den seine Feder ausführte. (Gogol, "Der Mantel")
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Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 1 Sonja Neef, ASCA Im Standardtext fallen Papier und Körper, Schrift und Seele auseinander. Schreibmaschinen speichern kein Individuum, ihre Buchstaben übermitteln kein Jenseits, das perfekte Alphabeten dann als Bedeutung halluzinieren können. (Kittler, Grammophon Film Typewriter, 27) Ein genußvoller Ausdruck erschien auf seinem Gesicht; einige Buchstaben waren seine Favoriten, wenn er an diese geriet, war er geradezu außer sich: er kicherte in sich hinein und zwinkerte mit den Augen, und half mit den Lippen nach, so daß man an seinem Gesicht, so schien es, jeden Buchstaben ablesen konnte, den seine Feder ausführte. (Gogol, Der Mantel) Einleitung Als Jacques Derrida Anfang der siebziger Jahre den geschriebenen Text seines Vortrags “Signatur Ereignis Kontext” an die Association des sociétés de philosophie de langue française schickte, unterschrieb er diesen, begleitet von folgender Anmerkung: “Eine solche Sendung musste […] unterschrieben sein. Was ich gemacht habe und hier nachmache. Wo? Da. J.D.” (2001: 45) Rechts daneben folgt seine Unterschrift, im Buch faksimiliert abgedruckt. Mit dieser Geste der Unterschrift brachte er seine Kritik an einer allzu positivistisch gedachten Metaphysik der Präsenz des Autors auf den Punkt. Der vorliegende Essay ist nicht unterschrieben. Der Grund für dieses Fehlen einer Signatur besteht in der von der Deutschen Gesellschaft für Semiotik auferlegten Bedingung zur Teilnahme am Essaywettbewerb für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler zur Frage nach der Körperlichkeit von Zeichen. Bevor ich mich dieser Frage gezielt zuwende, möchte ich vorab - quasi als Vorspiel - über das Spiel reflektieren, das hier gespielt wird. Teilnahmebedingung ist gemäß des Ausschreibungstextes, dass die Arbeit “keinen Hinweis auf den Namen des Verfassers oder der Verfasserin enthalten” darf; die Identität der Verfasserin oder des Verfassers mitsamt des Nachweises des Geburtsdatums ist aufgrund einer besonderen Spielregel verschlüsselt mitzuteilen. Bei näherer Betrachtung der Organisation dieses Wettbewerbs zeichnet sich sehr bald eine semiotische Dimension ab, die den Kern der Problematik des Wettbewerbsthemas trifft: Der Zeichenprozess im vorliegenden Essay verweist zwar unabstreitbar auf einen Absender, einen Verfasser, eine erste Person “Ich”, die präsent ist, aber nur in Form ihrer Schrift; ihr Gesicht, ihr Alter und sonstige Merkmale körperlicher Identität (wie Geschlecht und Rasse) sind abwesend. Als Garant für diese Anonymität steht die Abwesenheit der Unterschrift. Wenn schon - wie Derrida argumentiert - die Anwesenheit der Signatur als Zeichen für die Abwesenheit des Autors steht, der “immer schon” einem “vergangenen Jetzt” angehört (2001: 43), liegt es dann nicht nahe, dass die hier vorgeschriebene Regel, den Autorennamen nicht zu K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Sonja Neef 160 sagen, die Unterschrift wegzulassen, die (physische) Präsenz des Autors erst recht zuverlässig aushebelt? Oder bleibt da noch ein Rest? Wie steht es beispielsweise mit dem “Daktylo” des Absenders, mit seinem Fingerabdruck, der durch die Wahl der Problematik, durch die methodische Vorgehensweise, den persönlichen “Stil”, die “Autographie” oder die “Handschrift” des Verfassers den Essay - ähnlich wie eine Unterschrift - “brandmarkt”? Anonym sein heißt genaugenommen nicht nur, ohne Namen, sondern ganz ohne Identität sein, ohne Gesicht und ohne jegliche Spur, die dem Leser dieses Essays, dem “Du” im Zeichenprozess, als Hinweis auf eine namentliche Identität dienen könnte, auch nicht in der Schrift. Eben diese Schrift ist es, die ich zum zentralen Gegenstand dieses Essays machen möchte. Genauer, da es sich um die Verkörperung und die Entkörperung von Zeichen handeln soll, um Schrift in ihrer körperlichsten Erscheinungsform: Hand-Schrift. Nach der Schreibmaschine Schrift ist immer schon auf Reproduzierbarkeit angelegt, mit der Erfindung des Buchdrucks wird diese aber dem neuzeitlichen Subjekt buchstäblich aus der Hand genommen. (Wetzel, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift: X; Hervorhebung S.N.) Um die körperliche Dimension von Handschrift in ein besonders scharfes Licht zu führen, möchte ich die Handschrift zunächst kontrastiv zu ihrem entkörperten kulturellen Opponenten beleuchten, der Maschinenschrift. Anders als die Handschrift verweist die Maschinenschrift, da sie von mechanischen, elektrischen oder elektronischen Medien hervorgebracht wird, auf eine Schreibmaschine oder einen Computer, nicht aber auf eine menschliche Hand. Überhaupt liefert die Schreibmaschine eine Schrift, die, wie Kittler (1986: 26) es ausgedrückt hat, “schon bei der Produktion und nicht erst (wie Gutenbergs bewegliche Drucktypen) bei der Reproduktion Papier und Körper trennt.” Diese Trennung von Körper und Schrift soll im Falle des vorliegenden Essays die Anonymität des Verfassers garantieren, der ohne Körper und ohne Namen ist. Denn die standardisierte Typenschrift dieses Textes schreibt die Identität des Verfassers durch den normierenden Apparat der Tastatur allenfalls auf eine allgemeine, kulturell kodierte dritte Person fest - er, der Verfasser, Benutzer des lateinischen Alphabets, der deutschen Sprache, oder sie(? ), höchstens 35, vermutlich weiß. “In der Schreibmaschinenschrift”, schreibt Martin Heidegger, “sehen alle Menschen gleich aus.” (zit.n. Derrida 1988: 75) Ganz anders die Handschrift. Die Unverwechselbarkeit ihres Schriftbilds gilt als ein sicheres Zeichen für ihren Urheber als erste Person, als “ich”, der Unterzeichnete, der ich mit meiner Unterschrift dafür gerade stehe, dass dieses Dokument so einmalig, unverwechselbar und authentisch ist wie mein Körper. Aus historischer Sicht scheint die Handschrift einem lang vergangenen Zeitalter anzugehören, in dem Steinmetze Inschriften auf Grabmäler gravierten, Mönche in mühevoller Arbeit pergamentene Inkunabeln füllten oder die Kanzleischreiber europäischer Fürsten die Staatsgeschäfte dokumentierten. (Giesecke 1998) In der heutigen Kommunikationsgesellschaft scheint die Handschrift - nachdem ihr schon die Erfindung des Buchdrucks und vor gar nicht allzu langer Zeit das Vordringen der Schreibmaschine in fast alle Schreibbereiche empfindliche Schläge versetzt hatten - durch die Digitalisierung der Schrift nunmehr endgültig ihre kulturelle Relevanz verloren zu haben. Dennoch, so möchte ich behaupten, macht gerade ihr Potenzial, eine unverwechselbare persönliche Identität und einen authentischen, Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 161 sinnlichen Körper in Szene zu setzen, die ungeminderte Bedeutung von Handschrift als Zeichenpraxis aus. Dieses spannungsvolle Verhältnis zwischen “körperloser” Typenschrift und “körperlicher” Handschrift möchte ich im Folgenden näher betrachten. Die semiotische Operationsweise sowohl von Handschrift als auch von Typenschrift beruht zunächst auf ihrem Schriftcharakter, da beide mit Sprache als symbolischem System zu tun haben. Aufgrund dessen stuft Nelson Goodman in Sprachen der Kunst Schrift gemeinhin als “allographisch” ein. Geschriebener Text ist, so Goodman, iterabel, reproduzierbar, “buchstabierbar”. Der allographischen Schrift setzt Goodman das autographische Bild entgegen, dessen Kerneigenschaften in seiner Unikatizität und in seiner Authentizität im Sinne von Fälschbarkeit bestehen. (1998: 101-122) Goodmans Modell ist, genauer betrachtet, auf den Fall der Typenschrift zugeschnitten, die sich in der Tat als allographisch im Sinne von iterabel und buchstabierbar erweist. Handschrift operiert zwar - sofern sie lesbar ist - ebenfalls als “Allographie”, fungiert zugleich aber auch als “autographisches Bild”, da sie immer auch Unverwechselbarkeit, Einzigartigkeit und Authentizität für sich beansprucht. Überhaupt steht die Fälschbarkeit der Unterschrift der Fälschbarkeit eines Gemäldes in nichts nach. Und die Reproduktion von Handschrift verlangt immerhin eher nach Reproduktionstechniken für Bilder als für Schrift. (Benjamin 1977) Handschrift ist somit beides: Allographie und Autographie, Schrift und Bild. Ihre semiotische Operativität entfaltet sich jenseits einer strikten Opposition zwischen einem rein visuellen, körperlichen Signifikanten und einem rein mentalen, entkörperten Signifikat. Im Folgenden möchte die Opposition zwischen Schrift und Bild, zwischen Schreibmaschine und Schreibhand weiter problematisieren, indem ich meinen Gegenstand, die Handschrift, dort detailliert betrachte, wo er für die zentralen Konzepte der Thematik dieses Wettbewerbs, “Körper”, “Verkörperung” und “Entkörperung”, am kontroversesten erscheint und somit den meisten Zündstoff bietet: als digitale Praxis auf dem Computerbildschirm. Während nämlich das Konzept der Handschrift den Körper für den Prozess der Signifikation beansprucht, gilt der Computer - mehr noch als die Schreibmaschine - gerade als Medium der Entkörperung. Was also bedeuten Verkörperung und Entkörperung der Zeichen in Bezug auf Handschrift und Computer? Welchen Effekt hat die entkörpernde Praxis des Computers auf die verkörpernde Praxis der Handschrift? Und umgekehrt, wie gestaltet sich die Idee der Entkörperung der Zeichen durch den Computer in Bezug auf die Handschrift als somatische Schriftpraxis? Diesen Fragen möchte ich mich anhand eines Objekts annähern, das reichhaltiges Material für eine Reflexion über digitale Handschrift bietet, nämlich der CD-ROM “Die Multimedia Manuskripte von Leonardo da Vinci”. (Be-)rührende Blicke Ich öffne meine Augen und erblicke einen Raum, offensichtlich ein Arbeitszimmer, mit einem Bücherregal, einer Bücherkiste und einem Schreibtisch mit ergonomisch gekippter Arbeitsplatte. Hier und dort befinden sich seltsame Messinstrumente, Pendel, Leinwände, eine Malstaffelei. Alles sieht danach aus, als wäre hier eben noch gearbeitet worden. Dennoch ist der Raum menschenleer. Mit einem Roll-over berühre ich die Gegenstände im Raum; ein Windrad bringe ich zum Drehen, ein Pendel zum Schwingen. Mit ihm bewegt sich sein Schatten auf dem Fußboden, projiziert vom Licht, das durch das offene Fenster hereinfällt. Gleite ich mit dem Cursor durch das Fenster hinauf in den Himmel, erscheint dort ein Vogel, dessen Flug naturgetreu wirkt, der sich aber dennoch nicht von der Stelle bewegt. Klicke ich den Himmel an, so schwebe ich durch das Zimmer, ohne Umschweife über den Schreibtisch Sonja Neef 162 Abbildung 1: Basisseite aus: Der Codex über den Vogelflug. CD-ROM hinweg, und mache erst am Fenster halt, von wo aus ich den Flug des Vogels näher betrachten kann. Mir ist klar: ich befinde mich in Leonardo da Vincis virtuellem Arbeitszimmer. (Abbildung 1) Aber wie bin ich als Körper? Als Körper bin ich genaugenommen außerhalb des Bildschirms, wo ich die Position eines Betrachters innehabe. Im Falle der Computeranimation beschränkt sich der Akt des Betrachtens aber nicht auf ein passives Zusehen von einem strikt abgegrenzten Außen her - wie beim Film 2 -, sondern über die Maus kann ich den Cursor so über die zweidimensionale Bildfläche gleiten lassen, dass sich diese dreidimensional öffnet und - wie mit einer beweglichen Kamera - aus verschiedenen Perspektiven durchschreiten lässt. Als Körper bin ich zwar außen; indem ich den Cursor wie eine Kamera mit der Maus von diesem Außen heraus fernsteuere, kann ich aber in das Bild hinein und dort verschiedene Standorte einnehmen. Und mehr als das: meine körperliche Befugnis beschränkt sich nicht auf meine Rolle als sehendes Subjekt, sondern ich kann taktil in den virtuellen Raum eingreifen, ein Windrad zum Drehen, ein Pendel zum Schwingen bringen. Um diese doppelte Position des Blicks - von einem strikt abgegrenzten Außen her zugleich im Inneren zu sehen - genauer bestimmen zu können, möchte ich mich des Begriffs der “Fokalisation” bedienen, einem von Mieke Bal geprägten narratologischen Konzept, das in seinen Anfängen primär der Analyse literarischer Texte diente, sich aber bald schon auch in interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Theorien des Schauens und des Blicks als ausgesprochen fruchtbar erwiesen hat. Unter “Fokalisation” versteht Bal “the relation between the elements presented and the vision through which they are presented”. (1997: 142) Gemäß Bals narratologischem Modell kann das Subjekt der Fokalisation, “the point from which the elements are viewed”, (146) weiter differenziert werden in einen externen Fokalisator außerhalb der Diegese und einen internen Fokalisator innerhalb der Diegese. Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 163 Gemäß diesem Modell möchte ich für den Fall der Fokalisationssituation in der CD-ROM den Anwender außerhalb des Bildschirms als externen Fokalisator und das multiperspektivische Subjekt innerhalb der dreidimensionalen Graphik des Bildschirms als internen Fokalisator kategorisieren. Dabei gestaltet sich das Verhältnis zwischen internem und externem Fokalisator nicht nach der Logik einer Fokalisationssituation, wobei ein sehendes Subjekt wie von einem Fenster aus beobachtet, wie ein entferntes fokalisiertes Objekt seinerseits als Fokalisator auftritt, indem es von seinem Fenster aus auf einen wiederum fokalisierten Fokalisator schaut und so weiter, sondern in Leonardos virtuellem Arbeitszimmer schaut der externe Fokalisator mit dem internen, virtuellen Kameramann mit; er schaut sozusagen “mit dessen Augen”. Auf den ersten Blick sieht es danach aus, als fielen interner und externer Fokalisator zusammen, als schlüpfe der Äußere in die Haut des Inneren. Wo aber bleibt dabei der Körper? Etwa auf der Strecke? Eine ähnlich gelagerte Fragestellung ist in der neueren feministischen Medientheorie, etwa bei Donna Haraway (1991), diskutiert worden, die den Verlust eines authentischen Körpers unter Einfluss der digitalen Medientechnik beklagt. Der Körper der neuen Medien, in casu der Cyborg, sei Repräsentation eines an sich schon durch Body Building, Schönheitschirurgie u.ä. (re-) konstruierten Körpers. (vgl. Bolter/ Grusin 2000: 231-240) Genaugenommen liegt der Akzent bei dieser Fragestellung aber anders, da vom Körper des internen Fokalisators anders als von einem Cyborg nicht gesagt werden kann, ob er männlich oder weiblich, schwarz oder weiß usw. ist. Der hier zu bestimmende Bildschirmkörper ist zwar auch virtuell, seine Entkörperung erinnert auf den ersten Blick aber eher an eine Negation des Körpers, wie sie in Baudrillards negativer Utopie der Medien ihren wohl emphatischsten Ausdruck gefunden hat: Dieser Körper, unser Körper, erscheint im Grunde genommen in seiner Ausdehnung, in der Vielfalt und Komplexität seiner Organe, Gewebe und Funktionen überflüssig, nutzlos, weil sich heute alles auf das Gehirn und die genetische Formel konzentriert. (1986: 18) Das Bildschirmsubjekt, wenn es so - als bloße, substanzlose “genetische Formel” - verstanden wird, ist nicht nur bildschirmintern, sondern durch und durch unphysisch. Einer derartig radikalen Entkörperung des Bildschirmsubjekts möchte ich nicht zustimmen, ohne vorher folgende Differenzierung anzubringen. Bei genauem Hinsehen werden nämlich signifikante Unterschiede zwischen internem und externem Fokalisator sichtbar, und zwar sowohl (1.) von der Funktion als auch (2.) von der Blickperspektive her. Von der Funktion her tritt der interne Fokalisator als ein - dem baudrillardschen Bildschirmsubjekt sehr ähnlicher - körperloser, uneingeschränkt beweglicher, medialer Handlanger auf, dem ein körperlicher, nur bedingt beweglicher Fokalisator mithilfe der Maus seine Kamerafahrten delegiert. 3 Diese Fokalisationspraxis folgt nicht der rhetorischen Struktur der Metapher, sie setzt nicht das Innen als Substitut für das Außen, das Entkörperte für das Verkörperte. Stattdessen möchte ich dafür argumentieren, dass Innen und Außen in einem metonymischen Verhältnis zueinander stehen, sie sind nach dem Kontiguitätsprinzip sequentiell weitergeschaltet, das heißt, dass ein realer, externer Fokalisator über die Verlängerung eines körperlosen, internen Fokalisators im virtuellen Raum wirkt. Dieses metonymische Verhältnis zwischen externer und interner Fokalisation beschränkt sich zudem nicht auf einen rein visuellen Akt, sondern der Akt des Sehens - dahingehend argumentiert auch Bal in Anlehnung an Freud - fungiert oft als Vorstufe zu einem Akt des Berührens: Sonja Neef 164 the relationship between looking and touching is, according to Freud, an inherent one. Looking is for him a derivative of touching, and therefore, looking is able to arouse desire by contiguity. Rhetorically speaking, then, looking is a metonymic substitute for touching. (Bal 1991: 150) 4 Im Fall der CD-ROM funktioniert diese metonymische Verknüpfung von Sehen und Berühren wörtlich. Schließlich aktiviert das Gleiten des fokalisierenden Blicks - medientechnisch durch das Gleiten des Cursors auf der Bildschirmoberfläche inszeniert - an entsprechend vorprogrammierten Stellen einen Roll-over; aus passivem Betrachten wird manipulierendes Eingreifen, und zwar nicht nur im Sinne von “Anfassen”, sondern auch im Sinne von “in Bewegung bringen”. 5 Wenn Baudrillard das Bildschirmsubjekt als entkörperlicht, virtuell, hier und dort zugleich beschreibt, als “toter” Realitätseffekt ohne Substanz, dann möchte ich dieser (“rührend”) fatalistischen Negation des Körpers jene Geste der Hand entgegensetzen, die, indem sie mit der Maus den Blick steuert, die körperliche Präsenz des CD-ROM Benutzers gerade bis in den virtuellen Raum ausdehnt. Dieses haptische, manipulative Potenzial des Blicks gewinnt durch das oben angekündigte zweite Unterscheidungskriterium zwischen internem und externem Fokalisator noch eine zusätzliche Bedeutung. Von der Blickperspektive her fällt auf, dass der externe Fokalisator zwar mit dem internen mitschauen kann, aber nicht umgekehrt. Diese Konstellation der Blicke kann, um abermals Bals Terminologie aufzugreifen, als “nicht-reziprok” klassifiziert werden. Den “nicht-reziproken Blick” diskutiert Bal anhand einer eingehenden narratologischen Analyse einer Passage in Prousts A la recherche du temp perdu, die von einer Fotographie handelt, die Marcel von seiner Großmutter aufnimmt in einem Moment, in dem diese seine Anwesenheit im Zimmer nicht bemerkt. Demnach modelliert sich der nichtreziproke Blick nach dem (voyeuristischen) Blick des Fotographen, der, selber unsichtbar in seinem Versteck außerhalb des Bildes, sein Objekt durch das Kameraobjektiv fokalisiert. Die Unumkehrbarkeit dieses Blicks, bleibt, so Bal, für das Subjekt der Fokalisation nicht ohne Folgen: Der Voyeur ist ständig in Gefahr, denn die Befremdung beraubt ihn, während er nicht mit dem anderen interagiert, seines Selbst. Diese Gefahr bestimmt das Ausmaß, in dem der Voyeur sich “flach machen” und auf dieselbe Ebene wie sein Objekt begeben muß, da er sich außerstande sieht, der Beteiligung an dem Spektakel zu entgehen. […] Marcel [dem Fotografen, fehlt alle Substanz,] wenn er sieht, ohne gesehen zu werden oder als Anwesender ins Bewußtsein zu dringen. Einen kurzen Augenblick lang schwankt er zwischen dem entkörperlichten retinalen Blick der […] Linearperspektive und der […] Identifikation, durch die er aus sich selbst samt Leib und Seele hinausbefördert wird… (2002: 170; Hervorhebung S.N.) Im Fall der im Hypertext der CD-ROM entfalteten Fokalisationssituation sind die Blicke von externem, fokalisierenden Subjekt und internem, fokalisierten Subjekt ebenso nicht-reziprok organisiert wie in der von Bal geschilderten fotografischen Fokalisation. 6 Während die von Bal untersuchte diegetische Fokalisation aber sowohl intern als auch extern von “körperlichen” Subjekten ausgeht, hat im Fall der CD-ROM der körperliche Aspekt der Fokalisation ihr Zentrum außerhalb des Bildschirms. Dennoch bringt, so möchte ich argumentieren, auch in diesem Fall die Unumkehrbarkeit des Blicks einen ähnlich gelagerten Prozess in Gang, wobei der fotografische externe Fokalisator für einen Moment ins Körperlose abgleitet, da er - selber unsichtbar - sich sozusagen ex negativo als intrikate Ableitung zu seinem fokalisierten Objekt definiert. Umgekehrt hat der Akt des Sehens des externen Fokalisators für den internen Fokalisator geradezu physische Auswirkungen, wenn dieser - wie ein Stock, der dem Blinden als Tastinstrument dient - zur taktilen Verlängerung des Körpers wird. Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 165 Abbildung 2: Aus: De Codex über den Vogelflug. CD-ROM Körperlichkeit und Entkörperung, wenn sie so verstanden werden, setzen nicht einen positivistisch gedachten Körper als Normalfall voraus, von dem sie den virtuellen Körper als sekundäre Komplikation ableiten, sondern jedes Setzen der Position des Körpers bringt sogleich eine Negation des Körpers in Gang, so dass Verkörperung und Entkörperung ineinander oszillieren. Diese doppelte, aporetische Struktur der Präsenz des Körpers möchte ich im Folgenden am Fall von Leonardos Handschrift weiter schärfen. Dazu werde ich das Kompositum “Hand-Schrift” zunächst unter dem Gesichtspunkt der Schrift, später unter dem der Hand näher betrachten. (Un-)lesbarkeit Stellen wir uns eine Schrift vor, deren Code so idiomatisch wäre, dass nur zwei “Subjekte” ihn als Geheimschrift eingeführt und gekannt hätten. Wird man auch nach dem Tod des Empfängers, ja sogar der beiden Partner, sagen, dass das von einem der beiden hinterlassene Zeichen [marque] immer noch eine Schrift sei? Ja, insofern es in seiner Identität als Zeichen [marque] durch einen Code geregelt […] auch in Abwesenheit von diesem oder jenem […] Subjekt konstituiert ist. (Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 25) Beim Navigieren im System der CD-ROM werden die Benutzer, wenn sie in Leonardos Arbeitszimmer an den Schreibtisch herantreten und dort eine der Codices anklicken, per Hyperlink zu Leonardos “Codex über den Vogelflug” gelinkt. Dieses Manuskript ist hypertextuell in verschiedenen Textvarianten ausgeführt: als handschriftlicher Codex, als diplomatische Transkription auf Italienisch und als kritische Transkription auf Englisch. Zudem können über zahlreiche Hyperlinks und Roll-overs fußnotenähnliche Kommentare zu einzelnen Textstellen sowie eine deutsche Übersetzung auf den Bildschirm gerufen werden. Zu all diesen Optionen führt die Basisseite des Hypertextes, die Einblick in den aufgeschlagenen Codex über den Vogelflug gewährt und Bilder von meist recht gut erhaltenen pergamentenen Seiten mit Leonardos Handschrift zeigt, die teilweise mit Skizzen von Vögeln, Zahnrädern, Hebeln, Pendeln oder anderen Maschinenteilen illustriert sind. Im System des Computers gelten sowohl Leonardos Handschrift als auch seine Skizzen ohne Rücksicht auf ihre mediale Differenz gleichermaßen als Bild, denn der Computer interpretiert die Handschrift als rein visuellen Modus, als pure Autographie, ohne ihre allographische Dimension als alphanumerische Schrift zu erfassen. Überhaupt ist Leonardos Handschrift als Schrift geradezu unlesbar, und zwar nicht nur für den Computer, sondern auch für die Benutzer, denn sie ist rätselhafterweise spiegelverkehrt geschrieben und verläuft zudem entgegen dem Normalverlauf von lateinischer Schrift von rechts nach links anstatt von links nach rechts über die Seite. (siehe Abbildung 2) Im Laufe der Jahrhunderte sind in der Leonardo-Forschung verschiedene Erklärungen für diese eigentümliche Schreib- Sonja Neef 166 weise vorgetragen worden, von denen ich hier zwei prominente Positionen kurz skizzieren möchte. Vasari (1564 -1568), Leonardos zeitgenössischer Biograph, argumentiert, dass Leonardo sich dieser Schreibweise als Geheimschrift bediente, um seine Erfindungen vor Plagiat und sich selber vor dem Vorwurf der Blasphemie zu schützen. Eine zweite Erklärung argumentiert medienhistorisch. Diese Position fasst Robert Zwijnenberg wie folgt zusammen: he [Leonardo] had planned to publish some of his manuscripts. In Leonardo’s time there were two methods for printing a text: the new invention of typography and the already existing graphic techniques, such as printing with woodblocks or with engraved plates. These graphic techniques required that text and drawing be delivered mirrorwise to the craftsman who made the engravings. It might be that Leonardo wrote his manuscripts in reverse with an eye to such a graphic reproduction of his texts and drawings, in which case writing in mirror script would have been a preparatory stage of the printing process. (1999: 83) Zu beiden Thesen sind eine Reihe von Einwänden eingeworfen worden. In die Debatte über die Plausibilität der einzelnen Begründungen möchte ich mich nicht einmischen, sondern stattdessen im Folgenden der Frage nach den Implikationen der hier dargestellten Erklärungen für eine semiotische Theorie von Leonardos Handschrift nachgehen. In den klassischen semiotischen Modellen wird Schrift als ein Zeichensystem verstanden, das, wenn es rechtmäßig gebraucht wird, sowohl in einen Designationsals auch in einen Kommunikationsprozess eintritt, das heißt, dass Schriftzeichen für jemanden, einen Rezipienten, eine zweite Person, für etwas stehen, also etwas bedeuten. (vgl. Eco 1977: 25 -31) Im Fall von Leonardos linker Handschrift stellen beide Prozesse die Leser vor unüberbrückbare Schwierigkeiten. Einerseits kann Leonardos regressive Spiegelschrift von den Lesern nicht anders denn als Schrift verstanden werden, als deiktisches Zeichen an eine zweite Person, die aufgefordert ist zu lesen, das heißt, durch die Schrift hindurch auf eine Bedeutung durchzublicken. Andererseits kann die Schrift aber nicht dechiffriert werden, denn sie fungiert als Leonardos persönliche Hieroglyphe, vielleicht sogar als eine “Geheimschrift”, also als eine Art Superautographie, die so emphatisch autographisch ist, dass sie sich für Nicht-Eingeweihte als unlesbar erweist. Zwar kann sie als Schriftbild “gesehen” werden, “gelesen” werden kann sie aber nicht. Diese Schrift will nicht primär jemandem etwas bedeuten, sondern sie ist zunächst rein visueller Modus, abgeschnitten vom System der Sprache. Unter dem Gesichtspunkt der oben zitierten medienhistorischen Erklärung für Leonardos eigentümliche Schreibweise erscheint die Kommunikationshaltung dieser Schrift, die zwar Schrift, aber nicht lesbar ist, besonders problematisch. Immerhin soll diese unlesbare Schrift als eine “Schrift zu Publikationszwecken” intendiert sein, als eine Schrift also, die betont deiktisch ist, die multipliziert werden und sich an eine Vielzahl von “zweiten Personen” richten soll, eine Autographie also, deren Unlesbarkeit als Autographie gerade die Bedingung für ihre allographische Buchstabierbarkeit - im Sinne von Reproduzierbarkeit in Form eines lithographischen Druckverfahrens - darstellt. Kurz: die Überlegung, dass diese Handschrift zum Zweck der Publikation lithographiert werden sollte, multipliziert die deiktische Geste der Schrift um den Faktor ihrer Auflage und verschiebt somit den Akzent vom Akt des Schreibens auf den Akt des Lesens, von der ersten auf die zweite Person, die sich umso betonter aufgefordert sieht, zu lesen, zu dechiffrieren. Diese doppelte Logik, die Leonardos regressiver Spiegelschrift zugrunde liegt, kann demnach nicht anders denn als eine paradoxe Geste verstanden werden, denn sie oszilliert zwischen zwei extremen Haltungen, zwischen Kommunikationsverweigerung und emphatischer Kommunikation. Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 167 Anders als für Leonardos potenzielle Leser von damals stellt die rückläufige Spiegelschrift für das digitale Medium des Computers kein größeres Problem dar, zu dessen wohl leichtesten Übungen die rechnerische Umkehrung von links und rechts zählt. Im Hypertextsystem der CD-ROM wird den Benutzern in der Tat die Möglichkeit geboten, die linke Schrift per Mausklick in rechte Normalschrift umzuwandeln und einzelne Stellen des Codex per Zoom zu vergrößern. Dennoch ist diese Schrift ohne Hinzuziehung der Transkriptionen auch für die heutigen Leser kaum zu dechiffrieren. Die semiotische Operationsweise dieser Handschrift, so möchte ich hier argumentieren, beruht in diesem Hypertext nicht primär auf dem Symbolcharakter der Schriftzeichen. 7 Sondern an dieser Handschrift ist gerade ihr Autographiecharakter signifikant, ihre physische Materialität als somatische Handschrift. Anders als allographische Maschinenschrift, die - da sie stereotypiert und standardisiert ist und sich somit besonders zu Kommunikationszwecken eignet - als Schrift selbst nahezu unsichtbar ist, fungiert die autographische Handschrift nicht nur als designierendes Zeichen für etwas, sondern auch als Index im Sinne von Peirce, der - wie ein Fingerzeig - auf seinen Urheber als einen unverwechselbaren, einzigartigen, authentischen Körper verweist. 8 Die hypertextuelle Inszenierung von Leonardos Handschrift macht sich gerade diese Geste des Fingerzeigs zu nutze, indem sie die Schrift in ihrem rein visuellen Modus darstellt, als Bildschirmabbild einer Originalschrift, auf Pergament geschrieben, das noch die Spuren des Aktes des Schreibens in Form von Verwischungen, Flecken und Kratzern und überhaupt den authentischen Fingerabdruck des genialen Schreibers trägt. Das “Bild” der Schrift dient hier nicht der Sichtbarmachung eines Signifikats, sondern es verweist in erster Linie auf das “Image” von Leonardo als personifizierte Virtuosität, Kreativität und Brillanz, die sich in der Spur seiner Schrift eingeschrieben haben. Schließlich impliziert die Inszenierung einer Autographie zwangsläufig auch immer eine Inszenierung des schreibenden Subjekts. Dieser Akt der Inszenierung im Medium des Computers ist es, der mich im Folgenden weiter interessieren wird. Doppelklick Leonardo verkörpert bis heute einen Mythos. (vgl. Arasse 9 -20) “Er”, Leonardo, der “uomo universale” der Renaissance, der brillante Maler, Bildhauer, Architekt, Musiker, Ingenieur und Naturwissenschaftler, er, der geniale Linkshänder, der unkonventionelle Querkopf, Erfinder des Ornithopters und Vordenker des hydrostatischen Gesetzes, das er ganz ohne akademische Ausbildung und lange vor Pascal entwarf. Den Schlüssel zum Rätsel dieses Multitalents von damals halten die heutigen CD-ROM-Benutzer wörtlich in der Hand, und zwar in Form der Maus, mit der sie die Schrift von links nach rechts verkehren, transkribieren, entziffern können. Auf dem Bildschirm ist das Unlesbare lesbar gemacht - in digitaler Graphik, eins zu eins und ohne Rest. Leonardo heute: ein “Monitorbild”, flach, sichtbar bishin zum Voyeuristischen, um mit Wetzel zu sprechen “ein Passepartout einer universalisierten Visibilität.” (2002: 86) Diese expositorische Geste, die Leonardo in Form seiner Handschrift als eine dritte Person “ausstellt”, auf dem Bildschirm zur Schau stellt, möchte ich mit der expositorischen Geste eines Kurators im Museum vergleichen, der, selber erste Person, sein “Objekt” als dritte Person dem Museumsbesucher als zweiter Person vorführt. Eine derartige nicht-reziproke Konstellation von Blicken im Museum kritisiert Bal mit ihrem Konzept der “double exposure”, in fotographischer Terminologie der “Doppelbelichtung”. Sonja Neef 168 Something is made public in exposition, and that event involves bringing out into the public domain the deepest held views and beliefs of a subject. Exposition is always an argument. Therefore, in publicizing these views the subject objectifies, exposes himself as much as the object; this makes the exposition an exposure of the self. (1996: 2) In Anlehnung an Bal möchte ich demnach vorschlagen, die Inszenierung von Leonardos Handschrift auf dem Bildschirm nicht ohne Reflexion über das Subjekt der Exposition zu betrachten, in casu die Macher des Hypertextes, die Autoren, Programmierer, Herausgeber und Verleger der CD-ROM, die ihre visuelle Erzählung über Leonardo auf den Bildschirm bringen. Die Strategie dieser Erzählung besteht zum einen darin, selber als exponierendes Subjekt unsichtbar zu sein, keine auffälligen Spuren zu hinterlassen, die die Interessen und Ziele dieses Subjekts verraten könnten. Beispielsweise finden sich keinerlei Anachronismen im virtuellen Museum des Hypertextes; alle exponierten Gegenstände erheben den Anspruch auf historische Authentizität. Stöbert die CD-ROM-Benutzerin in der Rolle der Museumsbesucherin etwa in Leonardos Bücherregal, so trifft sie dort auf Aristoteles’ Meteorologie und Plinius’ Historia Naturale, nicht aber auf Pascal oder Freud, wodurch unvermeidlich eine Reflexion über den tatsächlich stattfindenden Anachronismus dieser Zeitreisewir, heute, in Leonardos Arbeitszimmer - in Gang gebracht werden könnte. Dabei ist das erste Ziel des Subjekts der Exposition - das Lesbarmachen von Leonardos Handschrift auf den Grundlagen unseres heutigen Wissens und Könnens - kaum zu übersehen. Diese Unumkehrbarkeit der Blickkonstellation zwischen erster, zweiter und dritter Person, so möchte ich argumentieren, dient dem Zweck, eine Hierarchie zu begründen zwischen unserer heutigen westlichen, weitgehend digitalisierten, visuellen Kultur und der historischen Bildkultur der Renaissance, deren Rätsel wir nicht nur bestaunen, sondern auch ohne Rest entwirren zu können glauben - per einfachem Mausklick. Anders als Leonardos Zeitgenossen, so suggeriert diese Inszenierung, können “wir” den großen Meister verstehen; wir haben wörtlich “das Zeug” dazu. 9 Eben diese Spannung zwischen “Visualität” und “Bild” arbeitet Wetzel in einer Gegenüberstellung des Aumont entlehnten Begriffs des “Monitorbildes” und des von Didi-Huberman diskutierten Begriffs des renaissancistischen “Tafelbildes” heraus. 10 Dabei hebt Wetzel als Kerncharakteristikum des Tafelbildes “das Bleibende, das Bewahrende, ja das Materielle des Bildes” (76 -77) hervor, das sich etwa bei der Wachstafel als “Modellierbarkeit” und “Oberflächenglättung” darstellt: Entscheidend ist dabei, “dass das Tableau nicht auf eine Oberfläche des sichtbar Dargestellten reduziert wird, sondern ein Volumen besitzt, gebildet aus einer […] Mannigfaltigkeit der Farbschichten als Materialität des Trägers, der sich in Oberfläche und Tiefe differenziert. (81; Hervorhebung MW) Wenn die digitale Inszenierung von Leonardos Handschrift sich zum Ziel setzt, das Rätsel des Genius lesbar zu machen, so eskamotiert sie dabei genau jenes von Wetzel für das Tafelbild beanspruchte ‘Andere’ des Bildes, und zwar nicht zuletzt, indem sie seine Tiefe, sein Volumen verflacht. Die digitale rechnische Umkehrung vermag zwar, das Linke ins Rechte zu verkehren, aber nicht, ohne dabei einen gewissen Rest hervorzubringen. Die materielle Dimension dieses Restes wird angesichts einer weiteren Eigentümlichkeit von Leonardos Schreib- und Zeichentechnik besonders anschaulich. In seiner Lektüre von Arasse’ Leonardo- Monographie stößt Wetzel auf folgende Beschreibung einer ungewöhnlichen Praxis der Vorzeichnung, die Leonardo bei den Studien zu seinen Gemälden pflegte: Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 169 Indem sie immer wieder über die gleichen Stellen fuhr, ihre Bewegungsmöglichkeiten erprobte, um die ausgewogenste Form zu finden, erzeugte Leonardos Hand schließlich einen unlesbaren Fleck; in diesem Chaos ist nichts mehr zu erkennen. Sein Blick jedoch entdeckte in der Bewegung der Hand die gesuchte, aber verwischte und verborgene, zur Gestalt strebende Form. Leonardo markierte diese Form mit dem Stichel, wendete dann das Blatt und machte sie in einem Zug sichtbar. (2002: 285; Hervorhebung S.N.) An dieser Zeichenpraxis unterstreicht Wetzel “das tentative Ausloten der Darstellungsmöglichkeiten, die Überdeterminierung des blinden Flecks der Erkennbarkeit und das Umkehrverfahren der Entwicklung des manifesten Bildes.” (84) Für meine Argumentation erscheint insbesondere das zuletzt genannte Moment der Umkehrung bemerkenswert: erst durch das Wenden des Blattes von der rechten zur linken Ansicht wird die im Volumen aufbewahrte Form sichtbar; erst die Geste des Umdrehens schließt den Akt der Erzeugung der idealen Form als différent der anderen, unbrauchbaren Zeichenzüge ab. Eben diese Tiefe, das Relief der Linie, macht das Monitorbild nicht sichtbar. Durch diese Verflachung suggeriert das Monitorbild “uns”, den zweiten Personen in dieser visuellen Narration, das Rätsel dieses Schriftbildes final entzifferbar zu machen; wir haben wörtlich “das Zeug” dazu. Die Systematik dieses Taktierens beruht auf einem medientechnischen Trick, der das Prinzip der Doppelbelichtung - unser Blick von heute legt sich wie bei einer fotographischen Doppelbelichtung palimpsestartig über den Blick von damals - verkennt. Zweck dieser Unsichtbarkeit der medialen Inszenierung ist es, Leonardos Handschrift mitsamt ihrem Anspruch auf Authentizität und Unikatizität buchstabierbar, wiederholbar und somit lesbar zu machen. Lesbarmachen, dahingehend möchte ich in Anlehnung an Derridas “Signatur Ereignis Kontext” argumentieren, ist aber nicht nur auf bloßes Wiederholen (etwa für spätere Leser) angelegt, sondern jede Wiederholung, jedes “Zitieren” als performative Praxis, birgt die Möglichkeit zum Bruch mit dem Kontext in sich und somit die Möglichkeit, neue Erzählungen und neue Sichtweisen zu generieren. Als eine solche “Bruchstelle” möchte ich den “Rahmen” der digitalen Graphik der CD-ROM interpretieren. Denn die Vollendung, mit der Leonardos historische Realität nicht nur simuliert, sondern geradezu perfektioniert wird, macht zwar einerseits den Zitatcharakter, die “Doppelbelichtung” der digitalisierten Handschrift nahezu unsichtbar. Zugleich aber lässt die spektakuläre visuelle Qualität der Bildschirmgraphik die physische Materialität der Handschrift auch täuschend echt, wenn nicht gar hyperrealistisch erscheinen. Das Verfahren der digitalen Transkription vom Manuskript zur visuellen Bildschirmgraphik ist also einerseits damit beschäftigt, das unlesbare Bild von Leonardos Schrift im logozentristischen Sinne des Wortes “lesbar” zu machen. Zugleich aber quillt dieses “optische Spektakel” der Computergraphik sozusagen aus allen Poren des Bildschirms hervor - mit einem Vogel am Himmel, der seinen Flügelschlag unendlich wiederholt, ohne jemals von der Stelle zu kommen; mit einer verflachten, künstlichen Dreidimensionalität; mit den Ikons, dem Cursor und der Symbolleiste im Rahmen der Bildschirmoberfläche. Wenn ich oben argumentiert habe, das Verhältnis zwischen interner und externer Fokalisation sei nicht-reziprok organisiert, so möchte ich hier ergänzen, dass dieser “Rahmen” den monodirektionalen Blick des Benutzers arretiert und somit die starren Oppositionen zwischen Innen und Außen der Diegese, zwischen einer fokalisierenden unsichtbaren ersten Person von “heute” und einer fokalisierten 3. Person als unmittelbar re-präsentiertem historischem Objekt, zu destabilisieren vermag. Sonja Neef 170 Stattdessen tritt der körperliche Aspekt von Leonardos Handschrift mitsamt seiner physischen Materialität und seiner taktilen Tiefe hervor. Die Handschrift widersetzt sich der expositorischen Ein-Klick-Strategie dieses Hypertextes, die, selber unsichtbar, vorgibt, die Vergangenheit unmittelbar zu re-präsentieren. Sie schiebt ihre emphatische visuelle Performanz, ihr Schriftbild und überhaupt ihre Körperlichkeit zwischen Schrift und Bedeutung und arretiert somit den Blick des Betrachters, der die bislang ausgeblendeten Körper der ersten, zweiten und dritten Person - per Doppelklick - wieder in den Prozess der Semiose einloggen kann. Als ein derart ausgeblendetes somatisches Zeichen fungiert nicht zuletzt Leonardos sagenumwobene linke Hand, die, wenn ihr einmal der Zutritt in den Diskurs über Schrift und ihre Semiose gewährt worden ist, sogleich ihre eigene Erklärung für Leonardos eigentümliche Schreibweise bei der Hand hat. Ich zitiere abermals Zwijnenberg: By writing from right to left a left-handed person prevents his or her hand from wiping through the wet ink. But the form of the letters of our alphabet are adapted to writing that move from left to right. To make writing easier and quicker for most people a right-handed movement was introduced into the structure of these letters. For someone who writes from right to left, however, and tries to do so efficiently, this structure is an obstacle. Leonardo solved this problem for himself by writing the letters in reverse; thus his letters acquired a left-handed structure. (1999: 83) Genau diese linke Hand ist es, so möchte ich behaupten, die den rechten Gang der Schrift behindert. Diese körperliche Dimension möchte ich im Folgenden näher unter die Lupe nehmen. Die linke Hand Vögel stellten für Leonardo wohl schon immer ein Faszinosum dar. Nicht nur studierte er eingehend ihren Flug und richtete seine Flugmaschinen nach ihrer Anatomie aus, sondern ihnen scheint darüber hinaus noch ein anderer Zündstoff innezuwohnen. Dahingehend argumentiert zumindest ein weiterer, besonders prominenter Leonardo-Biograph, nämlich Sigmund Freud. In seinem Essay “Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci” (1910) analysiert Freud eine Szene, eine Mischung zwischen Kindheitserinnerung und “Fantasie”, in der der Figur eines Vogels eine Schlüsselrolle zukommt und die Leonardo im Erwachsenenalter wie folgt notiert haben soll: Es scheint, daß es mir schon vorher bestimmt war, mich so gründlich mit dem Geier zu befassen, denn es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinen Schwanz gegen meine Lippen gestoßen. (zit. n. Freud 1910: 109) Kurzgefasst lassen sich die wesentlichen Argumentationslinien von Freuds Analyse dieser Kindheitserinnerung wie folgt darstellen. Diese “Vogelphantasie” interpretiert Freud anhand der Bilderschrift der ägyptischen Hieroglyphen, wo das Bild des “Geiers” die Mutter symbolisiere, als “eine Reminiszenz an das Saugen - oder das Gesäugtwerden - an der Mutterbrust”. (113) Darüber hinaus behaupte eine alte Priesterwahrheit, es gäbe nur weibliche Geier und keine männlichen. Die Befruchtung der Geier gehe diesem Mythos gemäß so vor sich, “dass die Vögel im Fluge innehalten, ihre Scheide öffnen und vom Wind empfangen.” (115) Freud argumentiert, dass Leonardo, der ein uneheliches Kind einer Magd und eines Notars war, schließlich “ja auch so ein Geierkind gewesen [sei], das eine Mutter, aber keinen Vater gehabt Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 171 Abbildung 3: Leonardo da Vinci zugeschriebene Zeichnung habe.” (116) Der Schwanz, so Freud, repräsentiert die Mutterbrust. Die “Neigung”, an der Mutterbrust zu saugen, sei in späteren Jahren ersetzt worden durch die Neigung, das Glied des Mannes in den Mund zu nehmen. (113) Freud interpretiert Leonardos Kindheitserinnerung demnach als eine passive homosexuelle Phantasie. Schließlich geht Leonardo aus Freuds Studie als ein Mann hervor, der sein Sexualleben verdrängt und durch einen ausgeprägten “Forschertrieb” sublimiert hat (107); Libido sublimiert sich in Wissbegierde (106). Neun Jahre nach der Vollendung seines Leonardo-Essays fügt Freud seinem Text eine ausführliche, über zwei Seiten lange Fußnote hinzu, in der er eine anatomische Zeichnung von Leonardo diskutiert, die einen Sagittalschnitt eines Koitus zeigt. In dieser Fußnote zitiert Freud ausführlich seinen Kollegen Reitler, der diese anatomische Zeichnung, ähnlich wie Freud selber, als Indiz für Leonardos Libidoverdrängung deutet. Beispielsweise argumentiert Reitler, dass der Kopf der männlichen Figur mit weiblichen Signifikanten - die herabwallenden Locken, die sanften Gesichtszüge - aufgeladen sei. Die männliche Figur sei zudem als Ganzes abgebildet, während die weibliche auf die Darstellung ihrer Geschlechtsorgane reduziert sei. Überhaupt fehle es der männlichen Figur an Lust, sein Gesichtsausdruck sei voll Unvergnügen. Zudem sei das männliche Genital komplex und korrekt abgebildet; die weibliche Figur hingegen weise diverse Mängel in der Darstellung der Brust, der Milchkanäle und der Gebärmutter auf. Reitler - und Freud mit ihm - kommt aufgrund der sich in dieser Zeichnung offenbarenden Mangelhaftigkeit von Leonardos anatomischer Kenntnis des weiblichen Körpers zu dem Schluss, dass “der Forscher Leonardo durch seine Sexualabwehr offenbar verhindert worden war”, den weiblichen Körper näher zu erforschen, und Freud zweifelt sogar daran “ob Leonardo jemals ein Weib in Liebe umarmt hat” (98). Ein weiteres Argument, mit dem Reitler die Zeichnung kritisiert, erweist sich für eine Reflexion auf die körperlichen Dimensionen von Handschrift als besonders brisant: Die gröbste Fehlleistung hat aber Leonardo bei der Zeichnung der beiden unteren Extremitäten begangen. Der Fuß des Mannes sollte nämlich der rechte sein; denn da Leonardo den Zeugungsakt in Form eines anatomischen Sagittaldurchschnittes darstellte, so müsste ja der linke männliche Fuß oberhalb der Bildfläche gedacht werden, und umgekehrt sollte aus demselben Grunde der weibliche Fuß der linken Seite angehören. Tatsächlich aber hat Leonardo weiblich und männlich vertauscht. Die Figur des Mannes besitzt einen linken, die des Weibes einen rechten Fuß. (99) Gegen diese Analyse von Reitler und Freud sind in der neueren Forschung einige schwerwiegende Einwände eingebracht worden. Erstens, so merken die Herausgeber der Studienausgabe von Freud an, soll bei Leonardo eigentlich nicht von einem Geier, sondern von einem Milan die Rede gewesen sein. Freud folgte offensichtlich der Herzfeldschen Übersetzung aus dem Italienischen ins Deutsche, die diesen Übersetzungsfehler enthält. (109; Fußnote 1) Sonja Neef 172 Zweitens - wie beispielsweise Kurt Eissler ausführlich diskutiert - gibt es Hinweise darauf, dass Teile dieser Zeichnung, insbesondere der Kopf, die Beine und die Füße, nicht authentisch von Leonardo stammen, sondern später von einem anderen Künstler hinzugefügt worden sind. Unabhängig von der Authentizitätsfrage und von allen ornithologisch-mythologischen Einwänden möchte ich ebenso wie Freud dafür argumentieren, dass diese anatomische Zeichnung über das Potenzial verfügt, als ein “theoretisches Objekt” zu fungieren, aber nicht für eine Theorie der Psychoanalyse 11 , sondern für eine Theorie der Schrift. Für Freud korreliert die Vertauschung von linkem und rechtem Fuß mit der Vertauschung von männlich und weiblich; zwei Opponenten treffen im Akt des Koitus aufeinander und nehmen einanders Positionen ein, stellen sich sozusagen “auf den Fuß des anderen”. Es bedarf nur eines winzigen Schritts, diese Vertauschung von linkem und rechtem Fuß mit der Vertauschung von linker und rechter Hand in Zusammenhang zu bringen. Ein kleiner Schritt für den Körper, aber ein großer Schritt für die Theorie, für eine Theoretisierung von Handschrift als körperliches Gegenstück zur Typenschrift. Anders als Freud möchte ich Leonardos anatomische Zeichnung aber nicht zwangsläufig als “Fehlleistung” im Sinne von “verkehrt herum”, “anders herum” interpretieren, sondern sie zunächst mittels einer genaueren visuellen Analyse befragen, worin genau ihre visuelle Verwirrung besteht. In diesem Zusammenhang weist Jacqueline Rose darauf hin, “daß der Betrachter nicht weiß, wo er im Verhältnis zum Bild steht. Eine Verwirrung auf der Ebene der Sexualität bringt [somit] eine Verstörung des visuellen Feldes mit sich.” (1996: 229) Übertragen in Bals Terminologie einer visuellen Narratologie könnte man auch sagen, dass die dargestellten Körper aus verschiedenen, einander gegenseitig ausschließenden, internen Fokalisationspositionen gesehen sind. Die Füße der Figuren sind von einem anderen Blickwinkel aus wie durch einen Spiegel betrachtet, während ihre Torsos in der “rechten” Ansicht gesehen sind. Diese plurale Darstellungsweise ist vergleichbar mit der Montagetechnik kubistischer Malerei, die ihre Objekte “im Winkel über Eck” sieht, wie Max Raphael (1989: 74) es ausgedrückt hat. 12 Das Krumme, das “Linkische” dieser Zeichnung resultiert demnach aus dem Bruch zwischen dem Blickwinkel des externen Fokalisators, der unbeweglich vor der Gesamtansicht der Figuren steht, und dem multiperspektivischen Blick des internen Fokalisators, der sein Objekt gleichzeitig von rechts wie von links betrachtet. Eben diesen Bruch möchte ich nicht durch Gleichschaltung der pluralen Fokalisationspositionen normalisieren, sondern ihn für meine Lektüre produktiv machen. Während Freud die Vertauschung von links und rechts als ein bedeutungshaftes somatisches Zeichen versteht, dass die binäre Opposition zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen destabilisiert, möchte ich zusätzlich dafür plädieren, dass diese Verdrehung eine mit der Geschlechterdifferenz eng verzahnte generelle Kulturellesemantik aufzubrechen vermag, die die rechte Hand von jeher privilegiert - man sitzt zur rechten Hand Gottes - und die Benutzung der linken Hand - beim Grüßen, beim Schwören, beim Schreiben - mithilfe von strengen Benimmregeln zu exorzieren versucht hat. 13 Wenn Heidegger von der “Hand” des Menschen, immer - wie Derrida in “Die Hand Heideggers” (1988: 80) bemerkt - im Singular spricht und betont, die Hand sei nicht “leibliches Greiforgan” (65), sondern “[a]lles Werk der Hand beruht im Denken” (69), dann meint er damit bestimmt nicht die linke, sondern die rechte Hand. (zit. n. Derrida 1988) Bei Leonardo dagegen stehen das Linke und das Rechte sich nicht als starre Gegensätze entgegen, sondern sie nehmen je nach Kontext neue Positionen ein und hinterfragen somit die verkrustete Hierarchie zwischen der rechten Hand einerseits, also der “schreibenden” Hand Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 173 (auf Englisch könnte man beides zugleich sagen: “the (w)righting hand”, als dem Medium für Schrift schlechthin im logozentristischen Sinne des Wortes, und der linken Hand andererseits, der falschen Hand, die als unfähig eingestuft wird, Denken auf Papier zu fixieren, sondern stattdessen in emphatischer Weise körperlich und “linkshändig” ist. Durch diese Geste der Verdrehung wird der Blick frei für die körperlichen Dimensionen von “Schreiben” und “Denken” oder “Wissen”. Die Hand - jenseits einer Opposition zwischen rechts und links gedacht - operiert als ein körperliches Instrument des Forschens und Wissens. Den Körper zu erforschen, seine Anatomie, das Innere des weiblichen Körpers zu kennen, dieses Wissen wird vermittelt durch die Hand. Die tastende, eindringende, begreifende, erfassende Hand ist schließlich dieselbe Hand wie die schreibende Hand, die den Füller über das Papier streichen lässt und - um noch kurz in dieser nachdrücklich körperlich-sexuellen Ausdrucksweise zu verweilen - ihre Schreibflüssigkeit auf Beschreiboberflächen ausdrückt. Leonardos rätselhafte Spiegelschrift dient einerseits dazu - das legt die oben zitierte ergonomische Erklärung für diese Schreibweise nahe - den Akt des Schreibens zu vereinfachen, sie ist ein Mittel, das vermeiden soll, dass die Bewegung der schreibenden Hand die Bewegung des Geistes behindert, verlangsamt. Sie gestaltet den Akt des Schreibens soweit wie möglich als einen Akt des Denkens und des Wissens. (vgl. Zwijnenberg 1999: 74 - 82) Andererseits entflieht Leonardo den körperlichen Unannehmlichkeiten des Schreibens paradoxerweise nicht, indem er die Hand vom Körper “abtrennt” - wie Heidegger mit seiner Schreibmaschine - sondern im Gegenteil, indem er seine Handschrift emphatisch visuell und autographisch ausformt mit einer unübersehbaren Betonung dessen, was ich als das “Bild” der Schrift bezeichnet habe. Für eine Analyse der digitalen Handschrift auf der CD-ROM bleibt dies nicht ohne Folgen. Entgegen der Vorstellung einer virtuellen, halluzinatorischen, subjektlosen und entkörperten Computerschrift im Sinne Baudrillards möchte ich Argumente dafür ins Feld führen, dass auch die Bildschirm- und die Tastaturenschriften ihre körperlichen Dimensionen nicht leugnen können. Ebenso wie das Gleiten der Feder über das Pergament nicht anders denn als eine ausgesprochen physische Geste verstanden werden kann, deren somatische Dimension den Akt des Schreibens, wie bei Leonardo, sogar zu einem betont sinnlichen, visuellen “Zeichnen” gestalten kann. Genauso schwingt auch bei den Schreibtechniken von Schreibmaschine - jedes Mal, wenn der Typenarm auf die Schreibwalze trifft - und Computer - beim Gleiten der Maus über das mousepad, beim Antippen des touchscreens mit den Fingerspitzen und beim Anschlagen der Tasten der Tastatur - das Streichen und Stoßen des Geiers mit an, der sich als emphatisch körperliches Schreibinstrument in eine ebenso körperliche Beschreiboberfläche “einhackt”. Und zwar beidhändig, also jenseits einer Opposition zwischen links und rechts. Weder die Tastatur, so möchte ich schlussfolgern, noch Leonardos Gänsefeder können Körper und Schrift final spalten. In ihrer Differenz können auch nicht - wie ich in diesem Essay zu zeigen versucht habe - die Gegensätze zwischen Abwesend und Anwesend, Bild und Schrift, Unlesbarkeit und Lesbarkeit, Autographie und Allographie, Oberfläche und Tiefe, links und rechts, usw. aufgehoben oder gar im “Links-rechts”-Gleichschritt normalisiert werden. Sondern diese Gegensätze habe ich gerade zur Ausdifferenzierung einer komplexen Sicht auf Körperlichkeit herangezogen, die jenseits einer Opposition von Verkörperung und Entkörperung argumentiert. Denn in jedem Setzen einer Position klingt eine Negation mit an, schlägt an, gleitet mit, loggt sich ein. Der Körper: ein Hacker? Sonja Neef 174 Anmerkungen 1 Der vorliegende Essay wurde im Februar 2002 bei der Deutschen Gesellschaft für Semiotik eingereicht anlässlich des Förderpreises Semiotik für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zum Thema “Körper-Verkörperung-Entkörperung”. 2 Genaugenommen ist die Rolle des Filmzuschauers keineswegs passiv. Dahingehend haben bereits in den achtziger Jahren feministische Filmwissenschaftlerinnen wie Theresa De Lauretis (1983) und Kaja Silverman (1983) argumentiert, indem sie den “Akt” des Zuschauens als aktiven und komplexen Identifizierungsprozess interpretierten. 3 Für die Idee der Beweglichkeit im virtuellen Raum verweise ich auf Manovitch 1995 -1996: 129 -134. 4 Bal bezieht sich auf Freuds “Die sexuellen Abirrungen” In: “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” (1905). 5 Dieses manipulative Potenzial des Blicks birgt auch politischen Zündstoff in sich. In der hier diskutierten Studie nutzt Mieke Bal ihr Fokalisationskonzept anhand einer narratologischen Lektüre von Rembrandt für eine feministische Kritik (1991). In ihren neueren Arbeiten operationalisiert Bal ihr Fokalisationskonzept auch für postkoloniale Kritik. Aspekte von Bals Fokalisationskonzept, wie die Unterscheidung zwischen dem “dialogischen glance” und dem voyeuristischen, kolonisierenden “gaze”, gehen auf Norman Brysons Vision and Painting (1983) zurück, das 2001 auf Deutsch erschienen ist. Gemäß Bryson ist diese Logik des Blicks, die den Akt des Sehens als Verschiebung des Aktes des Berührens einstuft, symptomatisch für die Machtmechanismen unserer westlichen visuellen Kultur, die den Körper des Subjekts meist nicht direkt, “physisch” (Sklaverei) unterwirft, sondern durch institutionalisierte, nicht persönliche Macht: “ein sekundäres Beherrschungssystem durch Systeme […] ersetzt die elementare Herrschaft von Körpern über Körper. In der sekundären Herrschaft muß die führende Gruppe diese Autorität durch kulturelle Werte und Formen rechtfertigen; wenn offene und körperliche Unterwerfung unmöglich wird, drückt sich die Autorität gewöhnlich durch Management statt durch Kontrolle aus. […] [E]s entsteht eine verhüllte Machtausübung durch Mechanismen, die einem neuen Imperativ gehorchen: den Körper nicht zu berühren; die Vermeidung des Körperkontakts wird zum Merkmal der Zivilisation, Körperkontakt dagegen zu dem der Barbarei.” (Bryson 2001: 191; Hervorhebung S.N.) Auf diese politische Dimension des Blicks werde ich später näher eingehen. 6 Aus eben diesem Grund ist eine extreme voyeuristische Praxis wie die Pornographie im virtuellen Raum des Internets so erfolgreich. Für eine Diskussion des performativen Potenzials von Pornographie verweise ich auf Butler 1997: 65 - 69. 7 Gemäß dem Paradigma der strukturalistischen Linguistik beruht dieser Symbolcharakter auf der Vorstellung von Schrift als Re-präsentation. In ihrem sekundären visuellen Modus als Signifikant repräsentiert die Schrift primär die Rede, also auditive Sprache, die ihrerseits ein Signifikat designiert. Für eine eingehende Kritik dieser Priviligierung der (unikaten, authentischen) Rede vor der (iterablen) Schrift verweise ich auf Derridas Grammatologie. In Hinblick auf Leonardos rückläufiger Spiegelschrift könnte sich im Rahmen dieser Kritik zugespitzt sogar die Überlegung aufdrängen, ob der Regress des Textflusses gemäß dem linguistischen Postulat seine auditive Entsprechung in einem rückwärts gesprochenen Sprechakt oder gar in einem rückwärts gedachten Gedanken finden müsste. Das Problem lässt sich hiermit aber nicht lösen, sondern allenfalls verschieben. 8 Peirce organisiert seinen Zeichenbegriff in einem trianglischen Modell: “Ein Zeichen, oder Repräsentamen, ist etwas, das für jemanden in einer gewissen Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es richtet sich an jemanden, d.h., es erzeugt im Bewußtsein jener Person ein äquivalentes oder vielleicht ein weiter entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt.” (Zit. n. Nöth 1985: 36; H.d.V.) Je nach Korrelation zwischen Zeichen, Interpretant und Objekt unterscheidet Peirce drei verschiedene Zeichentypen: das Ikon, das ein Similaritätsverhältnis zu seinem Objekt unterhält, der Index, der ein Kontiguitätsverhältnis zu seinem Objekt unterhält, und das Symbol, das aufgrund von Konvention oder Tradition mit seiner Bedeutung verbunden ist. Für eine Adaption der Peirceschen Zeichentheorie für die heutige Semiotik verweise ich auf Bal 1994: 165 -171. 9 Diese Ökonomie der Macht, wie ich sie oben schon anhand von Bryson diskutiert habe, zeigt sich beispielsweise dadurch, dass viele von Leonardos Zeichnungen im Besitz von mächtigen Institutionen oder Großkonzernen wie der NASA oder IBM sind. Microsoft hat beispielsweise einen Bildschirmschoner entworfen, der einige technische Zeichnungen von Leonardo zusammen mit handschriftlichen Notizen zeigt, wodurch dem Microsoft- Kunden jedes Mal, wenn der Bildschirmschoner auftaucht, suggeriert wird, sein Talent sei, ähnlich dem von Leonardo, bei Microsoft in den besten Händen. Vgl. hierzu Neef (im Druck a). Die (rechte) Schrift und die (linke) Hand 175 10 Wetzel bezieht sich auf Aument L’image (1990) und Didi-Huberman Vor einem Bild (2000). 11 Für eine eingehende psychoanalytische Diskussion von Freuds Essay verweise ich zusätzlich zu Kurt Eissler (1994) auf Hubert Damisch und aus feministischer Perspektive auf Jacqueline Rose (1996: 229 -237). In Sachen Ornithologie ist bei Damisch (Kap. 2, S. 10) gemäß der niederländischen Übersetzung von Bal sogar die Rede von einem “Spatz” (“mus”). 12 Für eine Analyse kubistischer Montagetechnik anhand des Konzepts der Fokalisation verweise ich auf Neef (2000: 226 -230). 13 Für eine wunderbar reiche Kulturkritik des Links-Rechts-Dualismus und ihre Korrelation zur kulturell kodierten Geschlechterdifferenz verweise ich auf Adriano Sofri (1998). Bibliographie Arasse, Daniel. 2002. Leonardo da Vinci. Köln: Dumont. Aumont, Jacques. 1990. L’ image, Paris: Nathan Bal, Mieke. 1991. Reading Rembrandt. Beyond the Word Image Opposition. Cambridge/ New York u.a.: Cambridge University Press. - 1994. On Meaning-Making: Essays in Semiotics. Sonoma, CA: Polebridge Press. - 1996. Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis. New York/ London: Routledge. - 1997. Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. 2. Auflage. 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