eJournals Kodikas/Code 25/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2002
251-2

Wenn der Klöppel zur Geißel wird

61
2002
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod251-20185
Review Article Wenn der Klöppel zur Geißel wird Nietzsche-Rezeption und literarische Produktion homosexueller Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ernest W.B. Hess-Lüttich In der seiner Lebensgefährtin und seiner Familie gewidmeten umfangreichen Studie zur Nietzsche-Rezeption und literarischen Produktion von Homosexuellen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 1 sucht der Verf., wie er im Klappentext schreibt, den Nachweis zu führen, daß “die deutschsprachige Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliche Entwicklungen einem homosexuellen Diskurs verdankt, in dem Schriftsteller sowie Geistes- und Sozialwissenschaftler ihre homoerotische Disposition, ihr Außenseiterdasein in einer heterosexuell ausgerichteten Umwelt und ihr Leiden an der eigenen geschlechtlichen Neigung literarisch voreinander darstellen, nach außen aber verbergen.” Er argumentiert, daß Homosexualität eines der zentralen literarischen Themen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewesen sei und daß renommierte Autoren wie Stefan George, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Bertram und etliche andere “ihr spezifisch homoerotisches Empfinden zu einem wichtigen Gegenstand ihrer Kunst machten und daß Homosexuelle mit ihren Problemen aufeinander Bezug nahmen.” Die Untersuchung zeugt von stupender Belesenheit und subtiler Textlektüre. Sie suggeriert auf jeder Seite: Homosexuelle lesen anders. Lesen sie anders? Wenn sie Nietzsche lesen, fühlen sie (sie alle? ) sich jedenfalls besonders angesprochen. Freilich: was heißt “homosexuell” hier eigentlich genau? Man kann die Frage zunächst mal auf die Männer beschränken, wie es Steinhaußen tut, aber dadurch wird sie nicht schon einfacher. Die Entscheidung ist unerläßlich, ob man unter Homosexualität lediglich eine Schattierung im Spektrum menschlicher Liebesmöglichkeiten versteht oder ob man den Typus des homosexuellen Mannes voraussetzt - was dann freilich eine Definition erforderte. Die offeriert Steinhaußen indessen nicht. Vielmehr spielt er mit den notorischen begrifflichen Unschärfen auf diesem weiten Feld des sogenannten ‘Mannmännlichen’, und oft sind ihm diese Unschärfen durchaus hilfreich. Denn natürlich kann, was auch immer Männer füreinander empfinden, irgendwie auf ‘Homoerotik’ zurückgeführt werden. Und von ‘Gleichgeschlechtlichkeit’ kann im Prinzip auch bei Männerfreundschaften die Rede sein, die mit “Geschlechtlichkeit” herzlich wenig zu tun haben. Genauso praktisch in seiner Vielseitigkeit ist der Begriff des ‘Eros’. Kann man es schon “erotisch” nennen, wenn der Eros sich darin ausdrückt, daß zwei oder mehr Männer emotional einander zugeneigt sind? Richtig fundiert könnte man das wohl, aber wenn man sich dafür entscheidet, dann faßt man die Homoerotik als Universalie auf und müßte konsequenterweise auf den Homosexuellen als Typus verzichten. Steinhaußen will aber offenbar K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 186 beides: den Typus und die Universalie. Indem er in der Unübersichtlichkeit des mannmännlichen Gefühlshaushalts nach festeren Konturen sucht, totalisiert er zugleich seine Protagonisten so konsequent als Homosexuelle, daß man sich an die politische Forderung erinnert fühlt, man möchte sich als Homosexueller doch bitte nicht auf seine sexuelle Veranlagung reduziert sehen. Steinhaußen läßt es zwar offen, ob Nietzsche selbst homosexuell war oder nicht, aber er schildert eindringlich eine Rezeptionssituation, in der sozusagen ein paar hundertprozentig Homosexuelle auf hundertprozentig homosexuelle Weise einen in ihren Augen hundertprozentig homosexuellen Nietzsche lesen. So läuft er Gefahr, alles nur über den schwulen Kamm zu scheren, was sich an Anderssein, an Isoliertheit, an gespaltenen Persönlichkeiten oder an Frauenfeindlichkeit in der Literatur um 1900 so finden läßt. Ob dies lediglich der Wahrnehmung der Homosexuellen von damals entsprach oder ob es auch aus heutiger Sicht als gesichert gelten soll, ist für den Leser an vielen Stellen schwer zu entscheiden, denn Steinhaußen pflegt die stilistische Eigentümlichkeit, seine eigenen und die von ihm zitierten Aussagen fast unmerklich ineinander zu verweben. Nun muß man dem Verf. fairerweise zugestehen, daß er sich erklärtermaßen eine historische Diskursanalyse vorgenommen hat, daß es m.a.W. in diesem methodischen Rahmen gar nicht um ihn und um heute gehen kann, sondern nur darum, was damals geglaubt und gesagt wurde. Es geht folglich nicht um unsere heutige Neugierde, ob z.B. ein Nietzsche homosexuell war oder nicht, sondern darum, wie er im damaligen homosexuellen Diskurs figurierte. Und dort diente er unter anderem als Chiffre in einem Diskurs, der das Tageslicht scheute und der “Maskierungen” und “Camouflagen” bedurfte. Alles andere wäre gefährlich gewesen. Er war grundsätzlich verschieden vom heutigen ‘schwulen Diskurs’, der sich gerade durch Öffentlichkeit auszeichnet und in den z.B. auch wissenschaftliche Untersuchungen gehören, wie sie im schnell wachsenden Feld der Queer Studies oder Gay & Lesbian Literary Studies heute vor allem im angelsächsischen Raum unbestrittene akademische Reputation erlangen. 2 Die Abgeschiedenheit des damaligen Diskurses vollzog sich im Rahmen eines “homosexuellen Konstruktivismus”, einer Exklusivität des Weltbildes, dessen wesentliche Prämisse von Nietzsche selbst benannt worden war: “Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf” (hier zitiert auf S. 389). 3 So exklusiv dieser Diskurs aber war, so sehr bezog er seine Chiffren aus allgemein zugänglichen Quellen. Das erschwert die heutige Analyse ungemein. Denn wenn etwa von den “alten Griechen” die Rede war, von “Orpheus” oder “Dionysos”, zeugte das schon von einem homosexuellen Diskurs? Und was ist mit all den anderen Chiffren: David, Cäsar, Goethe, Schiller, Napoleon, Novalis, Platen, George, Wilde? Steinhaußens ausgreifende und gelegentlich waghalsige Totalisierungen wirken da oft eher überzeugt als überzeugend. Denn spätestens wenn es darum geht, Chiffren als solche zu identifizieren, kann man sich nicht mehr hinter den Undeutlichkeiten des zeitgenössischen Diskurses von damals verstecken, sondern muß Belege beibringen, die ihrer unbestechlichen Prüfung standhalten. So wirken Steinhaußens “Beweise” gerade dort wenig überzeugend, wo er sich auf Ernst Bertrams berühmt-berüchtigtes Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie von 1918 bezieht. Es mag ja durchaus sein, daß Bertram darin seine unglückliche Liebe zu Ernst Glöckner sublimiert oder verarbeitet hat. Aber wie läßt sich dies schlüssig belegen? Schwerlich am Nietzsche-Buch selbst. Denn wer es unvoreingenommen liest, wird kaum ‘Homosexuelles’ darin entdecken. Umso verblüffter registriert er den Nachdruck, mit dem Steinhaußen den Eindruck zu erwecken versucht, Bertram beziehe sich hier nachgerade eindeutig und unmißverständlich auf Nietzsches Homosexualität bzw. auf die Sublimation derselben. Wenn der Klöppel zur Geißel wird 187 Dieselbe streckenweise leichtfertige Argumentationsstrategie verfolgt der Verf. im Hinblick auf Thomas Manns Doktor Faustus. Auch dieses hochkomplexe Werk wird gleichsam totalisiert: zum einen als Nietzsche-Roman, zum andern als homosexuelles Werk. Ausnahmslos alle Männerfiguren darin sind natürlich ‘eigentlich’ homosexuell, einschließlich des guten Serenus Zeitblom! Der hätte seine Gefühle für Adrian Leverkühn vielleicht nicht mit dem Ausdruck “Liebe” bezeichnen sollen, denn Steinhaußen zieht nicht gar in Erwägung, daß dieser Begriff zur Charakterisierung der Einseitigkeit der Beziehung und der Selbstlosigkeit Zeitbloms durchaus angemessen sein könnte und nichts mit sexueller Anziehung zu tun haben muß. Die manchmal fast wie besessen wirkende Decouvrierung homosexueller Chiffren reicht bis ins lexikalische Detail. Wenn Professor Schleppfuß in seiner Vorlesung zum Gnadenbegriff von einem Manne erzählt, der bei einer Frau sexuell versagt, dann zeugt dieses Versagen für Steinhaussen sofort und ausschließlich, tertium non datur, von Homosexualität, zumal der Mann “Klöpfgeißel” heiße, also habe er eben “seinen Klöppel als Geißel” (S. 161, 388), was, wie man weiß, nur Homosexuellen widerfährt ... Eindeutiger sind die homosexuellen Motive bekanntlich beim George-Kreis nachzuweisen, zu dessen weiterer Umgebung auch Ernst Bertram gehörte. Ein solcher Männerbund stellt dennoch kein einfaches Problem dar, weil sich hier die ganze ausgiebige Tradition des Freundschaftskults verdichtete, von Platons Symposion bis zu Hölderlins Hyperion und zu Platen. Kann man heute wirklich unbesehen mit “homosexuell” etikettieren, was früher etwa als “platonisch”, “empfindsam” oder “romantisch” galt? Später kam auch noch eine völkisch kontaminierte Homophilie dazu; Klaus Mann sah sich zu Recht veranlaßt, das Verhältnis von “Homosexualität und Faschismus” zu klären; und homosexuellen NS-Anhängern wie Ernst Bertram kamen erst nach die Ermordung Röhms gewisse Zweifel an der mannmännlichen Herrlichkeit des Dritten Reiches (S. 498). Die Nietzsche-Rezeption jener Zeit vollzog sich entsprechend widersprüchlich, denn bei Nietzsche konnten sich alle bedienen, die homosexuellen Adepten des aristokratischen platonischen Staates ebenso wie die Verächter von Nationalismus, Antisemitismus und Wagner, aber eben auch und vor allem die Nationalsozialisten. Das alles zu entwirren ist natürlich nicht so einfach, und Steinhaußen konsultiert denn auch eine beeindruckende Menge an Quellen, um den Diskurs bis in seine Verästelungen hinein zu verfolgen. Ernst Bertram eignet sich dafür als Einstieg besonders gut, weil er sowohl als Privatperson wie als Germanist von diesem Diskurs betroffen war, wobei er sich gleichzeitig im mainstream des konservativen und im underground des homosexuellen Diskurses bewegte (S. 12). Konkrete Freundschaften sind ebenso ein Thema wie die Methodenauffassungen homosexueller Wissenschaftler, die sich im positivistisch-historistischen Weltbild ihrer Zünfte gleichsam nicht erwähnt fanden (S. 106ff.). Nietzsche ist ihnen hier zumal als Geschichts- und Wissenschaftsskeptiker ein wichtiger Orientierungspunkt. Hinzu kommen seine Einsamkeit und das amor fati seiner Spätzeit, die den permanent leidenden Homosexuellen zu einer Selbststilisierung verhalfen, die nicht ganz frei war von Elitarismus, Selbstverleugnung und Narzißmus (S. 23, 27). Ernst Bertram steht zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Bewältigungsformen der eigenen Homosexualität, wie sie sich an Stefan George und Thomas Mann verdeutlichen lassen. Mit letzterem bis etwa 1937 befreundet, steht Bertram das Motiv der Selbstverleugnung (S. 45), wie es sich in Manns Werk zeigt, weit näher als die hymnische Feier der eigenen Auserwähltheit, wie sie im George-Kreis betrieben wurde. Dennoch stand ihm George für die Utopie, homosexuelle Lebenswerte könnten einmal lebbar werden (S. 62). Solches (Ver-)Führertum erhielt bei Thomas Mann dagegen eher ungnädige Fratzen wie die Ernest W.B. Hess-Lüttich 188 des Cipolla in Mario und der Zauberer (S. 77) oder des bösartigen Asketen Naphta im Zauberberg (S. 122ff.). Steinhaußen hebt an diesen beiden Figuren natürlich den homosexuellen Einschlag hervor und entwirft auch für das übrige Werk Thomas Manns ein homosexuelles semantisches Feld aus den Komponenten der Krankheit, des Bösen, des Häßlichen, der Kälte, der Sprachschwierigkeiten und der Zwitterhaftigkeit. Dabei unterlaufen ihm gelegentlich auch Fehler. Wenn er etwa für die gesamte Metaphorik des Pathologischen im Zauberberg eine (dionysische) Maskierung der “homosexuellen Seinslage” in Anspruch nimmt (S. 121), dann unterschlägt er, daß die Homoerotik dort ja durchaus gesondert behandelt wird (anhand von Pribislav Hippe), daß Thomas Mann das Thema also durchaus nicht total und schon gar nicht in der Weise camoufliert, daß Krankheit und Homosexualität gleichzusetzen wären (abgesehen davon, daß es ja eher die Heterosexualität ist, die im Zauberberg im Ruch des Pathologischen steht). Die zuweilen allzu forciert scheinende Argumentationsweise zeigt sich auch in der einseitigen Betrachtung des Zauberberg als “Roman über Nietzsche, insofern er ein wichtiges Philosophem Nietzsches beschreibt” (S. 246). Etwa nach dem etwas schlicht gestrickten Muster: wenn die Geburt der Tragödie eine Polarität aus Dionysischem und Apollinischem entwirft, und wenn fünfzig Jahre später ein Roman davon einiges aufgreift, dann hat man es eben mit einem “Roman über Nietzsche” zu tun, zumal Nietzsche bekanntlich selbst auch krank wurde und ein Fall für die Medizin im allgemeinen und für Magnus Hirschfeld im besonderen war (S. 364). Da steht der biographische Nietzsche-Bezug im Doktor Faustus auf festerem Grund. Diskutierbar ist aber schon Steinhaußens Feststellung zum Personal des Romans: “Alle Äußerungsformen seiner Menschen, ob körperliche oder geistige, sind Ausdruck verdrängter Sexualität” (S. 389). Das ist nur einer von den vielen vorschnellen Freudianismen bei Steinhaußen. Was einen Karl Popper vor allem an Sigmund Freud störte - nämlich daß dessen weitreichende Aussagen einfach nicht zu falsifizieren waren - gilt ein bißchen auch für Steinhaußen. Denn wo das Sexuelle ubiquitär ist, büßt es an Signifikanz ein, und das Problem verschärft sich, wenn das Sexuelle zum Homosexuellen hin verdichtet wird, etwa indem der ganze Doktor Faustus auf die Kurzformel gebracht wird: “Homosexualität wird virtuos motivisch variiert und bis zur Unkenntlichkeit maskiert” (S. 406). Was besagt das genau? Warum deutet z.B. der Sprachfehler eines Wendell Kretzschmar auf Homosexulität? Weil Sprachfehler in Thomas Manns Gesamtwerk grundsätzlich auf Homosexualität hindeuten, heißt es. Aber wenn praktisch das gesamte männliche Personal im Faustus homosexuell ist, warum stottert dann z.B. der am deutlichsten als Homosexueller gezeichnete Rudi Schwerdtfeger gerade nicht? Steinhaußens Indiziensammlungen führen oft ins Leere, was wirklich schade ist, denn mitunter gelingen ihm schöne Funde. So ist es überzeugend, daß Rüdiger Schildknapp, der “Roué des Potentiellen” (S. 382), jene Figur also, die dauernd “man sollte …” sagt, mit der Bezeichnung des Teufels als “Herr Dicis-et-non-facis” (S. 388) assoziiert wird. Diese Beschreibung stammt von Ehrenfried Kumpff. Warum diese Figur, ein Abbild Martin Luthers, nun aber auch noch homosexuell sein soll, bleibt denn doch ein Rätsel. Auch in den Sprachskepsis-Kontext der Jahrhundertwende führt Steinhaußen dann Sprach- und Formulierungsprobleme von Homosexuellen ein, und als Kronzeugen dienen ihm Hofmannsthal (homosexuell) und sein Lord Chandos (ebenso). Es ist letztlich ein Genderproblem: Im Rahmen der geschlechtlichen Bipolarität der Sprache bleibt den Zwischenstufen nur das Verstummen (S. 408). Eine subjektive, metaphernhafte, unbegriffliche Sprache im Sinne Nietzsches oder auch Wittgensteins kommt da so gelegen, daß der Verdacht, hier Wenn der Klöppel zur Geißel wird 189 handle es sich um spezifisch homosexuellen Sprachgebrauch, nicht lange auf sich warten läßt. Was geradesogut auch als romantisches Projekt geschildert werden könnte, als aussichtsloser Versuch, mit endlichen Mitteln das Unendliche zu greifen, wird hier zu einem Problem homosexueller Dichter, die sonst eigentlich alles andere als um Worte verlegen sind. Bertrams Neigung zu Antinomien wie “Vereinigung des Unvereinbaren” (S. 420) wird so leicht zum Symptom sprachgewordener homosexueller Persönlichkeitsspaltung. Seine von George inspirierte Sympathie für das Geheimnis, das eleusische Mysterium, das nicht gelüftet werden darf, ist ebenso symptomatisch, denn durch qualifiziertes Schweigen läßt sich das gesellschaftlich Unsägliche zum Unsagbaren erheben. Das mag ja teilweise zutreffen, aber heißt das auch, daß jemand homosexuell sein muß, wenn er stottert? Bei Nietzsche kann sich, wie gesagt, jeder bedienen, mit Nietzsche läßt sich alles beweisen. Ähnlich verhält es sich mit Steinhaußens gewaltigem Quellenreichtum; sein Mangel an präziser Begrifflichkeit macht ihn seltsam unkritisch gegenüber seinen eigenen Projektionen in dieses Indizienreich, das für jegliche Verkettungen taugt, plausible und eben auch weniger plausible. Sein Diskurs, der eigentlich im Sinne Foucaults ein Ausschließungssystem sein wollte (S. 12), gerät ihm auf diese Weise eher zum Einschließungssystem. Das ist durchaus schade, denn seine Auffindung und Aufbereitung des Materials ist eine imponierende Leistung, die hier keineswegs geschmälert werden soll. Das Buch ist ausgesprochen interessant und anregend, aber eben auch an vielen Stellen ärgerlich, zumindest aus nüchtern wissenschaftlicher Perspektive. Das Material ist da, die Beweise indes stehen aus. So ist der gewogene Rezensent auch nach der Lektüre des gewichtigen Werkes nicht sicher, ob es so etwas wie einen “homosexuellen Diskurs” überhaupt jemals gegeben hat und ob es sinnvoll ist, der Vergangenheit einen solchen zu unterstellen. Anmerkungen 1 Jan Steinhaußen, ‘Aristokraten aus Not’ und ihre ‘Philosophie der zu hoch hängenden Trauben’. Nietzsche- Rezeption und literarische Produktion von Homosexuellen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Thomas Mann, Stefan George, Ernst Bertram, Hugo von Hofmannsthal u.a. (= Epistemata 326), Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 526 S. + 10 Abb., ISBN 3-8260-1977-6, 92.00 . 2 Cf. Paul M. Hahlbohm & Till Hurlin, Querschnitt - Gender Studies. Ein interdisziplinärer Blick nicht nur auf Homosexualität, Kiel: Ludwig 2001; Eve Kosofsky Sedgwick (ed.), Novel Gazing. Queer Readings in Fiction, Durham/ London: Duke University Press 1997; Claude J. Summers (ed.), The Gay and Lesbian Heritage, New York: Holt 1995, 786 S.; Alexandra Busch & Dirck Linck (eds.), Frauenliebe - Männerliebe. Eine lesbischschwule Literaturgeschichte in Porträts, Stuttgart: Metzler 1997, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999; Wolfgang Popp, Männerliebe. Homosexualität und Literatur, Stuttgart: Metzler 1992; Joachim S. Hohmann (ed.), Der heimliche Sexus. Homosexuelle Belletristik in Deutschland von 1900 bis heute, Frankfurt a.M.: Foerster 1979; Joachim Campe (ed.), Andere Lieben. Homosexualität in der deutschen Literatur. Ein Lesebuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. 3 Kurzverweise auf Seitenzahlen im Text beziehen sich alle auf das besprochene Buch (Anm. 1). Literatur Busch, Alexandra & Dirck Linck (eds.) 1999: Frauenliebe - Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts, Stuttgart: Metzler 1997, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Campe, Joachim (ed.) 1988: Andere Lieben. Homosexualität in der deutschen Literatur. Ein Lesebuch, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Ernest W.B. Hess-Lüttich 190 Hahlbohm, Paul M. & Till Hurlin (eds.) 2001: Querschnitt - Gender Studies. Ein interdisziplinärer Blick nicht nur auf Homosexualität, Kiel: Ludwig Hergemöller, Bernd-Ulrich 1998: Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2001: “Projektion der Manneskrisen? Stigmatisierungserfahrungen in Werken von Guido Bachmann, Martin Frank, Christoph Geiser, Josef Winkler”, in: figurationen. gender literatur kultur 3.1 (2002): 101-122 [erweiterte Fassung von “Stätten des Stigmas: fremd unter andern in der Enge des Tals”, in: Forum Homosexualität und Literatur 36/ 2000: 43-62] Hohmann, Joachim S. (ed.): Der heimliche Sexus. Homosexuelle Belletristik in Deutschland von 1900 bis heute, Frankfurt/ M.: Foerster 1979 Kosofsky Sedgwick, Eve (ed.) 1997: Novel Gazing. Queer Readings in Fiction, Durham/ London: Duke University Press Popp, Wolfgang 1992: Männerliebe. Homosexualität und Literatur, Stuttgart: Metzler Summers, Claude J. (ed.) 1995: The Gay and Lesbian Heritage, New York: Holt