Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2002
251-2
Bernard Banouns, Lydia Andrea Hartl & Yasmin Hoffmann (eds.). Aug' um Ohr, Medienkämpfe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts (= Philologische Studien und Quellen 171), Berlin: Erich Schmidt 2002, 248 S., ISBN 3-503-06122-3, 39,80 €, 68,50 Sfr
61
2002
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod251-20191
Reviews Bernard Banoun, Lydia Andrea Hartl & Yasmin Hoffmann (eds.), Aug’ um Ohr. Medienkämpfe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts (= Philologische Studien und Quellen 171), Berlin: Erich Schmidt 2002, 248 S., ISBN 3 503 06122 3, 39,80 , 68,50 Sfr Der Band versammelt die überarbeiteten Referate zu einem von den Instituten für Germanistik der Universitäten Tour und Orléans ausgerichteten Symposion zum Thema “Voix et rythme dans la littérature autrichienne du vingtième siècle - Stimme und Rhythmus in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts” im November 1997 in Orléans. Die Organisatoren waren Bernard Banoun, Arlette Camion, und Yasmin Hoffmann, die (bis auf Arlette Camion) auch als Herausgeber des Bandes figurieren und dessen editorische Betreuung übernommen haben. An die Stelle von Arlette Camion trat im Herausgeberteam die Münchner Kulturreferentin Lydia Andrea Hartl, die von Hause aus Psychologin ist und in Medizin promoviert hat. Aus ihrer Feder stammen gleich drei Beiträge, die die drei Teile des Bandes gliedern und einleiten. Es sind die mit Abstand umfangreichsten Beiträge mit allein zusammen fast 100 Seiten und sie tragen so vielsagende Titel wie “Sprache, Stimme, Rhythmus, Schrift. Medienkämpfe um Aug’ und Ohr” oder “StimmKlangKunst. Wahrnehmungsverschärfungen in der Raumzeit von Wort und Körper” oder “Die zerklüftete Sprachwelt. Sprachexperimente - Sprachzertrümmerung - Sprachmontage”. Sie geben dem Band nicht nur den Titel, sondern ihm auch den roten Faden vor und bieten einen tour d’horizon durch allerlei theoretische Ansätze psychologisch-postmoderner Literaturinterpretation, durch Versuche der Verbindung von Musik und Sprache in der Lyrik, sowie durch die neuere österreichische Literatur von Hofmannsthal, Schnitzler und Heimito von Doderer über Ernst Jandl und Ingeborg Bachmann bis zu Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Werner Schwab. Über die Stücke des letzteren (Schwab) findet sie heraus, dass bei ihm “das Unsagbare” zum “vielgestaltigen Schaustück” werde und das “Stimme-Werden dieser Sprache eine Revolte [entfache] gegen alles, was man unter normaler Syntax, klaren Sprachregelungen oder bürgerlichen Werten versteht” (S. 168). Sein Stück Faust: : Mein Brustkorb: Mein Helm etwa sei “durch drei Sprachtypen gekennzeichnet, die wiederum typographisch in zwei Schriftarten gezeichnet sind […] sie unterscheiden sich in Melodie und Rhythmus und variieren auch ineinander: Sie sind der Goetheschen Diktion des Faust I entlehnt, […] den Musiktexten der Einstürzenden Neubauten” und “als drittes tritt die für Schwab spezifische multimediale Sprache hinzu” (S. 185). Worin diese Multimedialität semiotisch genau besteht, sagt sie leider nicht. Dieter Hornig (Paris) nimmt die These (‘Sprache = Körper’) in seinem Beitrag über das Verhältnis von Körper und Sprache in den Stükken von Werner Schwab wieder auf: der Einsatz des Körpers “als materielles Substrat aus Säften und Exkrementen […] als Behältnis von Exkrementen, Schleim, Sperma und Blut” führe zu einer “Freisetzung der Oralität”, bewirke “eine große Arbeit an der Sprache” und bringe sie “zum Delirieren” (S. 119). Um diesen analytischen Befund zu untermauern, nimmt er sich vor, “die wesentlichen Strukturelemente des Schwabschen Idiolekts herauszuarbeiten”, und zwar mit dem anspruchsvollen terminologischen Instrumentarium eines Autors, den er nicht selbst zitiert, aber auf den er hartnäckig als Pearce [sic] referiert (S. 126ff.). Es ist die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce, die ihn auf nicht näher erläuterte Weise zu der Erkenntnis inspiriert, dass Schwabs Sprache als “somatische Spur” erscheine, “von der Referenz abgekoppelt”, als “Absonderung und Sekretion”, die K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews 192 “den Affekt einfliessen” lasse und “die Metapher” freisetze, “die nun […] im Leerlauf funktionieren” könne, die Sprecher liessen “den Diskurs leer laufen”, und diesen lasse der Autor dann “als toten Code leer laufen” (S. 127f.). Mit Zeichentheorie hat soviel Leerlauf natürlich ebenso wenig zu tun wie die Erkenntnisse zur Syntax: der Sprecher werde “in die normale, normative Syntax eingeschleust, und zwar durch eine zusätzliche Syntax, die sich über die übliche Syntax stülpt” (S. 129; dort auch die folgenden Zitate). Wie man sich das wohl vorzustellen hat? Jedenfalls werde die daraus resultierende “systematische Kontamination der Aussage” vor allem durch vier Verfahren bewirkt: (i) “Konkretwerden der Abstrakta” (durch unbestimmte Artikel), (ii) “Prozesse der Inkorporation” (durch Präpositionen und Präfixe), (iii) “karnevalistische Umkehrung” (dadurch, dass “die Figuren von ihrer Arbeit verstanden” werden), (iv) “Einschreibung der imaginären räumlichen und hierarchischen Position des Sprechers” (ebenfalls durch Präpositionen und Präfixe). In der Linguistik sind diese ‘syntaktischen Verfahren’ m.W. nicht sehr geläufig. Die restlichen ca. 120 Seiten teilen sich zehn weitere Autoren mit kleineren Beiträgen, die hier wenigstens kurz genannt seien. Ingrid Haag, Germanistin an der Université de Provence in Aix-en-Provence, schreibt über die komplexen Beziehungen zwischen dem, was sie das “Theater des Blicks” und das “Theater der Stimme” nennt; Arlette Camion aus demselben Institut in Aix über “Die Stimme in Kafkas Erzählungen”; Eric Leroy du Chardonnay von der Université de Basse Normandie in Caen über Elias Canettis Der Ohrenzeuge; Yasmin Hoffmann aus Orléans über Thomas Bernhards Immanuel Kant auf seinem Narrenschiff; Aude Locatelli (Aix) über “Musikalische Wiederholung und Variation” in Thomas Bernhards Der Untergeher; Alfred Strasser (Université Charles-de Gaulle in Villeneuve d’Ascq) über “Rhythmus als Ordnungsfaktor in Konrad Bayers Theater”; Bernard Banoun (Paris, Sorbonne) über den “Kampf der Stimmen” bei Werner Kofler; Hans Holzkamp (Berlin) über die Poetik des späten Rilke; Susanne Böhmisch (Aix) über “Simultanstimmen und Differentialität bei Ingeborg Bachmann”; Klaus Zeyringer (Angers) über “Rhythmus - Dialekt - Avantgarde: Von der Wiener Gruppe bis zu Anna Nösts Frauenlitaneien als Sprech-Art.” Den meisten Beiträgen geht es um die besondere musikalische Qualität der Sprache in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts: die Texte wollen laut gelesen sein, um ihren unverwechselbaren Reiz zu entfalten. Sie seien hier eben “ganz Stimme, der Leser nicht mehr ganz Auge, sondern ganz Ohr”, rühmt der Klappentext auf dem Buchrücken. Das hat, nun ja, mit “Medienkämpfen” allenfalls in einem eher metaphorischen oder vielleicht auch oberflächlich semiotischen Sinne der Sinnesmodalitäten zu tun; insofern ist der Titel des Bandes möglicherweise ein wenig irreführend. Aber das Verdienst der Autoren ist es, auf die Bedeutung der Sprache, gerade auch der gesprochenen Sprache, für den literarischen Text ihr besonderes Augenmerk gerichtet zu haben. Leider wird dieser einleuchtende Ausgangspunkt meist durch ein stilistisch unnötig ambitioniertes Geraune wieder verunklart. Zwar kritisieren die Herausgeber an der gleichen Stelle, dass oft vorschnell von der musikalischen Komposition eines Textes gesprochen werde, “von Polyphonie, mehrstimmiger Schreibweise oder musikalischen Sätzen”, und dass derlei Metaphorik “nicht die Analyse von Texten” ersetzen könne. Eben dies wird dann dem Leser versprochen, aber dann geht es leider doch nur um allerlei “Stimmen und Verstimmtes, […] Stimmlagen und Stimmbrüche - Texte werden von Stimmen durchbrochen.” Dennoch insgesamt ein nützlicher Beitrag zum besseren Verständnis der neueren österreichischen Literatur, auch wenn man sich hier und da - wo es doch um die Sprache gehen soll - ein wenig mehr linguistisches Elementarwissen gewünscht hätte, das einer Textanalyse zugute gekommen wäre, die nicht nur schön formuliert wäre, sondern die auch auf empirischen Befunden und ihrer genauen Beschreibung gründet. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)
