Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2002
251-2
Lonni Bahmer, Schriftlichkeit und Rhetorik: Das Beispiel Griechenland. Ein Beitrag zur historischen Schriftlichkeitsforschung, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2000, 277 S., € 35,80, ISBN 3-487-11117-9
61
2002
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod251-20195
Reviews 195 das Geträumte zu Objekten und Handlungsabläufen. Der “Traum” ist aus dieser radikalen Erzählperspektive die referentielle Projektion seiner Erzählung; Temporalität und Kausalität, eingebracht durch die Form des Erzählschemas, verleihen dem Inhalt Kohärenz und eine “Logisierung” des Erzählten. Der kommunikationsbezogenen Sichtweise gilt Erzählen als dialogisch strukturiert und als kommunikatives Handeln, das Perspektivenübernahme erfordert, womit an mittlerweile etablierte interaktionistische Auffassungen angeschlossen wird. Der Erzähler operiert dabei zugleich auf den verschiedenen Ebenen des eigenen Wissenshaushalts, demjenigen der Zuhörer und auf der Gesprächsebene. Die Ebenen sind in der Erzählung als diegetische Elemente (d.h. darstellungsbezogene hinsichtlich der erzählten Welt) repräsentiert, etwa als auf das Hörerwissen bezogene Erzählerkommentare oder Paraphrasierungen, oder sie sind als gesprächsorganisatorische auf die Sprechsituation bezogen. Daß das Erzählen neben zahlreichen anderen Funktionen individuelle Erfahrungsbestände schließlich auch argumentativ vergemeinschaftet, wird an der Analyse der erzählinternen Struktur und ihrer externen Gesprächseinbettung, der thematischen Gesprächkohärenzierung, ihrer Anschlußformen und Erzählserialität exemplarisch aufgezeigt. - Kurzum: Ein wichtiger Beitrag zur soziosemiotisch akzentuierten Untersuchung dialogförmiger Kommunikation im Alltag am theoretisch reflektierten und empirisch genau beobachteten Beispiel eines interessanten und sonst in der Gesprächsanalyse kaum beachteten Erzählmusters. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Lonni Bahmer, Schriftlichkeit und Rhetorik: Das Beispiel Griechenland. Ein Beitrag zur historischen Schriftlichkeitsforschung, Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms 2000, 277 S., DM 68,00, ISBN 3-487-11117-9 Die hier anzuzeigende Arbeit erweckt Neugier durch ihren disziplinsystematischen Ort zwischen allen Stühlen und Bänken. Ihre Leitfrage lautet: “Wie verbindet sich der Gedanke der Didaktik mit dem Medium der Schrift? ” Sie will für das Gebiet der epideiktischen Beredsamkeit in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts am Beispiel sophistischer (genauer: den Sophisten zugeschriebener) Schriften aufzeigen, welche Rolle die Schriftlichkeit im Zusammenhang des Lehrens und Lernens bereits spielte. Dem geläufigen Diktum vom “Mündlichkeitscharakter der griechischen Kultur” möchte sie das vom Schriftlichkeitscharakter der antiken “Rhetorik als eines pädagogischen Zusammenhangs” gegenüberstellen. Damit will sie nicht nur einen Beitrag zur Geschichte der Rhetorik leisten, sondern zugleich auch zur Erhellung unserer Tradition literalen Lehrens und Lernens und überdies - mit dem Aufweis der Komplementarität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit - zur historisch-diachronen Dimension der aktuellen Schriftlichkeitsforschung. Die Studie von Lonni Bahmer, die damit an ihre frühere Dissertation über den Beitrag der Rhetorik zur Didaktik des Schreibens anknüpft, die im selben Verlag 1991 unter dem Titel Antike Rhetorik und kommunikative Aufsatzdidaktik erschien, versteht sich ausdrücklich nicht etwa als genuin altphilologische Arbeit (S. 13), sie beansprucht vielmehr programmatisch interdisziplinären Status, was ihre Besprechung in diesem Rahmen über das Thematische hinaus rechtfertigt. Rhetorik, Pädagogik und Schriftlichkeitsforschung bilden das alles überlagernde Dreieck der Ansätze, wobei hier unter ‘Ansatz’ freilich weniger ein theoretischer Zugriff auf das Material zu verstehen ist, sondern eher die Focussierung auf bestimmte Funktionen und Inhalte der untersuchten Texte. Sie deshalb aber als sprach- oder textwissenschaftliche Arbeit zu verstehen, würde ihr wiederum auch nicht gerecht. Zu groß ist die ja an sich nicht unberechtigte Vorsicht der Verfasserin, mit heutigen Theorien dem historischen Corpus Gewalt anzutun - weswegen sie z.B. auf so einen Begriff wie ‘Graphem’ ausdrücklich verzichtet (S. 182, Fn. 186). Eine gewisse Theoriedistanz scheint überhaupt ein charakteristischer Wesenszug der Arbeit u sein. Was bleibt, ist eher ein beachtliches Stück philologischer Detektivarbeit, um in den untersuchten Texten Spuren der Wechsel- Reviews 196 wirkung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit nachzuweisen. Man mag dieses philologisch-detektorische Verfahren etwas anspruchsvoller auch als Hermeneutik bezeichnen, aber das ändert nichts daran, dass die Arbeit ihren altphilologischen Rahmen kaum verläßt, weshalb auch nur ein Altphilologe ihr wirklich gerecht werden kann. Hier kann nur der von der Autorin selbst beanspruchte Ertrag für Semiotiker, Rhetoriker, Pädagogen, Linguisten, Medienhistoriker kritisch geprüft werden - aber die werden vermutlich wenig finden, was ihnen nicht schon irgendwie bekannt vorkäme. Im Kapitel über den “Stand der Forschung”, erfährt man vor allem etwas über E.A. Havelock, namentlich über sein “Preface to Plato” von 1963 mit der “bahnbrechenden” (S. 33) Neudeutung der Schrift als der eigentlichen Triebfeder der griechischen Klassik. Die wichtigsten Werke zur Schriftlichkeit werden nach Hinweisen auf die Rhetorik durchgeschaut (S. 26-43) und die zur Rhetorik nach Bezügen zur Schriftlichkeit (S. 44-65). Eher karg steht es um die antiken Textbelege. In einer Situation der schlechten Quellenlage, des Mangels an Autographen und der unsicheren Datierung (S. 15) bewegt sich die Arbeit auf schmalem Grat zwischen Rhetorik und Pädagogik, der durch die Selbstbeschränkung auf die Aufgabe, etwas über den Übergang zur Schriftlichkeit herauszubringen, leider nicht viel breiter wird. Als Belege werden herangezogen (i) die Fragmente des Anonymus Iamblichi (S. 87-154), (ii) die ebenfalls anonymen “Dissoi Logoi” (“Doppelreden”, S. 155-207) und (iii) eine vierteilige Gerichtsrede, nämlich die erste Tetralogie Antiphons (S. 208-236): sie bilden das Korpus für die Untersuchung. In diesem Korpus bleiben die Spuren der Schriftlichkeit freilich etwas verwischt. Sie finden sich z.B. in Argumenten, die sich aus dem Kontrast zur Oralität ableiten lassen: also Schriftlichkeit gleichsam ex negativo. Oralität sei nicht nur das historisch Vorgängige, es sei auch opinio communis, dass sie als Konstitutivum der griechischen Kultur und Gesellschaft zu gelten habe (S. 56). Die orale Verfaßtheit der griechischen Kultur bildet die Folie, vor der sich gewisse Neuerungen abheben, die sich mit der Schrift assoziieren lassen. Eine solche Neuerung, die zur griechischen Klassik hinführt, wird (im Anschluß wohl an G.A. Kennedy - die etwas unübersichtliche Zitierweise macht es dem Laien mitunter schwer, die Quelle genau zu identifizieren) conceptualization getauft (S. 62). Konzeptualisation - mit den Ausprägungen Grammatik, Rhetorik, Logik und Poetik - steht im Zeichen eines Bewußtseins darüber, welche sprachlichen Verfahren der Redner einsetzt. Auf der Grundlage der beiden “states of mind” bei Havelock (1963) ließe sich zur besseren Übersicht der Kategorien Bahmers etwa folgende Tabelle aufstellen: oral state of mind literal state of mind Dichtung Prosa Meinung Wissen Mimesis Analyse Handlung Prinzip Konkretheit Abstraktheit Emotionalität Rationalität (Mythos) (Logos) Die Fähigkeit zur Abstraktion erscheint somit in engster Verbindung zur Schriftlichkeit. Die Quellen werden von der Autorin nun nach solchen Hinweisen auf Abstraktion durchsucht, die dann als Spuren der Schriftlichkeit oder zumindest des antiken Schrift-Diskurses gewertet werden können. Warum sie sich dabei ausschließlich auf Texte beschränken will, die einer Rhetorik der Wissensvermittlung folgen, also didaktisch aufgebaut sind, ist nicht zwingend begründet. Das eingangs erwähnte Dreieck von Rhetorik und Didaktik und Schrift macht daher zuweilen einen etwas instabilen Eindruck und bringt vielleicht ein wenig zu viele Variablen ins Spiel. Andererseits lädt der Bezug auf Pädagogik und Didaktik zu umfangreichen Exkursen über das Erziehungswesen der alten Griechen ein. Dieses lag in den Händen der Sophisten, die leider bislang “nicht gut weggekommen “ seien (S. 70), obwohl sie doch der seinerzeit fast revolutionären Auffassung huldigten, Wissen lasse sich durch Lehren vermitteln und durch Lernen erwerben (S. 73). Was wir also heute vielleicht ‘Wissenstransfer’ nennen würden, erfolgte nach Reviews 197 ihrer Ansicht eben rhetorisch, d.h. in Form wirkungsbezogenen Redens und Schreibens. Der erste Teil des Corpus, ein anonymes Fragment, das in den Protreptikos des Iamblichos eingearbeitet erhalten ist (S. 87), ist ein Stück Epideixis und dient als solches nicht nur der Erbauung oder, wie hier, der Aufforderung, sondern auch der Vorführung der Redekunst als solcher (S. 115, 142). Hier wird die Arbeit interessant. Denn selbst Redegattungen, die besonders stark an Oralität gebunden zu sein scheinen, wie z.B. die Stegreifrede, erweisen sich als Kombination von Bausteinen (S. 127), die höchstwahrscheinlich schriftlich vorbereitet worden sind. Von einer ausgearbeiteten Topik kann im 5. Jh. v. Chr. freilich noch nicht gesprochen werden, höchstens von “Versatzstücken” (S. 129). Der zweite Text des Corpus, die “Dissoi Logoi” (entstanden bald nach 404 v.Chr.), ist möglicherweise das Notat für die Übungsrede eines Schülers und folgt formal einer kunstvollen Disputation im Sinne Protagoras’ (S. 164). Es ist eine Doppelrede, eine Erörterung dessen, was als gut und was als schlecht zu betrachten sei, namentlich im Bereich der Rede. Sie impliziert also (wie manche heute sagen würden) einen ‘Meta-Diskurs’. Den erhöhten Abstraktionsgrad deutet Bahmer sogleich als Hinweis auf Schriftlichkeit. Übrigens sei die Rede zugleich ein Dokument “aus den Anfängen der Sprachwissenschaft” (S. 173). Mehr als solche eher allgemeinen Befunde interessieren die (durchwegs altphilologischen) Erläuterungen der Autorin zur “scriptio continua” (S. 167), also zum Schreiben ohne Wortzwischenräume, zum Aufkommen und zur Funktion der Akzente und zur Metrik (170f.). In der Entwicklung der Schrift sei eine “phonographische Phase” (S. 174) des lauten Lesens von einer späteren Phase ausgebauter Skripturalität zu unterscheiden, in welcher das leise Lesen erst möglich wurde (S. 242). Die Betrachtung der Schrift als Gedächtnisstütze - oder gar als Instrument des kollektiven Gedächtnisses, wie es Jan Assmann darstellt - mußte sich erst durchsetzen gegen Einwände (z.B. von Seiten Platons), nach welchen die Schrift eine Verkümmerung des Gedächtnisses auslösen sollte (S. 195). Im dritten Quellentext ist der Abstraktionsgrad am höchsten. Die vier Gerichtsreden des Antiphon beziehen sich auf einen fingierten Fall, der der Lehrbarkeit verpflichtet ist, keine Erzählung mehr braucht, sondern ein Muster entwirft, das auf konkrete Fälle übertragen werden kann (S. 232). Merkmale der Poetik oder der Metrik sind hier keine mehr zu finden, es handelt sich um Prosa. In den Schlußbetrachtungen (S. 237ff.) betont Lonni Bahmer noch einmal und wenig angreifbar, daß Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu betrachten seien als “Teile eines Produktions- und Rezeptionszusammenhangs, der sich als ein komplexer erwiesen hat und der als solcher mit dem Blick auf das Ganze zu sehen” sei (S. 241). Bei Cicero und Quintilian neutralisiere sich dann das vermeintliche Konkurrenzprinzip von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zumindest dann, wenn es um die Ausbildung der Redner gehe (S. 243). Desiderat sei, sagt Bahmer kaum überraschend, eine Art von Forschung, wie sie etwa durch ihre Arbeit gleichsam paradigmatisch repräsentiert werde: also Einzeluntersuchungen anstelle “pauschaler Urteile” und “systematisierender Zugriffe, die weitgehend überhaupt der Belege entbehren” oder sie einzig von Platon beziehen, der schließlich nicht allein “der Inbegriff griechischer Kultur” sei (S. 243). Das klingt erfrischend - und nur der Defätist würde sich die Frage erlauben, aus welchem Quellenreichtum diese Einzeluntersuchungen sollten schöpfen können. Immerhin hatte die Autorin viel Sorgfalt auf den Nachweis verwandt, daß es da keineswegs reiche Schätze zu heben gebe, sondern man eher froh sein müsse, wenn man überhaupt etwas finde. Der Versuch, die damalige Zeit gleichsam ‘aus sich heraus’ zu beschreiben und sich bloß nicht der Projektion heutiger Theorien auf die damalige Situation schuldig zu machen, ist gewiß gut gemeint. Aber wie soll das gehen, methodisch und praktisch? Was wäre das methodische Instrumentarium der gewünschten “Einzeluntersuchungen” und wie sollten sie die ja von niemandem bestrittene Komplexität ihres Gegenstands reduzieren? Die Arbeit wirkt ein wenig forciert zusammengestrickt aus mancherlei Fäden, aus Altphilologie und Mediengeschichte gewirkt, aus Kulturgeschichte und Rhetorik und klassischer Texterschliessung. Ihre Lektüre ist oft so unnötig Reviews 198 mühsam wie die Suche nach den Quellen- und Zitatnachweisen. Für den Hinweis auf “Günther/ Ludwig 1994” (S. 18) ist der Leser dankbar, aber seine Aufschlüsselung sucht er - falls sein Blick nicht zufällig und mit ein wenig Glück im Siglenverzeichnis auf die im Text nicht vorkommende Sigle “Schsch” fällt - im Literaturverzeichnis vergebens, wohl weil man das Handbuch zur Schrift und Schriftlichkeit in de Gruyters teurer Reihe eben sowieso kennen sollte. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern)