Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2002
253-4
Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens
121
2002
Georg Simmel
kod253-40231
Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens Georg Simmel Von dem “Tempo des Lebens” hört man oft sprechen und daß sich in ihm die verschiedenen historischen Epochen, die Zonen der gleichzeitigen Welt, ja desselben Landes, die Individuen desselben Kreises unterscheiden. Um klarzumachen, was dieser Punkt wesentlicher Differenz für alles Menschliche eigentlich bedeutet, genügt nicht das Naheliegende, daß das Tempo des Lebens sich nach der Zahl der Vorstellungen richte, die in einem gegebenen Zeittheile durch das Bewußtsein gehen. Man müßte mindestens hinzufügen, daß es auf die Zahl der verschiedenen Vorstellungen ankäme. Damit aber ist angedeutet, daß die Vorstellungswelt gleichsam nach zwei Dimensionen ausgedehnt ist, deren Maaße über das Lebenstempo entscheiden. Je tiefer die Unterschiede zwischen den Vorstellungsinhalten - selbst bei gleicher Zahl der Vorstellungen - in einer Zeiteinheit sind, desto mehr lebt man, eine desto größere Lebensstrecke gleichsam wird zurückgelegt. Was wir als das Tempo des Lebens empfinden, ist das Produkt aus der Summe und der Tiefe seiner Veränderungen. Die Bedeutung, die dem Gelde für die Herstellung des Lebenstempos einer gegebenen Epoche zukommt, mag zunächst aus den Folgen hervorleuchten, die eben die Veränderung der Geldverhältnisse für die Veränderung jenes Tempos aufweisen. Man hat behauptet, daß die Vermehrung des Geldquantums, sei es durch Metallimporte, oder durch Verschlechterung des Geldes, durch positive Handelsbilanzen oder durch Papiergeldausgabe, den inneren Status des Landes ganz ungeändert lassen müßte. Denn wenn man von den wenigen Personen absehe, deren Einkommen in nicht vermehrbaren festen Bezügen besteht, so sei zwar bei Geldvermehrung jede Waare oder Leistung mehr Geld werth, als vorher, allein da jedermann sowohl Konsument wie Produzent sei, so nehme er als letzterer nur soviel mehr ein, wie er als ersterer mehr ausgebe, und alles bleibe beim Alten. Selbst wenn eine solche proportionale Preissteigerung der objektive Effekt der Geldvermehrung wäre, so würde sie dennoch sehr wesentliche psychologische Veränderungserscheinungen mit sich bringen. Trotz aller Relativität der Geldpreise nämlich, erlangen doch einerseits die Preise für bestimmte Güter, andrerseits die Einkommenssummen, wenn sie eine Zeit lang bestanden haben, eine erhebliche Festigkeit, d.h. die Vorstellung tritt auf, daß jene Preise an und für sich, absolut genommen, die angemessenen seien, und daß man sich mit diesem Einkommen einzurichten habe. Die Steigerungen oder Verminderungen von beiden heben sich infolgedessen keineswegs gegenseitig auf: man entschließt sich nicht leicht, einen über dem bisherigen und gewohnten liegenden Preis für eine Waare anzulegen, selbst wenn das eigene Einkommen inzwischen gestiegen ist; und man läßt sich andrerseits durch gewachsenes Einkommen leicht zu allerhand Aufwendungen bestimmen, ohne zu bedenken, daß jenes Plus durch die Preissteigerung der täglichen Bedürfnisse ausgeglichen wird. Die bloße Vermehrung des Geldquantums, das man auf einmal in der Hand hat, vermehrt, ganz unabhängig von allen Ueberlegungen ihrer bloßen Relativität, die Versuchung zum Geldausgeben und bewirkt damit einen gesteigerten Waarenumsatz, also eine Vermehrung, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Georg Simmel 232 Beschleunigung und Vermannigfaltigung der ökonomischen Vorstellungen. Jener Grundzug unseres Wesens: das Relative psychologisch zum Absoluten auswachsen zu lassen - nimmt der Beziehung zwischen einem Objekte und einem bestimmten Geldquantum ihren fließenden Charakter und verfestigt sie zu sachlicher, dauernder Angemessenheit. Dadurch entsteht nun, sobald das eine Glied des Verhältnisses sich ändert, eine Erschütterung und Desorientirung. Die Aenderung in den Aktiven und den Passiven gleicht sich in ihren psychologischen Wirkungen keineswegs unmittelbar aus, sondern sie wird auf jeder der beiden Seiten für sich als überraschend oder unangemessen empfunden, von jeder Seite her wird das Bewußtsein der ökonomischen Prozesse in der bisherigen Stetigkeit seines Verlaufs unterbrochen, der Unterschied gegen den vorigen Stand macht sich auf jeder gesondert geltend. Selbst wenn man sich verstandes- und rechnungsmäßig schon klar gemacht hat, daß mit dem höheren Einkommen und den höheren Preisen ja Alles beim Alten geblieben ist, so haftet das konservativere und schwerer belehrbare Gefühl doch noch länger an jenen festgewordenen, verabsolutirten Proportionen und bringt dies in gelegentlichen Protesten gegen die höheren Preise oder in gelegentlichen Verschwendungen zum Ausdruck, bis allmählig die beiden Seiten der Veränderung sich auch psychologisch völlig ins Gleichgewicht gesetzt haben. Solange diese Anpassung noch nicht vollzogen ist, wird die gleichmäßige Vermehrung des Geldes zu fortwährenden Differenzgefühlen und psychischen Chocs Veranlassung geben, so die Unterschiede, das Sich-Gegeneinander-Absetzen innerhalb der ablaufenden Vorstellungen vertiefen und damit das Tempo des Lebens beschleunigen; denn, wie gesagt: nicht die Zeit des Lebens kann schneller oder langsamer verfließen, sondern die gleiche Zeiteinheit kann mehr oder weniger betonte, scharf unterschiedne, das Bewußtsein erregende Inhalte haben und damit das Tempo des Lebens als ein schnelleres oder langsameres bestimmen. Diese beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den Ablauf der ökonomischpsychischen Prozesse symbolisiren sich am schärfsten in den Entwicklungen schlechten Papiergeldes. Der unorganische und unfundamentirte Geldzufluß bewirkt zunächst ein sprunghaftes und der inneren Regulirung entbehrendes Steigen aller Preise. Die erste Geldplethora reicht aber immer nur aus, um den Ansprüchen gewisser Waarenkategorien zu genügen. Deßhalb zieht jede Emission von unsolidem Papiergeld die zweite nach sich, und die zweite noch weitere. Das ist das Tragische solcher Operationen, daß die zweite Emission nöthig ist, um den Ansprüchen zu genügen, die aus der ersten folgen. Das wird sich um so umfassender geltend machen, je mehr das Geld selbst das unmittelbare Zentrum der Bewegungen ist: die Preisrevolutionen infolge von Papiergeldüberschwemmungen führen zu Spekulationen, die zu ihrer Abwicklung immer gewachsene Geldvorräthe erfordern. Man kann sagen, daß die Tempo-Beschleunigung des sozialen Lebens durch Geldvermehrung am sichtbarsten da eintreten wird, wo es sich um Geld seiner reinen Funktionsbedeutung nach, ohne irgend einen Substanzwerth handelt; die Steigerung des gesammten ökonomischen Tempos findet hier gleichsam noch in einer höheren Potenz statt, weil sie jetzt sogar rein immanent beginnt, d.h. sich in erster Instanz in der Beschleunigung der Geldfabrikation selbst offenbart. Es ist für diesen Zusammenhang beweisend, wenn in Ländern, deren wirtschaftliches Tempo überhaupt ein rapides ist, das Papiergeld jenem Anwachsen seiner Quantität ganz besonders schnell unterliegt. Ueber Nord-Amerika sagt ein genauer Kenner in dieser Beziehung: “Man kann nicht erwarten, daß ein Volk, so ungeduldig gegenüber kleinen Gewinnen, so durchdrungen davon, daß sich Reichthurn aus Nichts oder wenigstens aus sehr wenig machen läßt - sich die Selbstbeschränkungen auferlegen wird, die in England oder Deutschland die Gefahren der Papiergeldemissionen auf ein Minimum reduziren.” Die Beschleunigung des Lebenstempos durch die Papiergeldvermehrungen liegt aber insbesondere in den Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 233 Umwälzungen des Besitzes, die von ihnen ausgehen. So geschah es insbesondere in der nordamerikanischen Papiergeldwirthschaft bis zum Unabhängigkeitskriege. Das massenhaft fabrizierte Geld, das am Anfang noch zu höherem Werth kursirt hatte, erlitt die fürchterlichsten Einbußen. Dadurch konnte heute arm sein, wer gestern noch reich war; und umgekehrt, wer dauernde Werthe für geliehenes Geld erworben hatte, zahlte seine Schuld in inzwischen entwerthetem Gelde zurück und wurde dadurch reich. Dies machte es nicht nur zum dringenden Interesse eines jeden, seine wirthschaftlichen Operationen mit größter Beschleunigung abzuwickeln, Abschlüsse auf lange Sicht zu vermeiden und rasch zugreifen zu lernen - sondern jene Besitzschwankungen erzeugten auch die fortwährenden Unterschiedsempfindungen, die plötzlichen Risse und Erschütterungen innerhalb des ökonomischen Weltbildes, die sich natürlich in alle möglichen anderen Provinzen des Lebens fortpflanzen und so als wachsende Intensität seines Verlaufes oder Steigerung seines Tempos empfunden werden. - Mit zwei ganz entgegengesetzten Motiven muß ein verschlechtertes Geld auf psychologische Erregungen wirken; einerseits wird jeder es loszuwerden suchen, die neu aufgetauchte Differenz zwischen diesem Werthe und soliden Werthen wird das praktische Bewußtsein fortwährend auf eine Umsetzung jenes in diese gespannt halten; andrerseits wird der Besitzer eines schlechten oder nur unter bestimmten Umständen werthvollen Geldes an der Aufrechterhaltung des Zustandes, unter dem sein Besitz Werth hat, lebhaft interessirt sein. Mirabeau betonte bei Einführung der Assignaten, daß überall, wo ein Stück davon sich befinde, auch der Wunsch nach der Beständigkeit ihres Credites bestehen müßte: Vous compterez un défenseur nécessaire à vos mesures, un créancier interessé à vos succès. So schafft ein derartiges Geld eine besondere Parteiung, Vertheidiger einer politischen Ordnung, die sonst vielleicht keine mehr finden würde, eine neue Lebhaftigkeit der Gegensätze. - Solche Erfolge der vermehrten Umlaufsmittel treten nun aber thatsächlich in um so erhöhtem Maaße ein, als die bisherige Voraussetzung: daß die Verbilligung des Geldes jeden als Konsumenten und Produzenten gleichmäßig trifft - eine viel zu einfache ist. In Wirklichkeit ergeben sich viel komplizirtere und bewegtere Erscheinungen. Zunächst objektiv; die Geldvermehrung bewirkt anfänglich nur die Vertheuerung einiger Waaren und läßt die anderen vorerst auf dem alten Niveau. Man hat gemeint feststellen zu können, daß es eine bestimmte und langsame Reihenfolge war, in der die Preise der europäischen Waaren seit dem 16. Jahrhundert, infolge des einströmenden amerikanischen Metalles, gestiegen sind. Die Geldmehrung innerhalb eines Landes trifft zunächst immer nur bestimmte Kreise, die den Strom abfangen. Es werden also in erster Linie diejenigen Waaren im Preise steigen, um welche nur die Angehörigen dieses Kreises konkurriren, während andere Waaren, deren Preis durch die große Masse bestimmt wird, noch unverändert billig bleiben. Das allmählige Eindringen der Geldvermehrung in weitere Kreise führt zu Ausgleichungsbestrebungen, das bisherige Preisverhältniß der Waaren untereinander wird aus seiner Beständigkeit geworfen, das Budget des einzelnen Hauses muß durch die Ungleichmäßigkeit, mit der die Höhen der einzelnen Posten sich ändern, Störungen und Verschiebungen erfahren - kurz, die Thatsache, daß jede Geldvermehrung in einem abgeschlossenen Wirthschaftskreise die Preise der Waaren ungleichmäßig beeinflußt, muß eine erregende Wirkung auf den Vorstellungsverlauf der wirthschaftenden Personen ausüben, fortwährende Differenzempfindungen,. Unterbrechungen der gewohnten Proportionen, Forderungen von Ausgleichungsversuchen zur Folge haben. Den Ungleichheitserscheinungen im Preise der Waaren entspricht es, daß von einem neuen Geldzufluß gewisse Personen und Berufe in ganz besonderer Weise profitiren. Man hat längst beobachtet, daß eine allgemeine Erhöhung der Preise sich dem Arbeitslohn am Georg Simmel 234 spätesten mittheilt. Je widerstandsloser eine wirthschaftliche Schicht ist, desto langsamer und spärlicher sickert die Geldvermehrung zu ihr durch, ja sie gelangt häufig erst dann als Einnahmesteigerung zu ihr, wenn sie sich in den Konsumartikeln dieser Schicht schon lange als Preiserhöhung geltend gemacht hat. Dadurch entstehen Chocs und Erregungen vielerlei Art, die aufgetretenen Differenzen zwischen den Schichten fordern fortwährende Anspannung des Bewußtseins, weil, vermöge des neuen Umstandes der vermehrten Umlaufsmittel, zur Bewahrung des status quo ante - sowohl was das Verhältniß der Schichten zu einander wie was die Lebenshaltung der einzelnen betrifft - jetzt nicht mehr konservatives oder defensives Beharren, sondern positiver Kampf und Eroberung erforderlich ist. Dies ist eine wesentliche Ursache, aus der jede Vermehrung des Geldquantums so anregend auf das Tempo des sozialen Lebens wirkt: weil sie über die bereits bestehenden Unterschiede hinaus neue schafft, Spaltungen, bis hinein in das Budget der Einzelfamilie, an denen das Bewußtsein fortwährende Beschleunigungen und Vertiefungen seines Verlaufes finden muß. Es liegt übrigens auf der Hand; daß ein erheblicher Geldabfluß ähnliche Erscheinungen, nur gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen, hervorrufen muß. Darin aber zeigt sich das enge Verhältniß des Geldes zu dem Tempo des Lebens, daß ebenso seine Vermehrung wie seine Verminderung, durch ihre ungleichmäßige Ausbreitung, jene Differenzerscheinungen ergeben, die sich psychisch als Unterbrechungen, Anreizungen, Zusammendrängungen des Vorstellungsverlaufes spiegeln. - Abgesehen nun von diesen Folgen der Veränderungen des Geldbestandes, die das Tempo des Lebens gleichsam als die Funktion seiner Veränderungen erscheinen lassen, tritt jene Zusammendrängung der Lebensinhalte noch in einer anderen Folge des Geldverkehrs hervor. Es ist diesem nämlich eigenthümlich, daß er zur Konzentration an verhältnißmäßig wenigen Plätzen drängt. In Bezug auf lokale Diffusion kann man eine Skala der ökonomischen Objekte aufstellen, von der ich hier nur ganz im Rohen einige der charakteristischsten Stufen andeute. Sie beginnt mit dem Ackerbau, dessen Natur jeder Zusammenrückung seiner Gebietstheile widersteht; er schließt sich unabwendbar dem ursprünglichen Außereinander des Raumes an. Die industrielle Produktion ist schon komprimirbarer: der Fabrikbetrieb stellt eine räumliche Kondensirung gegenüber dem Handwerk und der Hausindustrie dar, das moderne Industriezentrum ist ein gewerblicher Mikrokosmos, in den jede in der Welt vorhandne Gattung von Rohstoffen strömt und zu Formen gestaltet wird, deren Ursprünge weltweit auseinanderliegen. Das äußerste Glied dieser Stufenleiter bilden die Geldgeschäfte. Das Geld steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: es kann seine Wirkungen in die weitesten Fernen erstrecken, ja es ist gewissermaaßen in jedem Augenblick der Mittelpunkt eines Kreises potentieller Wirkungen; aber es gestattet auch umgekehrt, die größte Werthsumme in die kleinste Form zusammenzudrängen - bis zu dem 5 Millionen- Dollar-Check, den Jay Gould einmal ausstellte. Der Komprimirbarkeit der Werthe vermöge des Geldes, und des Geldes vermöge seiner immer abstrakteren Formen entspricht nun die der Geldgeschäfte. In dem Maaß, in dem die Wirthschaft eines Landes mehr und mehr auf Geld gestellt wird, schreitet die Konzentrirung seiner Finanzaktionen in großen Knotenpunkten des Geldverkehrs vor. Von jeher war die Stadt im Unterschiede vom Lande der Sitz der Geldwirthschaft; dies Verhältniß wiederholt sich zwischen Klein- und Großstädten, so daß ein englischer Historiker sagen konnte, London habe, in seiner ganzen Geschichte, niemals als das Herz von England gehandelt, manchmal als sein Gehirn, aber immer als sein Geldbeutel; und schon am Ende der römischen Republik heißt es, jeder Pfennig, der in Gallien ausgegeben werde, ginge durch die Bücher der Finanziers in Rom. An dieser Zentripetalkraft der Geldfinanz hängt das Interesse beider Parteien: der Geldnehmer, weil sie wegen der Konkurrenz der zusammenströmenden Kapitalien billig borgen (in Rom stand der Zinsfuß halb so Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 235 hoch als sonst durchschnittlich im Alterthum), der Geldgeber, weil sie das Geld zwar nicht so hoch, wie an isolirten Punkten ausleihen, aber des Wichtigeren sicher sind, jederzeit überhaupt Verwendung dafür zu finden. Der tiefere Grund für die Bildung von Finanzzentren liegt offenbar in dem Relativitätscharakter des Geldes: weil es einerseits nur die Werthverhältnisse der Waaren untereinander ausdrückt, weil andrerseits jedes bestimmte Quantum seiner weniger unmittelbar festzustellenden Werth besitzt, als das irgend einer anderen Waare, sondern mehr als jede andere ausschließlich durch Vergleichung mit dem angebotenen Gesammtquantum überhaupt eine Bedeutung erhält - so wird seine maximale Konzentrirung auf einen Punkt, das fortwährende Gegeneinanderhalten möglichst großer Summen, die Ausgleichung eines überwiegenden Theiles von Angebot und Nachfrage überhaupt, zu seiner größten Werthbestimmtheit und Verwendbarkeit führen. Ein Scheffel Getreide hat eine gewisse Bedeutung an jedem noch so isolirten Platze, so große Unterschiede auch sein Geldpreis aufweise. Ein Geldquantum aber hat seine Bedeutung nur im Zusammentreffen mit anderen Werthen; mit je mehren es zusammentrifft, um so sichrer und gerechter erlangt es diese; deshalb drängt nicht nur “Alles nach Golde” - die Menschen wie die Dinge - sondern das Geld drängt auch seinerseits nach “Allem”, es sucht sich mit anderem Gelde, mit allen möglichen Werthen und ihren Besitzern zusammenzubringen; Und der gleiche Zusammenhang in umgekehrter Richtung: der Konflux vieler Menschen erzeugt ein besonders starkes Bedürfnis nach Geld. In Deutschland entstand eine hauptsächliche Nachfrage nach Geld durch die Jahrmärkte, die die Territorialherren einrichteten, um an Münztausch und Waarenzoll zu profitiren. Durch diese zwangsweise Konzentrirung des Handelsverkehrs eines größeren Territoriums an einem Punkte wurde Kauflust und Umsatz sehr gesteigert, der Gebrauch des Geldes wurde erst dadurch zur allgemeinen Notwendigkeit. Wo nur immer viele wirthschaftende Menschen, ja wo überhaupt nur viele Menschen zusammenkommen, wird Geld verhältnißmäßig stärker erfordert werden. Denn wegen seiner an sich indifferenten Natur ist es die geeignetste Brücke und Verständigungsmittel zwischen vielen und verschiednen Menschen; je mehre es sind, desto tiefer sinkt die Chance, daß andre als Geldinteressen die Basis ihres Verkehrs bilden können. Aus all diesem ergiebt sich, in wie hohem Maaße das Geld jene intensive Erfüllung des Vorstellungsprozesses bewirkt, die man als die Steigerung des Lebenstempos bezeichnet und die sich an der Zahl und Mannigfaltigkeit der einströmenden und einander ablösenden Eindrücke und Anregungen mißt. Die Tendenz des Geldes, zusammenzufließen und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in lokal eng begrenzten Zentren zu akkumuliren, die Interessen der Individuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen, sie auf einem gemeinsamen Boden in Berührung zu bringen, und so - wie es auch in der von ihm dargestellten Werthform liegt - das Mannigfaltigste in den kleinsten Umfang zu konzentriren - diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens und - was eben nur ein anderer Ausdruck dafür ist - sein Tempo zu steigern. Das entschiedenste Symbol hierfür ist die Börse. Hier haben die ökonomischen Werthe und Interessen, vollständig auf ihren Geldausdruck reduzirt, ihre und ihrer Träger engste lokale Vereinigung erreicht, und damit ihre unmittelbarste Ausgleichung, Vertheilung, Abwägung zu gewinnen. Diese doppelte Kondensirtheit: der Werthe in die Geldform und des Geldverkehrs in die Börsenform - ermöglicht es, daß die Werthe in der kürzesten Zeit durch die größte Zahl von Händen hindurchgejagt werden: an der New-Yorker Börse wird jährlich der fünffache Betrag der Baumwollernte in Spekulationen in Baumwolle umgesetzt, und schon 1887 verkaufte diese Börse fünfzigmal das Erträgniß des Jahres in Petroleum. Und zugleich ist die Börse vielleicht der Punkt der größten konstitutionellen Georg Simmel 236 Aufgeregtheit des Wirthschaftslebens: ihr sanguinisch-cholerisches Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus, ihre nervöse Reaktion auf Ponderabilien und Imponderabilien, die Schnelligkeit, mit der jedes den Stand verändernde Moment ergriffen, aber auch wieder vor dem nächsten vergessen wird - alles dies stellt eine extreme Steigerung des Lebenstempos dar, eine fieberhafte Bewegtheit und Zusammendrängung seiner Modifikationen, in der der spezifische Einfluß des Geldes auf den Ablauf des psychischen Lebens seine auffälligste Sichtbarkeit gewinnt. Als Werth-Ausgleicher und Tauschmittel von unbedingter Allgemeinheit hat das Geld die Kraft, Alles mit Allem in Verbindung zu setzen: es baut eine Brücke zwischen den Dingen, wie es eine zwischen den wirthschaftenden Menschen baut, es erfüllt in objektiver Hinsicht die Funktion, der der Händler in subjektiver dient. Wenn der Kaufmann der vorzüglichste Geldinteressent ist, so ist dies der genaue Ausdruck der Analogie, welche zwischen ihm und dem Gelde besteht: was das Geld zwischen den Waaren ist, ist der Kaufmann zwischen den Menschen. Das Geld nimmt den Dingen und, in hohem Maaße, auch den Menschen die gegenseitige Unzugänglichkeit, es führt sie aus ihrer ursprünglichen Isolirung in Beziehung, Vergleichbarkeit, Wechselwirkung über. Hierdurch aber entsteht eine außerordentliche Vermannigfaltigung und Belebtheit der Vorstellungsreihen. Wenn wir die Erhöhung des Lebenstempos in die Fülle und Verschiedenheit der Vorstellungen gesetzt haben, so ist doch als wesentlich zu ergänzen, daß diese Vorstellungen nicht in Vereinzelung und zentripetalem Fürsichsein durch das Bewußtsein gleiten, sondern daß sie durch Assoziationsfäden verbunden werden. Je mehr Beziehungen die ihrem Inhalte nach neue Vorstellung dennoch zu den früheren hat, desto lebhafter ist ihre Rolle im Bewußtsein. Die Voraussetzung für die Fülle wie für die Verschiedenheit innerhalb des Vorstellungslebens ist doch die Einheit desselben, ein Schnittpunkt und gemeinsamer Hintergrund, an dem sich erst das Hinzukommen des einen zum andern empfinden, der Abstand des einen vom andern ermessen läßt. Diese Einheit aber, durch die es überhaupt zu einem Lebenstempo in dem hier angenommenen Sinn erst kommen kann, wird dem Vorstellungsverlauf nicht von einem metaphysisch einheitlichen Ich geliefert; sondern sie besteht in der bloßen Funktion, durch welche sich die Vorstellungen, psychologischen Gesetzen folgend, in gegenseitige Verbindung setzen, sie ist kein substantielles, sondern ein dynamisches Band zwischen diesen. Daß die “Einheit”, die wir einem Wesen zusprechen, keine Hinweisung auf einen Punkt substantieller, metaphysischer Untheilbarkeit zu enthalten braucht; daß ein solcher vielmehr nur die Hypostase für die Wechselwirkung der Theile des Wesens ist, die allein den realen Inhalt seiner “Einheit” ausmacht - das ist sicher einer der aufklärendsten Gedanken moderner Kritik. Nun können wir von der Einheit der Welt sprechen, ohne ihr ein Substrat in theistischen oder spiritualistischen Spekulationen suchen zu müssen, sondern nur in der realen Bestimmtheit jedes Theiles der Welt durch jeden anderen; von der Einheit des Organismus sprechen wir, ohne eine untheilbare Lebenskraft dazu vorauszusetzen, sondern nur die funktionelle Abhängigkeit jedes Organes von jedem anderen; die Einheit des Staates liegt uns nicht mehr in einer “Volksseele”, einem “Gesammtbewußtsein” oder sonstigen mystischen Substraten, sondern zu ihrem Begriffe genügen die lebendigen Wechselwirkungen, die das Handeln und Leiden jedes Elementes im Staate jedes andere irgendwie beeinflussen lassen. So ist alle Einheit sozusagen nichts solipsistisches, sondern eine Funktion der Vielheit, sie realisirt sich unmittelbar nur an dieser, sie besteht an dem Objekt als die Form, in der die Vielheit seiner Theile lebt. Einheit und Vielheit sind nicht nur logisch, sondern auch in ihrer Verwirklichung Ergänzungsbegriffe. Die Vielheit der Elemente erzeugt durch deren Wechselbeziehungen das, was wir die Einheit des Ganzen nennen, aber jene Vielheit wäre ohne diese Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 237 Einheit nicht vorstellbar; der Zirkel, der sich so zu ergeben scheint, ist unvermeidlich, wenn man das Aufeinander-Angewiesensein zweier Wechselbegriffe logisch darstellen will. So ist die menschliche “Seele” eben eine, weil ihre einzelnen Bestandtheile, ihre Vorstellungen, in engster gegenseitiger Beziehung und Verknüpfung stehen; hiermit aber entsteht jenes Sich- Aneinandermessen, jenes Zueinander-Hinzukommen, jenes Bewußtsein des Einzelnen als solchen, das eben Vielheit für uns darstellt. Indem das Geld die Dinge in ideelle und reale Verbindung bringt, einen neuen Vergleichungspunkt zwischen ihnen stiftet, sie zu Elementen eines umfassenden ökonomischen Kosmos macht - trägt es also zu jener funktionellen Einheit des Vorstellungslebens bei, an der die Summirung und die Differenzen seiner einzelnen Inhalte merkbar werden. So bewirkt das Geld nicht nur, daß die Vorstellungsinhalte, objektiv angesehen, sich häufen und sich in lebhaften Schwankungen und Gegensätzen bewegen; sondern mit den Beziehungen, die es zwischen den Dingen stiftet, schafft es auch diejenigen Vergleichbarkeiten, Meßbarkeiten, Nivellirungen, durch die die Vorstellungen wirklich sich als Inhalte eines psychischen Organismus darstellen. Es sind gleichsam die beiden Seiten seiner Funktion: daß es eine Vielheit von Vorstellungen und zugleich jene Lebhaftigkeit der Verbindungen zwischen ihnen auslöst, die, zu der seelischen Einheit beitragend, die Vielheit fühlbar macht und so die innere Bedingung eines bestimmten Verlaufes der Lebensinhalte und eines bestimmten Tempos desselben darbietet. Zu solchem Gegensatz und Hintergrund, dessen das Leben bedarf, um sein Tempo daran zu bestimmen, trägt das Geld noch auf einer höheren, überindividuellen Stufe bei. Auf den primitiven Staffeln der sozialen Entwickelung muß zwischen den Bedürfnissen, Kräften, Qualitäten der Individuen einerseits, und der objektiven Ordnung, Technik, äußeren Form und Produktivität des Lebens andererseits eine wesentliche Harmonie bestanden haben. Denn nur unmittelbar aus den Eigenschaften und Verhältnissen der Einzelnen können sich die rechtlichen, sittlichen, technischen, ökonomischen Normen erhoben haben, ja, jene subjektivindividuellen wie diese objektiven Bedingungen bilden ursprünglich eine ungeschiedene Einheit des Lebens, aus der sich der Gegensatz zwischen unpersönlicher Norm und ihr gegenüberstehender Individualität erst herauszudifferenziren hatte. Diese Differenzirung nun findet in demselben Maaße statt, in dem die Breite und die Lebensdauer der sozialen Gruppen wachsen. Von je mehr Menschen einer Norm nachgelebt, ein Verhältniß erfüllt, eine Technik geübt wird, desto eher gewinnen diese Dinge eine gesonderte Existenz und stellen sich über die Individuen als selbständige Formen, die ausgefüllt, Mächte, denen gehorcht, technische Ansprüche, denen genügt sein will. So ist Ueber- und Unterordnung ursprünglich der adäquate Ausdruck individueller Vergewaltigung, Suggestion, Pietät - bis sich schließlich die Form dieses Verhältnisses von ihren Trägern gelöst und sich als über- oder untergeordnete “Stellung” fixirt hat, die nun gleichsam eine für sich bestehende leere Form ist und auf die Individuen wartet, die sie “ausfüllen”. So ist, was wir als Recht bezeichnen, ursprünglich die Form, in der sich die ökonomischen und ethischen Energien des Einzelnen oder der Klasse ausleben, bis es zu einem selbständigen Gebilde und Selbstzweck wird, das jenen realen Kräften wenigstens mit relativer Unabhängigkeit gegenübersteht. So steht die Technik und Ordnung der materiellen Produktion samt iliren Folgen für das Sein und Handeln der Individuen zunächst in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Können und Wollen der letzteren. Sie gewinnt aber insbesondere seit einerseits die Technik ihre Spezialwissenschaften gewonnen hat, und andrerseits die Ausbildung der Individuen von einer wachsenden Zahl anderweitiger Elemente mit bestimmt wird, eine eigene Fähigkeit und Fortschrittsart, die nun zu der der Individuen oft genug ein völlig variables Verhältniß hat. Für einen großen Theil dieser Georg Simmel 238 Objektivirungen der Lebensinhalte, dieser verselbständigenden Heraussetzungen ihrer aus ihren subjektiven Trägern ist das Geld von äußerster Wichtigkeit. Denn es ist die große Mittelinstanz zwischen den Menschen und den Dingen, und leitet so die Sonderung der Entwickelungen beider ein. Die Produktion gewinnt einen viel mehr technisch in sich geschlossenen Charakter, wenn sie nur für den anonymen Kreis geldzahlender Abnehmer arbeitet und wenn sie, was gleichfalls nur durch das Geld möglich ist, Massenproduktion ist. Das Recht gewinnt die Möglichkeit eines rein immanenten, nur logischen Baues, indem die immer gleichmäßige Substanz: Geld - das schließliche Ziel seiner Bestimmungen bildet. Wo dies nicht der Fall ist, wie z.B. im Strafrecht, da kann eine innere Geschlossenheit, ein objektives In-sich-selbst-Ruhen gegenüber dem individuellen Falle auch lange nicht in gleichem Maaße an ihm hervortreten. Das Verhältniß der Klassen zu einander, Rechte und Pflichten einer jeden, ihre Theilnahme an den Ordnungen und Gütern der Kultur kann viel eher dann dauernd festgelegt werden, wenn alle Inhalte dieser Kategorien am Ende auf Geld und die Verschiedenheit seiner Quanta reduzirt werden oder werden können, als wenn die Inkommensurabilitäten der Persönlichkeiten sich unmittelbar in ihnen geltend machten. An all diesen Lebensprovinzen beobachten wir so ein Bestehen und Sich-Entwickeln zu objektiven, den darin eingeschlossenen Individuen selbständig gegenüberstehenden Gebilden, deren eigene Gesetzmäßigkeit sie gegen die Interessen und Ansprüche jener oft gleichgiltig, oft feindlich macht. Indem so das historische Dasein auf jeder irgend höheren Stufe zwei Reihen aufweist: die unpersönlichen Gebilde, die sachliche Ordnung und Arbeit einerseits, die Personen mit ihren subjektiven Eigenschaften und Bedürfnissen andererseits, ergeben sich zwischen Beiden oft erhebliche Verschiedenheiten des Entwicklungstempos. Die Einrichtungen, in denen sich die Kräfte und Verhältnisse der Individuen ehemals zutreffend ausgedrückt haben, können durch ihre Lösung und Verselbständigung gegenüber der lebendigen Entwicklung der Personen verknöchern und erstarren. Sie können aber auch aus eben demselben Grunde sich in sich so rasch und weit entwickeln, daß die Anpassung der Personen nicht mitkommt. In beiden Fällen ergeben sich große Schwierigkeiten. Das Recht, von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex prinzipiell unveränderlicher Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. Sobald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen kristallisirt haben und diese arbeitstheilig durch eine, von den Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht anders. Der von Marx urgirte Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften der Gesellschaft zeigt dieselbe Form: die Vertheilung des Eigenthums, die Ordnung der Arbeit, die Herrschaftsverhältnisse zwischen den Klassen entsprechen zu einer bestimmten Zeit relativ genau den Kräften und Bedürfnissen der Einzelnen; sobald aber unpersönliche Mächte daraus geworden sind, feste Normen, die das Leben nach sich zwingen, statt immer von neuem aus ihm hervorzugehen, so gerathen sie mit den im übrigen weiterentwickelten Energien und Bestrebungen der Personen in Widerstreit. Hier kann ebensogut das Objektive hinter dem Personalen zurückbleiben, wie umgekehrt; die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben z.B. außerordentlich viel hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den Frauen oblagen, außerhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger und zweckmäßiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen, ohne daß so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 239 leergewordene Stelle eingeschoben hätten; die vielfache “Unbefriedigtheit” der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurückschlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr theils gesundes, theils krankhaftes Suchen nach Bewährungen außerhalb des Hauses - das ist der Erfolg davon, daß die Technik in ihrer objektiven Entwicklung einen eigenen und schnelleren Gang genommen hat, als die Personen, die sie beherrscht. So zerlegt denn dieser Differenzierungsprozeß die Lebensinhalte in selbständige, mit eigenen Kräften und nach immanenten Gesetzen entwickelte Gebilde und in personale Schicksale, die von jenen gelöst und dennoch von ihnen beherrscht sind - und schafft damit ein doppeltes Zeitmaaß für die menschlichen Dinge, oder vielmehr eine zweite Entwicklungsreihe über der personalen, an der sich das Tempo dieser mißt. Ja, sehr häufig kommt es erst durch die Differenz zwischen diesen beiden Tempi zu dem Bewußtsein davon, daß die eine oder die andere Seite des Daseins sich so und so schnell vorwärts bewegt, daß die Menschen als ganze Persönlichkeiten eine gewisse überholende Beschleunigung ihrer Entwicklung darbieten, oder daß umgekehrt die objektivirten, zu eignen Organismen gebildeten Interessen oder Verhältnisse zu schnell fortschreiten, als daß die individuelle Anpassung damit schritthalten könnte. Indem das Geld einer der hauptsächlichen Faktoren dieser Scheidung ist, hilft es, die beschriebenen Wirkungen auf das Zeitmaaß des Lebens hervorzurufen, ja, ihm nach bestimmten Richtungen ein Tempo als solches und bewußtes überhaupt erst zu verleihen. Endlich muß die Geschwindigkeit, die der Zirkulation des Geldes selbst gegenüber der aller anderen Objekte eigen ist, zugleich in demselben Maaße das allgemeine Lebenstempo unmittelbar steigern, in dem das Geld das allgemeine Interessenzentrum wird. Die Rundheit der Münzen, infolge deren sie “rollen müssen” symbolisirt den Rhythmus der Bewegung, die das Geld dem Verkehr mittheilt: selbst wo die Münze ursprünglich eckig war, muß der Gebrauch zunächst die Ecken abgeschliffen und sie der Rundung angenähert haben; physikalische Nothwendigkeiten haben so der Intensität des Verkehrs die ihm dienlichste Werkzeugsform verschafft. Vergleicht man die Zirkulationsfähigkeit von Grund und Boden mit der des Geldes, so erhellt unmittelbar der Unterschied des Lebenstempos zwischen Zeiten, wo jener und wo dieses den Angelpunkt der ökonomischen Bewegungen ausmachte. Man denke z.B. an den Charakter der Steuerleistungen in Hinsicht auf äußere und innere Schwankungen, je nachdem sie von dem einen oder von dem anderen Objekt erhoben wurden. Im angelsächsischen und normannischen England galten alle Auflagen ausschließlich dem Landbesitz; im 12. Jahrhundert schritt man dazu, Pachtzinse und Viehbesitz zu belasten; bald nachher wurden bestimmte Theile des beweglichen Eigenthums (der 4., 7., 13. Theil) als Steuer erhoben. So wurden die Steuerobjekte immer beweglicher, bis schließlich das Geldeinkommen als das eigentliche Fundament der Besteuerung auftritt. Damit erhält diese einen bis dahin unerhörten Grad von Beweglichkeit und Nüancirung und bewirkt, bei größerer Sicherheit des Gesammterträgnisses, doch eine sehr viel größere Variabilität und jährliche Schwankung in der Leistung des Einzelnen. - Aus dieser unmittelbaren Bedeutung und Betonung vom Boden oder vom Geld für das Tempo des Lebens erklärt sich einerseits der große Werth, den sehr konservative Völker auf den Ackerbau legen. Die Chinesen sind überzeugt, daß nur dieser die Ruhe und Beständigkeit der Staaten sichert und wohl aus diesem Zusammenhange heraus haben sie auf den Verkauf von Ländereien einen ungeheuren Stempel gesetzt; so daß die meisten Landkäufe dort nur privatim und unter Verzicht auf die grundbuchliche Eintragung vollzogen werden. Wo dennoch jene durch das Geld getragene Beschleunigung des wirtschaftlichen Lebens sich durchgesetzt hat, da sucht sie nun, andrerseits, die ihr widerstehende Form des Grundbesitzes dennoch nach sich zu rhythmisiren. So ist von konservativer Seite hervorgehoben worden, daß die Hypothekengesetzgebung der letzten Georg Simmel 240 Jahrzehnte auf eine Verflüssigung des Grundbesitzes hinarbeite und diesen in eine Art Papiergeld verwandele, das man in beliebig vielen Antheilscheinen weggeben könne; so daß, wie Waldeck sich ausdrückte, der Grundbesitz nur da zu sein scheine, um subhastirt zu werden. - Wenn man den Beitrag zur Bestimmung des Lebenstempos charakterisiren will, den das Geld durch seinen eigenen Charakter, und abgesehen von seinen zuerst besprochenen technischen Folgen liefert, so könnte man es mit folgender Ueberlegung. Die genauere Analyse des Beharrungs- und Veränderungsbegriffes zeigt einen doppelten Gegensatz in der Art, wie er sich verwirklicht. Sehen wir die Welt auf ihre Substanz hin an, so münden wir leicht auf der Idee eines ‘ , eines unveränderlichen Seins, das durch den Ausschluß jeder Vermehrung oder Verminderung den Dingen den Charakter eines absoluten Beharrens ertheilt. Sieht man andererseits auf die Formung dieser Substanz, so ist in ihr die Beharrung absolut aufgehoben, unaufhörlich setzt sich eine Form in die andere um und die Welt bietet das Schauspiel eines Perpetuum mobile. Dies ist der kosmologische, oft genug ins Metaphysische hinaus gedeutete Doppelaspekt des Seienden. Innerhalb einer tiefer gelegenen Empirie indeß vertheilt sich der Gegensatz zwischen Beharrung und Bewegung in anderer Weise. Wenn wir nämlich das Weltbild, wie es sich unmittelbar darbietet, betrachten, so sind es gerade gewisse Formen, die eine Zeit hindurch beharren, während die realen Elemente, die sie zusammensetzen, in fortwährender Bewegung befindlich sind. So beharrt der Regenbogen bei fortwährender Lageveränderung der Wassertheilchen, die organische Form bei stetem Austausch der sie erbauenden Stoffe, ja, an jedem unorganischen Ding, das eine Weile als solches besteht, beharrt doch nur das Verhältniß und die Wechselwirkung seiner kleinsten Theile, während diese selbst in unaufhörlichen molekularen Bewegungen, unserem Auge entzogen, begriffen sind. Hier ist also die Realität selbst in rastlosem Flusse, und während wir diesen, sozusagen wegen mangelnder Sehschärfe, nicht unmittelbar konstatiren können, verfestigen sich die Formen und Konstellationen der Bewegungen zu der Erscheinung des dauernden Objektes. Neben diesen beiden Gegensätzen in der Anwendung des Beharrungs- und Bewegungsbegriffes auf die vorgestellte Welt steht ein dritter. Die Beharrung kann nämlich einen Sinn haben, der sie jenseits jeder noch so ausgedehnten Zeitdauer stellt. Der einfachste, aber für uns hier zureichende Fall derselben ist das Naturgesetz. Die Gültigkeit des Naturgesetzes beruht darin, daß aus einer gewissen Konstellation von Elementen eine bestimmte Wirkung sachlich nothwendig erfolgt. Diese Nothwendigkeit ist also ganz unabhängig davon, wann ihre Bedingungen sich in der Wirklichkeit einmal einstellen; einmal oder millionenmal, jetzt oder in hunderttausend Jahren; die Gültigkeit des Gesetzes wird davon nicht berührt, sein Beharren ist ein ewiges im Sinne der Zeitlosigkeit, seine Bedeutung ist die, daß es schlechthin ist; es schließt seinem Wesen und Begriffe nach jegliche Veränderung oder Bewegung von sich aus. Zu dieser eigentümlichen absoluten Form des Beharrens muß es ein Seitenstück in einer entsprechenden Form der Bewegung geben. Wie sich das Beharren über jede noch so weite Zeitstrecke hinaus steigern läßt, bis in der ewigen Gültigkeit des Naturgesetzes oder der mathematischen Formel jede Beziehung auf einen bestimmten Zeitmoment schlechthin ausgelöscht ist: so läßt sich die Veränderung und Bewegung als eine so absolute denken, daß überhaupt ein bestimmtes Zeitmaaß derselben nicht mehr besteht; geht alle Bewegung zwischen einem Hier und einem Dort vor sich, so ist bei dieser absoluten Veränderung - der species aeternitatis mit umgekehrtem Vorzeichen - das Hier vollkommen verschwunden, und man könnte mit Hegelscher Paradoxie sagen: ein solches Objekt ist da, wo es nicht ist. Haben Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 241 jene zeitlosen Objekte ihre Gültigkeit in der Form des Beharrens, so diese in der Form des Uebergangs, der Nicht-Dauer. Es ist mir nun kein Zweifel, daß auch dieses Gegensatzpaar weit genug ist, um ein Weltbild darein zu fassen. Wenn man, einerseits, alle Gesetze kennte, die die Wirklichkeit beherrschen, so würde diese letztere durch den Komplex jener thatsächlich auf ihren absoluten Gehalt, ihre zeitlos ewige Bedeutung zurückgeführt sein - wenngleich sich die Wirklichkeit selbst daraus noch nicht konstruiren ließe, weil das Gesetz als solches, seinem ideellen Inhalt nach, sich gegen den einzelnen Fall seiner Verwirklichung ganz gleichgültig verhält. Gerade weil nun aber der Inhalt der Wirklichkeit restlos in den Gesetzen aufgeht, die unaufhörlich Wirkungen aus Ursachen hervortreiben, und was soeben Wirkung war, im gleichen Augenblick schon als Ursache wirken zu lassen - gerade deßhalb kann man nun, andrerseits, die Wirklichkeit, die konkrete, historische, erfahrbare Erscheinung der Welt in jenem absoluten Flusse erblicken, auf den Heraklits symbolische Aeußerungen hindeuten. Bringt man das Weltbild auf diesen Gegensatz, so ist alles überhaupt Dauernde, über den Moment Hinausweisende aus der Wirklichkeit herausgezogen und in jenem ideellen Reich der bloßen Gesetze gesammelt; in der Wirklichkeit selbst dauern die Dinge überhaupt keine Zeit, durch die dahinterstehende, rastlos treibende Kraft der Gesetze wird jede Form schon im Augenblick ihres Entstehens wieder aufgelöst, sie lebt sozusagen nur in ihrem Zerstörtwerden, jede Verfestigung ihrer zu dauernden - wenn auch noch so kurz dauernden - Dingen ist eine unvollkommene Auffassung, die den Bewegungen der Wirklichkeit nicht in deren eigenem Tempo zu folgen vermag. Die Welt ist so in das schlechthin Dauernde und in das schlechthin Nicht-Dauernde zerlegt. Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun giebt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld. Die Bedeutung des Geldes liegt darin, daß es fortgegeben wird; sobald es ruht, ist es nicht mehr Geld seinem spezifischen Wert und Bedeutung nach. Die Wirkung, die es unter Umständen im ruhenden Zustand ausübt, besteht in einer Antizipation seiner Weiterbewegung. Es ist nichts als der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in kontinuirlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Für-sichseins. Hier kann man, an einem Symbole aus der historischen Welt, den Charakter der Natur als unter der Kategorie der unbedingten Bewegung und des kontinuirlichen Sich-Aus-sich-Heraussetzens, klarer durchschauen, als an einem Beispiel aus der Natur selbst, weil kein empirischer Fall für unseren Blick jene Kategorie in restloser Reinheit verkörpert. Andrerseits aber wirft die Möglichkeit, die Vorstellung des Geldes zur absoluten Darstellung dieser Kategorie zu verwenden, ein helles Licht auf das Geld selbst zurück, als auf die reinste Verwirklichung des Bewegungsprinzips. Damit gewinnen wir den abstrakten und absoluten Ausdruck für alle die konkreten und relativen Wirkungen, die seine Stellung im praktischen Leben auf die Bestimmung des Tempos desselben ausübt.
