eJournals Kodikas/Code 25/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2002
253-4

Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie

121
2002
Anna Wessely
kod253-40339
Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie Anna Wessely 1. Der Versuch, Simmels enzyklopädische Philosophie des Geldes mit den Fragestellungen der wissenssoziologischen Forschung in Beziehung zu setzen, hat mit einigen Schwierigkeiten zu rechnen. Dieses Buch gehört ja zu jener Gattung der Philosophie, die sich in das eingespielte System der wissenschaftlichen Arbeitsteilung nicht fügen will und eine fachspezifische Problematik nur als Teil eines übergreifenden metaphysischen Zusammenhanges gelten läßt. In einer beiläufig anmutenden Bemerkung hebt Simmel hervor, daß in dieser Art von Philosophie “einerseits das aufgenommene Material eine durchaus sekundäre Rolle spielt, andrerseits das Produkt sich am wenigsten von seinem subjektiven Ursprung gelöst hat, vielmehr ganz als Leistung dieser einen Persönlichkeit auftritt” (PHG, S. 633) 1 . Das in die Philosophie des Geldes aufgenommene Material enthält in der Tat eine Fülle von soziologisch relevanten Beobachtungen und Deutungen. Das Produkt selbst ist aber eine weit ausschweifende Darstellung von Simmels Philosophie der Relativität, worin die soziologischen Ausführungen (wie übrigens auch die psychologischen, nationalökonomischen und historischen Erörterungen) entweder als Belege und Beispiele untergebracht wurden oder eine reflexive Begründung der zentralen Thesen liefern, d.h. die historische Kontingenz ihrer Formulierbarkeit reflektieren sollten. 2. Innerhalb der Wissenssoziologie als institutionalisierter Disziplin kann man grob zwei Forschungsrichtungen unterscheiden. Die erste und auch ältere entstand unter dem Einfluß der geschichtsphilosophischen, milieutheoretischen oder geistesgeschichtlichen Konstruktionen der Jahrhundertwende. Das Interesse gilt hier vor allem der stilistischen Einheit einzelner Epochen, den Weltanschauungen und ihre Objektivationen in den verschiedenen Gebieten der Kultur. Der Soziologe soll die gemeinsamen Strukturprinzipien der mannigfaltigen Kulturgebilde einer Gesellschaft herausarbeiten, diese Prinzipien als die konstitutiven Elemente eines Weltbildes darstellen, um dann dieses Weltbild einer bestimmten sozialen Klasse oder mehreren gesellschaftlichen Gruppen als dessen Trägern zuzurechnen. Das Verfahren wird der Geschichtswissenschaft, vor allem der Kunstgeschichte entlehnt, wo ein anonymes Werk zuerst aufgrund stilkritischer Erwägungen einer bestimmten Gruppe von Werken bekannter Künstler angeschlossen und dann einem von ihnen (oder wenigstens seinem Kreis) zugeschrieben wird. Bei diesem zweiten Schritt schenkt der Kenner den automatisch-unbewußt ausgeführten Details des Werkes besondere Aufmerksamkeit, da sie angeblich die Spuren, den Abdruck der individuellen Eigenart einer Künstlerpersönlichkeit enthalten. In einer ähnlichen Einstellung versucht auch die wissenssoziologische Attribution, die für die Mitglieder einer Kultur unbemerkt bleibenden Züge ihres Weltbildes und ihrer Werke zu erkennen, wobei die Rolle der teilweise unbewußten Automatismen den Interessen und/ oder den entscheidenden gesellschaftlichen Erfahrungen einer Gruppe zuerteilt wird. Oft aber wird auf K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Anna Wessely 340 die Herausbildung dieser Vermittlungen verzichtet und die Kultur als ein den Gesellschaftskörper umhüllender Dunst, als seine Emanation dargestellt. 2 Die andere Forschungsrichtung unterscheidet sich grundsätzlich von der vorhergehenden durch ihren gewählten Ausgangspunkt, der nicht mehr von den abgeschlossenen Ergebnissen der Wissensproduktion, sondern von ihrem Prozeß gebildet wird. Folglich setzt die Analyse bei den (kollektiven) Handelnden und ihren teils informellen, teils institutionalisierten Interaktionsmustern an. Hierdurch wird es leichter, von der Akkumulation des Wissens, seiner augenscheinlich immanenten Logik Rechnung zu geben, ohne dabei die soziologische Erklärungsabsicht aufgeben oder sie in ihrer Relevanz beschränken zu müssen. Freilich gibt es innerhalb dieser Richtung mehrere Varianten, angefangen von Mertons Selbstbeschränkung auf die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Forschung, über Bourdieus Konzentration auf die Verteilung der feldspezifischen Profite sowie auf die daraus entstehende Logik der Konkurrenz, bis hin zu den ambitiösen Versuchen der Edinburgh School, die philosophische Rekonstruktion mit der soziologischen Erforschung der Entwicklung von Wissen zu vereinen und die Untersuchungen bis zur Weltbildanalyse zu erweitern. Es bleibt jedoch das gemeinsame Merkmal all dieser Varianten, daß die in den Erklärungen herangezogenen Interessen der Produzenten und Vermittler von Wissen nicht außerhalb ihrer Tätigkeit liegen, mit dem untersuchten Wissen nicht erst in eine einsehbare Beziehung gesetzt werden müssen, sondern von vornherein wirksame Elemente in dem Wachstum und Wandel von Wissen sind. 3. Simmels Aussagen über die Gebundenheit von gewissen Denkweisen an bestimmte historische Perioden oder soziale Gruppen lassen sich eindeutig in die zuerst genannte Forschungsrichtung einreihen. Ohne die Virtuosität seiner Beschreibung der formalen Organisation der modernen Lebenswelt und seiner Darstellung des modernen Lebensstils leugnen zu wollen, würde ich behaupten, daß die Philosophie des Geldes keine einzige im strengen Sinne wissenssoziologische Aussage macht -, und dies aus dem einfachen Grunde, daß die individuellen oder kollektiven Handelnden, deren Motive, Zwecke oder Interessen den Wandel von Richtung und kategorialer Struktur des Denkens prägen und ihm seine spezifischen Wertakzente verleihen sollen, von Simmel nie zureichend bestimmt werden. Das Subjekt in seinen einschlägigen Sätzen sind “wir” Menschen, “der Grieche” oder “der griechische Geist”, “die Neuzeit”, “das indische Volk”, “der Gebildete und der Proletarier”, bestenfalls noch “die liberalen Kreise”. Der vermutete Zusammenhang zwischen Lebens- und Wissensformen ruht auf meist unausgesprochenen psychologischen Hypothesen, auf den verallgemeinerten alltäglichen Erfahrungen eines scharfsinnigen Beobachters. Simmel geht es nicht um den Aufweis kausaler oder funktionaler Beziehungen zwischen Interessen und ihrem Ausdruck bzw. ihren Auswirkungen auf den Wandel des Wissens, sondern um die Darstellung der Aufeinanderbezogenheit aller Elemente einer Kultur. Da die Aufbauprinzipien der sich somit ergebenden stilistischen Einheit ästhetischer Natur sind, kann jedes Element jedes andere hervorrufen, ergänzen oder rechtfertigen. Statt der in der Soziologie üblichen hierarchischen Strukturmodelle wird das Modell des um sein ideelles Zentrum organisierten Kunstwerkes vorgezogen, worin alle Teile zugleich als Ausstrahlungen und konstitutive Komponenten der Idee des Ganzen aufgefaßt werden. Die Annahme einer universellen Wechselwirkung macht die Herausarbeitung von kausalen Ketten und Vermittlungsinstanzen überflüssig. Dieses Verfahren provozierte später Adornos ablehnende methodologische Kritik, jenen Vorwurf, daß Simmel die vereinzelten, sinnlich greifbaren Züge einer Kultur direkt, ohne Vermittlung Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie 341 durch den Gesamtprozeß mit den entsprechenden Zügen der Basis verbände. 3 Diese Verbindung kann übrigens, da sie auf ästhetischem Wege hergestellt wird, ebenso das Ergebnis von spontaner Homologie wie von Analogiebildung und Symbolisierung oder eben einer kontrapunktischen Konstruktion sein. Damit erscheint auch die Frage nach Ursachen, nach zeitlicher oder logischer Aufeinanderfolge als schief gestellt oder irrelevant. Simmels Deutung der klassischen griechischen Kultur veranschaulicht sowohl die künstlerische Überzeugungskraft als auch die Widersprüchlichkeit seiner Erklärungen (PHG, S. 301,302): “das ist die ungeheure Spannweite des griechischen Geistes, daß er seine Ideale nicht nur in der Fortsetzung und Komplettierung der Gegebenheit suchte, wie es bei weniger großen und schwungvollen Volksnaturellen geschieht: sondern daß ihre leidenschaftliche, gefährdete, durch fortwährende Parteiungen und Kämpfe zerrissene Realität ihre Vollendung in ihrem Anderen suchte, in der festen Begrenztheit und den ruhigen Formen ihres Denkens und Bildens. […] All diese inneren und äußeren Momente der Lebensgestaltung sind so wechselwirkende, daß man kaum eines als das zeitlich fundamentale, unbedingt veranlassende bezeichnen kann. Der Charakter einer agrarischen Wirtschaft, mit ihrer Zuverlässigkeit, mit ihrer geringen und wenig variablen Zahl der Mittelglieder, mit ihrem Betonen der Konsumtion gegenüber der Produktion einerseits, die auf die Substanzialität der Dinge gerichtete Sinnesart, die Scheu vor allem Unberechenbaren, bloß Labilen und Dynamischen andrerseits sind doch wohl nur verschiedenartige, durch das Medium differenzierter Interessen gebrochene Strahlen einer einheitlichen historischen Grundbeschaffenheit, die wir freilich mit unserem auf das Zerlegen angelegten Verstande nicht unmittelbar greifen und benennen können - oder sie gehören jenen Bildungen an, zwischen denen die Frage nach der Priorität überhaupt falsch gestellt ist, weil ihr Wesen von vornherein in der Wechselwirkung besteht, eines sich auf das andere und das andere auf das eine und so ins Unendliche aufbaut, in einem Zirkel, der für die Einzelheiten des Erkennens fehlerhaft, für seine grundlegenden Momente aber wesentlich und unvermeidlich ist.” 4. Man kann aber die Philosophie des Geldes auch aus dem Blickwinkel der anderen wissenssoziologischen Richtung lesen, und dann wartet sie mit einer Überraschung auf: Simmels Analyse des Erkenntnisprozesses und der Relativität von Objektivität und Wahrheit verspricht nämlich eine solide epistemologische Fundierung für die Soziologie der Wissensproduktion. Diese Theorie baut in vielem auf den im Jahre 1895 geschriebenen Aufsatz “Über eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie” auf und übernimmt fast wörtlich einige von dessen Formulierungen. Sie schafft jedoch ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen einer evolutionären Epistemologie und den soziologisch wichtigen Aspekten der Konstitution und Vermittlung von Wissen. Jener Aufsatz, darin bemüht, “den Dualismus zwischen der Welt als Erscheinung, wie sie logisch-theoretisch für uns existiert, und der Welt als derjenigen Realität, die auf unser praktisches Handeln antwortet”, aufzuheben, assimiliert die theoretische Erkenntnis an die Evolution des praktischen Orientierungswissens mit der Begründung, “daß auch die Denkformen, die die Welt als Vorstellung erzeugen, von den praktischen Wirkungen und Gegenwirkungen bestimmt werden, die unsere geistige Konstitution, nicht anders wie unsere körperliche, nach evolutionistischen Notwendigkeiten formen.’ 4 Die Philosophie des Geldes läßt bereits die meisten “psychologischen” Argumente des früheren Aufsatzes weg, schenkt dagegen den sozialen Prozessen der Konsensbildung, des Lernens und der Institutionalisierung des Erkennens in den Fachwissenschaften mehr Beachtung. Ausgegangen wird von dem spezifischen physiologischen Aufbau und den Bedürfnissen der verschiedenen Organismen, deren jeder sich in seiner ökologischen Nische zu orientieren und zu erhalten hat. Unter den Vorstellungen eines bewußtseinsfähigen Organismus selektiert Anna Wessely 342 das lebenserhaltende Handeln jene aus, die sich bewährt, sich als nützlich erwiesen haben. Folglich ist Wahrheit “für jede mit Bewußtsein ausgestattete Art eine inhaltlich andere und kein Spiegelbild der Dinge an sich” (PHG, S. 102). Dieser Gedanke der biologisch fundierten Relativität der Erkenntnis wurde später 5 zur metaphysischen Bestimmung des Individuums und seines individuellen Gesetzes erweitert. Er erhielt aber auch eine soziologisch wichtige, leider nicht weiter ausgeführte Formulierung. In dem Aufsatz über “Weibliche Kultur”, die die historisch entstandene Not feministischer Theoriebildung freilegte und mit dem “Gegensatz zwischen dem ganz allgemeinen Wesen der Frauen und der ganz allgemeinen Form unserer Kultur” begründete: 6 “Freilich kann hier konsequenterweise nur ein ganz radikaler Dualismus helfen: nur wenn man der weiblichen Existenz als solcher eine prinzipiell andere Basis, eine prinzipiell anders gerichtete Lebensströmung als der männlichen zuerkennt, zwei Lebenstotalitäten, jede nach einer völlig autonomen Formel erbaut - kann jene naive Verwechslung der männlichen Werte mit den Werten überhaupt weichen. Sie ist von historischen Machtverhältnissen getragen, die sich logisch in dem verhängnisvollen Doppelsinn des Begriffes vom ‘Sachlichen’ ausdrücken: das Sachliche erscheint als die rein neutrale Idee, in gleichmäßiger Höhe über den männlichweiblichen Einseitigkeiten; aber nun ist das ‘Sachliche’ doch auch die Sonderform der Leistung, die der spezifisch männlichen Wesensart entspricht. Das Eine eine Idee von übergeschichtlicher, überpsychologischer Abstraktheit, das Andere ein historisches, der differentiellen Männlichkeit entspringendes Gebilde, - so daß die von dem letzteren ausgehenden Kriterien, durch das gleiche Wort getragen, sich mit der ganzen Idealität des ersteren decken und daß die Wesen, deren Natur sie von der Bewährung an der spezifisch männlichen Sachlichkeit ausschließt, von dem Standpunkt der übergeschichtlichen, der schlechthin menschlichen Sachlichkeit aus (den unsere Kultur überhaupt nicht oder nur sehr sporadisch realisiert) deklassiert erscheinen.” Wie ist denn unsere Auffassung von Sachlichkeit entstanden? Simmel beschreibt diesen Prozeß folgendermaßen: Die Vorstellungen, die sich im Handeln bewährt haben, bilden feste Punkte der Umweltorientierung, die dann aufgrund von erfahrenen Zusammenhängen und mit Hilfe rudimentärer Theorien miteinander so verbunden werden, daß sie ein Netzwerk von Erkenntnissen ergeben. Das Prinzip der Objektkonstitution und der Formulierung von “Gesetzen” ist grundsätzlich dasselbe: die Wahrnehmungen werden mit den Kategorien der Selbsterfahrung zum Wissen geordnet (PHG, S. 656). Man schreibt dem als erkannt gedachten Gegenstand eine notwendige Einheit seiner wahrgenommenen Eigenschaften, den Erfahrungszusammenhängen gesetzmäßige Notwendigkeit zu (PHG, S. 105-106). Somit gibt das jeweilige Wissen “das objektive Gegenbild dessen” ab, “was wir in uns selbst als unser Wertvolles und Definitives vorstellen” (PHG, S. 94). Dieses ist wertvoller einerseits als der Inbegriff der das nützliche Handeln anleitenden Prinzipien und andererseits als ein Bild von der Welt, das mit dem Selbstbild des Menschen in Eintracht ist. Die Elemente dieses Netzwerkes stützen sich gegenseitig ab, und “dadurch, daß jede an der anderen ihre Ergänzung und eben durch diese ihre Legitimierung findet, nähern sie sich - wenngleich in einem unendlichen Prozeß des Sich-gegenseitig-Hervorrufens - dem Ideale der objektiven Wahrheit” (PHG. S. 114). Simmels Bestimmung dieser Objektivität als der gegenseitigen Beziehung von inhaltlich subjektiven Elementen und als der intersubjektiven Gültigkeit des Wissens zieht bereits den sozialen Kontext der Wahrheitsfindung und der Wissensübermittlung in die Untersuchung ein. Objektivität wird durch den Konsens eines Gesellschaftskreises hergestellt; besser: sie ist zuerst “mechanisch und äußerlich”, durch soziale Regelung gesichert. Die sozial überlieferten Wissensbestände werden mit ihrer bloß durch die Autorität der Tradition verbürgten Gültig- Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie 343 keit von dem Einzelnen “als rein logisch erscheinende Forderungen” hingenommen. Somit akzeptiert er die bindende Kraft von Logik und sozial aufbewahrtem Wissen, den “Zwang unserer Denknormen” (PHG, S. 103) als gesellschaftlichen Zwang. Gegenüber seinen persönlichen Eindrücken erscheint ihm das tradierte Wissen “als das sachlich Gerechtfertigte, als der Ausdruck einer objektiven Proportion” (PHG, S. 82). Traditionen stellen nicht nur gesellschaftlichen Zwang, sondern auch eine kulturelle Ressource dar. Einmal inhaltlich, da jeder ausgesprochene Gedanke “unwiderruflich öffentliches Eigentum aller (ist), die die psychische Kraft, ihn nachzudenken, aufwenden” (PHG, S. 567). Dies sind sie aber auch formal, da im Netzwerk des jeweiligen Wissens “ein neuer, und noch so revolutionärer Inhalt des Erkennens seine Beweisbarkeit für uns doch nur aus den Inhalten, Axiomen und Methoden des bisherigen Erkenntnisstandes ziehen kann” (PHG, S. 98). Auf diesem Wege des gegenseitigen Sich-Beweisens wächst das öffentliche, gemeinsame Wissen. Somit wird das Erkennen, folgert Simmel, “ein freischwebender Prozeß, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen” (PHG, S. 100) und “unter sich ein Reich des Theoretischen (ausbilden), das für jede neu auftretende Vorstellung nach jetzt inneren Kriterien über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet” (PHG, S. 103). Dieser selbsttragende Prozeß wird in der kulturellen Form der Wissenschaften institutionalisiert, wo nicht mehr ausschließlich praktische Nützlichkeit die Zwecke bestimmt und die ehemaligen “festen Punkte” in Relativitäten, die konstitutiven Elemente des Wissens in regulative umgewandelt werden können. 5. Weltanschauungsanalyse und soziologisch gerichtete Epistemologie kreuzen sich in der Philosophie des Geldes an einem einzigen Punkt, der aber sowohl theoretisch als auch in der Tragweite der Aussagen über empirische Sachverhalte von größter Bedeutung ist. Im letzten Kapitel des Buches untersucht Simmel die Rationalisierung des Lebensstiles, die Intellektualität der modernen Kultur und die daraus ableitbare, steigende gesellschaftliche Macht der Intellektuellen. Gültige Erkenntnis verlangt Distanznahme, Unpräjudiziertheit, allgemein ausgedrückt: die Schwächung der Affekte. Ihr Medium, der Intellekt wird zum gleichgültigen, charakterlosen Mittel wie das Geld. In der modernen Gesellschaft verlängern und vervielfachen sich die teleologischen Reihen des Handelns als Folge der immer größeren gegenseitigen Abhängigkeit der Tätigkeiten. Die objektive Kultur wächst in einem Tempo an, mit dem die subjektive längst nicht mehr Schritt halten kann. Langsam verwandeln sich alle Bestandteile und Momente des individuellen Lebens in Mittel: “die gegenseitige Verbindung der sonst mit selbstgenügsamen Zwecken abgeschlossenen Reihen zu einem Komplex relativer Elemente ist nicht nur das praktische Gegenbild der wachsenden Kausalerkenntnis der Natur und der Verwandlung des Absoluten in ihr in Relativitäten; sondern, da alle Struktur von Mitteln - für unsere jetzige Betrachtung - eine von vorwärts betrachtete Kausalverbindung ist, so wird damit auch die praktische Welt mehr und mehr zu einem Problem für die Intelligenz; oder genauer: die vorstellungsmäßigen Elemente des Handelns wachsen objektiv und subjektiv zu berechenbaren, rationellen Verbindungen zusammen und schalten dadurch die gefühlsmäßigen Betonungen und Entscheidungen mehr und mehr aus, die sich nur an die Cäsuren des Lebensverlaufes, an die Endzwecke in Ihm, anschließen” (PHG, S. 594). Das Bild wird noch düsterer, wenn man bedenkt, daß schließlich auch die Endzwecke vergessen werden. Ein objektiver Stil des Lebens wird zur Norm, der für das Individuum eine Anna Wessely 344 schlechthinnige Abhängigkeit bedeutet, da es sich bloß durch den Intellekt führen läßt, d.h. sein Handeln und Denken den sachlichen Zusammenhängen unterordnet. In einer solchen Gesellschaft gewinnen die Intellektuellen einen nicht mehr einzuholenden Vorsprung gegenüber allen Gefühlsmenschen, sogar gegenüber allen anderen sozialen Schichten. Ihr Privileg, die Bildung, scheint keines zu sein, da es sich von dem prinzipiell jedem zugänglichen und allgemein mitteilbaren Wissensvorrat speist. Und doch schafft die Bildung “die unangreifbarste, weil ungreifbarste Aristokratie, einen Unterschied zwischen Hoch und Niedrig, der nicht wie ein ökonomisch-sozialer durch ein Dekret oder durch eine Revolution auszulöschen ist, und auch nicht durch den guten Willen der Betreffenden” (PHG, S. 606-607). Da logisch-rationales Denken und Teilhabe an der objektiven Kultur unerläßliche Bedingungen des erfolgreichen praktischen Handelns geworden sind, können die irgendwie bereits Begünstigten das angehäufte, objektivierte Wissen in ein Kapital umwandeln, dessen Profite nur für sie zu haben sind (PHG, S. 611). Ihre Macht ist unangreifbar, weil sie ja in der Sprache des an vernünftige Einsicht appellierenden Diskurses mit dem Hinweis auf die Gleichheit aller legitimiert wird. Das Unverständnis des Intellekts gegenüber den Leidenschaften, die Gleichgültigkeit der rationalen Kalkulation gegenüber den persönlichen Wertsetzungen ebnet jedoch auch den Weg zur Versöhnlichkeit. Somit plädieren die neuen Machthaber dafür, Konflikte durch Verständigung zu lösen, in der Hoffnung, daß ihre Mitbürger nicht mehr den Mut aufbringen, sich jener “überlegenen Logik […] durch ein eigensinniges: ich will nicht [zu] entziehen” (PHG, S. 604). Anmerkungen 1 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Band 6 (PHG) der Georg Simmel Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1989. 2 Alfred Weber z.B. begriff Kultur ‘als seelisch-geistige Ausdrucksform in der Lebenssubstanz oder seelischgeistige Haltung ihr gegenüber”, die das hervorbringt, “was wir Kulturformen, Kulturemanationen oder kulturelle Schicksalshaltungen nennen können.” Stichwort “Kultursoziologie”, in: A. Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 287. 3 Siehe Adornos Brief an Benjamin in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I,3, Frankfurt am Main 1976. S. 1108. 4 G. Simmel, “Ueber eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie”, in: Zur Philosophie der Kunst. Potsdam 1922. S. 125. 5 “Zur Philosophie des Schauspielers’, In: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre. München 1923, S. 251. 6 “Weibliche Kultur”, in: Philosophische Kultur. Zweite, um einige Zusätze vermehrte Auflage. Leipzig 1919. S. 266-267.