Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2002
253-4
Das Geld, die Zeichen und der Tod. Weltbildwandel im Mittelalter
121
2002
Achim Eschbach
kod253-40363
Das Geld, die Zeichen und der Tod Weltbildwandel im Mittelalter Achim Eschbach 1. Das Geld Nach heutigen Kenntnissen denken nur die höchstentwickelten Lebewesen über ihr eigenes Ende nach, während es eine Fülle äußerst interessanter Belege dafür gibt, daß verschiedene Arten die erstaunlichsten Bestattungsriten und Formen der Trauer um ihre Verstorbenen entwickelt haben. Gemessen an der Dauer der gesamten Menschheitsgeschichte tauchen Belege für Gedanken über eine mögliche Ausgestaltung einer Existenz nach dem Tode relativ spät auf, was Herbig (1986: 204ff.) im Widerspruch zu Roy A. Rappaport und André Leroi- Gourhan zu der zweifellos problematischen Disjunktion von symbolischer Interaktion und religiösen Praktiken veranlaßte. So wenig aber sprachlose Lebewesen in grauer Vorzeit plötzlich und überraschend die Sprache erfunden haben, wodurch sie allererst zu Menschen wurden, so wenig haben längst symbolisch interagierende Menschen in historischer Zeit plötzlich und unvermittelt Religionen erfunden. Jürgen von Kempski (1992: 21ff.) hat dieser mythischen Schöpfung aus dem Nichts einen sehr anregenden Aufsatz gewidmet, weshalb ich daran anknüpfend nur noch darauf zu verweisen brauche, daß eine creatio ex nihilo dem semiotischen Grundprinzip der permanenten Interpretation widerspricht, demzufolge ein jedes Zeichen andere Zeichen voraussetzt, auf die es sich interpretierend beziehen kann. So wie es eine Denknotwendigkeit ist Zeichen vorauszusetzen, um Zeichen interpretieren zu können, setzt die gesellschaftliche Interaktion gewisse Vor- und Rücksichten voraus, weil anders Gesellschaft gar nicht möglich wäre; daß sich das System der gesellschaftlichen Vor- und Rücksichten im Laufe der Zeit erheblich gewandelt hat, soll im weiteren an einem ausgewählten Beispiel eingehender untersucht werden. Die Menschen haben ihre Kommunikation mit den Göttern in einem Prozeß fortschreitender Semiotisierung strukturiert. Waren es anfangs stoffwertvolle Gegenstände des Alltags wie z.B. Speisen oder Tieropfer, die sicherlich kaum einmal sprach- und gestenlos dargeboten wurden, setzte sehr bald eine symbolische Repräsentation des Opfers ein; Priester übernahmen die direkte Kommunikation mit den Göttern und akzeptierten als Opfergaben nur noch Tiere einer besonderen Qualität und Beschaffenheit, was die Entwicklung geeigneter Bemessungsgrundlagen und Maßeinheiten verlangt. Eine präzise bemessene Opfergabe wird zur Werteinheit, zu heiligem Geld, wie Bernhard Laum sagt, das in einem Profanisierungsprozeß auch außerhalb religiöser Riten Geltung erlangt und in einem parallelverlaufenden Abstraktionsprozeß durch stoffwertvolle, d.h. goldene oder silberne Münzen, die ikonisch das Opfertier, z.B. den Stier, den Hahn, den Fisch oder eine Frucht wie z.B. den Apfel, die Traube, die Ähre präsentieren, ersetzt werden. Alle weiterführenden Schritte, bei denen stoffwertvolle Metalle durch stoffwertlose Träger wie z.B. Papier oder Plastik ausgetauscht werden, bieten semiotisch gesehen keine wesentlichen Neuerungen, wenn man einmal von K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Achim Eschbach 364 der allerdings nicht unwesentlichen Tatsache absieht, daß ein immer größerer Aufwand getrieben werden muß, um das Vertrauen in die stoffwertlosen Repräsentanten zu sichern: Die Sorgen und Ängste der DM-Besitzer vor der Einführung des Euro sind zum wenigsten geldtheoretisch begründet, dafür um so stärker magisch-psychologisch. Der Verlust der Anschaulichkeit und Stoffgebundenheit kann nur durch einen höheren Determinationsgrad kompensiert werden, damit das symbolische Geld die gleiche Verhaltenssicherheit gestattet wie das semiotisch schwächer determinierte Geld früherer Entwicklungsstufen. Die Etablierung eines Bemessungssystems für die Angemessenheit und Akzeptanz einer Opfergabe kommt nicht mit rein materiellen Kriterien aus, wie schon das erste Beispiel eines Vergleichs zweier Opfer im Alten Testament veranschaulicht: Abel, der Schäfer, opferte von den Erstlingen seiner Herde, und Kain, der Ackermann, brachte dem Herrn Opfer von den Früchten seines Feldes: “Und der Herr sah gnädiglich an Abel und sein Opfer. Aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädiglich an” (l. Mose 4.). Wenn man die Annahme resp. Ablehnung der Opfer weder auf materielle Differenzen zurückführen noch als einen Willkürakt begreifen möchte, kann die unterschiedliche Beurteilung nur aus der Haltung abgeleitet werden, mit der das Opfer dargebracht wird, und in der Tat heißt es: “Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Thür” (ibid.). Semiotisch gesehen läuft diese Unterscheidung darauf hinaus, daß das Opfer sich nicht autoreferenziell selbst bezeichnet und genügt, sondern darüberhinaus einen semiotischen Mehrwert besitzt, der in der Intention des Opfernden zu suchen ist. Die Ermittlung der Bedeutung des semiotischen Mehrwerts ist ein schwieriges Geschäft, um dessen Erledigung sich verschiedene mit der Exegese und Hermeneutik befaßte Professionen (Theologen, Juristen, Philologen, Psychologen, Semiotiker etc.) bemühen, ohne dieses Geschäft jemals verbindlich abschließen zu können. Das erste alttestamentliche Opferbeispiel widerspiegelt darüberhinaus auch noch das Problem der Determination resp. Prädestination: Hat Kain richtig betrachtet eine faire Chance, anders zu handeln, als er es tatsächlich tut? Darf man den am Boden kriechenden Rauch seines Opferfeuers als echtes Zeichen seines Mißerfolges deuten oder handelt es sich nicht vielmehr um eine materielle Konsequenz einmal gesetzter Bedingungen? Nur dann, wenn dem Opfernden die Möglichkeit eröffnet ist, seine Haltung frei zu wählen, kann eine semiotische Argumentation sinnvoll geführt werden. So eindeutig das Geld religiösen Ursprüngen entstammt, so ambivalent ist doch der theologische wie profane Umgang mit diesem Opferderivat. Schon Plato wollte die Geldwechsler aus dem Tempelbezirk verbannen, Jesus hat diese Absicht recht handgreiflich in die Tat umgesetzt, als er die Tische der Wechsler im Tempel umstieß (Matthäi 20) und die katholische Kirche betrachtete - im übrigen in weitgehender Übereinstimmung mit dem Judentum und dem Islam - Vergehen gegen die Sozialordnung (e.g. Habgier; Wucherzinsgeschäfte) als schwerste Sünden, die mit den heftigsten Sanktionen belegt wurden. Was aber um alles in der Welt hat diese Geldphobie erzeugt? Zahlreiche inhaltlich gleichlautende Antworten hat Ernest Borneman (1977) in seiner Psychologie des Geldes versammelt, aus der ich drei Zitate anführen möchte, um den psychoanalytischen Argumentationsduktus zu veranschaulichen. Sigmund Freud schreibt: “In Wahrheit ist überall, wo die archaische Denkweise herrschend war oder geblieben ist, in den alten Kulturen, im Mythos, Märchen, Aberglauben, im unbewußten Denken, im Traume und in der Neurose das Geld in innigste Beziehungen zum Drecke gebracht. Es ist bekannt, daß das Gold, welches der Teufel seinen Buhlen schenkt, sich nach seinem Weggehen in Dreck verwandelt, und der Teufel ist doch gewiß nichts anderes als die Personifikation des verdrängten unbewußten Trieblebens” (in Borneman, 1977: 90). Das Geld, die Zeichen und der Tod 365 Sein ungarischer Kollege Sändor Ferenczi weiß: “Aus der Lust am Darminhalt wird Freude am Gelde, das aber nach dem Gesagten auch nichts anderes ist als geruchloser, entwässerter und glänzend gemachter Kot, ‘pecunia non olet’” (ibid., 101), und Ernest Borneman selbst berichtet: “Midas, König von Phrygien, erbat sich von Dionysos, den er als Gast gespeist hatte, daß alles, was er anfasse, sich in Gold verwandeln möge, und entdeckte dann zu spät, daß er nun weder essen noch trinken, weder lieben noch sich warm halten konnte, da Speise und Trank, Frauen und Kleidung sich bei seiner Berührung in kaltes, starres Gold verwandelten. Nirgends in der abendländischen Mythologie ist die Widersinnigkeit, die zerstörende, alles Vitale negierende Wirkung des Geldes in komprimierterer Form beschrieben worden” (ibid., 447), was sich mühelos dahingehend zusammenfassen läßt, daß die positive Vollform gar nicht denkbar wäre ohne ihre ins Gegenteil verkehrte negative Leerform, was Joachim Schacht in seiner Kulturanthropologie des Geldes folgendermaßen formuliert: “Das Geldwesen benutzt die Sprache der Religion, aber es höhlt sie aus. Als zeichenhaftes Objekt mit latent-absolutistischer magischer Scheinfreiheit von Zeit ist das Geld das dinglichfiktive ‘Abzieh-Bild eines in ein abstraktes Material ‘investierten’ Gottesbildes, das in ihm ‘versiegelt’ ist wie in einem ‘Grabmal’: Insofern ist es die Totenmaske Gottes (Schacht, 1967: 152). 2. Die Zeichen Vor den großen Umbrüchen, die sich im 12. und 13. Jahrhundert ereigneten, fällt es schwer, aus der Perspektive einer kritischen Semiotik von seriösen zeichentheoretischen Studien zu sprechen. Natürlich ist bekannt, daß Heraklit und Plato, Aristoteles und Sextus Empiricus, Boethius und Augustinus wichtige semiotische Gedanken gefaßt haben, die uns in vielfacher Hinsicht bis heute terminologisch und inhaltlich bewegen; diese und die vielen ungenannten Denker deshalb aber ex post zu Zeichentheoretikern zu erklären, wäre schlicht unzeitgemäß und sachlich falsch, da sich die Formulierung einer Theorie der Zeichen für diese Epoche noch gar nicht als Problem gestellt hatte. Im wesentlichen war dies darin begründet, daß die präsemiotische, prärationalistische Ära mit einem analogischen Zeichenbegriff operierte, der es erlaubte, alles mit allem in Verbindung zu bringen, weil ein Etwas aufgrund wie auch immer gearteter Nachbarschaftsbeziehungen, Ähnlichkeiten, Proportionalitäten, Familienähnlichkeiten etc. auf ein beliebig Anderes verweisen konnte. Der präsemiotische Zeichenbegriff, der nur die Minimalforderung zu erfüllen hat, daß etwas für etwas anderes eintreten muß, um als dessen Zeichen auftreten zu dürfen, mündet nur zu leicht in das allgemeine Geraune, das Umberto Eco (1990) sehr zu Recht heftig kritisiert hat. Die unendliche Abdrift, die vom Hölzchen aufs Stöckchen führt, trägt nicht zur genaueren Erkenntnis des Erkenntnisgegenstandes bei, da sie sich nicht um die genauere, präzisere Bestimmung des Gegenstandes bemüht, sondern sich damit begnügt, ihren Gegenstand in immer wieder neue Nachbarschaften zu stellen, zu denen gewisse “Ähnlichkeiten” bestehen. Charles Sanders Peirce hat vor dieser übertriebenen und ungerechtfertigten Analogisierung deutlich gewarnt, als er zu diesem schweren logischen Fehler sagte: Achim Eschbach 366 “Es gibt keinen größeren und häufigeren Fehler in der praktischen Logik als die Annahme, daß Dinge, die sich in einigen Hinsichten sehr ähnlich sind, sich deswegen um so wahrscheinlicher in anderen Hinsichten gleichen” (C.P., 2.634). Phasen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs sind nicht allein wegen ihrer angestrebten Veränderungen von außerordentlichem Interesse, sondern vor allem auch deshalb, weil an den Bruchstellen die sich voneinander ablösenden Paradigmen in all ihren Widersprüchen mit besonderer Schärfe und Klarheit zu Tage treten. Späteren Forschergenerationen mag das Jahr 1989 ein dankbarer Untersuchungsgegenstand sein; ich möchte mich hier auf das ausgehende 13. Jahrhundert und speziell auf das Jahr 1274 konzentrieren, in dem eine Reihe dramatischer Verwandlungen zusammentrafen. 1274 ist nicht nur das Geburtsjahr des Fegefeuers, wie Jacques Le Goff (1991) argumentiert. Sondern zugleich der Kristallisationskern vielfältiger Veränderungen auf allen möglichen Gebieten. Elisabeth Gössmann erklärt, daß in dieser Zeit des Wandels insbesondere eine reflektierende Rationalität eine archaische Symbol- und Bildhaftigkeit, ein vorrationales Denken ablöste (cf. Gössmann, 1973: 41). Dieselbe Auffassung, daß nämlich die semiotische Forschungsarbeit des Mittelalters durch einen langsamen Übergang vom Symbol zum Zeichen zu kennzeichnen sei, hatte Julia Kristeva bereits fünf Jahre früher vertreten: “La deuxième moitié du moyen âge (XIIIe - XV siècle) est une période de transition pour la culture européenne: la pensée du signe remplace celle du symbole” (Kristeva, 1968: 35). An anderer Stelle fügt sie hinzu: “Le nominalisme marque une étape décisive du passage du symbole au signe dans le discours moyenâgeux. C’est surtout dans les doctrines de Guillaume d’Occam, qui s’opposent violemment à celles de Duns Scott et dénoncent l’impossibilité d’appuyer le dogme sur la philosophie, que le nominalisroe prend sa forme la plus nette. II est une attaque contre la pensée du symbole sous son aspect réaliste (doctrine d’inspiration platonicienne qui considère que les universaux ou les unités abstraites sont indépendentes de l’intellect, et qui est représentée par saint Thomas et Duns Scott) et sous son aspect conceptualiste (qui considère que les universaux existent mais sont produits par l’intelligence” (ibid., 40) . Die Entwicklung der mittelalterlichen Semiotik wurde von einer Gruppe von Logikern, Philosophen und Sprachwissenschaftlern getragen, die sich als “magistri moderni” von ihren Vorgängern unterschieden, die sie als “antiqui” bezeichneten und deren Bemühungen in dem Aufbau einer spekulativen Grammatik gipfelten. Die Entwicklung der spekulativen Grammatik war durch eine Reihe von Faktoren bedingt, die sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen lassen: l. Die Wiederentdeckung wichtiger Teile der aristotelischen Logik unterstützte die Logikalisierung der Grammatik; 2. Wilhelm von Conches, Petrus Helias und Petrus Abälard entwickelten die systematischen Voraussetzungen und terminologischen Mittel der spekulativen Grammatik; 3. die Auseinandersetzung zwischen den an der klassischen Literatur orientierten Schulen von Orleans und Chartres und der Pariser Artistenfakultät wegen des wachsenden Einflusses der (aristotelischen) Logik geht zugunsten der logischen Grammatiker von Paris aus; 4. die summae modorum significandi der spekulativen Grammatiker nehmen die neuen Erkenntnisse der wiederentdeckten aristotelischen Werke auf. Die Neuartigkeit des modistischen Ansatzes ist darin zu suchen, daß die spekulative Erforschung der Syntaktik und Semantik der Wortklassen in direkter Korrespondenz zur Realität vorgenommen wird, die gemäß der realistischen Ontologie der Modisten allen sprachlichen Phänomenen vorausgeht. Die modistische Überzeugung, daß sprachliche Das Geld, die Zeichen und der Tod 367 Phänomene nicht in sich selbst, sondern in der umgebenden Realität begründet sind, ermöglichte die Formulierung der Annahme, daß eine universale Grammatik existiert, deren Strukturen sich in Korrespondenz zur Weltstruktur entwickeln und somit unabhängig von speziellen Einzelsprachen sind. Die Erforschung dieser universalen Grammatik, die Gültigkeit für alle speziellen Einzelsprachen besitzt, kann nur von einer Zeichentheorie geleistet werden, die alle speziellen Sprachtheorien einschließt und auf eine Metaebene hebt, d.h. Metatheorie ist. In einer Formulierung, die in dieser Form von Charles S. Peirce stammen könnte, betont eine logische Abhandlung aus dem 14. Jahrhundert die zentrale Stellung des Zeichenbegriffs für die neue Logik: “Quoniam logica est doctrina principaliter de signis, quibus utimur pro significatis” (Pinborg, 1971: 238), was ich als einen Beleg dafür bewerten möchte, daß die antike Substitutionstheorie des Zeichens nunmehr in Richtung der modernen Repräsentationstheorie überschritten ist. Die modistische Analyse verfolgt den Weg von dem bezeichnenden zu dem bezeichneten Objekt von den modi essendi über die modi intelligendi zu den modi significandi. Zur Beantwortung der Fragen, welche Beziehungen sprachliche Elemente zur Realität unterhalten, wie die Erkenntnis der sprachlichen Elemente vorzustellen ist und wie diese Erkenntnisse zu formulieren sind, entwickelten die Modisten ein äußerst subtiles erkenntnistheoretisches System. Nach Auffassung der modistischen Semiotiker hat jedes materielle und immaterielle Objekt eine spezifische Seinsweise, den modus essendi der im Erkenntnisprozeß in spezifischer Weise, dem modus intelligendi erfaßt und in spezifischer Weise, dem modus significandi bezeichnet werden kann. Die drei modi stehen in engem Zusammenhang mit den partes orationis dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand des Grammatikers, der nicht an isolierten sprachlichen Elementen, den dictiones interessiert ist, sondern die Relationen dieser Elemente betrachtet. Die partes orationis sind aus modistischer Sicht als Objekte beschreibbar, die von einem Gegenstand, der Erkenntnis dieses Gegenstandes, der Bezeichnung dieses Gegenstandes und der Artikulation der sprachlichen Zeichen konstituiert wird. Die Beziehungen und Differenzen der drei modi basieren auf den Objekten, dem Erkenntnisprozeß und der Sprache, so daß die Entwicklung von den modi essendi zu den modi intelligendi fortschreitet und in den modi significandi abschließt. Jedes extramentale materielle und immaterielle Objekt weist eine Anzahl allgemein erfahrbarer Eigenschaften auf, die unabhängig und vor der intellektuellen Erkenntnis existieren. Diese Objekteigenschaften, die modi essendi, sind zwar keine grammatikalischen Kategorien, weisen aber als letzte Differenzierungsprinzipien dennoch enge Beziehungen zu den anderen modi auf, da sie deren Form und Funktion in entscheidendem Maße beeinflussen, denn jeder Erkenntnis- und Bezeichnungsvorgang muß letztlich in einer distinkten Materie begründet sein. Für sich betrachtet geben die modi essendi weder Auskunft über die Erkenntnisweise des Objektes, noch die Form einer möglichen Bezeichnung, sondern beziehen sich ausschließlich auf das Objekt bzw. dessen Eigenschaften, d.h. sie sind als die unmittelbare und beziehungslose, empirisch vorliegende Wirklichkeit unter der Perspektive der Existenz zu fassen. Wurden die Objekteigenschaften als letzte Differenzierungsprinzipien der übrigen modi charakterisiert, so können sie jedoch nicht als unmittelbarer Ursprung der modi significandi angesehen werden, denn die Realität ist nur insofern bedeutungsdifferenzierend, als sie erkannt ist. Die Herstellung einer Beziehung von Objektbereich und Bedeutungsbereich bedarf der vermittelnden Tätigkeit des Intellekts, denn erst die Formen der Erkenntnis, die Achim Eschbach 368 modi intelligendi, sind die unmittelbaren Ursachen bzw. Bestimmungskriterien der modi significandi. Die modi intelligendi geben Auskunft über die Formen der Wahrnehmung und intellektuellen Aneignung der Objekte und deren Eigenschaften, d.h. die Art und Weise der gegenständlichen Erfassung. Neben der auf die modi essendi gerichteten Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktion der modi intelligendi ist eine zweite Funktion zu unterscheiden, die den Bezug zu den modi significandi herstellt. Zur Beschreibung dieser doppelten Funktion der modi intelligendi unterschieden die Modisten einen modus intelligendi activus und einen modus intelligendi passivus. Die Differenzierung in einen aktiven und einen passiven Modus, die auf der Ebene des beziehungslosen Seins noch nicht vorgenommen werden mußte, aber für die modi intelligendi wie für die modi significandi gilt, entspricht der materia-forma-Dichotomie der modistischen Metasprache. Diese Dichotomie versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die modi materialiter identisch sind, sich jedoch je nach Betrachtungsweise formaliter unterscheiden. Sind die Objekte bzw. Objekteigenschaften in der intellektuellen Betrachtung angesprochen, so ist die Rede vom modus intelligendi activus. Ergebnis der intellektuellen Erfassung der Objekteigenschaften ist eine noch ungerichtete Bedeutungspotentialität, da auf dieser Ebene sowohl die intellektuelle Erfassung der Bedeutung als auch die bloße Wahrnehmung des Gegenstandes eingeschlossen sind. Wird unter Beibehaltung des Erkenntnisgegenstandes die Ebene der bloßen Erkenntnisfähigkeit in Richtung auf die Bedeutungsweise des erkannten Objektes verlassen, so ist der Geltungsbereich der modi intelligendi passivi betroffen. Im Gegensatz zu den aktiven modi, die die Vermittlung zwischen Objekt und Intellekt herstellen, beziehen sich die passiven modi (in durchaus aktiver Weise) auf die Relation von Intellekt und Bedeutung. Die doppelte Orientierung der material identischen, doch formal verschiedenen modi intelligendi ist demnach die Bedingung der Möglichkeit, den modi significandi ein fundamentum in re zu schaffen. Die bisherigen Überlegungen haben sowohl die Kriterien bereitgestellt, die Objekte der menschlichen Erkenntnis in ihrer Beziehung zu dem erkennenden Intellekt zu beschreiben, als auch einen Hinweis auf die Funktion der erkannten Objekteigenschaften gegeben. In der Hierarchie der sprachlichen Elemente verweist die noch beziehungslose dictio auf den Zusammenhang menschlicher Rede, wobei allerdings noch unklar ist, wie diese Beziehung konkret hergestellt werden kann. Zur Vermittlung der beziehungslosen Bedeutungselemente und der bedeutsamen menschlichen Rede führen die Modisten die modi significandi ein, die ein bedeutungsfähiges Sprachelement nach seinen möglichen Bedeutungsweisen differenzieren. Der modus significandi passivus wird als Bedeutungsweise des bedeuteten Objektes aufgefaßt, d.h., daß er sich auf die bedeuteten Objekteigenschaften hinsichtlich ihrer funktionalen Bedeutung bezieht, während der modus significandi activus gemäß der von einem bedeutenden Sprachelement übernommenen jeweiligen Bedeutungsfunktion die weitere Anwendung der erzielten Ergebnisse lenkt, d.h., daß er die Objekteigenschaften in der Form der funktionalen Bedeutung ausdrückt. Die besondere Aufgabe des modus significandi passivus besteht darin, eine Beziehung zwischen dem bedeuteten modus essendi und dem modus significandi activus aufzubauen. Die Möglichkeit einer Wahrnehmung solchen Beziehung resultiert daraus, daß ein identisches Objekt einerseits intellektuell erfaßt wird und andererseits bei formaler Betrachtungsweise die Eigenschaften des bedeuteten Objektes angesprochen sind, auf die sich auch der modus Das Geld, die Zeichen und der Tod 369 significandi passivus bezieht, so daß man sagen kann, daß der modus significandi passivus zu dem Objekt selbst gehört und die Beziehung zwischen seinen Eigenschaften und deren Bedeutung herstellt. Der modus significandi activus spezifiziert die Bedeutungen derjenigen Elemente, die der Intellekt im Erkenntnisprozeß erfaßt hat. Mit diesem aktiven Bedeutungsmodus ist der Abschluß des sprachlichen und erkenntnistheoretischen Entwicklungsprozesses erreicht, denn einerseits organisiert dieser Modus vox und dictio in der menschlichen Rede und nimmt andererseits dabei die Ergebnisse der beiden vorangegangenen Modi auf. Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts liegt demnach erstmalig eine semiotisch befriedigende Zeichen- und Bedeutungstheorie vor, die ihren reifen Ausdruck in dem Tractatus de modis significandi von Thomas von Erfurt fand, den Martin Heidegger in seiner Habilitationsschrift noch mit Duns Scotus verwechselt hatte, und in dem Tractatus de signis des Joannis a Sancto Thoma dreihundert Jahre später fortgeführt wurde, der weitere zweihundertfünfzig Jahre später in der Semiotik des ausgezeichneten Kenners der mittelalterlichen Sprachlogiken Charles Sanders Peirce aufgehoben wurde. 3. Der Tod Djavid C. Borower leitet seinen Bericht über das Symposion “Der Tod als Phänomen der Weltkulturen und Religionen” mit der Bemerkung ein: “Der Tod ist aus unserem Horizont getreten. Er ist ein namenloser Unbekannter geworden, für dessen Anonymität die Worte fehlen” (Borower, 1995: 44). Worte mögen angesichts von Auschwitz, Hiroshima und Srebrennica, der Völkermorde in Kambodscha und Afrika möglicherweise dem einen oder anderen fehlen, implizieren aber die schreckliche Gefahr, daß wir mit der Anonymisierung des Todes gleich auch noch die Namen der Täter und der Opfer auslöschen. Auch wenn der Tod zu einem namenlosen Gesellen absinken mag, ändert das doch nichts an der Tatsache, daß das individuelle Sterben eine je persönliche und unvermeidliche Konsequenz unseres zeitlichen Seins ist, ob eine Gesellschaft ihre Sterbenden im Kreise der Familie begleitet, in Sterbehäuser ausquartiert oder auf namenlosen ‘killing fields’ verliert. Die Entdeckung der Grotte Chauvet offenbarte die bislang ältesten bekanntgewordenen Höhlenmalereien, die nicht nur wegen ihres Alters, sondern auch wegen ihrer gestalterischen Meisterschaft und ihrer Motivwahl verblüffen. Zahlreiche weitere Belege, über die z.B. Marija Gimbutas in verschiedenen ihrer neueren Publikationen ebenso berichtet wie Marie E.P. König in ihrer Abhandlung Die Zeichensprache des frühen Menschen legen zumindest die Vermutung nahe, daß die Menschen zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt als bislang allgemein angenommen in künstlerischer, sprachlicher und kultischer Hinsicht ein wesentlich höheres Niveau erreicht hatten. Wenn es aber zutrifft, daß Menschen, seit Menschliches sie bewegt, über sich selbst und ihr eigenes Ende nachdenken, sich mit ihren Mitmenschen darüber sprachlich, künstlerisch und in ihren Riten und Gebräuchen austauschen, müssen wir dennoch einräumen, daß es einen Zeitpunkt gegeben hat, zu dem archaisches Denken in modernes Denken umgeschlagen ist. Frantisek Graus (1987: 30f.) macht darauf aufmerksam, daß sich die Einstellung zum Tode im Mittelalter stark geändert hat, was die Annahme nahelegt, daß sich zu dem zur Diskussion stehenden Zeitpunkt ein Weltbildwandel ereignete. Die Mutmaßung wird durch ein weiteres Argument von Aaron Gurjewitsch bestärkt, der zu bedenken gibt, daß es trotz aller Ähnlichkeiten des mittelalterlichen und des heutigen Menschen einen wesentlichen Unterschied gab: Achim Eschbach 370 “Zwar lebten und schafften, kämpften und beteten, liebten und haßten, lachten und weinten diese Menschen nicht anders als Menschen anderer Zeiten, doch was sie auch taten und fühlten, niedergedrückt von Sorgen oder beflügelt von Hoffnungen - für sie spielte sich das alles unweigerlich vor dem Hintergrund des Todes ab. Der Tod war ein untrennbarer Bestandteil ihres Lebens. Die Klage ‘ubi sunt … , qui ante nos in mundo fuere? ’ (‘wo sind die, die vor uns war’n? ’), die Mahnung ‘Memento mori! ’ (‘Gedenke des Todesi’) und die Darstellungen des ‘dance macabre’ (des ‘Totentanzes’) sind nicht einfach Beispiele für eine damals weit verbreitete, ‘modische’ Richtung in Kunst und Literatur; vielmehr sind das Themen, die gleich Leitmotiven in ganz eigener Weise Religion und Philosophie, Kunst und Alltag des Mittelalters durchzogen sowie weitgehend auch Denken und Verhalten seiner Menschen prägten. Diese Menschen erfüllte eine einzige Furcht - die Furcht vor einem plötzlichen Tode, der sie unvorbereitet, ohne Geleit durch Gebet und andere gute Werke ereilen könnte; diese Menschen durchdrang die Furcht vor einem Tod, der ihnen keine Zeit mehr lassen würde zu beichten, ihre Sünden zu bereuen und Vergebung zu erlangen. Der Tod war in der Tat ihr ständiger Begleiter, ihr erster und ihr letzter Gedanke, unermüdlich warnten Prediger die Menschen immer wieder davor. Beichte und Buße bis zum letzten Stündlein vor sich herzuschieben, da doch Gott nur rechtzeitige Reue und Buße Wohlgefallen” (Gurjewitsch, 1995: 105f.). Der Zeitpunkt des Umschlags der hier in Frage stehenden Denkgewohnheit ist relativ genau bestimmbar, weil es sich um den Moment handelt, in dem bipolares, dichotomisches Denken umschlug in triadisches, vermittelndes Denken, als zwischen die alten Antinomien von Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein, Ewigkeit und Endlichkeit Zwischenstadien eingeführt wurden, die zwischen den Extremen vermitteln sollten. Was sich fast mechanisch anhört, sollte viel eher in semiotisch-erkenntnistheoretischen Kategorien bedacht und beurteilt werden. Für das endliche Denken des Menschen gibt es nichts Unerträglicheres, als sich mit dem Unvorstellbaren, Undenkbaren, Unendlichen abfinden zu müssen. Charles Sanders Peirce hat geradezu den Beweis geführt, daß es zu den vier Unvermögen des Menschen zählt, das absolut Undenkbare zu denken. Was für eine Schlußfolgerung sollen wir aus dieser Geistesakrobatik ziehen? Selbst wenn es zutrifft, daß wir unfähig sind, das absolut Undenkbare zu denken, hat das die Menschen nicht daran gehindert, mit großer Phantasie jenseitige Welten zu entwerfen und mit himmlischen Heerscharen resp. ganzen Legionen von Teufeln und Quälgeistern zu bevölkern. Die Kölner Ausstellung Himmel Hölle Fegefeuer (Jezler, 1994) beschreibt das Jenseitsbild im Mittelalter; Georges Minois (1994) stellt die Geschichte der Hölle als Geschichte einer Fiktion dar; Herbert Vorgrimler (1993) entwickelt die Geschichte der Hölle von den Unterweltvorstellungen im Alten Orient bis zu dem Höllenverständnis in der Theologie des 20. Jahrhunderts und Alfonso di Noia (1994) behandelt in seinem Buch Der Teufel Wesen, Wirkung und Geschichte des Dämonischen. All diesen Abhandlungen ist gemeinsam, daß unsere abendländische Kultur von den frühesten Anfängen bis in die Gegenwart von einem System eng miteinander verwandter Jenseitsvorstellungen in einer Weise geprägt ist, wie es von kaum einem weiteren Konzept in ähnlicher Weise behauptet werden dürfte. Dieses Ergebnis sollte insofern nicht überraschen, als die abendländische Kultur über vielfältige Traditionsstränge eine dichte Binnenvernetzung aufweist und weil wir zweitens bei dem Entwurf gewisser Jenseitsbilder, die an die Stelle des absolut Undenkbaren treten sollen, uns nur unserer menschlichen Kategorien bedienen können, so daß das Paradies ebenso wie die Hölle sehr anthropomorph und diesseitig ausgestattet werden, was konsequenterweise auch für die zu erwartenden Freuden wie die zu befürchtenden Strafen gilt, die einem im Jenseits winken, wobei natürlich vor allem die Höllenpein im Laufe der Zeit und analog zu den diesseitigen Umgangsformen mit Delinquenten deutlichen Wandlungen unterworfen war. Mit Das Geld, die Zeichen und der Tod 371 der Gestaltung gewisser, epochenspezifischer Jenseitsvorstellungen war und ist der Umgang mit dem Tod, dem absolut Undenkbaren, nicht etwa gelöst, sondern nur verlagert, da an die Stelle der einen Denkunmöglichkeit das nicht minder hermetische Konzept der Ewigkeit gerückt war, das wir in unseren endlichen menschlichen Kategorien, die nun einmal unabdingbar zeitlich gebunden sind, nicht erfassen können. Zu einer Revolutionierung der christlichen Jenseitsvorstellungen ist es in dem Moment gekommen, als die Entscheidung, ob ein Verstorbener ins Paradies oder in die Hölle kommt, auf ein fernes Jüngstes Gericht verschoben wurde und die Verstorbenen zur Tilgung ihrer Sündenschuld im Fegefeuer büßen mußten. Neuartig an diesem Fegefeuer, dessen Geburt Jacques Le Goff so faszinierend beschrieben hat, ist weder der Gedanke der Buße der Sündenschuld noch die Vertagung des endgültigen Richterspruchs auf das Jüngste Gericht, sondern die zeitliche Begrenzung des Aufenthaltes im Fegefeuer: So heftig ein Mensch in seinem Leben gefehlt haben mochte, war das Ende der Fegefeuerqualen doch in eine kalkulierbare Nähe gerückt und der geläuterte Sünder durfte sicher sein, nach Absolvierung seiner Strafe ins Paradies zu gelangen, wohin der einzige Ausgang des Fegefeuers führt. Dem Tod war deshalb der Stachel genommen, weil er nicht mehr der Beginn einer beängstigenden Ewigkeit war, sondern nur noch der Übergang in eine andere, wegen ihrer zeitlichen Verfaßtheit aber recht menschenähnliche Existenzform. Die mittelalterlichen Bußpraktiken taten das ihrige dazu, mit dem Beginn der neuen Jenseitsformen zu versöhnen: Da die katholischen Theologen in Anlehnung an das System des mittelalterlichen Blutgeldes in den sog. Poenitentialen einen exakten Katalog der Strafen aufgestellt hatten, die man für bestimmte Missetaten zu erwarten hatte, war es nur folgerichtig, wenn die verhängte Strafe auch an Stellvertreter delegierbar war; möglich und bald üblich wurde auch die finanzielle Begleichung der Buße, in der man einen Vorläufer des späteren Indulgenzenhandels sehen kann. Schließlich bestanden auch noch für die Hinterbliebenen gewisse Möglichkeiten, das Strafmaß ihrer im Fegefeuer büßenden Verstorbenen zu mindern, indem sie gute Werke taten und den Armen Almosen gaben, indem sie Messen lesen ließen, wallfahrten, fasteten und beteten; all dies konnte zur Abkürzung des Bußaufenthaltes der Verstorbenen im Fegefeuer angerechnet werden und man geht nicht fehl in der Annahme, daß diese Profanisierung und Ökonomisierung des Jenseits vor dem Hintergrund des Handels und der Geldwirtschaft zu sehen ist, die seit dem 13. Jahrhundert immer größere Bedeutung erlangten (cf. Gurjewitsch, 1980: 314). Jacques Le Goff geht noch einen Schritt weiter, wenn er den neuartigen kirchlichen Umgang mit dem früher tabuisierten Geld, die Erfindung des Fegefeuers und den Beginn des Kapitalismus in einen direkten kausalen Zusammenhang stellt; dies scheint mir zwar nicht grundsätzlich falsch zu sein, impliziert in dieser monokausalen Form jedoch gefährliche Verkürzungen, weil wesentliche Faktoren, die an dem Weltbildwandel im Mittelalter ebenfalls nachhaltig beteiligt waren, ausgeblendet werden (cf. Bieler, 1961). Diesem Mangel kann erst eine integrale kultursemiotische Betrachtungsweise Abhilfe schaffen. Auch wenn das lateinische Mittelalter ein katholisches Zeitalter war, ist der Katholizismus trotz heftiger Bemühungen nicht die einzige christliche Konfession geblieben und gerade die Erfindung des “katholischen” Fegefeuers mit seinen nachfolgenden Entgleisungen, als die ich beispielsweise den Ablaßhandel betrachte, haben nicht wenig zur Reformationsbewegung beigetragen, obwohl man sich davor hüten sollte, die kirchlichen Entgleisungen zu den Entstehungsbedingungen der Reformtheologie zu stilisieren, weil man dann äußere Anlässe mit theologischen Inhalten verwechselt. Sehr viel fruchtbarer scheint mir der Weg, den Bernard Cottret beschreitet, der sich in seinem vorzüglichen Aufsatz “Pour une sémiotique de la réforme” (Cottret, 1984) um den Achim Eschbach 372 Nachweis bemüht, daß die Reformation zu einer grundlegenden “révolution du signe” geführt habe. Um die Ausmaße dieser Zeichenrevolution zu erfassen, muß man sich nur vor Augen führen, daß zu der protestantischen Neuerung u.a. die “épuration des édifices, rejet de l’adoration des espèces, répudiation du sacrifice de la messe, adoption des langues vernaculaires” ibid., 265) gehörten, die Pierre Chaunu um folgende semiotische Maximen ergänzt: “L’Europe protestante pose la valeur sacrale du non-geste. Pour le protestant français et le puritain, refus donc du signe de croix pour le quaker, refus de saluer même le Roi. On ne retire son chapeau que devant l’Éternel. Pour les anabaptistes, refus de portes les armes. Gestes en creux, gestuaire, donc, du non-geste” (Chaunu, 1981: 291). Ohne diese zweifelsohne spannende semiotische Fährte hier in extenso zu verfolgen, möchte ich erwähnen, daß Bernard Cottret anhand zweier Textpassagen aus dem Consensus Tigurinus und der Brève résolution von Jean Calvin den Nachweis führt, daß Calvin hier die Eucharistie als “une figure qu’on dit métonymie” (Cottret, 1984: 268) bezeichnet, was ich als eine Semiotisierung der katholischen Transsubstantiationslehre betrachte. Ich werde an späterer Stelle argumentieren, daß diese Semiotisierung bemerkenswerte Parallelen zu verwandten Semiotisierungen aufweist, bei denen es um die Einführung des Vermittlungskonzeptes geht. 4. Weltbildwandel Ludwig Wittgenstein eröffnete seinen Tractatus logico-philosophicus mit dem Satz: “Die Welt ist alles, was der Fall ist”, und diesen Einleitungssatz erläutert er: “Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)” (TLP, 2. und 2.01). Dieser gegenstandsrealistischen Position gegenüber ließe sich einwenden, daß die Menschen ihr Verhalten nicht an einer ‘objektiven’ Realität orientieren, sondern an der Meinung, dem Modell oder der Interpretation, die sie sich von den realen Gegebenheiten gebildet haben, was im übrigen von der modernen Wahrnehmungspsychologie umfassend bestätigt wird. Seitens der Sozialgeschichte wurde die komplizierte Verschränkung sozialer Strukturen und ihrem Begriff von sich selbst von Georges Duby mit seiner Feststellung anschaulich beschrieben, daß die Menschen ihr Verhalten nicht entsprechend den realen Gegebenheiten und Verhältnissen ausrichten, sondern nach dem Bild, das sie sich von diesen machen und das niemals eine getreue Widerspiegelung jener Verhältnisse darstellt. Vielmehr bemühen sich die Menschen, ihr Verhalten nach Verhaltensmustern auszurichten, die sich im Laufe der Geschichte den materiellen und realen Gegebenheiten mehr oder minder anpassen (cf. Duby, 1974: 148). Die Deutungen, die die Menschen an die Gegenstände ihrer Erfahrung herantragen, sind notwendigerweise individuelle Deutungen, die jedoch nichtsdestoweniger gesellschaftlich vermittelt sind, weshalb man von kollektiven Interpretationsmustern oder Deutungsschemata sprechen kann (cf. Geertz, 1973: 55ff.). Ein Ensemble von Interpretationsmustern oder Deutungsschemata vereinigt sich zu einem Weltbild, in dem “‘Wirklichkeit’ jeweils ‘gewußt’, angeeignet, gedeutet, reflektiert und verstanden wird und die besonderen Regeln ihrer Bauform und Funktionsweisen folgen. Die spezifische Leistung dieser imaginären Ordnungen besteht darin, daß sie die Wahrnehmung und Deutung unterschiedlicher Bereiche von Wirklichkeit vorstrukturieren, sie damit erfahrbar und verstehbar machen. Sie dienen, anders gesagt, der Orientierung im diffusen Feld der ‘Wirklichkeit’, d.h. der Wissensüberlieferung, der objektiven Gegebenheiten und materiellen Strukturen, sind aber ihrerseits Das Geld, die Zeichen und der Tod 373 ebenfalls an die historischen Möglichkeiten des Denkens gebunden” (Bachowski/ Röcke, 1995: 10). Eine sehr nützliche Umschreibung des Mentalitätsbegriffs, den ich für ein Synonym des Weltbildbegriffs halte, bietet Frantisek Graus in dem Einleitungsreferat des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Mentalitäten im Mittelalter: “Mentalität ist der gemeinsame Tonus längerfristiger Verhaltensformen und Meinungen von Individuen innerhalb von Gruppen. Sie sind nie einheitlich, oft widersprüchlich, bilden spezifische ‘verinnerlichte Muster’ (patterns). Mentalitäten äußern sich sowohl in spezifischer Ansprechbarkeit auf Impulse als auch in Reaktionsformen. Sie können nicht von Insidern formuliert, wohl aber getestet werden” (Graus, 1987: 17). Charles S. Peirce hat sich vor allem in seiner späteren Philosophie, nachdem er die Wende zum Pragmatizismus vollzogen hatte, intensiver mit der Frage nach dem Aufbau von Handlungsgewohnheiten (habits), der Festigung von Überzeugungen (beliefs) und dem Wandel von Handlungsgewohnheiten (habit change) auseinandergesetzt, um Einblick in die Regularitäten der Entwicklung und Veränderung derartiger Deutungsmuster zu erlangen. Peirce war im Zuge seiner relationslogischen Studien zu der Einsicht gelangt, daß er seine frühere Erkenntnistheorie in einem entscheidenden Punkt revidieren mußte: Hatte er in seinen frühen Schriften bei der Bestimmung der Bedeutung des Begriffs einer Sache noch in durchaus traditioneller Weise die Begriffsdefinition an die qualitative Essenz im Schema von Genus und Differenz geknüpft, bringt die Relationenlogik die Einsicht mit sich, daß die Bedeutung des Begriffs der Sache auch in den Relationen dieser Sache zu anderen Sachen bestehen kann. Die neue Peircesche Bedeutungstheorie, die Klaus Oehler (1993: 81) sehr zu Recht als ein Stück Logik der Forschung betrachtet, charakterisiert er folgendermaßen: “Durch eine Erweiterung des Begriffs des Wesens, der nun auch Gesetze umfaßt, und die Identifikation des Wesens einer Sache mit ihren Gewohnheiten (habits), gelingt Peirce der entscheidende Schritt in Richtung auf eine Theorie der Realität, die schließlich als die Theorie des Pragmatismus Gestalt annimmt” (ibid., 80) . Die erste Formulierung seiner Bedeutungstheorie legte Peirce in seinem programmatischen Aufsatz von 1878 “How to Make Our Ideas Clear” vor, in der die ursprüngliche Fassung der “Pragmatischen Maxime” erscheint: “Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bezüge haben können, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in Gedanken zukommen lassen. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes” (C.P., 5.402). Da die pragmatische Maxime Anlaß zu sehr unterschiedlichen Interpretationen geboten hat, von denen sich Peirce späterhin auch terminologisch absetzte, ist an dieser Stelle die Erläuterung erforderlich, daß die in der Maxime aufgestellte Behauptung, daß die Bedeutung der Begriff seiner Wirkungen sei, Bedeutung nicht auf den Begriff wahrnehmbarer Eigenschaften einschränkt, sondern das konzeptuelle Gefüge von Bedingungsverhältnissen gemeint ist, in denen Bedingungen von Wahrnehmungen und wahrgenommene Eigenschaften aufeinander bezogen werden (Oehler, 1993: 83). Dieser Bestimmungsschritt befreit den Bedeutungsbegriff aus seinem statischen Panzer und führt zu seiner Dynamisierung und Funktionalisierung. Klaus Oehler schreibt zu dieser entscheidenden Wende in dem Peirceschen Denken: “Wenn das, was die Naturgesetze fixieren, die Gewohnheiten der Dinge sind, muß unser Denken sich in eine Einstellung bringen, die es ihm möglich macht, immer mehr dieser Gewohnheiten zu erfassen und mit ihnen zum Zwecke des Überlebens angemessen umzugehen, daß heißt, sich ihnen anzupassen” (ibid.). Achim Eschbach 374 Unser Denken ist allerdings nicht nur darum bemüht, sich auf die Gewohnheiten der Dinge einzustellen, sondern in einer analogen Bewegung darauf gerichtet, Handlungsgewohnheiten auszubilden, und Klaus Oehler weist darauf hin, daß Peirce sogar behauptet, “daß die ganze Funktion des Denkens die ist, Gewohnheiten des Denkens zu erzeugen” (C.P., 5.400). Diese idiosynkratische Formulierung verliert ihre Fremdheit, wenn erklärt wird, daß Peirce unter ‘Gewohnheit’ ein Gesetz versteht, d.h. ein Bedingungsverhältnis, in dem die Prämissen und die nachfolgende Konsequenz in einer bestimmbaren Relation stehen. Diese Erläuterung des Peirceschen Gewohnheitsbegriffs ist aber nichts anderes als eine synonyme Formulierung seiner dritten Kategorie: “Category the Third is the Idea of that which is such as it is as being a Third or Medium between a Second and its First. That is to say, it is Representation äs an element of the Phenomenon” (C.P., 5.67). Die Anpassung unseres Denkens an die Gewohnheiten der Dinge und die Ausbildung von Handlungsgewohnheiten vollziehen sich also nach demselben kategorialen Prinzip der Zeicheninterpretation und Klaus Oehler betont, daß die menschliche Kreativität gerade darin bestünde, solche konditionalen Relationen nicht nur in ihrem puren Vorhandensein zu konstatieren, sondern zu erzeugen und für unser Handeln fruchtbar zu machen (Oehler, 1993: 83). Die pragmatistische Wende der Peirceschen Philosophie hat demnach dazu geführt, daß das Wesen der Dinge nicht mehr aus den qualitativen Eigenschaften abgeleitet, sondern mit deren Verhalten gleichgesetzt wird. Das Wesen eines Dinges ist die Summe seiner Gewohnheiten. Daraus ergibt sich die Forderung, daß wir die Gesetze ermitteln müssen, die das Verhalten, d.h. die Gewohnheiten der Dinge bestimmen. Charles Peirce hat sich bei der Ausarbeitung seiner Wissenschaftstheorie stark auf die doubt-belief-Theorie des schottischen Philosophen Alexander Bain gestützt, dessen Kernthese aus der Behauptung einer wesenhaften Beziehung zwischen Für-wahr-Halten (belief) und Handlung (action) besteht. Die Menschen sind nach Meinung von Bain und Peirce von Natur aus zum Glauben, zum Für-wahr-Halten disponiert, und sie sind erst dann dazu bereit, gewisse Überzeugungen in Zweifel zu ziehen, wenn sie auf so erhebliche Widerstände stoßen, daß sie ihre bisherigen Annahmen überprüfen müssen. Nicht die cartesianische Lust am Zweifeln ist der Motor der Bewegung, sondern die Behebung der entstandenen Verunsicherung bestehender Überzeugungen ist das Ziel. Es geht um die Etablierung einer neuen Überzeugung, die allerdings aufgrund der vorangegangenen Verunsicherung nur eine solche sein kann, die eine vertiefte, präzisere Kenntnis der Gewohnheiten der Dinge impliziert. Nach der Behebung des Zweifels wissen wir mehr über die Dinge, weil wir einen verbesserten Einblick in ihre gesetzmäßigen Beziehungen gewonnen haben. Diesen wesentlichen Punkt hat Peirce in seiner Abhandlung “The Fixation of Belief” mit großer Klarheit herausgearbeitet, weshalb ich den Kern der dort entwickelten These ausführlich wiedergeben möchte: “The Irritation of doubt is the only immediate motive for the struggle to attain belief. It is certainly best for us that our beliefs should be such as may truly guide our actions so as to satisfy our desires; and this reflection will make us reject every belief which does not seem to have been so formed as to insure this result. But it will only do so by creating a doubt in the place of that belief. With the doubt, therefore, the struggle begins, and with the cessation of doubt it ends. Hence, the sole object of inquiry is the settlement of opinion. We may fancy that this is not enough for us, and that we seek, not merely an opinion, but a true opinion. But put this fancy to the test, and it proves groundless; for as soon as a firm belief is reached we are entirely satisfied, whether the belief be true or false. And it is clear that nothing out of the sphere Das Geld, die Zeichen und der Tod 375 of our knowledge can be our object, for nothing which does not affect the mind can be the motive for mental effort. The most that can be maintained is, that we seek for a belief that we shall think to be true. But we think each one of our beliefs to be true, and, indeed, it is mere tautology to say so. That the settlement of opinion is the sole end of inquiry is a very important proposition. It sweeps away, at once, various vague and erroneous conceptions of proof” (C.P., 5.375). 5. Weltbildwandel im Mittelalter Zur Erläuterung und Überprüfung des bisher Gesagten, aber auch als Probe auf die analytische Verwendbarkeit möchte ich abschließend ein Fallbeispiel diskutieren. Daß ich dazu das ausgehende 13. Jahrhundert gewählt habe, mag durchaus durch Umberto Ecos Rosenroman motiviert sein, der wie kaum ein anderer mir bekannter Roman ein Lehrstück in angewandter Semiotik ist. Es besteht aber auch kein Zweifel daran, daß die in Frage stehende Epoche ein Zeitalter des Niedergangs und Umbruchs, des Zweifels und der Verzweiflung war. Ferdinand Seibt (1987) hat in seiner umfassenden Abhandlung Glanz und Elend des Mittelalters eine große und sehr nützliche Dokumentation dieses Zeitalters vorgelegt. Zu den wohl tiefgreifendsten Wandlungen kommt es in dem betreffenden Zeitraum in der Philosophie, der Mutter der Wissenschaften; van Steenberghen (1955 und 1966) sowie Kretzmann (1982) bieten einen umfassenden Überblick über das Ausmaß der Veränderungen in dieser leitenden Disziplin. Da die neue Semiotik aus der mittelalterlichen Philosophie erwachsen ist, verdienen diese Studien ganz besondere Aufmerksamkeit. Aber nicht nur in der Philosophie vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen; wir werden auch Zeugen heftiger kirchlicher und weltlicher Konflikte, wir beobachten die Kämpfe zwischen Ketzertum und Inquisition; die scholastische Orthodoxie begegnet dem ersten zaghaften Beginn der Naturwissenschaften, oder kurz gesagt: Das stabile, statische Weltbild des Mittelalters, dessen Sinnbild die Kathedrale war, erfährt eine grundlegende Erschütterung. Aaron Gurjewitsch schreibt dazu: “Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins. Die Idee der Entwicklung ist ihm (…) fremd. Die Welt verändert und entwickelt sich nicht. Die von Anbeginn vollendete Schöpfung Gottes verweilt in einem Zustand unveränderlichen Seins. Sie stellt eine stufenförmige Hierarchie, aber keinen dynamischen Prozeß dar” (Gurjewitsch, 1980: 204). Wenn die Statik des mittelalterlichen Weltbildes im 13. Jahrhundert ins Wanken geriet, so war davon in erster Linie der strenge Dualismus der mittelalterlichen Vorstellungen betroffen, der das Universum in polare Gegensatzpaare gliederte, die sich auf einer vertikalen Achse gegenüberstanden. Gott steht dem Teufel gegenüber, die Höhe, die Reinheit, der Edelmut der Tiefe, der Unreinheit, dem Bösen, der Geist der Materie, der Körper der Seele usw. Die Veränderung des mittelalterlichen Weltbildes muß sich in einer nachvollziehbaren Weise in den zentralen, weltbildkonstituierenden Kategorien niederschlagen, wenn sich die These von dramatischen Weltbildwandlungen nicht als Fiktion erweisen soll. Aaron Gurjewitsch hat in seiner profunden Studien über Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen den Nachweis geführt, daß nicht nur ein zentrales mittelalterliches Konzept ins Wanken geriet, sondern gleich mehrere: das Recht, die Arbeit, die Persönlichkeit, der Raum und die Zeit. Weil diese Konzepte nicht unvermittelt und äquivalent nebeneinander stehen, sondern sich in einem Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten befinden, erscheint es im vorliegenden Zusammenhang angebracht, dasjenige von ihnen herauszugreifen, das bei einer Neubestimmung weitestreichende Konsequenzen für das gesamte System mit sich Achim Eschbach 376 brächte. Diese zentrale Kategorie ist die Zeit, in der sich das christliche Paradoxon, die Antinomie von jenseitiger Ewigkeit und menschlicher Endlichkeit widerspiegelt. Der mittelalterliche Mensch hatte keine Macht über die Zeit, weil sie nicht ihm, sondern Gott gehörte; man könnte mit Jacques Le Goff geradezu davon sprechen, daß es keine einheitliche Vorstellung von der Zeit gab, sondern vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Zeiten: “Die Kirche und die christliche Ideologie überwand die Zersplitterung in unzählige Zeitmaße bei den lokalen und Familiengruppen und oktroyierte ihnen ihre Zeitauffassung, indem sie die irdische Zeit der himmlischen ‘Ewigkeit’ unterordnete” (Gurjewitsch, 1980: 171). Zur selben Zeit, nämlich gegen Ende des 13. Jahrhunderts, wurden die mechanischen Uhren erfunden und schon kurze Zeit später trugen viele Rathaustürme Europas diese neuen Uhren. Damit entglitt die Kontrolle der Zeit den Händen des Klerus und ging in die Hände der weltlichen Öffentlichkeit über, die damit zur Herrin über die Zeit mit ihrem besonderen Rhythmus wurde (cf. ibid., 175). Die technische Innovationsleistung bei der Erfindung der mechanischen Uhr ist allerdings nicht die Ursache für die Änderung der Kategorie der Zeit, sondern bestenfalls ein Indiz dafür, daß sich große Änderungen ereignet haben. In dieselbe Epoche fällt auch die Erfindung des Fegefeuers, dessen Geburt Jacques Le Goff exakt auf das Jahr 1274 datiert. Aber auch das Fegefeuer ist nicht der Grund für die Wandlung der Zeitkategorie, sondern viel eher eine Folge aus sich ändernden Zeitvorstellungen. Um in dieser Frage voranzukommen, müssen wir nach den tatsächlichen Ursachen forschen, die eine altbewährte Überzeugung derartig erschüttern konnte, daß es zu einem Weltbildwandel führte. Materialisten und andere Stoffdenker würden hier zu Recht auf die beträchtlichen materiellen, technologischen und soziokulturellen Veränderungen hinweisen, die sich in der in Frage stehenden Epoche in dramatischer Abfolge vollzogen haben, ohne damit aber je beantworten zu können, warum gerade zu diesem Zeitpunkt diese speziellen Neuerungen auftauchten. Will man nicht alles dem blinden Zufall überlassen und möchte man sich gleichfalls nicht einem nicht minder irrationalen Weltgeist ausliefern, bleibt als Alternative nur die Möglichkeit offen, dasjenige Prinzip zu benennen, das dazu in der Lage war, eine große, altehrwürdige Gewohnheit in Zweifel zu ziehen und auf den neubestimmten Fundamenten eine neue Ordnung, d.h. eine aktuell plausiblere Gewohnheit zu errichten. Ich möchte die These aufstellen, daß der von den modistischen Semiotikern formulierte Begriff der Vermittlung zu dem harmlosen Instrument wurde, das dazu in der Lage war, in letzter Konsequenz einen Weltbildwandel herbeizuführen. Das Vermittlungskonzept war insofern revolutionär, als es eine grundstürzende Unruhe in eine bisher festgefügte und unverrückbare Welt von Oppositionen brachte. Diese Unruhe rührte daher, daß plötzlich der Gedanke gefaßt werden konnte, wie es denn zu der bisherigen Ordnung kommen konnte und wie eine andere Ordnung, die bislang nicht für möglich gehalten wurde, denkbarerweise aussehen konnte. Das Vermittlungskonzept ist darüberhinaus ein zutiefst personales Konzept, ja, es setzt allererst die Entfaltung einer individuellen Persönlichkeit in Gang mit der Frage, wer es denn sei, der eine geistige oder körperliche Aktion mit dem Interesse ausführt, bestimmte Ziele zu erreichen. Das Vermittlungskonzept richtet sich demnach gegen eine Vorstellung, der zu Folge ein großes und ungegliedertes Weltganzes da ist, ohne daß eine Möglichkeit bestünde, eine Segmentierung oder Elementarisierung einzelner Akteure vorzunehmen. Das Vermittlungskonzept impliziert die Möglichkeit, Beziehungen zu durchschauen und kreativ neu zu gestalten, wo vorher nur der Vollzug festgeschriebener Funktio- Das Geld, die Zeichen und der Tod 377 nen möglich war. Über den Gedanken von der Einheit der mittelalterlichen Kategorien hatte Aaron Gurjewitsch gesagt: “Die Zeit wird in räumlichen Kategorien erkannt, der Raum aber wird gemessen durch die Zeit, die für die Überwindung einer Entfernung aufgewandt wurde (darin liegt nichts spezifisch Mittelalterliches). Doch die Zeit erweist sich auch als eine wesentliche Charakteristik des Rechts: Wahr ist jenes Recht, das auf die alte Zeit zurückgeht, das ‘seit alters her’ besteht. Das hohe Alter ist eine ebensolche organische Eigenschaft des Rechts wie die Gerechtigkeit und Güte. Auf das Zeitverständnis führt uns auch die Analyse der Lehre von der Sündhaftigkeit des Wuchers zurück: Die Zeit ist Gottes Schöpfung und Allgemeingut; und deshalb darf man mit ihr nicht spekulieren” (Gurjewitsch, 1980: 328). Entziehe ich der Kategorie der Zeit jedoch ihre Aura der Beziehungslosigkeit und Absolutheit und beziehe ich die Zeit auf das handelnde Individuum, dessen Lebens- und Arbeitszeit dann einen meßbaren Wert erhält, der auch ein Geldäquivalent besitzt, dann beginnt sich hinter der umstürzlerischen Wirkung des Vermittlungskonzeptes die neue Gewohnheit abzuzeichnen, in deren Zentrum als neue Herrscherin über die Zeit die Persönlichkeit steht, die die zukünftige Ordnung der Welt nach ihren Vorstellungen gestaltet. Daß diese neue Zeit sich bei der Geburt des Fegefeuers nur in ersten Schemen zeigte, brauchte kaum eigens betont zu werden, wenn nicht noch einmal verdeutlicht werden sollte, daß dieser eigenartige neue Ort erstmalig die Vermittlung, Vermenschlichung und damit Manipulierbarkeit von bislang Unvermitteltem bewerkstelligte. Wenn das Fegefeuer heute selbst bei den Katholiken viel an Attraktivität eingebüßt hat und theologisch keine bedeutende Funktion mehr besitzt und wenn man den Tod in unserer postmodernen Epoche in neuen Kategorien zu betrachten beginnt, so widerlegt dies nicht das zuvor Gesagte, sondern deutet vielmehr darauf hin, daß sich nach ca. siebenhundert Jahren ein weiterer Weltbildsturz ereignet hat. Literatur Bachorski, Hans-Jürgen und Röcke, Werner (eds.): Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1995. Bieler, André: “Calvin, das Geld und der Kapitalismus”. 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