Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2003
263-4
Einleitung - Tanz-Zeichen
121
2003
Ernest W. B. Hess-Lüttich
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Einleitung Tanz-Zeichen Vom Gedächtnis der Bewegung Ernest W. B. Hess-Lüttich I Im Sema dreht der Derwisch sich seit alters. Im Ritual liegt der Ursprung des Tanzes wie der Religion. Man zeigt dem Gotte (den Göttern) an, sich lösen zu wollen von irdischer Haftung und Begrenzung in der Hinwendung zum Höheren, Anderen, Ersehnten oder Unverstandenen. Manche Götter tanzen mit: Shiva und Vishnu sind hinduistische Urbilder des Tanzes. Krishna und Gopi vereint im ‘ewigen Tanz’. Baal Markod ist der phönizische ‘Herr des Tanzes’. Im Schlangentanz erflehen die Hopi Regen vom indianischen Himmel. Die Priester der westafrikanischen Yoruba suchen ihre Gottheit im eigenen Körper in der Trance des Tanzes. Im ekstatischen Tanz vereinen sich Tänzer und Gott. Der Maskentanz erweckt den Geist zum Leben und preist die tierische Gottheit. Der Attiskult im antiken Griechenland, der Artemiskult und der Dionysoskult vor allen, finden im Tanz ihren mythischen Ausdruck. In indischen Tempeln tanzen die Bajaderen. Altägypten pflegt den Kult des Tanzes ebenso wie Mesopotamien. Der sakrale Tanz ist im Judentum so fest verankert wie im Frühchristentum. König David selbst tanzt, berichtet das Alte Testament (2. Sam. 18, 6), hochgestimmt beim Einholen der Bundeslade. Tanz als Ausdruck religiöser Inspiration, als Zeichen magischer Initiation, als apotropäische Kraft, den Dämon zu bannen. Tanz um Buddhas Grab und den Toten zu Ehren. Totentänze in China, Indien und Ägypten, im Europa des Mittelalters. Grabtänze, Freudentänze, Kriegstänze, Jagdtänze, Hochzeits- und Fruchtbarkeitstänze. Tanz im geselligen Kreis und als Veitstanz des Besessenen. Tanz als höfische Kunst mit streng gezirkeltem Regelwerk, als Akademiefach französischer Aristokraten und als robuste Lustbarkeit des fränkischen Volkes im Sonntagsreigen. Der gestische Glanz des javanischen Tanzes und das Rätselwerk des japanischen Kabuki. Tanz ist, so scheint es, über die Zeiten und Welten hinweg, eine kulturanthroplogische Konstante menschlicher Existenz. Selbst die christliche Kirche vermochte den Tanz nicht zu töten. Sie ächtete ihn als heidnische Verirrung, verbannte ihn aus Liturgie und Gemeinde - geholfen hat’s nichts, der Mensch will tanzen dürfen. Das Tanzverbot der Taliban reiht sich ein die Geschichte der vergeblichen Versuche, den Menschen seines Tanzes zu berauben. Der Versuch muß scheitern, denn er ist, scheint’s, wider die Natur. Natur? Tanz als Kulturleistung der Völker hat eine faszinierende Geschichte. Sie aufzuschreiben und nachzuzeichnen, sie zu ergründen und zu erklären ist Aufgabe der Tanz- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 156 wissenschaft. Eine junge Disziplin, merkwürdigerweise, denn ihr Gegenstand ist so alt wie die Menschheit. Im deutschsprachigen Gebiet ist sie - im Unterschied zum angelsächsischen und frankophonen Raum - an den Universitäten noch klein und exklusiv, hier und da ein neuer Lehrstuhl, in Berlin flugs mit dem Leibniz-Preis gekrönt, in Dresden und Köln, in Hamburg und Leipzig, Wien und Salzburg, selbst in Bern neue Studiengänge im Aufbau, fast überall als erstmalig und einzigartig annonciert. Die Experten wirken in unterschiedlichem Umfeld. Meist sind sie der Musikwissenschaft zugeordnet, aber auch der Theater-, Kultur- oder Sportwissenschaft. Ihr Aufgabenfeld ist weit gesteckt. Sie entdecken den Tanz, soweit er von Gruppen getragen wird und überdauernde Merkmale aufweist, als kulturelles Phänomen in jeder seiner Erscheinungsformen. Sie fragen nach seinen Wurzeln, seiner Entwicklung, seiner Vielfalt in Kultur und Geschichte, seinen Formen und Funktionen. Umso erstaunlicher erscheint bislang die Zurückhaltung, Tanz als Text empirisch zu erforschen; als System von Zeichen und Regeln und damit als Gegenstand semiotischer Analyse wurde er noch kaum entdeckt. Zwar haben schon Algirdas Julien Greimas und Joseph Courtés Tanz als “gestischen Text” definiert wie auch Pantomime, Ballett, Zeremonie. Aber meist beschränkte sich die semiotische Neugier auf den Teilaspekt der Gesten (z.B. die Handgesten im klassischen indischen Tanz, die Ikegami schon 1971 beschrieben hat), ganz selten auf das Ballett (Ausnahme: Shapiro 1981). Selbst die modernen Handbücher der Semiotik (wie die von Bouissac 1998 oder Nöth 2000) verzeichnen keinen gesonderten Eintrag dazu. Im neuesten und umfassendsten aller semiotischen Standardwerke, dem vierbändigen Handbuch zur Semiotik in der gewichtigen Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft des Verlages de Gruyter (Posner et al. eds. 1998 -2004) kommt der Tanz nur ganz versteckt zur Sprache, im Zusammenhang mit Tanz-Kulten (wie den Speer-, Reis-, Weber-, Schirmtänzen auf Bali) im südostasiatischen (besonders indonesischen, philippinischen) Raum (Huber 1998: 1917ff.). Dabei gab es schon früh das kunst- und zeichentheoretische Bemühen um den Tanz, dessen flüchtige Bewegung es in Zeichen und Regeln festzuhalten galt, um ihn studieren und vermitteln zu können. Seit sich im Europa des späten 13. Jahrhunderts eine ständische Tanzkultur entfaltete, gab es alsbald differenzierte Aufzeichnungen und gattungstypologische Überlegungen dazu. Die frühen Tanzdrucke und Lautenbücher im 14. Jahrhundert belegen eine paarweise Verknüpfung von gerad- und ungeradtaktigem Tanz, die sich im höfischen Gesellschaftstanz des 15. und 16. Jahrhunderts zum geordneten Wechsel von Schreit- und Springtanz ausdifferenziert, aus dem sich dann die Suite entwickelt (cf. Kaminski, in diesem Band). Vor allem in Italien und Frankreich legen Tanztheoretiker wie Domenico da Piacenza und Guglielmo Ebreo, später Caroso, Negri und Arbeau den Grundstein für eine akademische Reflexion der Tanz-Kunst. Nach ihrer Heirat mit Heinrich II. bringt Katharina von Medici 1533 ihre Tanz-Experten aus Italien mit, Baldassare di Belgiojoso wird Tanzmeister und choreographiert 1581 das berühmte “Ballet comique de la reine”, das den Tanz endgültig zum Zeichen höfischer Pracht und Macht erhebt. 1661 gründet Ludwig XIV. die Académie royale de danse, und das nun professionell geschulte Ballet de cour wird zum Vorbild für die detailgenaue Planung von Festen an europäischen Fürstenhöfen. Der Tanzmeister des Königs, Pierre Beauchamps, codifiziert die fünf Positionen der Füße, die das klassische Ballett bis heute bestimmen. In seinem 1700 publizierten Hauptwerk Choréographie ou L’Art d’écrire la danse faßt Raoul Auger Feuillet die Bemühungen um die Entwicklung einer verbindlichen Tanzschrift seit Beauchamps zusammen und gibt darin mittels Zeichen den zurückgelegten Weg der Tänzer wieder mitsamt ihren entsprechenden Arm- und Fußbewegungen. Tanz-Zeichen 157 Mit dieser berühmten Tanzschrift setzen sich für die Semiotik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts bedeutsame Philosophen wie Wolff, Lambert und Condillac auseinander in der Entwicklung ihrer zeichentheoretischen Überlegungen. Gerold Ungeheuer hat diese wichtige Diskussion sorgfältig nachgezeichnet in seiner Pionier-Studie “Der Tanzmeister bei den Philosophen”, die in dieser Zeitschrift erstmals 1980 erschien (K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 2.4: 353 -376) und die wir hier zum Auftakt eines Themenheftes über aktuelle Ansätze tanz-theoretischer Reflexion und tanz-semiotischer Analyse und zum Gedenken an den kurz nach Erscheinen des Aufsatzes verstorbenen Autor noch einmal abdrucken. Heute hat sich die Choreologie zu einer eigenen Disziplin, Kunstfertigkeit und beruflichen Aufgabe entwickelt, um Bewegung semiotisch zu fixieren. Seit der österreichische Choreograph Rudolf Laban 1929 eine komplizierte Tanzschrift entwickelte, die als Kinetographie z.T. noch heute in Gebrauch ist (und übrigens auch im medizinischen Bereich verwandt wird) und in der Semiotik des Tanzes auch unter der Bezeichnung Labonotation beschrieben wird (cf. Calbris 1990), haben die Bemühungen um die Codierung der Bewegung enorme Fortschritte gemacht. Rudolf Benesh setzte 1955 mit seiner Benesh Movement Notation den Standard. Das Zeichensystem ist flexibel genug, mit der Ballett-Entwicklung Schritt zu halten. An dem der Londoner Royal Academy of Dance angeschlossenen Institute of Choreology kann man sich darin professionell ausbilden lassen. Die Benesh-Notation mit ihren fünf Linien ist der Musik-Partitur vergleichbar. Des Tänzers Körper wird darin in fünf Regionen unterteilt mit der Taille auf der Mittellinie, immer von der Bühnenrückwand aus gesehen. Der Code enthält Zeichen für Hand- und Fußpositionen, Linien für die Bewegungen, die Ausgangspunkt und Ziel der Positionen anzeigen, und eine die Bewegung segmentierende Takteinteilung, die der Musik-Partitur korrespondiert. Auf diese Weise lassen sich Parallelbewegungen einer beliebigen Zahl von Tänzern in einer einzigen Notation abbilden. Nur die Veränderungen von Positionen werden registriert. Das macht die Benesh-Notation bei den heutigen ‘Tanzmeistern’ so beliebt, weil sie - im Zusammenspiel mit Video-Aufzeichnungen einer Choreographie - die zugrundeliegende Idee einer jeden eigenständigen Tanzfigur fixiert und damit vermittelbar, diskutierbar, re- Ernest W.B. Hess-Lüttich 158 konstruierbar macht. “Die Benesh-Notation ist sehr präzise, quasi mathematisch akkurat und besitzt eine wichtige Kontrollfunktion”, sagt der Argentinier Eduardo Bertini, einer der vier Ballettmeister beim Hamburg Ballett, dessen neueste Choreographie Tod in Venedig 2004 (s. Hess-Lüttich, in diesem Band) ebenfalls in einer solchen Notation choreologisch aufgezeichnet wurde - als “Gedächtnis der Bewegung” … 1 II Der bahnbrechende Erfolg seiner ‘Versgesetzgebung’ erhob das 1624 erschienene Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz in den Rang eines Gründungsdokuments. Damit konnte der ältere Rivale Georg Rodolf Weckherlin die Hoffnung auf die Anerkennung als der “erste vnserer besseren Poesy erfinder” begraben. Aber warum macht plötzlich, im Jahre 1624, das neue Paradigma alternierend-akzentuierender Verse Schule? Warum kann sich dagegen der europäisch (besonders an der Romania) orientierte poetische Aufbruch im Zeichen frei betonender silbenzählender Verse in Deutschland nicht dauerhaft durchsetzen? Solchen Fragen unter anderen stellt sich N ICOLA K AMINSKI (Tübingen) in ihrem Beitrag über die Versfußbewegung vor und nach der Schlacht am Weißen Berg unter dem Obertitel “Er tanzte nur einen Winter”. Ihr Interesse gilt dabei auch dem im selben Jahr kurz vorher erschienenen und von Julius Wilhelm Zincgref redigierten Werk Teutsche Poemata. Es ist entstehungsgeschichtlich verankert im politischen und ästhetischen Kontext der Heidelberger Bewegung um Friedrich V. bis unmittelbar vor der entscheidenden Niederlage der pfälzisch-böhmischen Reichsutopie in der Schlacht am Weißen Berg. In dieser von Opitz gleich nach ihrem Erscheinen aufs schärfste verdammten Ausgabe findet sich eine Ode “An den Cupidinem”, die in leicht überarbeiteter Gestalt auch in die im Folgejahr veröffentlichten, autorisierten Deutschen Poemata aufgenommen wird und den Leser janusköpfig einem seltsamen metrischen Vexiereffekt aussetzt: aus der geläufigen Retrospektive vom Buch von der Deutschen Poeterey aus scheint der Text selbstverständlich alternierend-akzentuierend zu lesen; folgt man hingegen dem Zusatz der Erstfassung “Auff die Courante: Si c’est pour mon pucelage”, so bewegt sich derselbe Text in ganz anderen, dem Modell eines im 3 / 2 -Takt notierten schnellen Springtanzes verpflichteten daktylischen Bahnen - eine Lektüre, die unter den für die Teutschen Poemata noch geltenden Bedingungen eines in romanischer Manier bloß silbenzählenden Verses ohne weiteres möglich ist. Ausgehend von diesem den metrischen Umbruch archivierenden Vexiergedicht, entziffert K AMINSKI in einer den ästhetischen und politisch-militärischen Diskurs engführenden Lektüre die diskursiven Regeln der Abfolge zweier konkurrierender poetologischer Paradigmen und die je unterschiedliche Codierung der Versfußbewegung: einerseits Weckherlins 1616 in der Festbeschreibung Triumf entworfene und den tanzenden Fürsten in einem ‘internationalen’ Ballett förmlich auf den Leib geschriebene poetics of alliance, andererseits Opitz’ Formierung der deutschen Wörter zu einer in alternierendem Gleichschritt marschierenden, uniformen ‘Besatzungstruppe’, die im Zeichen des gegenwärtigen Krieges die realpolitische Heteronomie- und Verwüstungserfahrung in der germanisch-akzentuierenden ‘Besetzung’ ausländischer poetischer Felder ästhetisch umkehrt. Die diskursive Zäsur aber, an der metrikgeschichtlich der martialisch codierte Marsch die höfische Courante ablöst, markiert das in der Schlacht am Weißen Berg sich manifestierende Scheitern der pfälzischen politics of alliance: nicht zuletzt symbolische Vernichtung der an den neuen König von Tanz-Zeichen 159 Böhmen geknüpften politischen Hoffnungen, der daraus seinerseits als Symbol vergangener Zukunft hervorgeht, eben als bloßer ‘Winterkönig’. Weniger aus historisch-philologischer als aus mediengeschichtlicher Perspektive behandelt demgegenüber M ATHIAS S POHR (Zürich) Jean Georges Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets von 1760. Für ihn ist der Unterschied zwischen Theoretiker und Praktiker ein gesellschaftlicher: ein Herr beobachtet kommentierend seinen Diener. In der Hinwendung zur Praxis, wie sie seit dem 18. Jahrhundert zelebriert wird, sieht er dabei das durchaus Zwiespältige einer Hochschätzung, die sich gleichwohl vom hoch Geschätzten unterscheiden will - wie sich auch heute der Mensch von seinen Texten, Bildern und Maschinen zu unterscheiden glaube. Dieser Gestus sei charakteristisch für Noverres Lettres sur la danse et sur les ballets. Anhand dieser Schrift will Spohr drei Paradoxien beobachten, die für das 19. Jahrhundert mit seiner Aufwertung einer konsensunabhängigen Kausalität bestimmend werden: (i) Aufzeichnungen werden zugleich verdrängt und vorausgesetzt, indem man nur das Lesen gelten lässt; (ii) durch weitere Teilung, so will man glauben, könne ein Isoliertes zu einem Zusammenhängenden werden; (iii) Bewirken und Bitten seien synonym. In einem zweiten (englischen) Beitrag untersucht M ATHIAS S POHR den Walzer als “technisches Medium”. In dem Tanz mit seiner ungeheuren Popularität seit dem Ende des 18.Jahrhunderts sieht Spohr ein Zeichen für die Ablösung Europas von der Ständegesellschaft, in der noch die ursprüngliche Verschiedenheit der Menschen und nicht ihre ursprüngliche Gleichheit propagiert wurde. Er sei ein Symbol für all jene ‘neuen’ Gemeinsamkeiten, die auf Gleichstellung der Teilnehmer beruhten, wie das biologische Geschlecht, die nationale Zugehörigkeit oder Sportarten und Spielregeln. In diesem Sinne sei er ein ‘technisches Medium’. Weil der Walzer austauschbar mache, werde bei ihm, wie bei allen ‘Identitäten’, im Gegenzug das Verbindende betont - nicht weil er über das Physische hinaus verbinde, sondern als rhetorische Strategie, um die Austauschbarkeit der Partner zu rechtfertigen. Die Aufdeckung dieser Strategie entzaubere die ‘Identitäten’. Den Schritt zum ‘Neuen Tanz’ unternimmt G USTAV F RANK (Nottingham) unter dem Titel “Assoziationen/ Dissoziationen” in seinen Beobachtungen “Zur Triangulation des Tanzes durch die ‘stummen Künste’ (Hofmannsthal) und den ‘sichtbaren Menschen’ (Balázs)”. Die aus der Analyse vor allem von Hofmannsthals einschlägig berühmten Mitterwurzer-Essay abgeleiteten Überlegungen zu der ihnen innewohnenden Semiotik und Poetik des Tanzes seit den 1890er Jahren verfolgt er in medienübergreifender Perspektive weiter im Blick auf kontemporäre Entwicklungen im zeitgenössischen Film und dessen Theorie unter dem Aspekt des Interesses an einer “Semiotik des Schweigens” (cf. Hess-Lüttich 1978). Am Beispiel eines Textes von Gertrude Stein, Orta or one dancing, geht G REGOR G UMPERT (Berlin/ Bayreuth) in seinem Beitrag “‘In dancing she was dancing’. Freier Tanz und Literatur im Zeichen der Einfachheit” der Frage nach: Kann Literatur zum Tanz hin konvergieren, und wenn ja: Was sind die Kennzeichen des Konvergenzprozesses? Dabei zeigt sich, daß in der Tat eine Anverwandlung von Verfahrensweisen der einen Kunst durch die andere möglich ist und daß diese sich in der Reduktion des Sprach- und Bewegungsmaterials vollzieht. Dabei verfolgen beide Künste, im Sinne eines Diktums Adornos, “ihr immanentes Prinzip”; eben darin aber konvergieren sie. H ANS K RAH (Passau) richtet in seinen “Tanz-Einstellungen” seinen “Blick auf die Geschichte des Tanzes im Film” und bereitet damit umfassend den Boden für die Einzelstudien zu den “Formen und Funktionen des Tanzes in den Filmen Federico Fellinis”, die K AI K IRCHMANN (Erlangen) unter dem Titel “Lauter schlechte Kopien …” beisteuert. Ernest W.B. Hess-Lüttich 160 Nach seinen Studien zu Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig und Luchino Viscontis Film Morte a Venezia (in Hess-Lüttich 2000) widmet sich E RNEST W.B. H ESS - L ÜTTICH (Bern) in zwei getrennten, aber eng aufeinander bezogenen Aufsätzen noch einmal demselben Stoff in zwei weiteren medialen Varianten: Oper und Ballett. In seinem englischen Beitrag über Benjamin Brittens Oper Death in Venice widmet er besonderes Augenmerk dem Verhältnis von Musik und Tanz zum Ausdruck des Verhältnisses der Protagonisten Aschenbach und Tadzio. Bezogen auf die Novelle ist dieses Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Epheben in zahllosen Studien herausgearbeitet worden. Für die gelungene Rezeption des Stoffes in anderen Medien spielt es jedoch ebenfalls eine zentrale Rolle und kann zugleich als Beispiel dienen für die Analyse des Verhältnisses von Literatur und anderen Medien wie in diesem Falle Film, Oper und Ballett. Dabei gilt freilich das Interesse weniger inhaltlich dem Thema der Ephebophilie als vielmehr dem seiner je medienspezifischen Behandlung, auch unter dem Aspekt der Fortentwicklung des begrifflich-methodischen Instrumentariums zur Analyse von in verschiedenen Medien (oder multimedial) codierten Texten. Dabei wird zum einen geprüft, inwieweit die Semiotik als methodisches Scharnier gelten (oder fruchtbar gemacht werden) kann, um das sich verschiedene Ansätze zur Analyse von intermedialen Transferprozessen drehen könnten. Zum anderen wird den medienspezifischen Veränderungen genaueres Augenmerk gewidmet, denen Texte beim Übergang von einem Medium ins andere unterliegen. Die sich dabei ergebenden Problemstellungen werden im Hinblick auf vier Aspekte genauer profiliert: die Sprache der Musik (syntaktische Bedeutung), die Sprache des Blicks (Mann und Knabe), die Sprache des Tanzes (Apoll und Dionysos), die Sprache des Übergangs (intermediale Übersetzung). Im Zentrum steht dabei der Tanz als wortlose Kommunikation und Zeichen metaphysischer Allusion. Während der Vorbereitungen zu diesem Heft entstand gleichzeitig in Hamburg eine neue Adaptation des Stoffes: John Neumeiers Choreographie Tod in Venedig. Deshalb erschien es reizvoll, die Analyse dieses Balletts vor dem Hintergrund seiner kritischen Aufnahme in den Feuilletons der deutschen Presse hier noch mit einzubeziehen. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH resumiert zunächst die wichtigsten öffentlichen Bewertungen der Premiere, die überwiegend negativ ausfielen, und konfrontiert deren Begründungen mit einer nach Szenen gegliederten Aufführungsanalyse unter dem intermedialen Aspekt der intertextuellen Bezugskette. Dadurch gelangt er zu ganz anderen Schlüssen als die professionellen Kritiker im Kultur- Journalismus. Geht man von der Definition aus, Semiose sei ein dynamischer Prozess, dann ist diesem Prozess stets schon Bewegung eingeschrieben. C HRISTINA T HURNER (Basel) betrachtet sie jedoch in ihrem Beitrag über “Bewegte Semiose im zeitgenössischen Tanz” unter dem Obertitel “In die Luft geschrieben” unter einem doppelten Aspekt. Einerseits meint sie (beim Tanz) konkrete Bewegung eines oder mehrerer Körper auf der Bühne. Andererseits beruft sich die Autorin aber auch auf die Bewegung des zeichenhaften Verweisens. Diese beiden Bewegungen fallen nämlich in einigen neueren, sogenannten zeitgenössischen Tanzstücken in signifikanter Weise zusammen. In diesen Stücken reflektiert der Tanz auf der Bühne seine eigene physische und imaginäre Zeichenproduktion. Thurner diskutiert Beispiele solcher Reflexionen, insbesondere die Performance Soft Wear von Meg Stuart aus dem Jahre 2000 sowie die Stücke Braindance (1999) und The Moebius Strip (2001) von Gilles Jobin. Sowohl anhand der semantisch vervielfältigten Körper in Stuarts Soft Wear als auch am Beispiel der ostentativen Körperversuche in Jobins Braindance und der physisch medialen Endlosverweise in The Moebius Strip wird dargelegt, wie differenziert und vielgestaltig der Tanz als nonverbale, flüchtige Kunstform den Prozess seiner eigenen Semiose reflektiert und Tanz-Zeichen 161 präsentiert. Mittels seiner charakteristischen Merkmale und Möglichkeiten bringt er Paradigmen hervor, die im Fokus der Theorie stehen. Der zeitgenössische Tanz emanzipiert sich dadurch von dem Klischee der poetischen, überkulturell verständlichen, weil nur gefühlsmässig zu erfassenden Körperkunst und profiliert sich als eine künstlerische Ausdrucksform, die bisweilen sogar metazeichenhafte Züge annimmt. Ausgangspunkt des Beitrags von D AGMAR S CHMAUKS (Berlin) über “Tanz, Geschlecht, Identität” ist eine kleine Tanzszene, in der eine Frau eine Spieldosen-Ballerina imitiert. Aus semiotischer Sicht bestehen solche ‘Verwandlungen’ darin, dass der Sender die Aufmachungs- und Verhaltenskodes des ‘Zielobjekts’ übernimmt. In ähnlichen Fällen spielt ein Schauspieler eine andere Person, die auch das jeweils andere Geschlecht haben kann. Aus Sicht des Betrachters sind solche Aufführungen nur dann glaubwürdig, wenn außer den statischen Zeichensystemen (Kleidung, Make-Up, Haartracht usw.) auch die dynamischen (Stimme, Mimik, Gestik usw.) in gleichgerichteter Weise manipuliert werden. Im Zentrum der Analyse stehen die Unterschiede zwischen Akteur und Rolle, zwischen dem Lebendigen und dem Unbelebten sowie zwischen den Geschlechtern. In allen skizzierten Fällen geht es darum, den semiotischen Unterschied bewußt offenzuhalten, also erkennbar jemand zu sein, der erkennbar etwas anderes darstellt. Denn sobald dieser Unterschied nicht mehr auszumachen ist, liegt der völlig anders geartete Fall der absichtlichen Täuschung vor. Videotanz bezeichnet eine junge intermediale Kunstform, bei der sich Tanz und Film respektive Video vermischen - Choreographien für die Kamera, die auf einer Theaterbühne nicht möglich wären. Vaterfigur des Videotanzes ist der Protagonist des postmodernen Tanzes Merce Cunningham. Derart in den USA entstanden, verbreitete sich die Kunstform parallel zu einem wachsenden Interesse am zeitgenössischen Tanz und Tanztheater und einer zunehmenden Mediatisierung der zeitgenössischen Tanzbühnen von Frankreich aus in den achtziger Jahren auch in Europa. Videotanz basiert auf historischen Vorläufern in der Filmgeschichte, die Konzepte heute zeigen ein breites Spektrum. In ihrem Aufsatz “Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform” umreißt C LAU - DIA R OSINY (Bern) die Filmgeschichte in Bezug auf den Videotanz und formuliert Thesen zum Panorama der intermedialen Kunstform. Abschließend beschreibt sie exemplarisch das Zusammenspiel der Zeichen auf der Bild- und Tonebene anhand eines kurzen Werks - Monoloog - der belgischen Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker, die sich bereits Ende der achtziger Jahre für das filmische Medium interessierte und heute als eine der wichtigsten Protagonistinnen des europäischen Tanztheaters gilt. Anmerkung 1 So der Titel eines Beitrags von Christian Kipper (2004) über die Choreologin Susanne Menck, die auch Neumeiers Choreographie Tod in Venedig aufgezeichnet hat. Diesem Beitrag ist auch die Abbildung entnommen. - Der folgende Überblick basiert auf den Zusammenfassungen der Autoren ihrer Beiträge zu diesem Themenheft, soweit sie dem Herausgeber solche zur Verfügung gestellt haben. Aus Gründen der Einheitlichkeit wurden sie in den Text des Vorwortes eingearbeitet und dafür stilistisch behutsam angepaßt. Literatur Bouissac, Paul (ed.) 1998: Encyclopedia of Semiotics, Oxford: Oxford University Press Calbris, Geneviève 1990: The Semiotics of French Gestures, Bloomington: Indiana University Press Ernest W.B. Hess-Lüttich 162 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1978: “Dramaturgie des Schweigens. Zur Semiologie des Sprachversagens im Drama”, in: Folia Linguistica XII.1/ 2: 31- 64 Hess-Lüttich, Ernest W.B. & Roland Posner (eds.) 1990: Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2000: Literary Theory and Media Practice. Six Essays on Semiotics, Aesthetics, and Technology, New York: C UNY Huber, Kurt 1998: “Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen”, in: Posner et al. (eds.) 1997-2004, vol. 2 (1998): 1910 -1927 [zum Tanz: 1917-1921] Ikegami, Yoshihiko 1971: “A stratificational analysis of hand gestures in Indian classical dancing”, in: Semiotica 4: 365 -391 Kipper, Christian 2003: “Das Gedächtnis der Bewegung”, in: Magazin Festspielhaus Baden-Baden 2/ 2004: 66 -70 Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/ Weimar: Metzler Posner, Roland et al. (eds.) 1997-2004: Semiotik/ Semiotics, vol. 1- 4, Berlin/ New York: de Gruyter Shapiro, Marianne 1981: “Preliminaries to a semiotics of ballet”, in: Steiner (ed.) 1981: 216 -227 Steiner, Wendy (ed.) 1981: The Sign in Music and Literature, Austin: University of Texas Press Ungeheuer, Gerold 1990: “Der Tanzmeister bei den Philosophen: Miszellen aus der Semiotik des 18. Jahrhunderts [1980]”, in: id. 1990: 244 -280 Ungeheuer, Gerold 1990: Kommunikationstheoretische Schriften II: Symbolische Erkenntnis und Kommunikation (= A SSK 15), ed. H. Walter Schmitz, Aachen: Alano Rader
