eJournals Kodikas/Code 26/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4

Der Tanzmeister bei den Philosophen Miszellen aus der Semiotik des 18. Jahrhunderts

121
2003
Georg Ungeheuer
kod263-40163
Der Tanzmeister bei den Philosophen Miszellen aus der Semiotik des 18. Jahrhunderts Gerold Ungeheuer (†) Im 33. Kapitel “Des beaux arts” seines Geschichtswerkes “Siècle de Louis XIV” (1751, endgültige Fassung 1766) schreibt Voltaire: “Les connaissances qui appartiennent à la musique et aux arts qui en dépendent, ont fait tant de progrès que sur la fin du règne de Louis XIV on a inventé l’art de noter la danse; de sorte qu’aujourd’hui il est vrai de dire qu’on danse à livre ouvert.” Die Nachricht bezieht sich auf Feuillet, der im Jahre 1700 ein Buch über die von ihm systematisch ausgearbeitete “Tanzschrift” veröffentlichte. Mindestens drei Philosophen des 18. Jahrhunderts, nämlich Wolff, Condillac und Lambert, haben das Feuilletsche Notationssystem in semiotischen Gedankengängen beispielhaft erwähnt. Wenn der Name Feuillet auftaucht, werden die Leser der Philosophen kaum wissen, was es damit auf sich hat, und andererseits wird den wenigen Lesern von Feuillet kaum bekannt sein, daß der Ballettmeister zwar geringer philosophischer, aber doch immerhin der Aufmerksamkeit der Philosophen gewürdigt worden ist. Für besondere Zwecke des höfischen Lebens hat Feuillet ein erstaunlich reichhaltiges und abgeschlossenes Zeichensystem entwickelt. Es erscheint mir reizvoll darzustellen, mit welchen Überlegungen verbunden die Philosophen auf das Feuilletsche System eingegangen sind und für welche Teile ihrer Semiotik das Beispiel der “Tanzschrift” vorgetragen wurde. 1. Feuillet Raoul Auger Feuillet, “Maître de Dance de Paris”, veröffentlicht im Jahre 1700 ein Buch von etwas mehr als hundert Seiten mit dem Titel: “Chorégraphie ou l’art de décrire la dance, par caractères, figures et signes démonstratifs, avec lesquels on apprend facilement de soy-même toutes sortes de dances. Ouvrage tres-utile aux Maîtres à Dancer & à toutes les personnes qui s’appliquent à la dance.” Nach seinem System komponiert und notiert läßt er in demselben Jahr einen “Recueil de Dances” folgen, zusammen mit einer anderen Sammlung von Tänzen, die zwar Feuillet notiert hat die aber von Pecour komponiert wurden; diesem Pecour, “Pensionnaire des Menus Plaisirs du Roy, et Compositeur des Ballets de l’Academie Royale de Musique de Paris”, ist auch die Chorégraphie gewidmet. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gerold Ungeheuer 164 Feuillet war Schüler des berühmten Charles Louis Beauchamps, Ballettmeister, Oberintendant des Hofballetts Ludwigs XIV., seit Eröffnung der Académie Royale de Danse im Jahre 1661 zusammen mit dem Komponisten Lully Direktor dieses Instituts. 1666 wurde ihm als erstem vom König der Titel “Maître de Dance” verliehen; Beauchamps war es, der eine Ordnung und Systematik der Bewegungselemente des Tanzes entwickelte, auf denen Feuillet aufbauen konnte. Im Vorwort berichtet Feuillet von einem ähnlichen älteren Werk, das er im Dictionnaire Historique von Furetière erwähnt gefunden hatte, von dem er aber kein Exemplar mehr auftreiben konnte. Er zitiert: “II y a un Traité curieux, fait par Thoinet Arbeau, imprimé à Langres en 1588. qu’il a intitulé ORCHESOGRAPHIE; c’est le premier ou peut-être le seul qui a notté & figuré les Pas de la Dance de son temps de la même maniere qu’on notte le Chant & les Airs.” Darauf hinzuweisen war Feuillet dadurch veranlaßt, daß einige behauptet hatten, die Idee einer Tanzschrift sei aus Holland gekommen. In seinem Buch kommt Feuillet ohne Umschweife zur Sache; der Aufbau des Zeichensystems vollzieht sich, klar und deutlich beschrieben, von den elementaren Positionen des Tanzes bis zu den komplizierten Gebilden der Tänze selbst. Unter den Elementarzeichen, die materiale Grundeinheiten betreffen, finden sich solche für die Position des Tänzers auf der Tanzfläche, für “le Pas” “le Plié”, “l’Elevé”, “la Cabriolle”, “le Glissé” und “le Tourné”. Für die höheren, sozusagen funktionalen Einheiten (die hier getroffene Unterscheidung ist freilich von Feuillet nicht thematisch ausgeführt) sind die Zeichen schon recht differenziert; neben den fortlaufenden Zeichenerläuterungen im Text findet man dafür allein 40 Seiten (S. 47ff.) Tabellenwerk. Da Feuillet in seinem Zeichensystem die Lage der Tanzfläche wie auch die Körperorientierung des Tänzers voraussetzt, ist diese Tanznotierung bei den Notenschriften der Musik eher einer Tabulatur als einer modern aufgezeichneten Komposition zu vergleichen. Auf S. 33 schreibt er beispielsweise unter dem Titel “De la maniere que l’on doit tenir le Livre pour déchiffrer les Dances qui sont écrites”: “II faut sçavoir que chaque fueillet sur lequel la Dance est écrite represente la Salle où on dance, dont les quatre côtez du fueillet en representent les quatre côtez …” Die fünf folgenden Abbildungen mögen einen Eindruck geben von der graphischen Attraktion, die das Werk von Feuillet ausübt. Abb. l ist ein Beispiel für den Text, in dem die einfachsten Zeichen eingeführt werden. Die Abbn. 2 und 3 sind Beispiele aus dem Tabellenwerk für die höheren Einheiten des Tanzes; Abb. 4 ist eine Tanzkomposition für einen Tänzer, Abb. 5 ist ein auskomponiertes Ballett. Der Tanzmeister bei den Philosophen 165 Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Gerold Ungeheuer 166 Abb. 5 1709 wurde Feuillets Werk ins Englische übersetzt; Gottfried Taubert, “Tantzmeister zu Leipzig”, verfertigte eine deutsche Übersetzung und veröffentlichte sie im dritten Teil seines 1717 in Leipzig erschienenen, umfangreichen Werkes “Rechtschaffener Tantzmeister oder gründliche Erklärung der Frantzösischen Tantz-Kunst”. Dieses kuriose, knapp 1200 Seiten starke Buch enthält in wilder Materialfülle eine Geschichte des Tanzes, eine allseitige Beschreibung der zeitgenössischen Tanzpraktiken, eine “Apologie für die wahre Tantz-Kunst” (ein hartes Geschäft im pietistischen Deutschland! ), eine Beschreibung der ethischen wie auch tanztechnischen Grundlagen des beginnenden bürgerlichen Gesellschaftstanzes und schließlich auch eine Art Theorie des Tanzes, in der die Chorégraphie des Feuillet vorgestellt wird: ein bedeutsames Werk zur Kulturgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts. Über die Chorégraphie gibt Taubert zu Beginn des 44. Kapitels (S. 737) eine treffliche Charakterisierung, die an die semiotischen Kategorien der Zeit anknüpft: “Es ist die Frantzösische Chorégraphie, oder Tantz-Beschreibung, eine Kunst, vermöge welcher man alle und jede Frantzösische Täntze, das ist, so wol die niedrigen Kammer-Täntze, oder Dances de Bal, als auch die hohen theatralischen Entrées und Ballets, sie mögen gleich von einer, zwey, vier, acht und mehr Personen zugleich getantzet werden, von Schritt zu Schritt in verständlichen Zeichen und Characteres, gleichwie die Melodien in Noten, setzen, und sie dadurch nicht allein Lebenslang vor der schnöden Vergessenheit bewahren, sondern sie auch guten Freunden in der Fremde schrifftlich communiciren kan. Und sind also die Choregraphischen und per Arithmeticam &. artem combinatoriam verfertigten Tabellen nichts anders, als praescriptae ad memoriam notae, Tantz-Charten, und solche schrifftliche Anmerckungen, dadurch ein Tantz-Meister, oder anderer, der in diesem Exercitio etwas rechtes gethan hat, nicht allein mit leichter Mühe alle diejenigen Frantzösischen Täntze, welche jährlich zu Paris auf der daselbst befindlichen Academie Roiale de Dance von den besten Maitren der gantzen Welt componiret, und durch gewisse Characteres und Figuren publiciret werden, von ihm selbst lernen, sondern auch die anderwerts gelernten, oder welche er selber componiret, zu Papier bringen, und sie, gleichwie die Airs und Melodien davon, in die Fremde verschicken kan. Kurtz: Diese Characteres haben ihren sonderbaren Nutzen so wol in Compositione, als auch Correspondence. Denn res audita aut cogitata perit, litera scripta manet! ” 252 Taubert berichtet dann auch über einen Streit in der zeitgenössischen Tanzmeister-Literatur darüber, ob Beauchamps oder Feuillet der Erfinder der neuen Tanzschrift gewesen ist. Ein gewisser Wagenseil habe geschrieben, Beauchamps habe die Tanznotation erfunden, “Welches Kunst-Stück ihm aber der besagte Feüillet heimlich abgestohlen, und unter seinem Namen publiciret hat” (S. 740). Auch ein Herr Pasch war dieser Meinung. Mit Recht verweist Der Tanzmeister bei den Philosophen 167 Taubert demgegenüber auf die “Privilege du Roy”, die dem Feuilletschen Werk vorangestellt ist. Aus den Darstellungen von Feuillet und Taubert lassen sich bezüglich der neuen Tanzschrift folgende Merkmale herausstellen, die als besonders wichtig erachtet wurden: 1. Sie ist in außerordentlicher Weise eine Stütze für das Gedächtnis. In diesem mnemotechnischen Sinne dient sie sowohl dem Komponisten der Tänze wie auch den Tänzern, die wie in einem Buch lesend die Tänze einstudieren können. 2. Die im Feuilletschen System notierten Tänze können leicht kommuniziert werden. 3. Man ist sich bewußt, daß die Tanzschrift ein Sonderfall der viel diskutierten “ars characteristica” ist (Taubert: “ars combinatoria”). 4. Es wird nirgends erwähnt, daß diese Tanzschrift auch eine “ratio inveniendi” für den Kompositeur von Tänzen sein könnte. Der von Taubert erwähnte sciagraphische Charakter (S. 655) hätte darauf hinweisen können. 2. Wolff 1732 (2. Aufl. 1738) veröffentlicht Christian Wolff seine Psychologia Empirica. In der Reihe seiner lateinischen Werke waren vorher schon erschienen die Philosophia Rationalis sive Logica (1728), die Philosophia Prima sive Ontologia (1730) und die Cosmologia Generalis (1731); der Psychologia Empirica folgte 1734 die Psychologia Rationalis. In den Erläuterungen des § 292 der Psychologia Empirica wird auf das Feuilletsche Zeichensystem mit folgenden Worten eingegangen: “Habemus quoque hodie signa artis saltatoriae, a quodam artis hujus Magistro, cui Feuillet est nomen, in Choregraphia, seu Arte saltationes per Characteres exprimendi sermone Gallico edita, exposita. Ope eorundem saltationes noviter inventae absenti communicari facilius ac multo brevius possunt, quam si verbis describendae forent.” Ich übersetze: “Wir haben jetzt auch Zeichen für die Tanzkunst, die von einem Meister dieser Kunst namens Feuillet in einem Werk in französischer Sprache über die Choregraphie oder die Kunst, Tanzschritte durch Zeichen auszudrücken, dargestellt wurden. Mit ihrer Hilfe könnten neu erfundene Tänze abwesenden Personen leichter und viel kürzer mitgeteilt werden, als wenn sie mit Worten beschrieben wären.” Der § 292 gehört zu der kurzen Paragraphenreihe, die in Part. I, Sect. III, Cap. II, “De intellectu in genere et differentia cognitionis”, den § 289, in dem die “cognitio symbolica” allgemein definiert wird, mit dem § 294, der über die “ars characteristica” handelt, und den nachfolgenden Paragraphen der Lingua-Konzeptionen inhaltlich verbindet. Es sei kurz erläutert, welche Funktion der Hinweis auf das Feuilletsche Zeichensystem in Wolffs Gedankengang zu erfüllen hat. (Eine genauere Analyse hierzu wie auch zu dem, was später zu erläutern ist, findet man in meinen beiden Aufsätzen “Sprache und symbolische Erkenntnis bei Wolff’ und “De Wolfii significatu hieroglyphico”.) Zentral wird in § 292 behauptet, daß (auch) durch nicht-sprachliche Zeichen bestimmter Art die deutliche Erkenntnis einer Sache erreicht werden kann: Gerold Ungeheuer 168 “Wenn die einzelnen Gedanken, die die Kenntnis von einer Sache ausmachen, durch Zeichen, die keine Wörter sind, denotiert werden, dann kann die Kombination dieser Zeichen eine deutliche Erkenntnis dieser Sache wie auf einen Blick herbeiführen.” “Si quae notionem rei ingrediuntur signis denotantur a vocabulis diversis eorum combinatione distinctam rei notionem veluti spectandam exhibere licet.” “Quae notionem rei ingrediuntur” ist Standardformel bei Wolff, dem der definierte Terminus “notio distincta” korrespondiert; “signis a vocabulis diversis” deutet darauf hin, daß zuerst eine Bezeichnung mit Wörtern vorliegt, die dann durch nicht-sprachliche Zeichen ersetzt werden. Die Übersetzung von “veluti spectandam” mit “wie auf einen Blick” wird durch ein im Text vorkommendes “ut uno obtutu” nahegelegt. Daß ich “notio” nicht mit “Begriff” übersetze, hängt mit der semantischen Entwicklung zusammen, die das Wort seit Wolffs Zeiten durchgemacht hat. Das Feuilletsche Notationssystem soll nun als Beispiel dafür dienen, was in diesem, auf Anhieb recht trivialen Satz allgemein behauptet wird. Und in der Tat ist nach heutigem Verständnis die Selbstverständlichkeit dessen, was da gesagt wird, kaum zu überbieten. Zwei Urteilsmöglichkeiten bleiben offen: die eine besteht in dem kurzen und schnellen, durchaus häufigen Satz, daß Wolff eben trivial ist, die andere wäre das Ergebnis, das man erhält, wenn man versucht, den § 292 aus einem größeren Zusammenhang heraus zu erklären. Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit, weil nach meinem Wissen Wolff in Gedanken und Worten anders rhapsodiert, als wir Modernen es seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewohnt sind. Das Wolffsche System der Psychologia Empirica unterscheidet zwischen niederen und höheren Erkenntniskräften, die im Zusammenwirken verschiedener Vermögen (“facultates”) erklärt sind. Jene haben ihr Zentrum in der sinnlichen Erkenntnis, diese in den Handlungen des Verstehens, d.h. in dem, was “intellectus” meint. Diese Unterscheidungen haben bei Wolff aber nur eine philosophische Nützlichkeit, keinen Anspruch auf Tatsächlichkeit (“… terminus philosophicus est, cui nulla inest veritas.”, § 55). Immer geht es um die Fähigkeit des Erkennens, und die höhere Erkenntnis im Intellektualbereich ist dadurch gekennzeichnet, daß deutliches Wissen angeeignet wird (“… ideas & notiones distinctas acquirimus.”, § 55). Ein Wissen, ein Gedanke, ein Begriff, eine Kenntnis ist dann deutlich oder distinkt, wenn das Erkenntnisobjekt als in sich gegliedert und zusammengesetzt aufgefaßt und die Glieder und Teile gegeneinander abgegrenzt werden können. Der Paragraph, in dem Feuillet zitiert wird, gehört nun in diejenige Sektion des Werkes, in der die höheren Erkenntniskräfte analysiert werden. Der Intellekt wird als Vermögen definiert, sich eine Sache (“res”) distinkt vorstellen (“repraesentare”) zu können (§ 275). Ab Mitte des 2. Kap. wird fortlaufend eine parallele Analyse von intuitiver und symbolischer Erkenntnis beibehalten. Der hier interessierende § 292 gehört zu dem Problembereich der “cognitio symbolica”. Nun muß hinzugefügt werden, daß in Sect. II bei den niederen Erkenntniskräften (§§ 138 -172), weit vor Einführung der “cognitio symbolica” in § 289 also, im Kapitel über die “facultas fingendi” unter dem Terminus “figura hieroglyphica” bzw. “significatus hieroglyphicus” eine Vorstufe der symbolischen Erkenntnis behandelt wird. Daß dies hier zu berücksichtigen ist, erkennt man aus dem § 291, der von der Möglichkeit dunkler Zeichenverwendung handelt und dafür den “mos scribendi veterum hieroglyphicus” als Beispiel anführt, der in § 151 “ars hieroglyphice significandi veterum” heißt. Es muß also offensichtlich geklärt werden, inwiefern Zeichensysteme vom Feuilletschen Typus zwischen den Der Tanzmeister bei den Philosophen 169 “figurae hieroglyphicae” und den “linguae” rangieren, wobei klar ist, daß man sich in jedem Falle im Gebiet der “signa artificialia”, d.h. derjenigen Zeichen befindet, deren “significatus” bzw. deren “vis significandi” “ab arbitrio hominum” (§ 272) (“ad placitum”) konstituiert ist. Hierzu muß der Unterschied von “idea”, “notio” und “phantasma” erläutert werden. Alle drei Termini bezeichnen “repraesentationes rerum” und meinen insoweit dasselbe. Die Differenz liegt (diese Art der Verbegrifflichung hat lange Tradition) im Hinblick, im Aspekt, im “quatenus”. Eine “repraesentatio rei” heißt “idea”, insofern die Sache objektiv (“objective”, § 48), d.h. als dem erkennenden Individuum gegenüberstehende (“… quatenus rem quandam refert, seu quatenus objective consideratur.”, § 48) betrachtet wird; sie heißt “notio”, insofern die Repräsentierung im allgemeinen oder nach Arten und Gattungen (“genera et species”, § 49) in Rechnung gestellt wird. “Phantasma” aber ist die durch die Imagination hervorgerufene Idee (§ 93), wobei “imaginatio” als die Fähigkeit aufgefaßt ist, sinnliche Erfahrung in Abwesenheit der Dinge selbst zu reproduzieren (§ 92). Die “perceptio” aber ist allgemein als der “actus mentis” definiert (§ 24), durch den ein Objekt vorgestellt (“repraesentare”) wird. Die hieroglyphischen Figuren gehören nun deswegen in den Bereich der niederen Erkenntniskräfte, weil ihre Zeichenfunktion in Phantasmata begründet ist, in denen freilich nur wenige Merkmale (“notae”) der bezeichneten Sache nach bemerkter Ähnlichkeit sinnlich vorgestellt zu sein brauchen (z.B. Dreieck für göttliche Dreifaltigkeit). Daher ist hieroglyphische Zeichengebung auch ständig der Gefahr (oder dem Vorteil) der Verdunkelung ausgesetzt. Die Wörter der Sprachen hingegen beziehen sich direkt auf die “notiones”, die sie anzeigen (“indigitare” oder “indicare”), ohne daß wahrgenommene Ähnlichkeit in irgendeiner Weise vermittelt. Feuilletsche Zeichensysteme haben insofern eine Zwischenposition, als sie grundsätzlich vermittels sprachlicher Formulierungen eingerichtet sind: das System der Grundzeichen wird sprachlich definiert wie auch die Regeln der Zusammensetzung, und eine in Feuilletschen Zeichen formulierte Nachricht sagt nur kurz und bündig, was die zugehörige sprachliche Ausformulierung, wenn auch lang und umständlich, voraussetzt. Der besondere Inhalt des § 292, der die Möglichkeit distinkter Erkenntnis vermittels Feuilletscher Notation behauptet, ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich. Für sprachliche Zeichen und ihre Verwendung ist die Möglichkeit distinkter Erkenntnisvermittlung deswegen vorauszusetzen, weil sie für diesen Zweck gerade mit Erfolg eingerichtet worden sind. Für die nicht-sprachlichen Zeichensysteme der Hieroglyphik (im Wolffschen Sinne) und des Feuilletschen Typus aber muß dies erst gezeigt werden. Und dies tut Wolff, in kleinsten Schritten, in einem diskursiv angelegten Paragraphenlabyrinth, wie es seine Art ist. Um dies alles richtig einordnen zu können, muß man die zeitgenössische und die schon das ganze 17. Jahrhundert andauernde Diskussion um die Hieroglyphenproblematik und Fragen der Schrift und Emblematik allgemein bedenken (dazu siehe V.-David (1965), Rossi (1960), Knowlson (1975)). Die vielfältigsten Überlegungen zur Pasigraphie, Polygraphie, Stenographie, Steganographie und Kryptographie gehören dem Zeitalter an. So mußte die graphisch so beeindruckende Tanzschrift des Feuillet ihre Wirkung haben bei denen, die ex officio über Zeichen und Zeichenverbindungen nachdachten. Es bleibt das Motiv des “veluti spectandam”, des “ut uno obtutu”, die Sciagraphie, wie Taubert sich ausdrückt, die als Nebenprodukt der sprachlich begründeten, nicht-sprachlichen Zeichen erscheint. Wolff gibt hierzu eine generelle Erklärung im letzten Kapitel “De signo” der Ontologia. Dieser Teil des Textes, der selten zu Ende gelesen wurde, enthält im letzten § 967 eine wichtige Bemerkung über komplexe Stellvertreterzeichen für Definitionen und Sätze, deren Inhalt wohl auf Leibniz zurückgeht. Es heißt dort: Gerold Ungeheuer 170 “Da Zeichen für Definitionen und Propositionen, die abgeleitete und stellvertretende Zeichen sind, die Bedeutungen ihrer Elementarzeichen aus arbiträrer Einrichtung besitzen, die des abgeleiteten Zeichens aber aus den bezeichneten Sachen, werden sie also auch in jener Hinsicht künstliche Zeichen sein, in dieser jedoch den natürlichen Zeichen nachgebildet sein: also sind sie aus künstlichen und natürlichen Zeichenqualitäten gemischt.” “Quoniam signa derivativa definitionum ac propositionum vicaria significatum primitivum ab arbitrio significatum imponends, derivatum autem a rebus significatis habent; ideo respectu illius artificialia sunt, respectu hujus naturalia imitantur, consequenter ex artificialibus & naturalibus mixta.” Die zugefügte kurze Bemerkung könnte jeder modernen Diskussion über Zeichentheorien als Richtschnur oder zur Ermahnung dienen: “Haec ideo monenda fuere, ne scrupulum facessant, quae de signis artificialibus tanquam pure arbitrariis in superioribus docuimus.” Da entsprechende Termini fehlen, ist das Hauptstück des Paragraphen nur mit umständlichen Umschreibungen ins Deutsche zu übersetzen. “Signa derivativa”, abgeleitete Zeichen, sind solche, die aus anderen Zeichen (desselben Systems) hervorgegangen sind; bei den “signa primitiva” ist dies eben nicht der Fall, sie sind Elementar- oder Grundzeichen. Das schwerfällige “ab aliis signis se prioribus ortum trahunt” (§ 964, Ontol.) ist nur der Versuch einer allgemeinsten Formulierung; die Kombination der Grundzeichen in einer “ars characteristica combinatoria” ist ein Sonderfall der allgemeiner definierten “derivatio”. “Signa vicaria” sind Stellvertreterzeichen, die anstelle von anderen Zeichen, abgeleiteten oder elementaren, gebraucht werden. Definition und Proposition werden in der Logica als “orationes” verstanden, mit denen man anderen etwas mitteilen kann. Davon ausgehend wird man annehmen können, daß die in § 967 der Ontologia gemeinten “signa derivativa vicaria” Zeichen sind, die anstelle von Wörtern oder Wortverbindungen verwendet werden. Es scheint mir aber auch die andere Deutung (die ich jetzt nicht weiter verfolge) möglich, nach der die Formulierung mit sprachlichen Zeichen selbst gemeint sein kann. Der wichtigste Punkt in der Überlegung dieses § 967 betrifft den Sachverhalt, daß in einem Zeichensystem mit arbiträren Grundzeichen bei der Herstellung von abgeleiteten Zeichen sich ein Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem ergibt, das man als analog zu den natürlichen Zeichen ansehen muß. Diese Einsicht hat Leibniz deutlich formuliert, und sie ist dann das Thema der Semiotik von Lambert geworden. Für das vorliegende Problem der Feuilletschen Zeichensysteme gibt sie für das “ut uno obtutu” die Grundlage ab. In § 290 der Psychologia Empirica, zwei Paragraphen vor der Erwähnung Feuillets und ein Paragraph nach der Einrührung der “cognitio symbolica”, wird dieser Gedanke auch tatsächlich mit Hinweis auf das Zeichen-Kapitel der Ontologia aufgenommen. “Vicarium” ist dort explizit ausgeführt mit “loco vocabulorum”, aber das “ab aliis signis se prioribus ortum trahunt” bleibt erhalten. Erst in unserem § 292 taucht die “combinatio” auf, und das, was behauptet wird, geht ohne Widerspruch aus den erläuterten Voraussetzungen als Ergebnis hervor. Es scheint mir sicher zu sein, daß Wolff das System von Feuillet über das Buch von Taubert kennengelernt hat: was Taubert erwähnt, erwähnt auch Wolff, und was Taubert beiseite läßt, findet man auch bei Wolff nicht. Taubert hat auch, wie oben zitiert, die Reizwörter gebracht (“ars combinatoria” usw.), die Wolffs Aufmerksamkeit erregen mußten. Man findet jedoch den Unterschied, daß Wolff sich auf die Zeichenfunktion im Erkenntnisbereich konzentriert, während Feuillet und Taubert auch sehr stark das praktische Moment hervor- Der Tanzmeister bei den Philosophen 171 gehoben haben. Daher sind für den Philosophen vor allem drei Punkte wichtig: die Konstitution der Zeichen, die Kommunizierbarkeit des Bezeichneten und die Eigenschaft, kompendiös bezeichnen zu können. Im übrigen mag aus dieser Studie schon deutlich geworden sein, daß die Semiotik Wolffs den einfachen Zuschnitt nicht besitzt, der neuerdings immer wieder beschrieben wird. Wolffs Zeichenlehre ist Teil seiner Erkenntnistheorie, sie ist weder allein von der Ars Characteristica her zu fassen noch als Propädeutik der Logik verstehbar. Der zentrale Begriff ist der der symbolischen Erkenntnis, nicht der des Zeichens. In jedem seiner Werke wird davon nur ein Stück sichtbar, wenngleich die Psychologia Empirica im Mittelpunkt steht. Ohne die Gedankenmasse der Semiotica Moralis jedoch, die im vierten Teil “De conjectandis hominum moribus” des zweiten Bandes seiner Philosophia Practica Universalis begraben liegt, wird man sich kein vollständiges Bild machen können (über die Semiotica Moralis von mir an anderer Stelle). 3. Condillac Die starken Empfindungen, die man verspüren kann, wenn man von Wolff zu Condillac wechselt, lassen sich nicht leicht unterdrücken: es ändert sich die Sprache, das Denken verläuft in anderen Spuren, ein neuer Fluß der Gedanken bricht auf, leichter, weniger genau, auf Anhieb durchschaubarer, die Anstrengung verfliegt; kurz: ein Umschlag der Atmosphäre. Das erste Werk Condillacs, der “Essai sur l’origine des connoissances humaines” (ich zitiere nach der Edition des Gesamtwerks von Georges Le Roy im “Corpus Général des Philosophes Francais”, T. XXXIII, Paris 1947-51), erschien im Jahre 1746 mit dem Untertitel “ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement”. Dieses einzige Prinzip besteht, um es kurz zu sagen, “dans la liaison des idées, soit avec les signes, soit entre elles” (Introduction, S. 4). Der Essai hat zwei Hauptteile: “Des matériaux de nos connoissances et particulièrement des opérations de l’ame” und “Du langage et de la méthode”. Im 3. Kapitel “De la Prosodie des langues grecque et latine et, par occasion, de la déclamation des anciens” der ersten Sektion des zweiten Hauptteils findet man zu Beginn des § 24 folgende Bemerkung zu Feuillet: “On ne sauroit tirer aucune induction de la chorégraphie, ou de l’art d’écrire en notes les pas et les figures d’une entrée de ballet. Feuillée (sic! ) n’a eu que des signes à imaginer, parce que, dans la danse, tous les pas et tous les mouvements, du moins ceux qu’il a su noter, sont appréciés. Dans notre déclamation, les sons, pour la plupart, sont inappréciables: ils sont ce que, dans les ballets, sont certaines expressions que la chorégraphie n’apprend pas à écrire.” Aus dem Textstück versteht man zunächst, daß gegen die Feuilletsche Tanzschrift ein negatives Argument vorgebracht wird, ohne daß dies für die Notation selbst negativ zu sein braucht: das choregraphische System kann zwar Tänze zeichenhaft beschreiben, aber nicht “Deklamationen” (was immer dies sein mag). Als Grund dafür wird angegeben, daß die Tanzschritte und Tanzbewegungen “appréciés”, Deklamationen hingegen “inappréciables” sind. In seinem eigenen “Dictionnaire des Synonymes” gibt Condillac für “aprécier” das lexikalische Äquivalent “évaluer”, was nicht überrascht; sonst kann man wohl auch “estimer” finden. Was aber bedeutet dies für das Feuilletsche Zeichensystem? Wie immer die Antwort ausfallen mag, soviel kann jedenfalls schon jetzt gesagt werden, daß Condillac hier implizit ein Problem stellt, das Wolff überhaupt nicht behandelt hat. Auf die Frage, wie eine Sache Gerold Ungeheuer 172 beschaffen sein muß, damit sie Feuilletsch bezeichnet werden kann, lautet seine Antwort: sie muß “apréciée” oder “apréciable” sein. Wolff hat sich auf die Beschaffenheit der Zeichen und ihrer Systeme konzentriert, Condillac beschäftigt sich mit der Bezeichenbarkeit der Sachen. Aus dem engeren und weiteren Kontext, in dem Feuillet genannt wird, erkennt man zwei Argumentationszüge: einen übergeordneten, der das Problem des Ursprungs und der Entwicklung der Sprache, und einen eingebetteten, der den Übergang von der Prosodie gesprochener Sprache zur Musik behandelt. Die Überschrift der l. Sektion des zweiten Hauptteils spezifiziert das sprachliche Thema: “De l’origine et des progrès du langage”. Als Methode konzipiert Condillac keine narrative Induktion nach alten Erzählungen und neuen Berichten über das sprachliche Leben der Wilden, sondern eine begriffliche Konstruktion heutiger menschlicher Sprachbeherrschung aus minimalen Lebensbedingungen des Menschen derart, daß der Konstruktionsprozeß selbst eine mindestens plausible Rekonstruktion der Sprachentwicklung bzw. der Geschichte menschlicher Interaktion ergibt. Bei einem solchen Vorgehen spielen Beispiele die Rolle von Hinweisen darauf, daß die geschichtliche Rekonstruktion plausibel ist; die konstruktiven Grundlagen hingegen findet man sozusagen m der seelischen Erstausstattung, die Menschen zugestanden wird, und im Begriffsrepertoire, das für die Beschreibung der höheren Konstruktionsstufen bereitliegt. Mit dem “Traité des sensations” ist dieses Verfahren im Vehikel der “Statue” (oder wie immer man “la statue” übersetzen möchte) besonders ausgearbeitet und bekannt geworden. In den beiden Hauptteilen des Essai beginnt Condillac in derselben methodischen Einstellung, wenngleich die Intention nachfolgend nicht allzu streng ausgeführt wird: “Considérons un homme au premier moment de son existence” beginnt § 3 zu Beginn des ersten Teiles, “Mais je suppose que, quelque temps après le déluge, deux enfans, de l’un et de l’autre sexe, aient été égarés dans des déserts, avant qu’ils connussent l’usage d’aucun signe.” heißt es im zweiten Satz des 2. Teils. Der Unterschied zu Wolffs Methode ist maximal. Zwar arbeitet Wolff natürlich auch konstruktiv, aber er geht aus von den fundamentalen Eigenschaften der Seele und insofern vom Allgemeinen und deduziert fortlaufend nach eingebrachten Axiomen und Definitionen die notwendigen Spezifizierungen. In der Einleitung zum Essai skizziert Condillac sein “dessein”: “…, j’ai commencé au langage d’action. On verra comment il a produit tous les arts qui sont propres à exprimer nos pensées; l’art des gestes, la danse, la parole, la déclamation, l’art de la noter, celui des pantomimes, la musique, la poésie, l’éloquence, l’écriture et les différens caractères des langues. Cette histoire du langage montrera les circonstances où les signes sont imaginés; elle en fera connoître le vrai sens, apprendra à en prévenir les abus, et ne laissera, je pense, aucun doute sur l’origine de nos idées.” (S. 4, Sp. 2) Jene beiden Kinder, in der Wüste alleingelassen, sind geübt in den einfachen Tätigkeiten der Seele (“des opérations de leur ame”, Sect. l, Ch. l): in Wahrnehmung (“la perception”). Bewußtsein (“la conscience”), Aufmerksamkeit (“l’attention”), Erinnerung (“la réminiscence”) und wenig ausgebildet in der Fähigkeit der Imagination (“l’imagination”). Man hat hier ziemlich vollständig den von Wolff aus der Tradition übernommenen Katalog der niederen Erkenntniskräfte vor sich. Die Seele ist nach Condillac zu höheren, zu Handlungen des Verstandes fähig, und diese Entwicklung kann nur unter Mithilfe von Zeichensystemen geschehen. Am systematischen Beispiel der Wüstenkinder zeigt er, daß die Bildung solcher Zeichensysteme im Üben oder Einüben (“l’exercice”) eindrucksvoller und einprägsamer Seelenhandlungen vorangetrieben wird, die aus der Wahrnehmung von Bedürfnissen, Der Tanzmeister bei den Philosophen 173 vornehmlich von sozialen Notwendigkeiten, hervorgehen. Im ersten Schub entwickelt sich so zwar die Handlungssprache, “le langage d’action”, die “vraisemblablement” nur aus “des contorsions et agitations violentes” (§ 5) besteht, doch war sie immer von Lauten und Schreien begleitet: “des cris de chaque passions”, “les cris naturels”. Und dieses Zusammenspiel von Lautung und Körperaktion blieb erhalten, als sich langsam aus Gewohnheit und Übung die ersten willkürlichen Zeichen (“des signes arbitraires”, § 6) einer artikulierten Lautsprache (“le langage des sons articulés”, § 8) herausbildeten. Condillac nennt dies “im discours entremêlé de mots et d’actions” (§ 9), eine besonders bei öffentlichen und feierlichen Anlässen gepflegte Sprache, die die Alten einen Tanz genannt haben (§ 10, “voilà pourquoi il est dit que David dansoit devant l’arche”), aus dem sich bei stärker werdender Verbalsprache, sie aber immer begleitend, ein Tanz der Gesten (“la danse des gestes”, § 11) und ein Tanz der Schritte (“la danse des pas”) heraushoben. Im folgenden 2. Kap., Sektion l, des zweiten Hauptteils wird die Prosodie der (ersten) Lautsprachen behandelt, von denen Condillac zunächst behauptet, daß sie nach dem Modell der Aktionssprache artikulieren und anstelle heftiger Körperbewegungen die Stimme in deutlich hörbaren Intervallen auf- und abführen. Diese Prosodie frühester lautsprachlicher Artikulation war beinahe (“improprement”, § 14) Gesang (“un chant”), man könnte sagen, daß sie gesangsmäßig war, weil sie sich nur geringfügig vom eigentlichen Gesang entfernte (“… qu’elle participoit du chant”). Die spätere Entwicklung bis auf den heutigen Tag verfeinerte freilich die prosodischen Inflexionen und vergrößerte den Abstand zum Gesanghaften, wenngleich die Prosodien des Griechischen und Lateinischen den alten Zustand noch vorführen können. Damit ist im Gedankengang des zweiten Hauptteils des Essai für Condillac die Ausgangsposition geschaffen, von der aus er sein Nebenthema in Angriff nehmen kann: Prosodie, Deklamation, Pantomime, Musik, Poesie. Erst im 9. Kap. nimmt er mit § 80 unter dem Titel “Des mots” das übergeordnete Thema der Sprachentwicklung wieder auf. Feuillet aber erhält mit seiner Tanzschrift zu Beginn des Nebenthemas seine beispielhafte Funktion. In diesem dritten Kapitel nämlich führt Condillac eine Auseinandersetzung mit Du Bos (“Réflexions critiques sur la Poésie et sur la Peinture”, l. Aufl. 1719) über die Prosodie und Deklamation der Alten. Du Bos nimmt an, daß die griechische und lateinische Prosodie nicht viel von der verschieden war, wie man sie von modernen Sprachen kannte; sie war also weder Gesang noch Musik, und da man doch andererseits wußte, daß Griechen wie Römer ihre Deklamationen nach einer Notenschrift fixieren konnten, muß er zeigen, daß eine solche Notierung auch mit zeitgenössischen Prosodien keine Schwierigkeiten bereitet. Er legt aber kein Beispiel einer Transkription, sondern Antworten vor, die Musiker ihm in dieser Sache gegeben haben; vor allem aber verweist er auf die Tanzschrift des Feuillet als einem semiotischen Beispiel, und diesen Beweisgang zitiert auch Condillac kurz vor seinem eigenen Hinweis auf Feuillet. Für Condillac aber ist nun gerade die bekannte Tatsache der alten prosodischen Notationssysteme ein hinreichender Beweis dafür, daß es sich “nahezu” um einen Gesang gehandelt haben muß, weil - und dies ist sein Hauptargument - überhaupt nur gesanghafte Prosodien notiert werden können: “Il ne suffit point, pour un chant, que les sons s’y succèdent par des degrés très-distincts; il faut encore qu’ils soient assez soutenus pour faire entendre leurs harmoniques, et que les intervalles en soient appréciables”. An dieser Stelle des § 14 taucht der erste Hinweis dafür auf, wie man jenes “apprécié” im Feuillet-Zitat zu verstehen habe. Es stellt sich heraus, daß Condillac sich in seiner Beweisrührung völlig auf wesentliche Elemente der Rameauschen Musiktheorie verläßt, dessen letztes Werk “Généra- Gerold Ungeheuer 174 tion harmonique ou Traité de Musique théorique et pratique” aus dem Jahr 1737 er im ersten Satz des § 22 auch als “Génération harmonique” anführt (ohne den Autor zu nennen). In § 16 behauptet er von den Alten ein dreigeteiltes Wissen: “Ils n’ignorent pas: 1° qu’on ne peut noter un son, qu’autant qu’on a pu l’apprécier; 2° qu’en harmonie, rien n’est appréciable que par la résonnance des corps sonores; 3° enfin, que cette résonnance ne donne d’autres sons, ni d’autres intervalles, que ceux qui entrent dans le chant.” Diese Trichotomie wird dann in § 22 gegen Du Bos durch eine weitere ergänzt, deren Inhalte zuvor schon (§ 20) als “des principes de la génération harmonique”, von denen “ce savant abbé” wohl nichts verstehe, charakterisiert sind: “II est démontré dans la Génération harmonique: 1° qu’on ne peut apprécier un son, qu’autant qu’il est assez soutenu pour faire entendre ses harmoniques; 2° que la voix ne peut entonner plusieurs sons de suite, faisant entr’eux des intervalles déterminés, si eile n’est guidée par une basse fondamentale; 3° qu’il n’y a point de basse fondamentale qui puisse donner une succession par quart de tons.” Nur wenigen Musiktheoretikern dürfte bekannt geworden sein, welchen kuriosen Gebrauch Condillac von der Rameauschen Fundamentalbaßlehre gemacht hat. Es ist hier jedoch nicht die Stelle, an der dieses musikgeschichtliche Moment oder eine kritische Analyse der Condillacschen Argumentation weiter verfolgt werden könnte. Es ist aber nun deutlich geworden, wie “apprécier” zu verstehen ist und in welcher Absicht diese Qualifizierung auf das Feuilletsche Zeichensystem übertragen wird. “Appréciable”, d.h. bewertbar und in ihren Eigenschaften einzuschätzen, ist eine zu bezeichnende, zu notierende Sache offensichtlich dann, wenn diese Eigenschaften so klar hervortreten oder hervortreten können, daß eine eindeutige Zeichenzuordnung möglich wird. Dies ist bei den Tanzschritten der Fall, nicht aber, wie Condillac meint, bei den Intonationen moderner Prosodien. In § 24 gibt der einschränkende Satz “Feuillée n’a eu que des signes à imaginer …” eine Einschränkung bezüglich der allgemeinen Funktion der Zeichen, die Condillac im ersten Hauptteil beschreibt. Dort geht vor allem aus dem l. Kap. der 4. Sektion “De l’opération par laquelle nous donnons des signes à nos idées” hervor, daß erstens “imaginer” Terminus ist, da Zeichen aus vorstellender Imagination verliehen werden (“Cette opération résulte de l’imagination, qui presente …”), und daß zweitens man sich im Denken der Zeichen bedienen muß, um die Gedanken überhaupt deutlich werden zu lassen (“… et que nos notions ne sont exactes qu’autant que nous avons inventé avec ordre les signes qui doivent les fixer”, § 9). Trifft dies nun allgemein für unsere Gedankenoperationen zu, so ist beim Feuilletschen Zeichensystem gerade diese präzisierende Funktion außer Kraft, da die zu bezeichnenden Gegenstände exakt in diesem Sinne, d.h. “appréciables” vorgegeben sind. Und soweit sie dies sind, meint Condillac, sind sie von Feuillet auch mit Zeichen notiert, soweit sie es aber nicht sind, nämlich im Falle des Tanzes “certaines expressions”, können auch keine Zeichen gefunden werden, was wohl mit der Annahme zusammenhängt, daß wohl Gedanken, nicht aber Perzeptionen semiotisch präzisiert werden können. Dreiunddreißig Jahre nach Condillacs Essai erscheint 1779 in London Joshua Steeles “Prosodia Rationalis”, ein Buch, das mit differenzierter Begrifflichkeit für prosodische Erscheinungen den expliziten Vorschlag einer Prosodienotation enthält. Aber auch Steele ist noch mit den musiktheoretischen Grundlagen Rameaus beschäftigt, wenn er auch dessen Namen nicht nennt. Das Überraschende an diesem Spezialtraktat ist die historische Verbindung, die man mit Condillac bzw. mit dem französischen Disput um die Mitte des Jahr- Der Tanzmeister bei den Philosophen 175 hunderts finden kann. Steele (zu dem ganzen Komplex siehe auch Abercrombie (1951)) nämlich setzt sich mit der Prosodietheorie im 2. Band von “The Origin and Progress of Language”, Lord Monboddos Hauptwerk, auseinander. Darin vertritt Monboddo in der ersten Auflage eine Position, die der von Condillac sehr nahe kommt, was, worauf Aarsleff (1967, 1975) überzeugend hingewiesen hat, nicht verwunderlich ist, da er sich im Herbst 1763 wie auch in den Jahren 1764 und 1765 in Paris aufgehalten und Condillacs Essai wohl gekannt hat. Steele ist es, wie er mit Briefen in seiner Monographie nachweist, gelungen, Lord Monboddo von der Notationsfähigkeit der Prosodie zu überzeugen, was dieser durch inhaltliche Änderungen der späteren Auflagen seines Werkes auch angezeigt hat. Steele transkribiert so: 4. Lambert Johann Heinrich Lambert veröffentlicht 1764 sein “Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein”. Im l. Kap. “Von der symbolischen Erkenntniß überhaupt” des 3. Buches “Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge” handelt der § 26 von der Feuilletschen Tanzschrift: “Von der Choreographie des Feuillet läßt sich eben dieses sagen, doch mit dem Zusatze, daß, indem er bey Erfindung eines neuen Tanzes die Figur derselben zeichnet, die Zeichnung selbst mehr Geometrisches hat, und durch die Größe, Zeit und Anzahl jeder Schritte mit dem Takte proportionirt werden muß. Diese Bedingung, nebst der, daß die Figur schließen, und nach Abspielung eines jeden Theils der Contredanse ein neuer Theil der Figur des Tanzes anfangen muß, schränkt das Willkührliche dabey mehr ein, und die Zeichnung selbst verräth die Fehler, und nöthigt, sie zu vermeiden. Die Engländer haben Contredanses, wofür sie zwar keine Zeichnung gebrauchen: aber weil dieselben aus einer gewissen Anzahl von Figuren besteht, deren jede eine gewisse Anzahl von Takten dauert, so können sie durch bloße Combination dieser Figuren unzählig vielerley Abwechslungen und verschiedene Tänze fast ohne Mühe erfinden. Und da diese Figuren ihre Namen haben, z.E. Le pas, monter, tourner, la Chaine, le moulinet, Castof, le huit &c. so lassen sich alle diese Tänze mit wenigen Worten schriftlich verfassen, und ohne Schwierigkeit begreifen und bewerkstelligen. Uebrigens, da die Tänze selbst Figuren und Bewegungen sind, so ist auch die Zeichnung derselben in einem viel einfachem Verstande figürlich, als die Zeichnung der Töne in der Musik vermittelst der Noten.” Der Paragraph nimmt mehrfach Bezug auf den vorhergehenden Text des Kapitels. In der Tat wird man zweckmäßig auf den Inhalt des ganzen Hauptstücks eingehen müssen, um die Demonstration des Choreographie-Beispiels verstehen zu können. Gerold Ungeheuer 176 Die 69 Paragraphen dieses ersten Kapitels lassen sich nach Inhalt und Zusammenhang in drei Gruppen anordnen: 1. §§ 1-24: über die Grundlagen der symbolischen Erkenntnis; 2. §§ 25 - 49: Analyse verschiedener Zeichensysteme; 3. §§ 50 - 69: Probleme willkürlicher Zeichensetzung. Die Feuilletsche Tanzschrift wird nach dem Notensystem der Musik (§ 25) in der zweiten Paragraphengruppe an zweiter Stelle behandelt. Erörtert werden weiterhin die Kunstwörter für die Schlußfiguren der Logik (Barbara usw.), die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen, graphische Repräsentationen der Syllogismen (Lambert selbst hat solche vorgeschlagen), chymische und astronomische Zeichen, Einteilungen der Winkel nach Graden, Minuten und Sekunden, Stammbäume, Embleme, Zahlen und Ziffern, Symbole der Algebra, Notationen der Versform, Heraldik und Landkarten. Die §§ 50 - 69 sind zudem angereichert mit allgemeinen Bemerkungen, die die erste mit der dritten Paragraphengruppe verbinden. Der erste Kapitelabschnitt behandelt nun m den §§ 1-5 durchgängige Eigenschaften der Sprachen: der “Gebrauch zu reden”, Sprachen als nicht völlig systematische, aber auch nicht völlig regellose “Lehrgebäude”, die menschliche Natur als “erste Ursache der Sprache”, Unterscheidung des Notwendigen, Natürlichen und Willkürlichen in den Sprachen. Am Ende des § 5 wird eingegrenzt, daß Sprachen und überhaupt die symbolische Erkenntnis nur insoweit betrachtet werden sollen, als “sie einen Einfluß auf die Wahrheit” haben: eine Abgrenzung gegen rein grammatische Erörterungen. Hierauf folgt nun bis etwa § 16 eine Darlegung der Gründe, warum die symbolische Erkenntnis für Menschen unabdingbar ist. Zunächst wird der individuelle Grund analysiert, “daß die symbolische Erkenntniß uns ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Denken ist” (§ 12), und dies nämlich deshalb, weil “wir die klaren Begriffe, so wir durch die äusseren Sinne erlangen, wachend nicht in ihrer völligen Klarheit erneuern können, es sey denn durch die Erneuerung der Empfindung” (§ 6). In § 7 heißt es dazu: ‘Wir würden immer Simulacra durch Gebärden, Bewegungen usw. suchen, um den Begriff, der dunkel in der Seele ist, und zu dessen Aufklärung die Veranlassung da ist, aufzuklären, oder wenigstens uns selbst oder anderen anzudeuten”; § 8 beginnt: “Da die eigentlich klaren Begriffe nur bey den Empfindungen statt haben, so ist nothwendig …” An der Bedeutung des Wortes “Begriff” haben seit Beginn des 18. Jahrhunderts unzählige Philosophen und der Wortgebrauch aller gearbeitet. Die Gleichheit des Wortzeichens ist weder eine Garantie dafür, daß im Jargon und in Fachsprachen unserer Zeit das mit dem Wort Bedeutete übereinstimmt, noch daß Wolff und seine Schüler oder daß Lambert dasselbe hätten meinen können, wie es uns so natürlich erscheint. Wolff hatte “Begriff ” auf “notio” festgelegt; aber was “notio” signifiziert und was “Begriff ” vor Kant bedeutet, kann mit unserem “Begriff ”-Gebrauch nur dunkel gedeutet werden. Nach Grua hat Leibniz etwa 1685 ein Buch des deutschen Mystikers Valentin Weigel gelesen, das 1613 veröffentlicht wurde aber schon Ende des 16. Jahrhunderts geschrieben war; sein Titel lautet: “Der güldene Griff / Alle Ding ohne Irrthumb zu erkennen / vielen Hochgelährten unbekandt / und doch allen Menschen nothwendig zu wissen”. In der “Dianoiologie”, dem ersten Buch seines Neuen Organen, führt Lambert in § l seinen “Begriff” ein: Der Tanzmeister bei den Philosophen 177 “Eine Sache begreifen heißt sich selbige vorstellen können, und zwar so, daß man die Sache für das ansieht, was sie ist, daß man sich darein finden, sich darnach richten, sie jedesmal wieder erkennen kann usw.” (Es dürfte wohl wenig bekannt sein, daß Fritz Mauthner in seinem Wörterbuch der Philosophie Lamberts Bestimmung als einzig akzeptable zuläßt.) Wenn nun also bei Lambert der Begriff eine Vorstellung in diesem Sinne ist, dann muß hinzugenommen werden, was er in § 8 sagt: “Die ersten Wege, wodurch wir zu Begriffen gelangen, sind die Empfindungen, und die Aufmerksamkeit, die wir gebrauchen, alles, was uns die Sinne an einer Sache empfinden machen, uns vorzustellen, oder dessen bewußt zu seyn.” Die semantische Geschichte des Wortes “Empfindung” ist zwar mindestens ebenso verwickelt wie die des Wortes “Bedeutung” (siehe dazu Schneider, 1960), doch macht Lambert klar, daß er den von den Perzeptionsorganen vermittelten sinnlichen Eindruck meint. Wenn er also in § 10 der Semiotik formuliert: “So lange die Sache, welche ein Zeichen vorstellet, nicht gegenwärtig ist, noch von uns empfunden wird, haben wir nur den Begriff des Zeichens klar …”, dann meint er die sinnliche Wahrnehmung des Zeichens als Vorstellung und sonst nichts. (An dieser Stelle kann ich auf die Studien verweisen, die ich über Lambert vorgelegt habe.) Wie aber kommen unter diesen Voraussetzungen die Reflexionsbegriffe, die Abstraktionen, die Intentionen, die begriffenen Relationen, die Arten und Gattungen zustande? Lambert hat darauf, jedenfalls im l. Kap. der Semiotik, zwei Antworten. Die erste bezieht sich in wesentlicher Ausführung auf Zeichen allgemein. In § 17, nachdem er zuvor in den §§ 13 -15 auf die kommunikative Funktion der Zeichen eingegangen ist, schreibt er: “Da wir ferner weder immer die Dinge empfinden, an welche wir denken, und viele Abstracta nicht empfunden werden können, so füllet die Empfindung der Zeichen die meisten Lücken in unserem Denken aus, und besonders ist unsere allgemeine und abstracte Erkenntniß durchaus symbolisch, weil alles, was wir unmittelbar empfinden können, individual ist.” Schärfer und klarer kann der stellvertretende Charakter der Semiosis im individuellen Denken kaum formuliert werden. Es ist aber zugleich auch eine historische Interpretation über die Vorgeschichte der “cognitio symbolica”, wie sie Leibniz in seinen Meditationen der “cognitio intuitiva” gegenüberstellt. Die zweite Antwort betrifft den semantischen Aufbau der natürlichen Sprachen (§§ 18 -22), wie er sich im Ineinanderwirken mit reflexivem Denken herstellt. Ausgangspunkt sind und bleiben die unmittelbaren Empfindungen der sinnlichen Wahrnehmung. Sie schaffen erste Zeichenzuordnungen, und aus ihnen erwachsen im Vergleich ähnlicher Empfindungen erste Wortbedeutungen. In der semantischen Tektonik des Wortsystems einer Sprache kommt auf diese Weise eine erste, die bedeutungskonkreteste, Wortklasse zustande, die durch zwei weitere, bedeutungsabstraktere, überhöht wird. Für diese Bedeutungsschichtung ist Grundlage eine Ähnlichkeitsrelation, die wiederum in der Notwendigkeit des genannten Simulacra-Gebrauchs gründet: eine “Vergleichung der Intellectualwelt und Körperwelt” findet statt, wie es in § 18 und anderswo heißt. Man stößt hier auf eine der wichtigsten semiotisch-linguistischen Vorstellungen mindestens des 17. und 18. Jahrhunderts, nämlich auf die Konzeption einer durchgehenden Tropisierung der natürlichen Sprachen derart, daß die lexiko-semantischen Grundrelationen als dieselben angesehen werden wie die, die im üblicherweise zur Rhetorik zählenden Gebiet der Tropik vorausgesetzt Gerold Ungeheuer 178 werden. In meiner Untersuchung über den Begriff der Allusion bei Du Marsais konnte ich bei diesem Autor denselben Gedankengang nachweisen. Dieser wiederum verweist auf Vossius, den wohl bedeutendsten Rhetoriktheoretiker des 17. Jahrhunderts. Auf den aber geht Leibniz im Vorwort zu seiner Nizolius-Ausgabe ein, wo er über den “usus loquendi” ausführt: “Plerumque autem usus ex Origine tropo quodam ortus est, …”, dem er einige Sätze darauf die Formel “per canales Troporum” hinzufügt (GP, IV, 139 -140). Wenn Lambert in § 23 den semiotischen Hauptsatz dahingehend formuliert, daß die Zeichen dann wissenschaftlich “im engeren Verstande” sind, sobald “die Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zeichen mit einander verwechselt werden können” (ein Satz, der häufig zitiert, aber nicht immer verstanden wird), dann spricht er nur auf seine Weise die Hoffnung aus, die schon immer an die Ars Characteristica geknüpft war. Als wichtigstes Inhaltsmoment behauptet dieser Satz, daß jede im wissenschaftlichen Zeichensystem, d.h. in der “Theorie der Zeichen”, zulässige Kombination oder Division von Zeichen in regulärer Interpretation über die Zeichenprimitive mit der Sicherheit eines Kalküls zu einem Satz in der Theorie der Sachen führt. Von dieser Art sind nun gerade die natürlichen Sprachen nicht (auch nicht andere Zeichensysteme); sie sind aber auch nicht völlig entfernt von diesem Konstruktionsprinzip: durch ihre Teilregularitäten besitzen sie Elemente, Aspekte und Teilstücke, welche die Bedingungen des semiotischen Hauptsatzes erfüllen. In seiner Semiotik setzt es sich Lambert nun gerade zur Aufgabe, genauer zu untersuchen, wie weit diese Kalkülkraft der natürlichen Sprachen und anderer Zeichensysteme reicht und wie diese zum Vorteil der Wahrheit verstärkt und verbessert werden könnte. So kommt er in der kurzen Betrachtung über die Notenschrift der Musik (§ 25) zu dem Ergebnis, daß sie zwar “einen merklichen Grad der Vollkommenheit” besitzt, ein Mangel jedoch darin besteht, daß in ihr “die Criteria der Harmonie” selbst nicht zum Ausdruck kommen, “weil Dissonanzen, falsche Gesänge und Sprünge, ebenso wie die wahren, gezeichnet werden können”. Und er schließt mit der Bemerkung: “Man ist daher dabey genöthigt, nach den Regeln der Composition das Gute und Harmonische zu wählen. Die Noten selbst geben es nicht an.” Auf dieses Problem der Zeichen-Explizitheit bezieht sich der erste Satz des folgenden Feuillet-Paragraphen (§ 26), in dem Lambert mitteilt (siehe Zitat), daß “von der Choreographie des Feuillet sich eben dieses sagen läßt”. Es geht also darum, daß tatsächlich und warum in einer Tanznotierung nach dem Feuilletschen System “die Zeichnung selbst verräth die Fehler, und nöthigt, sie zu vermeiden”. Den Grund hierfür findet Lambert in dem “Zusatze” bzw. in der “Bedingung”, daß jede notierte Erfindung eines neuen Tanzes in ihrer Zeichnung etwas sehr “Geometrisches” an sich hat, indem sie “durch die Größe, Zeit und Anzahl jeder Schritte mit dem Takte proportionirt werden muß”, usw. Zur Zeichen-Explizitheit dieses Systems gehört es auch, daß viele der komplexen Tanzfiguren bereits tabellarisch niedergelegt sind; daß dies in den Überlegungen Lamberts eine Rolle spielt, erkennt man aus dem Exkurs über die “Contredanses der Engländer”. In der Analyse Lamberts wird also deutlich das “uno obtutu”-Motiv sichtbar, das auch bei Wolff das primäre Thema war. Der letzte Satz des Feuillet-Paragraphen, der erläutert, daß die Zeichnung der Tänze deswegen “in einem viel einfacheren Verstande figürlich [ist] als die Zeichnung der Töne in der Musik vermittelst der Noten”, weil nämlich die Tänze selbst “Figuren und Bewegungen” sind, verweist auf den vorausgehenden § 9. Dort heißt es zu Anfang “Die Empfindungen, die am meisten in unserer Gewalt sind, sind die Bewegungen des Leibes, die Figuren oder Zeichnungen, und die artikulirten Töne.” Der Tanzmeister bei den Philosophen 179 Zu Beginn des letzten Drittels nimmt Lambert in diesem ersten Kapitel der Semiotik das Choreographie-Beispiel noch einmal auf. Das Problem, als dessen Lösungsdetail dies geschieht, wird in § 49 gesetzt. Der semiotische Hauptsatz wird dort in der Form behauptet, daß im strengen Sinne wissenschaftliche Zeichensysteme weniger “Willkührliches” mit sich führen als solche, die nur für “Abkürzungen” gebraucht werden. “Wir haben demnach zu sehen, wie ferne bey den wissenschaftlichen Zeichen etwas Willkührliches bleibe.” Lambert beginnt seine Untersuchung in § 50 mit der Unterscheidung von Zeichen, “wodurch eine Sache vorgestellet wird”, und “Nachahmungen” oder “bloßen Bildern einer Sache”. In § 51 kommt er dann generell auf “Abbildungen” zu sprechen, bei denen er die im engeren Sinne aus “Abschriften des Originals” bestehenden von den Sinnbildern, den in Worten beschriebenen Eigenschaften der gemeinten Sache, den Metaphern und sinnlichen Bildern “von abstracten Dingen” trennt. Die zuletzt genannten Abbildungen grenzen nun deswegen an die Zeichen, die er wissenschaftlich nennt, weil sie eine in Stufen variierte Ähnlichkeitsbeziehung voraussetzen, die er nun in den folgenden Paragraphen erörtert. Bezogen auf den letzten Satz des § 51 “Die Stufen der Aehnlichkeit sind nun folgende.” beginnt der § 52: “Einmal, wenn die Sache, so gezeichnet werden soll, selbst eine Figur, Bewegung, Rangordnung, Succeßion usw. ist, so hat man die Zeichnung nicht weit herzuholen. In der Choreographie läßt sich die Figur des Tanzes durch Linien, die Größe eines jeden Schrittes durch numerirte Punkte, die Art des Schrittes durch einfache Züge, welche die Stellung des Fußes, und überhaupt des Leibes, anzeigen, an sich vorstellen, weil die Bewegung linear, und bey dem Tanze alles Figur ist.” Hier hat man in Lamberts präziser Sprache, die Klopstock so bewundert hat, alle Bedingungen beisammen, aus denen diejenigen Eigenschaften der Feuilletschen Tanzschrift herrühren, welche die drei Philosophen, je nach ihrem Interesse in anderer Auswahl, analysiert und beschrieben haben. 5. Ergebnisse und Vergleiche Feuillets Tanzschrift ist selbst semiotisches Dokument der Jahrhundertwende; faßt man sie jedoch, wie vorgerührt den Zitierungen folgend, als heuristisches Vehikel, dann enthüllt sie Feinheiten semiotischer Theoriebildung, die man in der Literatur über das 18. Jahrhundert nicht leicht zu Gesicht bekommt. Die begrifflichen Unterschiede scheinen bei den drei behandelten Philosophen recht erheblich; andererseits fallen doch auch gemeinsame Züge ins Auge. In einer abschließenden Betrachtung sollen die Momente der Übereinstimmung und der differenzierenden Eigenständigkeit erörtert werden. Aus einer auch nur vorläufigen Kenntnis der Philosophie im Zeitalter der deutschen Aufklärung weiß man, daß Wolff und Lambert eng zusammengehören. Lambert selbst hat die Vorgängerschaft und den Einfluß Wolffs, wenn auch kritisch, immer anerkannt. Er kann aber nicht einfach, wie es von Verehrern Kants oft geschieht, als Schüler Wolffs (der er ja auch in einem schulischen Sinne nie gewesen ist) abgeurteilt werden: seine Selbständigkeit im Denken ist unbezweifelbar. Leibniz-Wolff-Lambert ist eine Linie, die auf Kant zuläuft, ohne daß man die Zwischenglieder nur als Vorläufer Kants eingrenzen könnte. Hinter solchen Urteilen stände eine recht bekannte, mit illustren Namen abgedeckte, aber nichtsdestoweniger falsche Theorie der Philosophiegeschichte. Condillac steht in der anderen Tradition der französischen Aufklärung. Im nahen Umgang mit Rousseau und Diderot lebte er in jungen Jahren als “homme de lettres” in Paris (Le Roy, Gerold Ungeheuer 180 S. VIII), bevor er 1758 als Prinzenerzieher nach Parma ging. Er bezog Position in den gelehrten Auseinandersetzungen der französischen Kulturwelt (und dies bedeutet vor allem: der Pariser Intellektualität); intensiv beschäftigte er sich aber auch, wie sein “Traité des Systêmes” (1749) ausweist, mit den Großen des vergangenen Jahrhunderts; fasziniert aber war er von den Gedanken Lockes, dessen Werke seit langem in französischer Übersetzung vorlagen. Bei diesen doch sehr verschiedenen geistigen Entwicklungen und Lebensumständen der drei Philosophen darf man jedoch ihre Beziehung und gegenseitigen Kenntnisnahmen nicht vergessen. Daß Lambert immer wieder auf Wolff eingeht, wurde schon erwähnt. Ob Lambert auch Condillac kannte, ist völlig ungewiß. Ich habe ihn weder in den gedruckten Werken noch im handschriftlichen Nachlaß (Universitätsbibliothek Basel) erwähnt gefunden; nach meinen Nachforschungen enthält auch das alte, von Lambert begonnene Bücherverzeichnis der Hausbibliothek des Grafen von Salis in Chur, bei dem er von 1748 bis 1756 als Hofmeister angestellt war und in dessen Haus er sich als Gast bis 1764 immer wieder aufhielt (er schrieb dort das Manuskript des Neuen Organon), kein Wort von Condillac. Andererseits glaube ich in vielen Gedanken Lamberts eine Kenntnis Condillacs voraussetzen zu müssen, was angesichts der Tatsache, daß Lambert neben Wolff auch Locke berücksichtigt, ja gar nicht so unplausibel ist. Auch kennt Lambert, wie ich an anderer Stelle (“Lambert in Klopstocks ‘Gelehrtenrepublik’”) gezeigt habe, die französische Tradition der “grammaire générale et raisonnée”. Wolff gilt Condillac als Schüler von Leibniz, “le plus célèbre des ses disciples”, wie er im “Traité des Systêmes” (Ch. VIII) schreibt. Aber schon im Essai wird Wolff erwähnt; im § 27 der 4. Sektion des ersten Teiles geht Condillac auf den § 461 der Psychologia Rationalis ein (woraus man vielleicht schließen kann, daß er auch die Psychologia Empirica kannte). Es heißt dort: “M. Wolff remarque qu’il est bien difficile que la raison ait quelque exercice dans un homme qui n’a pas l’usage des signes d’institution. II en donne pour exemple les deux faites que je viens de rapporter, mais il ne les explique pas. D’ailleurs il n’a point connu l’absolue nécessité des signes, non plus que la manière dont ils concourent aux progrès des opérations de l’ame.” Der § 461 der Psychologia Rationalis ist ein langer Paragraph von fünfeinhalb Seiten. Der Hauptsatz lautet: “Usu sermonis faciliatur atque amplificatur usus rationis: absque sermonis usu rationis usus vix conceditur.” In den Ausführungen Wolffs ist nun tatsächlich nichts zu finden, das der “l’absolue nécessité des signes” Condillacs gleichkäme. Immerhin ist auch die Wolffsche Formulierung “… vix conceditur” radikal, wie Leibniz schon in den Meditationes radikal formulierte: “imo fere ubique”. Condillac erörtert nicht (er erkennt vielleicht auch nicht), warum für Wolff die eingestandene hohe Wirksamkeit der Zeichen bei der Herausbildung der höheren Erkenntniskräfte das Äußerste war, was zugestanden werden konnte, weil nämlich “cognitio symbolica” und “intuitiva” korrelativ zu berücksichtigen waren, womit Condillac nicht im geringsten belastet war. Für ihn war Wolff ein Philosoph der “métaphysique ambitieuse” (Essai, Intr.); dieser aber konnte doch zu einer Erkenntnis finden, der auch Condillac hätte zustimmen können: “Facultates superiores quasi sepultae sunt, ut ne vestigium quidem ipsarum appareat, quamdiu nisi per commercium cum hominibus aliis excitentur.” (Psych. Rat. § 461, Erläuterungen, l. Satz). Hinsichtlich der Feuilletschen Zeichen stimmen die Autoren in drei Punkten überein: 1. Die sinnliche Wahrnehmung eines Feuilletschen Komplexzeichens, mit dem ein Tanz notiert ist, gibt auf einen Blick Einsicht in die Struktur des komponierten Tanzes. Der Tanzmeister bei den Philosophen 181 2. Mit Feuilletschen Zeichen werden deutlich Kenntnisse (“notiones distinctae”) dargestellt. 3. Es besteht ein Gegensatz zu den arbiträren Zeichen der natürlichen Sprachen. Die Überschaubarkeit des Bezeichneten “auf einen Blick” wird am deutlichsten von Wolff herausgearbeitet: “uno obtutu”. Das Wort “obtutus” kommt im 17. und 18. Jahrhundert selten vor; Dascal (1978, S. 161) erwähnt “uno obtutu”-Vorkommen bei Leibniz in demselben Sinne, wie es Wolff gebraucht. Einige Male wird das Wort in der Panaugia des Comenius verwendet; genau viermal findet man es in den lateinischen Dissertationen von Kant, davon einmal im Wolffschen Sinne in “De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis” (siehe: Allgemeiner Kant-Index). Dahinter steht natürlich eine bestimmte Konzeption der intuitiven Erkenntnis, die in den Meditationes von Leibniz im kulminierenden “simul” ausgedrückt ist. Wollte man die Entwicklung genauer herausbringen, dann wäre vor allem auf die lange Geschichte der visuellen Metaphern in der Philosophie zu achten, vom “Spiegel” bis zum “Auge des Geistes”. Nach meinem bisherigen Überblick aber scheint die Hauptquelle Spinoza zu sein, der bereits zu Beginn seiner Principia Philosophiae schreibt “…, quae uno obtutu tanquam in pictura videri debent, …” (Pars prima, Prol., erster Abschn.) und der diese Formel dann auch in seinem Brief an Leibniz vom 9. Nov. 1671 (Epist. LII) wiederholt: “…, quando plurima obiecta uno obtutu comprehendere volumus, …”. Dieses intuitive Moment kommt bei Lambert dadurch heraus, daß bei ihm hervorgehoben ist, wie in Feuilletschen Zeichensystemen Fehler direkt sichtbar werden: die Reduktion symbolischer Erkenntnis auf intuitive ist in diesem Punkte durch die Art der Zeichen gewährleistet. Der zusammenfassende Blick auf das Bezeichnete, der durch Feuillet-Zeichen möglich wird, ist in dem analysierten Textstück mit zugehörigem Kontext bei Condillac nur sehr implizit, aber doch auffindbar vorhanden. Um dies einzusehen, ist der beste Ansatz sicherlich ein Verständnis der Zeichentheorie im ersten Teil des Essai, in der die Imagination, gespeist von den sinnlichen Wahrnehmungen, die eigentliche Zeichengeberin ist. Daß durch Feuillet-Zeichen deutliche Kenntnisse dargestellt und übermittelt werden können, sagt Wolff explizit, und bei Lambert und Condillac ist dieser Sachverhalt wesentlicher Bestandteil ihrer Semiotik. Für Wolff und Lambert steht die “notio distincta” unter jeweils eigenen Abwandlungen in der Nachfolge der Erkenntnisstufen, die Leibniz 1684 in seinen “Meditationes de cognitione, veritate et ideis” beschrieben hat, und sie kann nur von daher verstanden werden. Für “deutlich” oder “distinkt” stehen Condillac zwei Wörter zur Verfügung. Bezüglich der allgemeinen Funktion der Zeichen für die menschlichen Erkenntnisleistungen spricht er von “les notions exactes”: z.B. (Essai; I.IV.1. § 9) “… et que nos notions ne sont exactes qu’autant que nous avons inventé avec ordre les signes qui doivent les fixer.” Das andere Wort ist jenes bereits analysierte “apprécier”, das er im Zusammenhang mit der Tanzschrift, aber auch an späteren Stellen verwendet. Zugeschnitten auf diese engere Bedeutung, d.h. als Terminus, hat Condillac das Wort schon bei Rameau vorgefunden, der es auch in einem allgemeinen wahrnehmungsanalytischen Sinne verwendet hat. In dem Traktat “Génération harmonique, ou Traité de Musique théorique et pratique” (1737) lautet die “Premiere Proposition” des l. Kapitels (S. 2): “Ne connoissant point la nature de notre Ame, nous ne pouvons apprétier les rapports que se trouvent entre les différens sentimens dont nous sommes affectés: cependant lorsqu’il s’agit des Sons, nous supposons qu’ils ont entr’eux les mêmes rapports qu’ont entr’elles les causes que les produisent.” Der zweite Teil des Satzes enthält eine Überlegung, die man auch bei älteren Autoren findet; in den semiotisch einschlägigen Meditationen (“cognitio symbolica”) von Leibniz ist sie im Gerold Ungeheuer 182 zweiten Abschnitt mit der Formel “…, quippe cum causas suas habeant.” an der Stelle wiedergegeben, wo die konfuse Erkenntnis bestimmt wird. Dem “apprétier” entspricht dort “agnoscere”, das kein “discernere” enthält. Unter den Ursachen des Schalls oder der Töne versteht Rameau die physikalischen Vorgänge in den “Corps sonores” und das Verhältnis zwischen einfachen Tönen, die durch systematische und proportionierte Veränderungen der Schallkörper hervorgerufen werden. Natürlich spielen dabei die bekannten Verhältnisse der kleinsten ganzen Zahlen eine wesentliche Rolle, die er aber neu zusammenfaßt und mit deren Kenntnis er in genauer Beobachtung beinahe bis zu einer Zerlegung komplexer Klänge (die Fourier-Analyse ist noch weit entfernt) in elementare vorstößt. In Rameaus Werk ist jedenfalls die gesamte Argumentation von Condillac vorgebildet. In der “XI. Proposition” (S. 7) heißt es beispielsweise: “II y a des Sons qui, relativement aux bornes de nos sens, ne peuvent plus être apprétiés par l’Oreille, soit parce qu’ils sont trop graves, soit parce qu’ils sont trop aigus.” Und auf S. 23 spricht Rameau von der Möglichkeit, mit Hilfe künstlicher Mittel (das bezieht sich auf seine Beobachtungen und einfachen Experimente) die Bestimmbarkeit eines Tones zu erleichtern, der von sich aus unbestimmbar ist: “…; puisque le moïen artificiel dont on se sert pour faciliter l’apprétiation d’un Son inapprétiable par lui-même, …” (man findet weitere Verwendungen des Terminus auf den Seiten 10, 11/ 12, 16, 25, 53, 59). Der Fundamentalbaß aber ist, wie es im ersten Satz des Vorworts heißt, “l’unique Boussole de l’Oreille”. Es bedarf auch nur geringer semantischer Anstrengungen, um zu erkennen, daß “apprétier” “sentir” spezifiziert, was dann durch “distinguer” überhöht werden kann: die traditionellen Unterscheidungen der Wahrnehmungstheorie. Was nun die Differenz zu den ausdrücklich so bezeichneten arbiträren Zeichen der natürlichen Sprachen angeht, so ist dieses Moment bei Wolff und Lambert explizit gemacht und wurde auch in den ihnen gewidmeten Kapiteln dargestellt. Bei Condillac ist die Sache wegen seiner recht impliziten Erwähnung Feuillets weniger klar. Doch scheint er den Feuillet-Zeichen deswegen einen von den Sprachzeichen unterschiedlichen Status zu geben, weil diese eben gerade nicht, wie die sprachlichen Zeichen, der Präzisierung des Gemeinten dienen, sondern (nur) bereits Präzisiertes in einem Erfindungsakt der Imagination mit Zeichen versehen, welche anderen Vorteile man aus solchen Bezeichnungen immer auch zu ziehen vermag. An dieser Stelle wäre es angenehm, wenn man auf eine kritische Darstellung der gesamten semiotischen Erkenntnistheorie Condillacs verweisen könnte. Eine solche gibt es aber leider noch nicht (auch wenn viel über Condillac gesprochen wird), und eigene Untersuchungen verbieten sich natürlich in dieser Schlußbemerkung. Immerhin kann man auf die ausgezeichneten Veröffentlichungen von Aarsleff verweisen, in denen mit Sachkenntnis Teile des Ganzen erörtert werden. Abschließend kann noch bemerkt werden, daß auch Sulzers “Allgemeine Theorie der schönen Künste” (1771-74) ein Stichwort “Choregraphie” enthält, dessen zugehöriger Text anderthalb Spalten füllt. Das meiste darin ist, ohne daß es angemerkt wird, dem Feuilletschen Buch entnommen, dessen Titel in einer Fußnote erscheint. Zum semiotischen Problem sagt Sulzer, der Freund Lamberts, nichts; dafür berichtet er am Schluß die Skandalgeschichte: “Dieser Tanzmeister eignet sich die ganze Erfindung derselben zu: andre aber geben ihm Schuld, er habe die Sache dem berühmten Tanzmeister Beauchamps durch einen gelehrten Diebstahl entwendet.” - O Tempora! O Mores! Der Tanzmeister bei den Philosophen 183 Literaturverzeichnis Aarsleff, H.: The study of language in England 1780 -1860, Princeton 1967. Aarsleff, H.: The tradition of Condillac: origin of language in the eighteenth Century and the debate in the Berlin Academy before Herder; in: Hymes (1974). Aarsleff, H.: Condillac’s speechless Statue; Studia Leibnitiana Suppl. XV (1975) (Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses 1972), 287-302. Aarsleff, H.: The eighteenth Century, including Leibniz; in: Current trends in linguistics; Vol. 13, 383 - 479; 1975. Abercrombie, D.: Studies in phonetics and linguistics; Steele, Monboddo and Garrick. London 1951. I. A. Comenii de Rerum Humanarum Emendatione Consultatio Catholica, editio princeps, Academia Scientiarum Bohemoslovaca MCMLXVI; pars secunda: Panaugia. Condillac: Oeuvres philosophiques; ed. G. Le Roy (Auteurs Modernes, t. XXXIII), Paris 1947-1951. Dascal, M.: La sémiologie de Leibniz, Paris 1978. 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