eJournals Kodikas/Code 26/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4

Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets (1760) aus mediengeschichtlicher Sicht

121
2003
Mathias Spohr
kod263-40209
Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets (1760) aus mediengeschichtlicher Sicht Mathias Spohr Wenn das 19. Jahrhundert 125 Jahre zählt - von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg - besteht das 18. Jahrhundert nur aus 75: Nach dem Tod des Sonnenkönigs 1715 setzt eine umfassende Revision absolutistischer Repräsentativität ein, mündend in eine “Epoche”, die man mit Etiketten wie “Empfindsamkeit” oder “Rokoko” bedacht hat. Scheinbar handelte es sich bei diesen Veränderungen um Verbesserungen, Errungenschaften; zumindest wurde dies noch im 20. Jahrhundert so dargestellt: Künstliches sei hier endlich zu Natürlichem geworden. Eine “barocke”, äußerliche Ornamentik, schickliche Ziererei, höfisches Gehabe werde nun zunehmend mit Leben erfüllt. 1 So die Lehrmeinung. Die politischen Veränderungen im Vorfeld der Französischen Revolution hängen damit zusammen. Etwa seit 1750 erscheinen bedeutende theoretische Schriften, die diese Entwicklungen gewissermaßen zusammenfassen. Dazu gehören die 1760 in Lyon erschienenen Lettres sur la danse, et sur les ballets von Jean-Georges Noverre. 2 Noverres “ballet en action”, ein Balletttypus, dem mit diesen Ausführungen der Weg gebahnt werden soll, ersetzt statische Tanzformen durch dramatische Handlung, Maskenhaftigkeit durch “natürlichen” Ausdruck. 3 De facto wurde hier ein wachsender Einfluss der öffentlichen Jahrmarktspantomimen auf den stets noch exklusiven höfischen Tanz theoretisch legitimiert, ein Anspruch des trivialen Genres auf das noble - was Noverre auch gewunden zugibt, aber nicht ohne die Bekräftigung, dass ihm nur das Noble am Herzen liege. Bewundernd betrachtet der Hoftänzer Noverre die tänzerischen Jahrmarktsattraktionen, aber er will sich doch von ihnen unterscheiden. Wie bei manchen Autoren seiner Zeit zeigt sich bei ihm ein recht zwiespältiges Verhältnis von Theorie und Praxis. Einer, der ein bedeutender Praktiker zu sein versucht, wird vielmehr zum bedeutenden Theoretiker, ganz entgegen der mittelalterlichen Tradition, in der Theorie als Praxisverzicht, nicht im Hinblick auf Nutzanwendung, verstanden wurde. Noverre ist hingegen schon einer jener modernen Theoretiker, die Loblieder auf die Praxis singen, Praxisferne beklagen und dabei doch irgendwie verhinderte oder sich selbst verhindernde Praktiker sind - weil sie entweder den Anforderungen dieser Praxis nicht recht genügen oder sich trotz allem Bekenntnisdampf vornehm von ihr zu unterscheiden versuchen. Im Grunde sind auch diese Theoretiker nicht frei von einer idealisierenden Praxisferne, sonst wären sie nicht zu Theoretikern geworden. Jean-Jacques Rousseau gab seine Kinder im Waisenhaus ab, um besser seine Erziehungstheorien schreiben zu können. Obwohl Noverre in Wien, Mailand oder London bedeutende Positionen errang, wurde keines seiner programmatischen Ballette zum “Repertoirestück”, ähnlich wie Denis Diderots K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Mathias Spohr 210 bürgerliche Rührstücke auf dem Theater keine große Wirkung hatten, wogegen seine theoretisch dargelegte Idee dazu sehr einflussreich war. Gewiss war Noverre eher ein Theaterpraktiker als Diderot, aber seine besondere Qualität war es, über diese Praxis reden bzw. schreiben zu können, bis seine Zuhörer und Leser glaubten, dass sie für sich selbst stehe. Und so konnte er eine kurze Zeit lang Ballettmeister an der Pariser Opéra werden, zehn Jahre bevor die Revolution einiges wegfegte. Noverre war nicht im modernen Sinne eines Zählbaren erfolgreich, weil er sich dezidiert an ein aristokratisches Publikum, an hoch gestellte Entscheidungsträger und höchstens in zweiter Linie an die Basis einer “bürgerlichen” Öffentlichkeit wandte. So richten sich seine Tanzbriefe denn auch an einen aristokratischen “Monsieur”, der als Liebhaber oder Kenner dieser standesgemäßen Zerstreuung vom Fachmann unterrichtet wird. In den absolutistischen Instituten und Akademien wurde Ordnung zelebriert - Aufrechterhalten bestehender Modelle - und das widersprach jenem Geist des 18. Jahrhunderts, der zunehmend die persönliche Leistung der Ordnung vorzog. Noverre weist in seinen Lettres mehrmals darauf hin, dass die “émulation”, der Wettbewerb, der Tanztechnik in jüngster Zeit große Fortschritte beschert habe - Fortschritte, die jene Modelle veraltet erscheinen ließen. Ordnungsglaube verhindert Noverres Ansicht nach den Wettbewerb und damit den Fortschritt. 4 In der Pariser Opéra wie in der Comédie-Française wurden weiterhin die klassischen, oder um es mit der leicht abschätzigen deutschen Bezeichnung zu sagen, “klassizistischen” Vorbilder des 17. Jahrhunderts gepflegt - eine stete Angriffsfläche für die Kritik der Neuerer. Voilà donc de froides copies qui multiplient de cent manières différentes l’original, et qui le défigurent continuellement. […] Enfin, Monsieur, l’Opéra est, si j’ose m’exprimer ainsi, le spectacle des singes. 5 Natürlich schaffte sich Noverre mit dieser Kritik kaum Freunde an diesem Institut, das aber dennoch erklärtes Ziel seiner Bemühungen war: Die normierenden Institutionen wurden gerade durch ihre vehemente Bekämpfung in ihrer Bedeutung bestätigt, um solche Gegner dann früher oder später in sich aufzunehmen. Polemik dieser Art war häufig und konnte sehr erfolgreich sein, wie Rousseaus Streitschrift Discours sur les sciences et les arts (1750) bewies, die sich pauschal gegen die Errungenschaften der Zivilisation richtete. Das “18. Jahrhundert” ist geradezu besessen von einem Zersetzen der aufklärerischen Ideale eines Descartes oder Leibniz. Von Julien Offray de la Mettries L’Homme machine (1748) bis zu Denis Diderots Satiren wird der Ordnungsglaube des Rationalismus bissig zu Grabe getragen, und auch Immanuel Kants Hauptwerke tragen den Titel “Kritik” - was dann von einer Geisteswissenschaft seit dem späteren 19. Jahrhundert, die diese Zeit als ein Aufbauen statt ein Zerstören zu begreifen versuchte, beflissen zugedeckt wurde. In Noverres Schrift, und dies sei die Thematik des vorliegenden Aufsatzes, zeigen sich sehr deutlich drei problematische, weil paradoxe Vorstellungen einer Technikideologie, die sich im 18. Jahrhundert als Reaktion auf den absolutistischen Rationalismus entwickelt und im 19. und 20. Jahrhundert - gerade was semiotische Theoriebildung betrifft - etwelche Verwirrung stiftet. Noverres Tanztechnik soll hier stellvertretend für jede erdenkliche Technik stehen. 6 Induktion der Künste auf eine gemeinsame Basis ist erklärtes Ziel jener Zeit, wie es sich in etwa in Charles Batteux’ Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746) niederschlägt. Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets 211 Wirklichkeit als ein Lesen Tanz und Bild, wie Noverre ausführt, seien übersprachliche Sprachen: “La peinture et la danse ont cet avantage sur les autres arts […] que leur langage est universellement entendu et qu’ils font partout une égale sensation.” 7 Die “égale sensation” belegt die Gleichberechtigung der Betrachter, die nicht etwa durch fehlende Bildung von der Bedeutung des Vorgeführten getrennt seien. Bildbetrachter können fremdsprachig oder Analphabeten sein. So wird die Illusion eines direkten Verstehens gefördert, das keiner Übersetzung oder Entschlüsselung bedürfe. Aber gerade bei Noverres eigenen Balletten zeigte sich, dass ihre Unmittelbarkeit ausführlicher Kommentare bedurfte. 8 “Un ballet est un tableau”, 9 behauptet Noverre ganz zu Beginn. Und weiter noch: Que les maîtres de ballets qui voudront se former une idée juste de leur art, jettent attentivement les yeux sur les batailles d’Alexandre, peintes par Lebrun ; sur celles de Louis XIV, peintes par Van der Meulen […] 10 Tanz besteht also, wenn man diese Aussage beim Wort nimmt, in einem Lesen maßgeblicher Bilder. Gleichzeitig wird jedoch behauptet, dass der Tanz Natur sei im Unterschied zum Bild, das nur eine Kopie von Natur darstelle. “Un beau tableau n’est qu’une copie de la nature ; un beau ballet est la nature même […]” 11 In dieser widersprüchlichen Vorstellung wird die Priorität der Aufzeichnung gegenüber jeder “lebendigen” Wirklichkeit festgeschrieben: Die Kopie wird zum Plan gemacht, dem das Kopierte umgekehrt gehorchen solle. Das Ur-“Bild” entsteht erst als idealisiertes Abbild seiner gering geschätzten Kopie. 12 Der Körperlichkeit wird somit das Bild vorausgesetzt, der Mündlichkeit die Schrift. Aber zugleich wird nur das Lesen der Aufzeichnung, ihre Verwirklichung, als Natur anerkannt. Die Aufzeichnung wird einerseits negiert, als etwas zu Überwindendes, aber andererseits doch als vorbildlich betrachtet. Die Norm wird gerade durch ihre Bekämpfung verinnerlicht - wie ja auch die durch die Grammatiker von Port-Royal absolutistisch vereinheitlichte französische Sprache über die Revolution hinaus verbindlich bleibt und dann sogar als Muster der Gleichberechtigung gelten kann: als eine “Hochsprache”, die etwa George Bernard Shaw in seiner Vorrede zu Pygmalion (1916) als Desiderat des Englischen betrachtet. Solche impliziten Aufzeichnungen, die als gleichberechtigende Normen einem Beschriebenen vorauszugehen scheinen, sind bis zu Ferdinand de Saussure und über ihn hinaus ein Problem bei der Unterscheidung von signifiant und signifié. Jacques Derrida hat sie als latente Urschrift vor allem in Rousseaus Naturvorstellungen erkannt. 13 Tanz soll nach Noverre vom “compositeur” direkt in die Körper der Tänzer eingeschrieben werden, als lebendes Bild. Scharf verurteilt er in diesem Zusammenhang den “chorégraphe” als jemanden, der Tanz auf Papier festzuhalten versucht. Musiknoten könnten schnell gelesen, aber Tanzschrift nur sehr langsam entziffert werden: La Chorégraphie […] est l’art d’écrire la danse à l’aide de différents signes, comme on écrit la musique à l’aide de figures ou de caractères désignés par la dénomination de notes, avec cette différence qu’un bon musicien lira deux cents mesures dans un instant, et qu’un excellent Chorégraphe ne déchiffrera pas deux cents mesures de danse en deux heures. 14 Blattlesen sei für den Choreographen nicht ebenso möglich wie für den Musiker. Deshalb bleibt er für Noverre ein bedauernswerter Behinderter oder kleinlicher Akademiker. Ein automatisierbares, rationalisierbares Entziffern beim Lesen von Texten oder Musiknoten scheint unmittelbar zum lebendurchfluteten Kunstwerk werden zu können, wohingegen ein mühevolles, mit zahl- Mathias Spohr 212 reichen Unsicherheiten behaftetes Lesen von Tanzschrift nur zu einer starren Mechanik führe. Schülerhaftes, zu wenig beherrschtes Lesen wirkt “ausdruckslos”: Gerade die automatisierbare Handlung scheint also lebendig zu sein und die zögernde, fehlerhafte und unberechenbare Handlung erscheint mechanisch. Das Tote und das Lebendige sind in dieser Vorstellung vertauscht: Gerade das Automatisierte ist im hohen Grade mechanisch, während das unbeholfen Tastende die Kontingenz einer sozialen Verständigung behält. Durch Differenzierung zum Natürlichen Eindimensionalität sei künstlich, aber Differenzierung mache Kunst zur Natur, so lautet das mehrfach wiederholte Credo von Noverres Ästhetik. Noverre ist kein demokratischer Reformer. Für ihn ist der “homme bien né” differenziert und der “homme rustique” eindimensional: L’homme grossier et rustique ne peut fournir au peintre qu’un seul instant ; celui qui suit sa vengeance est toujours celui d’une joie basse et triviale. L’homme bien né lui en présente au contraire une multitude ; il exprime sa passion et son trouble de cent manières différentes […] 15 Durch Differenzierung geschähe also eine ethische und soziale Aufwertung des Trivialen, als Unterscheidung eines Besonderen von einem Allgemeinen. Diese Vorstellung wird paradox mit der genau entgegengesetzten Ansicht vermischt, dass durch Differenzierung eine Brechung höfischer Konventionen in Richtung eines allgemein Menschlichen erfolge, das im Unterschied zu höfischer Verstellungskunst und Intrigenkrämerei als höchste ethische Instanz gilt. Gerade durch Bildung scheint die verwerfliche Konvention abgestreift zu werden. Durch Brechung der bloß ornamentalen Symmetrien 16 in der Tanzbewegung, Ablegen der typisierenden Masken, Fließendmachen der harten Übergänge, werde Kunst zunehmend zu Natur und zugleich zu etwas höher Stehendem - so wie man heute die Illusion hat, dass ein Foto durch höhere Auflösung, differenziertere Farben, weitere Momentaufnahmen und hinzugefügten Ton immer “natürlicher” werde. In diesem Glauben wird die Technizität der Beobachtung hingegen fortlaufend verstärkt. Natürlich wird ein Text nicht dadurch lebendig, dass man den grob vereinheitlichenden Buchstaben A durch “angemessene” Lautzeichen für verschiedenste A-Laute ersetzt. Nur als Kontrast zum Allgemeinen des Vokals A gäbe es das Besondere des differenzierteren phonetischen Zeichens. Mit ihm würde zugleich eine Individualisierung und die Naturähnlichkeit mit einem “wirklich” Gesprochenen reproduzierbar gemacht - eine Forderung nach Natürlichkeit, die letzten Endes nur das Sprechen selbst erfüllen kann. Auch eine “differenziertere” Fassung bleibt Schrift. Das heißt: Die Isolation der Elemente aus einem Zusammenhang, deren individuelle Kombination mit einem spezifischen Umfeld eben diese Isolation wiederum aufheben soll, muss vorausgesetzt werden. Jedes Zusammenhängende wäre aus einem zuvor Isolierten zusammengefügt; dabei geht der Zusammenhang jedem denkbaren Isolieren voraus. Doch die Illusion, dass durch “Differenzierung” isolierbarer Bausteine zum Toten, Modellhaften ein Lebendiges, Bewegliches addiert werde, weil dadurch ein konkreter Zusammenhang hergestellt würde - zum vereinheitlichenden Text tritt scheinbar das individualisierende Lesen, zur übertragbaren Funktion eine unverwechselbare ausführende Handlung - motiviert den technischen Fortschritt: Entlastung des eigenen Handelns durch Automatisierung - als vorgefertigtes Verstehen, als gewährleistete Unterscheidung vom Anonymen bzw. als vorfixierte und dadurch allgemein verfügbare Individualität. Aufzeichnungen und Maschinen scheinen durch diese - aus konkreten Beobachtern Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets 213 ausgelagerte und mechanisch wieder zu erweckende - Eigenleistung wie Marionetten lebendig zu werden und doch beherrschbar zu bleiben. Bis zum späteren 19. Jahrhundert entwickelt sich aus der Zielsetzung “l’art est de savoir déguiser l’art” 17 eine paradoxe Tabuisierung des Automatistischen und Mechanistischen, die mit der Forderung nach höchster technischer Brillanz gekoppelt ist - wie man dies am deutlichsten in der damaligen Musik beobachten kann. 18 Bei Noverre gibt es diese Tabuisierung vorausgesetzter Techniken und Aufzeichnungen freilich noch nicht in dem Maße. Die “nackte” technische Fähigkeit, wird von ihm ausdrücklich geschätzt, und dieses Bekenntnis versteht sich nicht zuletzt als soziale Aufwertung der niederen Tätigkeit von Praktikern, die ohne den Segen einer Autorität bloße Maschinen sind: […] j’admire l’homme machine, je rends justice à sa force, à son agilité ; mais il ne me fait éprouver aucune agitation ; il ne m’attendrit pas et ne me cause pas plus de sensation que l’arrangement des mots suivants : fait … pas … le … la … honte … non … crime … et … l’échafaud. Cependant, ces mots arrangés par le grand homme, composent ce beau vers du Comte d’Essex : Le crime fait la honte et non pas l’échafaud. 19 Funktionalisierte Menschen und Wörter werden eins in diesem Bild. Und es ist der große Autor - in diesem Beispiel ein Aristokrat -, der durch seinen differenzierten Geschmack dem Trivialen, Mechanischen erst einen Sinn, einen Zusammenhang verleiht. Das Zusammenfügen eines zuvor Isolierten, Nummerierbaren - seien es Buchstaben, Wörter, Tanzschritte, fixierte Bewegungen als Bausteine von Bewegungsabläufen, Opernakte oder Wettbewerbsteilnehmer, die nichts als ihre Regeln gemeinsam haben - scheint den Zusammenhang erst auszumachen. Die Vorstellung, die sich dahinter verbirgt, ist eine soziale: Der mittlerweile entfesselte Wettbewerb isolierter Teilnehmer solle nicht zu Vereinzelung führen wie bei den wettstreitenden Künsten im Theater, die möglichst nichts miteinander zu tun haben wollten, sondern das Ziel sei vielmehr ein Zusammenwirken dieser Einzelkämpfer im Sinne einer kommunikativen Einigung. Le poète s’imagine que son art l’élève au-dessus du musicien ; celui-ci craindrait de déroger s’il consultait le maître de ballets ; celui-là ne se communique point au dessinateur ; le peintredécorateur ne parle qu’aux peintres en sous-ordre, et le machiniste enfin souvent méprisé du peintre, commande souverainement aux manœuvres du théâtre. 20 Jeder beschränkt hier sein Interesse auf das, was er beherrscht. Die Parallele zu universitären Disziplinen ist nicht abwegig. Wenn eine Spezialisierung und Individualisierung befördert wird wie mit der Spartentrennung in den großen Theatern, dann droht das solcherart Differenzierte auseinander zu fallen, sobald die Autorität der Gesamtleitung abbröckelt. Das ist die Problematik jeder nach-feudalen, auf sich selbst gestellten Ordnung. Synthese ist daher Noverres zentrales, stets wiederholtes Anliegen. Durch Formung zum Kunstwerk sollen die Bestandteile einer solchen Institution zur sozialen Einheit eines “ensemble” zusammenwachsen, sodass ihr Zusammenwirken auch einen Konsens bedeute - einen Konsens, der einerseits gegenüber autoritären, von außen auferlegten Ordnungen und andererseits gegenüber einem eigensinnigen und zerstörerischen Konkurrenzkampf betont wird. Nicht aus Eitelkeit, sondern aus Liebe zu seiner Funktion beschäftige er sich mit Tanz, 21 so erklärt Noverre und setzt dafür Anerkennung voraus. - Es genügt nicht mehr, um das vorhergehende Zitat wieder aufzunehmen, dass der “grand homme” die passenden Wörter als gefügige Werkzeuge zum Sinnspruch kombiniert oder der “compositeur” die passenden Tänzer als Menschenmaterial zum lebenden Bild gruppiert, sondern sie sollen diese auferlegte Bedeutung wie stolze Uniformierte aus eigenem Antrieb lebendig erhalten. Die fremdbestimmten Mathias Spohr 214 Bausteine - Buchstaben, Wörter, Künste und Künstler - sollen sich die Hand geben, um zu zeigen, dass sie schon von sich aus eine Bedeutung hätten, die auf synthetisierende Beobachter nicht angewiesen sei, weil sie als Gemeinsamkeit bereits aus ihnen spreche. Arglos und beiläufig ist hier auch schon von nationalen Identitäten die Rede - und dass bei ihnen zu Gunsten klarer Erkennbarkeiten auf eine allzu genaue Naturnachahmung verzichtet werden solle. 22 Ein Erkennen durch beliebige Beobachter soll schon durch das Bedeutende vorweggenommen werden, das seine eigene unerhörte Bedeutung selbstbewusst beherrscht, was den von außen auferlegten Zusammenhang “natürlich” - und das heißt hier: zwanglos - erscheinen lässt. Auf diese sozial bedingte Weise entsteht die paradoxe Vorstellung, dass ein isolierbares Bedeutendes dem Bedeuteten ursprünglich sei, dass es ihm als freiwillig und getreu ausgeführte Vorschrift grundsätzlich vorausgehe. Das Naturzeichen als Signal Statt geometrischer Figuren, denen eine allegorische Bedeutung gegeben wird, die man lernen und wissen muss oder die dem Bedeutenden als lesbare Beschriftung angeklebt wird, fordert Noverre ein aus sich selbst heraus Erkennbares. Und dies werde durch Imitation der wahren Natur anstelle konventioneller Zuordnungen gewährleistet: Les interprètes de Sophocle, d’Euripide et d’Aristophane, disent cependant que les danses des Egyptiens représentaient les mouvements célestes et l’harmonie de l’Univers : ils dansaient en rond autour des autels qu’ils regardaient comme le soleil, et cette figure qu’ils décrivaient en se tenant par les mains désignait le zodiaque ou le cercle des signes ; mais tout cela n’était, ainsi que bien d’autres choses, que des figures et des mouvements de convention, auxquels on attachait une signification invariable. Je crois donc, Monsieur, qu’il nous serait plus facile de peindre nos semblables ; que l’imitation en serait plus naturelle et plus séduisante. 23 Natürlich ist es der absolutistische Hoftanz, den Noverre hier in eine antike Vorzeit verlegt, um sich leichter von ihm distanzieren zu können. Einer Imitation des überlieferten Hofzeremoniells zieht er, auch wenn er das nicht ausdrücklich zu sagen wagt, eine Imitation der aktuellen Jahrmarktsspektakel vor, denn jene vitaleren Figuren seien “nos semblables”. Auch bei den wilden Völkern Germaniens könne man bemerkenswerte Musik und Tänze beobachten, die ihnen die Natur selbst eingegeben habe, die sie mit naturgetreuer Präzision ausführten und von denen man als kultivierter Franzose nur lernen könne. 24 Von der universellen Geltung der französischen Hofsitten aus wird hier auf das Exotische eines “Nationalen” würdigend herabgeblickt. Noverre wirkte derzeit für Herzog Karl Eugen am Stuttgarter Hoftheater. Interessant ist die Strategie, mit der die Aufwertung jenes sozial Niederen und dennoch nicht Trivialen, das Natur genannt wird, geschieht: Ein kreatürlicher Hilfeschrei hätte eine unmittelbare Wirkung gegenüber der schicklichen Konvention. Entgegen der höfischen oder höflichen Ziererei sei es der “cri de la nature”, 25 der zuinnerst bewegt. Damit folgt Noverre der durch Rousseau verbreiteten Vorstellung von einem durch Konvention verdeckten allgemein menschlichen Ursprung der Sprache, dem die Darsteller auf der Bühne mit ihrer Kunst zu Hilfe kommen sollten. Il faut un temps pour articuler sa pensée, il n’en faut point à la physionomie pour la rendre avec énergie ; c’est un éclair qui part du cœur, qui brille dans les yeux, et qui répandant sa lumière sur tous les traits annonce le bruit des passions, et laisse voir pour ainsi dire l’âme à nu. 26 Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets 215 Wie zuvor wird hier eine Rationalisierbarkeit, Formalisierbarkeit, Automatisierbarkeit des Erkennens als Kriterium von Natur angeführt. Einer künstlichen, durch ihre barocke Umständlichkeit erkennbaren Mechanik “von außen” wird eine natürliche Mechanik “von innen” entgegengehalten, die es zu fördern gelte, um ein Innerstes unverstellt wirken zu lassen 27 - vor allem das bloß simulierte Innerste von Bühnenfiguren. Getreue Imitation von Natur, als ein perfektes Lesen, konstituiert erst diese Natur. Ein ungewollt sich Äußerndes scheint in dieser Vorstellung ebenso das Produkt einer Kausalkette zu sein wie der kalkulierte Effekt. Diese “psychologische” Vorstellung vom Naturzeichen als Alarmglocke, wie sie sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzt, versucht Bewirken und Bitten synonym zu setzen. Ein solches Zeichen scheint von sich aus gewaltsam zu schreiben statt interpretierend gelesen zu werden. Es macht “Eindruck” im mechanischen Wortsinn. Und die Beobachter reagieren “unmittelbar” darauf, um zu helfen, nicht weil sie manipuliert würden oder die eigene Macht spielen lassen wollten. Bereitwillig lässt sich der Naturfreund in Kausalketten einspannen: Er lässt Natur zu ihrem Recht kommen, um selbst zu seinem Recht zu kommen. Diese Naturvorstellung dient zur Legitimierung von Kausalität, denn ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung ist ein Erzwingen, kein Beschwören, und deshalb nach mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen nicht kommunikativ. Diesem Vorbehalt wird seit dem 17./ 18. Jahrhundert entgegengehalten, dass Natur ja selbst etwas “Wirkendes” sei. 28 Und weil dieses Wirken blind sei, dürfe es auch beherrscht werden, ohne dass dabei ein göttlicher Wille hintergangen werde. Technik - ein Beherrschen durch Kalkulieren - rechtfertigt sich damit, dass sie ihre Wirkung lediglich im Hinblick auf eine Beziehung erziele: Am Ende der Kausalkette stehe ein Konsens, kein Zwang, denn der kausale Zusammenhang werde durch Technik entblößt, “transparent” und dadurch harmlos, weil allgemein verfügbar gemacht. Dessen ungeachtet stammt ein erheblicher Teil der heute verfügbaren Kommunikationstechnik vom Militärischen her. Um abschließend einen Bogen von den Paradoxien des 18. Jahrhunderts zum 20. Jahrhundert zu spannen: Ein selbstherrliches Bewirken gegenüber einem demütigen Beschwören zu legitimieren, war eine Absicht, die viele Einwanderer in die Vereinigten Staaten einigte. Sie waren traditionellen Gemeinschaften entronnen und wollten ihre Leistung über hindernde Vorrechte der Herkunft gestellt sehen, gewissermaßen als Verwirklichung von Rousseaus Contrat social (1762), der in der Zeitstimmung von Noverres Lettres entstand. Im USamerikanischen Behaviorismus - Charles Morris deutete das Peircesche Interpretieren kurzerhand in ein Funktionieren um - fand die Ideologie der “natürlichen Wirkung” nicht zufällig ihre prägnanteste Form. Der Reflex erschien als ein durch wissenschaftliche Versuchsanordnungen offen zu legender Ur-Mechanismus: Response auf einen Stimulus als dämonische, aber aufgedeckte Medienwirkung. Das Zwanghafte von Ursache und Wirkung rechtfertigte sich als Naturerscheinung - mit Fleiß gefunden, nicht konstruiert. Auch hier verdichteten sich soziale Idealvorstellungen zu objektivistischen Suggestionen. Anmerkungen 1 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 2: Vom “künstlichen” zum “natürlichen” Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, Tübingen: Narr 2 1989 2 Hier zitiert nach: Jean-Georges Noverre, Lettres sur la Danse, éd. Thierry Mathis, Paris: Ramsay 1978 3 Für eine Literaturübersicht siehe The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London: Macmillan 2 2001, vol. 18, S. 221-222 Mathias Spohr 216 4 “Cette privation d’objets instructifs a cependant excité en moi une émulation vive dont je n’aurais pas été peutêtre animé, si j’avais eu la facilité de n’être qu’un imitateur froid et servile.” Lettre XIV, S. 306 -307 5 Lettre VIII, S. 184 -185 6 Techniken und Aufzeichnungen werden hier parallel gesetzt im Sinne eines Isolierbaren und Reproduzierbaren. 7 Lettre IV, S. 120 8 Vgl. etwa Sibylle Dahms, Noverre: Adelheid von Ponthieu, in: Carl Dahlhaus, Sieghart Döhring (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München: Piper 1991, S. 480 - 482 9 Lettre I, S. 93 10 Lettre III, S. 115 11 Lettre IV, S. 121 12 Die Vorstellung eines “natürlichen”, aber imaginär bleibenden Modells im Unterschied zum abgelehnten konventionellen Modell gibt es ebenfalls bei Rousseau: M. Spohr, Jean-Jacques Rousseau und die “Naturtreue”, in: Musiktheorie 14: 1999, H. 3, S. 247-252 13 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris: Minuit 1967 14 Lettre XIII, S. 287 15 Lettre VI, S. 140 16 “Convenez donc avec moi, Monsieur, que la symétrie, fille de l’art, sera toujours bannie de la danse en action.” Lettre I, S. 99 17 Lettre I, S. 100 18 Vgl. M. Spohr, Gibt es musikalische Unterschiede zwischen U- und E-Musik? in: Die Fledermaus. Sonderheft. Symposium Johann Strauß: Musik - Umfeld - Interpretation, Tutzing: Schneider 2003, S. 51- 67 19 Lettre II, S. 108 20 Lettre VIII, S. 171-172 21 “l’amour de mon art, et non l’amour de moi-même est le seul qui m’anime” Lettre XIII, S. 291 22 Lettre XIV, S. 323 23 Lettre VIII, S. 195 -196 24 Lettre XII, S. 282-283 25 Lettre VIII, S. 192; Lettre X, S. 246 26 Lettre IX, S. 198 27 Norbert Elias hat diese Verschiebung der Aufmerksamkeit vom “Wie” einer zelebrierten Machart auf das “Was” eines unmittelbar zugänglich gemachten Inhalts am Beispiel der Barocklyrik im Übergang zur “Klassik” formuliert: Norbert Elias, Das Schicksal der deutschen Barocklyrik. Zwischen höfischer und bürgerlicher Tradition, in: Merkur 41: 1987, S. 451- 468 28 Michel Foucault hat gezeigt, dass der Begriff vom Naturzeichen als ein kausal Ausgelöstes bereits für Port- Royal im Zentrum steht: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966, S. 72