Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4
Assiozationen/Dissoziationen
121
2003
Gustav Frank
kod263-40225
Assoziationen / Dissoziationen Von den “stummen Künsten” (Hofmannsthal) zum “sichtbaren Menschen” (Balázs): eine Triangulation des ‘Neuen Tanzes’ durch Literatur und Film Gustav Frank Ihm sind die Musen hold, und doch erkoren Hat er der stummen Künste mindern Preis (Torquato Tasso: Das befreite Jerusalem, 11. Gesang, 70) Zu den wohl meistzitierten Referenztexten in der Literatur zum ‘Neuen Tanz’ gehören Passagen aus kleineren Aufsätzen Hugo von Hofmannsthals. 1 Der Beitrag versucht, diese Arbeiten Hofmannsthals ebenfalls für ein Verständnis des Tanzes fruchtbar zu machen, indem er ihrem Argumentationsgang folgend ihre Semiotik und Poetik entnimmt. Diese reißen einen spezifischen kulturellen Raum einer visuellen Kultur auf, in dem sich der ‘Neue Tanz’ erst ansiedeln und entfalten kann. Als ‘Neuer Tanz’ soll hier ein vielgestaltiger und in sich durchaus widersprüchlicher kultureller Komplex tänzerischen Ausdrucks abgekürzt und vereinfachend benannt werden, der zum Ende der unbestrittenen Vorherrschaft des Balletts führte und sich danach weiter entfaltete, also die Entwicklung des Tanzes etwa seit den 1890er Jahren. 2 In diesen Raum der visuellen Kultur, der sich einer spezifischen Semiotik des Schweigens verdankte, trat auch der Film in seiner Geschichte ein und zog neue Grenzen um die Bedeutung des ‘Tanzes’. Literatur, ‘Neuer Tanz’ und Film assoziierten sich in funktionsbestimmten Phasen ihrer Entwicklung, bestimmten sich damit wechselseitig zum gegenseitigen Vorteil und traten auseinander im Moment, wo die Aporien ihrer Selbstbestimmung durch diese Verbindung zu überwiegen begannen, offensichtlich wurden und die Partner in einer Konkurrenzsituation eine neue Position einnahmen. 1. Der Schauspieler als Mime “Buch” und “Erlebnis”, “Lügen” und “Leben” stellt Hofmannsthal in seinem Mitterwurzer- Essay “Eine Monographie” von 1895 einander diametral gegenüber. 3 Wenige, auffällig einfach gehaltene Sätze verleihen schon zu Beginn einer “kindischen Kraft” (M 230) der Worte des Essays gegen seinen Anlaß, das Buch des Professors “über einen lebenden Schauspieler” (M 228), eben die titelgebende Monographie, Ausdruck. Damit rückt vor das als ‘tot’ markierte Buch endgültig sein lebendiger Gegenstand, und erst der letzte Satz wird K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gustav Frank 226 es wieder aus seiner Vergessenheit reißen, nur um es endgültig in diese zu stoßen. Wie weit sich der Essay damit von seinem Titel entfernt, wie gering er also die Konvention achtet, die eine Besprechung erwarten ließe, macht der Sprachduktus des ersten Satzes deutlich, noch bevor am Ende des ersten Absatzes “Bücher im allgemeinen” (M 228), ja Worte im allgemeinen gerichtet sind durch den “tiefen Ekel”, der den Leuten vor ihnen nachgesagt wird. Worte und Bücher, egal ob sie auf “‘Gedanken’”, also Wahrheit und Wissen ausgehen, oder auf “‘Schönheiten’”, also der Literatur zugehören, stehen im Gegensatz zum “Leben” (M 228). Die Feier eines eigentlichen ‘Lebens’ als letzte Sinnressource in einer säkularen Zeit quert als eines der vorherrschenden Elemente die Mehrzahl der Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diese “Lebensideologie” kann Hofmannsthals Essay voraussetzen, ohne sie weiter entfalten zu müssen. 4 Der hier gefeierte “lebende Schauspieler” und, mehrfach wird dieses als gleichsam selbstverständliche Kategorie für die Zuschreibung höchsten Wertes bemüht, das “Erlebnis” dieses Schauspielers gehören offenbar diesem “Leben” an, das einfach ist, jedoch von der Vielzahl, der Iteration von “unendlich komplexen Lügen” (M 228) entstellt, die in fünffacher Wortwiederholung den zweiten Absatz eröffnen. Sie durchziehen den Zeitgeist ebenso wie die Tradition, die Wissenschaft wie den Staat und die Lebenswelt des Einzelnen. Die Gedanken als Form der Wissensdiskurse ziehen die “Lügen der Wissenschaft” als starre Form von diesem Leben ab und geraten damit von vorneherein in einen elementaren Gegensatz zu seiner Dynamik, der Bewegung und Veränderung als seinem einzigen Beständigen. Doch nicht nur die Beredsamkeit der wissenschaftlichen Zweckprosa unterliegt dem Verdikt über das Wort, auch die schöne Literatur ist ausdrücklich davon getroffen; denn auch für sie gilt: “Das ‘gut Ausgedrückte’ erregt spontan den Verdacht, nicht empfunden zu sein.” (M 228f) Schönheit aus dem Zusammenfallen subjektiv erlebter Momente der Wirklichkeit in einem Sinnzusammenhang zu gewinnen, gerät so unter Verdacht; denn dergleichen erscheint nurmehr als leerer Traditionsbezug, als Exekution von Begriffen durch ihre anschauliche Illustration, als billige Illusionstechnik. Das “Erlebnis” zieht dagegen seinen Wert aus der “Einzigkeit” (M 229) der erfahrenen Situation, ihrer Unwiederholbarkeit und Unwiederbringlichkeit; es ist so singulär wie diskontinuierlich und isoliert gedacht und damit nicht anschlußfähig an Tradition und Begriff: Jedes “konventionelle[ ] Zeichen” (M 229) findet in ihm sein Gegenteil. Dieser Einwand ist grundsätzlicher Natur, so daß die Kritik hier nicht allein der Konvention, sondern auch dem - zumindest ihrem Verständnis vom - ‘Zeichen’ zu gelten scheint. Konventionen sind allgemeine, die Zeichen, mittels derer sie kommuniziert werden, gehören einer intersubjektiven und damit über-subjektiven Öffentlichkeit an; mit den Worten drücken also nicht länger Individuen sich aus, sondern das Kollektive drückt sich mittels ihrer in den einzelnen ein. Deshalb kann das Erlebnis seinen Schwerpunkt nicht in einem äußeren intersubjektiven Geschehen haben, sondern es ist nur möglich in der Gestalt des “inneren Erlebnisses” (M 229). Damit knüpft der Aufsatz das Erlebnis an ein doppeltes Bedingungsgefüge: Das äußere Geschehen darf kein (konventionelles) Zeichen sein, das innere Erlebnis hat seinen Ort “jenseits des Bewußtseins” (M 231) dort, wo “jedes tiefe Wissen um sich selbst […] den Worten und Begriffen völlig, völlig entzogen” ist (M 231). Und damit stößt der Essay an eine fundamentale Grenze der Sprache, jenseits derer zum einen die Kommunikation als zwischenmenschliche Interaktion aufhört, jenseits derer zum anderen auch ein Kontinent wahren und wertvollen Wissens liegt, der verbal-sprachlich (noch) gar nicht repräsentiert werden kann. Assoziationen / Dissoziationen 227 Der geniale Schauspieler arbeitet genau auf dieser Grenze, ist ihr Grenzgänger. Er bringt korporeal, an der sichtbaren Oberfläche seines Körpers durch eine “von jenseits des Bewußtseins gelenkte Unterwürfigkeit und Ausdrucksfähigkeit des Leibes” (M 231) das zur Anschauung, wofür es keine Worte gibt und was sich als inneres Geschehen der Ein-Sicht jedes anderen entzieht. Was von ihm nicht bewußt hergestellt wird, ist dann “das beiläufige Gedächtnisbild des inneren Erlebnisses” (M 229): ein nicht-intentional sich einstellendes visuelles - (An-)Zeichen? Uneinsehbare Seele und sichtbarer Leib korrespondieren in Mitterwurzers Spiel, das “sinnliche Offenbarungen des inneren Zustandes” (M 230) bereithält: In Mitterwurzer, der “seine Beredsamkeit das Schweigen gelehrt” hat, “kommt die Seele hervor, wie ein Leibliches, und macht vor uns Erlebnisse durch” (M 230). 2. Die Semiotik des Schweigens als Grundlegung einer neuen Poetik Indem er vom Schauspieler handelt, kann der Essay die Aufmerksamkeit vom System der sprachlichen Zeichen, das von den traditionellen Begriffen korrumpiert ist, auf Zeichensysteme verschieben, die das Sprechen begleiten. Jetzt liegt der Akzent auf der Gebärde, der “Gewalt über die Mienen” (M 231), überhaupt auf dem “Ausdruck des Leibes” (M 230), der gegen die Begriffsverfallenheit des Theaters und seiner Literatur ausgespielt wird: “Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.” (M 230) Die Körperzeichen, die der Aufzeichnung und systematischen Kodifizierung widerstreiten und deren Anteil am Gelingen der Kommunikation als nicht tradierenswert gering veranschlagt wurden, sind dem Text bevorzugte Gegenstände. Sie sind mithin Textanlaß, nicht die hochbewertete theatraleliterarische Tradition. Folglich sind es jetzt auch die Menschen, die “fortwährend wie in ‘Rollen’, in Scheingefühlen” (M 229) reden. Lüge und Wahrheit, Illusion und Authentizität, Bühne und Leben haben ihre Position vertauscht. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von der Schrift-Rolle, die ein dramatischer Text vorschreibt und bislang als Traditionsverhalten einem Schauspielerkörper einschrieb, hin zu den Zeichen, über die dieser Körper gebietet. Ja, in der Hierarchie der theatralen Zeichen wird derart weitgehend umgewertet, daß Text und Rolle allenfalls als Anlässe kenntlich werden, Gestik und Mimik auszustellen. Relevanz besitzt dann nicht mehr länger ein Stück als dramatischer Sinn-, sozialer Deutungs- und historischer Traditionszusammenhang oder seine Hauptfigur als Modell einer Biographie, einer Person, eines Verhaltens, sondern Körperzeichen, die die Schauspielerpersönlichkeit Mitterwurzer daraus gewinnt. Von der Überlieferung ist alles preiszugeben. Was bleibt, ist das kaum schon Vorgeschriebene und Geregelte, das Situative, Momenthafte, das kulturelle Ereignis als Erlebnis, nicht das Schauspiel und die Rolle, nur die Körperkunst. Die Einstellung der Wahrnehmung auf das isolierte Detail der Mimik und Gestik, das nicht länger in Dienst genommen wird für den Aufbau eines Sinnzusammenhangs, den dramatische Texte errichten, zerstört jegliche Theaterillusion, das Dargestellte stünde für anderes als sich selbst. Dieses eigentlich erstaunliche Plädoyer für eine Schärfung des Blicks für das Detail und das Abblenden des Sinnzusammenhangs, den es ursprünglich stiften sollte, und damit für eine naturalistische Auffassung bei Hofmannsthal zeigt, daß Ästhetizismus und Naturalismus keine Gegensätze sind, sondern einander zu ergänzen vermögen. Erst das Zerbrechen des Kontinuums der Begriffe, die im konventionellen Zeichen zur Anschauung erhoben wurden, eröffnet den Zugang zum Leben als inneres Erlebnis. Gustav Frank 228 Die Erschaffung des Schauspielers als Mimen erhält ihre letzte Konsequenz durch den Ausschluß der Stimme. In einer Umkehrung ihres herkömmlichen Verhältnisses werden in Mitterwurzers “Mund […] die Worte auf einmal wieder etwas ganz Elementares, der letzte eindringlichste Ausdruck des Leibes” (M 230). Offensichtlich interessiert den Essay nicht länger eine individuelle Aktualisierung eines Sprachals Bühnenkunstwerk, wozu die Stimme des Akteurs als Einfallstor der Interpretation in den Text dienen könnte, sondern es geht ihm um die Verwerfung und Ablösung des Zeichensystems der Sprache. Nimmt man diese Ausschließung der Sprache ernst, dann wird schon das Vorliegen des Essays, und von Dichtung ist in ihm ja gar nicht mehr die Rede, erklärungsbedürftig, ja scheinbar zum Paradox. Die jüngere Forschung hat das zum Anlaß genommen, zu behaupten: “Alle diese Projekte aber sind Schrift und bleiben eine in der Beschreibung ihres Anderen schwelgende Schrift.” 5 Das verkürzt die Arbeit an einer Semiotik stummer Künste jedoch unzulässig auf ihre materiale Komponente, ja verkennt auch die konzeptionelle Arbeit an dieser materialen Komponente. Und diese Semiotik stummer Künste gilt es offenbar auszuführen, um das im Essay noch Abwesenende, das literarische Sprechen, auf eine neue Grundlage zu stellen. Diese Semiotik fundiert letztlich die implizite Poetik, die sich weniger im als durch den Essay andeutet. Daß sie, wie das Thema Literatur überhaupt, nicht ausdrücklich verhandelt wird, mag als Indiz dafür gelten, als wie prekär ihre Lage unter Umständen eingeschätzt werden muß, die zu einer Verwerfung von verbaler Sprache und sprachlicher Kommunikation gezwungen haben. Thema ist also nicht länger, wie etwas Selbstverständliches wie Literatur auszugestalten, sondern wie sie überhaupt noch zu ermöglichen sei: Der Aufsatz richtet sich auf die Ermöglichungsbedingungen literarischer Rede; denn unter den vorherrschenden Zweifeln an ihrem Voraussetzungssystem, der natürlichen Sprache, wird es hochgradig unwahrscheinlich, daß noch Literatur entsteht. Sollte sie allerdings dennoch geschrieben werden können, dann wäre sie, so die Implikation, Kunst in höchstem Grade, weil in ihr das unmöglich Scheinende gelingt. Literatur wird so auf ein Operieren an den Rändern, ja über die Grenzen verbal-sprachlicher Kommunikation hinaus verwiesen. Damit wird sie zwar nicht ihrer Bindung an die Schrift ledig, doch soll sie sich ja auch in der Hauptsache von Vor-Schriften lösen, die sie in der Tradition an das Illustrieren von Begriffen gebunden hatten. Ihre Möglichkeit kann offenbar, so der Gestus des Aufsatzes, nicht mehr argumentativ eingeholt und eigentlich bezeichnet werden, sondern muß in actu evident werden, kann nicht herbeigeredet, sondern muß im performativen Vollzug des Textgeschehens offensichtlich werden. Nicht mehr sinnhafte Repräsentation einer allen gemeinsamen Wirklichkeit, sondern die Präsenz einer singulären Erlebnisqualität wird zum Grenzwert literarischen Schreibens. Damit sind es nicht länger die kulturell dominanten Zeichensysteme, deren Überfrachtung mit vorgefertigten Sinnmomenten den Text von vorneherein überschreiben würde, sondern die niederen, wenig bestimmten Zeichen, in deren Dienst der Text zunächst tritt. Deren Unbedeutendheit und Vergänglichkeit gerät ihm zur Legitimation: Es gibt kein Notations- oder Zeichensystem, in dem Körperbewegungen wie Mimik und Gestik eigentlich aufgeschrieben werden könnten, so daß nur die uneigentliche, die literarische Rede von ihnen bleibt. Und es gibt keine verbindliche Deutungskonvention: Erst in einer Form gestalteten und gedeuteten Erlebens treten sie überhaupt hervor. Möglich wird der Text also, weil er etwas Außergewöhnliches zur Anschauung bringt. Nicht auf die Re-Produktion, die Kunst der Wiederholung auf der Bühne ist es abgesehen, die Wieder-Holung der Kunst, der instantan wirkungsmächtigen und doch eigentlich insignifikanten Körperkunst der Schauspielerpersona als Erlebnis ist Darstellungsziel. Assoziationen / Dissoziationen 229 Was den Text selbst zum Erlebnis erhebt, ist seine singuläre Wahrnehmung eines einzigartigen Ereignisses, ist sein Anspruch auf literarisches Gelingen vor der Folie des Mißlingens der Rede von Tagesjournalismus und Wissenschaft, die nur konventionelle Vergleiche zu machen verstehen: “Die Journalisten deuten ihn [Mitterwurzer] nicht aus, und ein Professor notiert die Veränderungen seines Gesichtes und die Verschwiegenheit seiner Stimme wie Siege des Sulla oder Entwürfe des Palladio.” (M 232) Der Text macht mithin etwas Neues sehen, indem er ein neues Sehen vorführt. Zudem: Nicht mehr, was erlebt wird, sondern allenfalls noch wie erlebt wird, vor allem jedoch daß erlebt wird, gilt es darzustellen. So entsteht eine Literatur der Qualitäten und Intensitäten; nicht länger eine überzeugende, somit illusionierende Repräsentation, sondern eine eigene Erlebnisqualität an sich beansprucht das Werk: Es bildet nicht ein Erlebnis ab und nach, sondern will selbst eines sein und hervorrufen. Dieser Anspruch richtet sich auch nicht mehr auf allgemeine Voraussetzungen von Rezipienten sondern auf singuläre Werk- Leser-Konstellationen. Dieser Anspruch färbt schließlich auch die Vorstellungen von der angemessenen Rezeption. Es geht darum, die lesegeschichtliche Umstellung auf extensive Lektüre rückgängig zu machen: Nicht ein gesamter Text realisiert in dieser Sicht einen Sinn, sondern Teil-Texte, ja einfache Text-Teile evozieren Wahrnehmungen und generieren so Intensitäten. In ihrer Faszination durch das “Material”, ihrer Einsicht in das “tiefste Wesen des Marmors” (M 230), spielt diese Leseanleitung mit der Hinwendung zur graphischen Basis der Schrift als Extrempunkt, mit der Umdeutung der Grammatik zum Muster der Verteilung von skripturalen Ornamenten auf der Buchseite, mit der Lösung von der Semantik als Erlösung der Sprache von der hergebrachten Signifikation und Repräsentation. Damit ist jedoch nicht das Ziel erreicht, sondern zunächst nur die destruktive Voraussetzung einer neuen Konstruktion von Sprache und Dichtung für neue Funktionen erfüllt. Diese Konstruktion läßt sich denn auch durch Verfahren erreichen, die Zeichen in seriellen uneigentlichen Verkettungen durch “wie wenn”- und “als ob”-Fügungen von ihren eigentlichen Bedeutungen mehr und mehr abschneiden, indem ein Vergleich auf einen Vergleich auf einen Vergleich verweist. Wo aber schließlich die Zeichen in ihrer seriellen Verkettung zu Signifikanten werden, denen eigentliche Signifikate abhanden kommen, werden sie gleichsam frei, um Neues zu bezeichnen, für das noch keine eigentlichen Begriffe existieren. Genau diese doppelte Bewegung wird dann etwa Robert Musils Arbeiten um 1910, die Prosa der Vereinigungen, kennzeichnen. Damit ist auch eine neue Gemeinschaft von Autor und Leser gefordert, die in der äquivalenten Erfahrung des Textes, von dem Produktion und Rezeption nur zwei kaum zu unterscheidende Seiten ausmachen sollten, bestünde. Ja mehr noch: Voraussetzung, daß der Text ‘kommuniziert’, wäre eine Verschmelzung von Produzent, Figur und Leser; denn nur so kann das Paradox der solipsistischen Individualität der Emotion im ‘Erlebnis’ des Textes aufgehoben werden. Die neue Literatur wird möglich, weil sie die Grenzen der Schrift- und Buchkultur transzendiert: “Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist.” 6 3. Wortlose, ortlose, niedere Künste: Konturen einer visuellen Kultur Im Blick auf den Schauspieler wird das Schauspiel als Körperkunst wiedergeboren. Was vorher theatrale Wortkunst war, wird in Hofmannsthals Text neu wahrnehmbar - vor Gustav Frank 230 jeglicher praktischen Bühnenreform. Während das Theater als bürgerliche Öffentlichkeit eines Bürgertums ohne politische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert mehr und mehr Bedeutsamkeit gewann, hatten sich seine Formen zunehmend entleert. Von Stücken und Rollen, denen Mitterwurzer neues Leben eingehaucht hätte, ist denn hier auch gar nicht mehr die Rede; wenn dagegen der Hinweis auf seine Lesung aus dem Struwwelpeter die einzige konkrete Rollennennung des Textes bleibt, dann ist das Affront genug gegen diese literarische Tradition und dieses Theater. Am Schauspiel als Ort der bürgerlichen Repräsentationskultur der Zeit wird die Umwertung der Künste durchgeführt. Von der Kritik an der Sprache nimmt die Umwertung ihren Ausgang. “So ist eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tanzen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler.” (M 228) Der bürgerlichen Repräsentationskultur stehen die niederen Künste der Akrobaten und Gaukler gegenüber; dieser Kontext ebenso wie die Kritik an der Begriffsverfallenheit bestimmen die Musik und das Tanzen als möglichst weit entfernt von der zeitgenössischen Opern- und Ballettpraxis. Schon die Verschiebung des Interesses auf die traditionell suspekte Figur des Schauspielers 7 weist in die Richtung der niederen Künste, umso mehr dessen Wiedergeburt als Mime, der sich nach Hofmannsthals Auskunft “selbst als Gaukler” (M 231) begreift. Das Konzept einer wortlosen Kunst, das seinen Ausgang von einer Polemik gegen das Schauspiel nimmt, eröffnet so das Feld für die ambulant geübten und verachteten Künste. Wie wenig das Potential der polemischen Wendung hier schon ausgeschöpft ist, wie nah am Ausgangspunkt Hofmannsthal noch bleibt, wird mit Blick auf die Tradition seit dem 18. Jahrhundert deutlich. Mehr als der Schauspieler verkörperte die Figur der Schauspielerin die Ambivalenz gegenüber der leibhaftigen Vorführung bürgerlicher Verhältnisse auf der öffentlichen Bühne, während die gleichzeitig sich ausbildenden polaren Geschlechterrollenstereotypen der Frau den familialen Innenraum anwiesen. 8 Und mehr als die Schauspielerin verkörperte die Figur der Tänzerin das problematische Veröffentlichen der Frau, das hier schon durch das Wort nicht mehr in einen Sinnzusammenhang rückgebunden war. Zehn Jahre später wird Hofmannsthal erkennen, daß ihm die Tänzerin noch weit besser als der Schauspieler ins Konzept paßt. Die Negation des bürgerlichen Theaters durch die Aufwertung des Schauspielers als Mimen, das Ausspielen seiner Körperkunst gegen die Wortkunst, bedeutete also nur den ersten Schritt eines antibürgerlichen Programms der Grenzüberschreitung. 9 Der zweite Schritt besteht in der Erschließung eines Gegenraumes, den diese Körperkünste selbst ausfüllen. Dieser Gegenraum ist nicht nur der andere, ‘niedere’ Ort an den Rändern der etablierten und staatlich geförderten Kultur, den etwa die wenigen kommerziellen Bühnen in der deutschsprachigen Welt des 19. Jahrhunderts einnehmen, sondern er ist mehr noch charakterisiert durch seine Herkunft aus dem ortlosen, ambulanten Gewerbe: Körperkunst und soziale Mobilität stehen gleichermaßen für eine vitale Beweglichkeit, die an den Strom des Lebens anschließt. Die hohen Künste, die allgemein akzeptierte Kultur, dienen Hofmannsthal hier zwar noch als Anknüpfungspunkt, die niederen Künste erscheinen jedoch schon als Horizont der Denkbewegung. Nachdem das Zeichensystem der natürlichen Sprache einer vernichtenden Kritik unterzogen und durch Gestik und Mimik in der Wertschätzung verdrängt worden ist, bilden diese die Brücke vom Schauspiel zu den niederen Künsten, die allesamt als Körperkünste erscheinen. Folgt man der Logik des Essays, dann wird verständlich, daß er den renommierten Schauspieler zwar um der Anleihe von dessen sozial transgressiver Vitalität willen dem ambulanten Gaukler der Jahrmärkte annähert, warum er jedoch an den Gauklern und Artisten Assoziationen / Dissoziationen 231 selbst als Körperkünstler weniger interessiert sein muß. Ihre Körperkünste sind offenbar auf die Ausstellung des Körpers als Körper gerichtet, während der Schauspieler Erlebnisse der unsichtbaren Seele leiblich sichtbar werden zu lassen versteht. Damit bestimmt der Essay das Feld der Körperkünste als eines der visuellen Kultur, auf dem zunächst Uneinsehbares sichtbar wird. Nur weil sie derart als visualisierende Künste bestimmt werden, kann die literarische Rede sich schließlich ebenfalls auf diesem Feld ansiedeln. Der Wechsel der Zeichenmodelle, auf die Literatur sich begründen will, dieser Prozeß der semiotischen Umstellung der Literatur auf die Moderne, läßt einen kulturellen Raum entstehen, der durch konkrete Ereignisse und herbeizitierbare Phänomene nicht gedeckt und zunächst noch gar nicht vollständig zu füllen ist; zwar sind einige wichtige und notwendige von deren Merkmalen festgelegt, allein Belege mangeln. So gewinnt eine visuelle Kultur erstmals Konturen, aber auch nicht mehr. 4. Exkurs über “einen Augiasstall begrifflichen Denkens” Dieser frühen Konturierung einer ‘visuellen Kultur’ sind Wortkunst und Malerei gleichermaßen verdächtig, und das aus gutem Grund. Die Kritik Hofmannsthals zielt auf den Zusammenhang von Begriff und Anschauung, und die formal auffällige Parenthese zur Bildkunst läßt dies besonders deutlich hervortreten: “(Die Malerei schweigt zwar auch, aber man kann durch eine Hintertüre auch aus ihr einen Augiasstall des begrifflichen Denkens machen, und so hat man sie gleichfalls unmöglich gemacht.)” (M 228). Begriffe werden als abstrakte, leblose Formen gewertet. In ihnen erstarrt subjektive Erfahrung, zu Zwecken intersubjektiver Kommunikation zugerichtet. Konventionelle Sprache hat sich damit vom subjektiven Erleben und vom ‘Leben’ als dem emphatisch bejahten Kollektivsingular der Zeit derart weit entfernt, daß sie an den Pol der Bewegungslosigkeit als eines metaphorischen ‘Todes’ gerückt erscheinen kann. Insofern sie sich dazu versteht, sprechend darzustellen, hat sich die Bildkunst ebenfalls dazu erniedrigt, nur noch allgemeine Begriffe zur Anschauung zu bringen. Je perfekter die Bildillusion dabei ausfällt, desto mehr muß sie den Sinnenschein als Veranstaltung, als akademische Konvention, wenn nicht gar als literarische Überanstrengung des Bildes denunzieren. Diese Kritik zielt auf eine akademische Malerei, die sich im Einklang mit der vorherrschenden Laokoon-Ästhetik religiöser, historischer und literarischer Sujets bediente. In diesen geschichtlichen Systemen der Ikonologie verbanden sich Bedeutungsmomente mit bestimmten Bildgegenständen. Diese werden jetzt jedoch als theatralische Drapage konventioneller Begriffe gelesen. Mit dieser Wahrnehmung zerbricht für Hofmannsthal das überkommene Verhältnis der Wort- und der Bildkünste. Als die historische Form der Erfahrung hatte sie die Goethezeit im Laokoon-Regime komplementär in eine semiotische und epistemologische Ordnung eingespannt: “Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.” 10 Die Deutung, welche das klassische ut pictura poesis in Lessings Laokoon-Essay erfahren hatte, 11 war die vorherrschende Konvention seither gewesen. 12 Sie hatte das Wechselverhältnis von Begriff und Anschauung begründet, das Literatur und Bildkunst darauf verpflichtete, anschaulich zu reden und sinnhaft zu gestalten. Soweit sie diesem Zusammenhang verpflichtet sind, werden beide Künste jetzt gleichermaßen verworfen. Das Zerbrechen dieses Zusammenhangs führt beide Künste vor die Frage, Gustav Frank 232 welches die Bedingungen sind, unter denen sie noch möglich sind. Für die Bildkunst scheint die Loslösung von den belasteten Begriffen und eine neue Legitimation weitaus einfacher. Sie hat sich der visuellen Wahrnehmung neuerlich zu stellen, deren historische Form jetzt vor allem neue Techniken, neues Wissen und neue Medien bestimmen. 13 Bildkünste kommen für eine poetologische Erneuerung in Betracht, sofern aus ihnen Bildprogramme zu gewinnen sind, die sich gegen die akademische Malerei des 19. Jahrhunderts, gegen die Ausrichtung an der Illustration von Begriffen, die Einbindung in Sinnzusammenhänge durch die illusionistische Darstellung von Sinnmomenten verwenden lassen. Der Zeichencharakter der Bilder wird dadurch ein von Grund auf anderer. In Betracht für Reflexionen der Poetik kommen mithin die Avantgarden, vor allem sobald ihre Verfahren einer Vermittlung bedürfen oder ihre Werke sich als singuläre Ereignisse erleben lassen, an die neues Sehen anschließbar ist. Die von Hofmannsthal angestrebte Grenzüberschreitung ist jedoch offenbar größer, wenn neben der Zeichenhaftigkeit auch der Kunstanspruch problematisch ist oder noch gar nicht gestellt wird: Circensische und andere Körperkünste genießen diesen doppelten Vorzug garantierter semiotischer Unterdeterminiertheit der Bewegungen als Zeichensysteme und der semantischen Überdeterminiertheit als Grenzüberschreitung in moralischer, nicht zuletzt erotischer, und sozialer Hinsicht. Der Essay richtet seinen Blick also nicht auf die sich ebenfalls erneuernde Bildkunst, sondern auf die gemeinsame belastete Beziehung zum Begriff. Seine Suche nach Möglichkeitsbedingungen von Literatur geht auf historisch unbelastete Künste aus. Das steht einer genauen Beobachtung der Entwicklung der Bildkünste nicht entgegen, die sich ja von derselben Vorgeschichte zu befreien haben, sondern macht sie besonders wertvoll. 14 Die Malerei ist jedoch für Hofmannsthal kein privilegierter Ort in diesem Entwurfsstadium einer visuellen Kultur. 5. Das Schweigen der Tänzer In diesem konzeptuellen Stadium findet “das Tanzen” schon Erwähnung, bevor für Hofmannsthal eine spezifische kulturelle Formation ‘Tanz’ wahrnehmbar war, die sein Interesse am Schauspieler ablösen konnte, weil sie mehr als dieser geeignet war, literarische Rede zu rechtfertigen, ja sie geradezu hervorzurufen. Wenn Hofmannsthal also vom Tanzen spricht, dann kann er nur das Potential eines unreglementierten Tanzes als unverstellten psychischen Selbstausdrucks im Sinn haben, wie es in der deutschen Literatur der 1830er Jahre, in Heines Florentinischen Nächten etwa oder in der Figur des Flämmchen in Immermanns Roman Die Epigonen, erstmals festgehalten war. Nach dieser Episode im Vormärz war die Literatur des Realismus vorwiegend an der paradoxen Figur der ‘tugendhaften Tänzerin’, also am Widerspruch einer öffentlich ihre Körperlichkeit ausstellenden Frau und der geschlechtsspezifischen Moral interessiert. In die Reihe der wort- und ortlosen Körperkünste fügen sich das romantische und klassische Ballett nicht; denn von der Autorität des Bühnentanzes zu lösen vermochten sich die berühmten Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts bis in sein letztes Jahrzehnt nie. Auch wo die Tanzpraxis der Solistinnen ihr nicht mehr durchgehend folgte, blieb sie auf die Normen und die Orte der danse d’école bezogen. Während der Ballettanz also traditionell determiniert und vollständig ‘lesbares’ Zeichensystem konventioneller Körperbewegungen war, ist der ‘Neue Tanz’ seit den 1890er Jahren auch semiotisch als dessen Gegenteil angelegt. Mehr Assoziationen / Dissoziationen 233 noch als Gestik und Mimik enträt er jeglicher hergebrachten Zeichenhaftigkeit; seine Körperbewegungen sind zunächst leere Signifikanten. Doch der ‘Neue Tanz’, der sich offenkundig aus der Verwertung von Tänzerinnenkörpern in der Oper und auf den kommerziellen Bühnen der Operettenspielstätten und Varietés mehr und mehr herauslöst, erweist sich als eine kulturelle Formation erst in dem Moment, als er sich polemisch zum Ballett zu verhalten beginnt. Als polemische Formation ist er komplementär auf den traditionellen Bühnentanz als seine Negativfolie bezogen. In dieser Konstellation füllen sich von dorther kulturell und semantisch zunächst unterbestimmte Bewegungen mit semantischen Gehalten, genauer gesagt erfolgt wohl schon die Auswahl aus allen Bewegungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre oppositionelle Semantik: Spitzenschuh und Spitzentanz mit ihrer Verweisungsfunktion auf körpertranszendente Sinngehalte stehen etwa bloßer Fuß und Ausstellung graver Bodenhaftung als Rehabilitation von Sinnlichkeit gegenüber. Weil er nicht durch die überkommenen Begriffe der traditionellen Sinnsysteme bestimmt ist, erweist sich dieser ‘Neue Tanz’ als offen für vielfältige Anschlüsse, die ein Tanzdiskurs generiert, in dem sich Bewegungen, Tanzpraktiken und Reden über den Tanz verknüpfen. Erst als Tanzdiskurs aus Bewegungsformen und ihnen zugewiesenen Bedeutungen konsolidiert sich der ‘Neue Tanz’ als kulturelle Formation. Seine Etablierung und Durchsetzung als Körperkunst vollzieht sich im zeitgenössischen Diskursuniversum. Von daher sind bestimmte Suchrichtungen nach Legitimation zwar nicht festgelegt, liegen jedoch nahe. Isadora Duncans Ausrichtung an Bildwerken der griechischen Antike konnte sich in einem Moment vollziehen, als der autoritative Historismus deren dionysische Aspekte zuzulassen begann. 15 Ihr Tanz erwies sich auf der Höhe von Kunstgeschichte und Wissenschaft und suchte seinen Ort in Museum und Bibliothek. In der Bibliothek des nach seinem industriellen Stifter Guimet benannten Museums mit seiner berühmten Sammlung von Asiatika hatte übrigens noch 1905 Mata Hari ihren ersten öffentlichen Auftritt. 16 Die Auseinandersetzung mit einer durch naturwissenschaftliche und technische Entwicklungen der Zeit vollständig veränderten visuellen Wahrnehmung suchte LoÎe Fuller bei ihren tänzerischen Experimenten mit Leinwänden, Licht und Radium. 17 Ihre europäische Karriere beginnt mit Auftritten in den Folies-Bergère Anfang der 1890er Jahre, 1900 hat sie einen eigenen Pavillon auf der Weltausstellung. 18 Wie sehr sich in der Phase Hochkultur und kommerzielle Massenkultur aufeinander zu bewegten, belegt auch die Anekdote, daß sich Ruth St. Denis nicht unmittelbar von der Kunstgeschichte, sondern von der Reklame für die Zigarettenmarke “Egyptian Deities” mit der thronenden Isis zu ihren ersten Solotänzen inspirieren ließ. 19 Alle Schattierungen der zeitgenössischen Bewegungen etwa der Körperreform und der Frauenemanzipation ließen sich in Tanzbewegungen ausdrücken oder aus ihnen lesen, verflochten sich mit den Protagonisten des ‘Neuen Tanzes’. 20 Eine faszinierende “Entdeckungsreise unter die Kultur” ermöglichten die sogenannten “Traumtänze” etwa einer Madelein G. 21 Die unwillkürlichen Körperbewegungen schienen den nicht-bewußten Tiefen der Psyche zu korrespondieren und beide in ihrer vermeintlichen Formlosigkeit mit dem Strom des Lebens verbunden. Die Faszination von den Möglichkeiten des ‘Neuen Tanzes’ - sie läßt sich hier nur sehr oberflächlich illustrieren - beruhte nicht zuletzt auf dem Schweigen der Tänzer. Das rückte den Tanz plötzlich in eine zentrale Position im Prozeß der Umstellung der kulturellen Semantiken in der Moderne. Denn wieviel reicher an Anschlüssen und an Anlässen zum Text ist dieser ‘Neue Tanz’ und seine Protagonistinnen als selbst Schauspieler und Schauspiele- Gustav Frank 234 rinnen der Jahrhundertwende! Reicher an subjektiven Erlebnispotentialen weil ärmer an kultureller Kodifizierung; denn neben den zunächst noch aus der Polemik gewonnenen und begründeten Körper- und vestimentären Zeichen eröffnet sich eine Vielzahl an vorgefundenen sowie erst noch zu entwickelnden Bewegungsrepertoirs einem sich mehr und mehr ausdifferenzierenden ‘Neuen Tanz’. Sinn und Sozialität werden in der Moderne leibhaft gestiftet. 22 6. Exkurs über Archive einer stummen Kunst “Die Autorität des Dichters trübt allzuoft den Blick für das eigentliche Thema: Nicht der Tanz an sich steht also im Mittelpunkt des Rezipienten, sondern vielmehr die Gedanken der Dichter, Schriftsteller, Maler und Komponisten über den Tanz.” 23 Wo ist der Tanz an sich? Offenbar geht er ohne genuines Aufschreibesystem im ephemeren Tanzereignis auf, von dem unter diesen Bedingungen nicht einmal zu entscheiden ist, ob es sich am nächsten Tanzabend wiederholt. Sprachlos, aufzeichungslos macht er von Beginn an Gebrauch von Photo und Film als Dokumenten. Gibt es den ‘Neuen Tanz’ als Monument (im Foucaultschen Sinne)? Oder existiert er nicht vielmehr nur als komplexer Tanzdiskurs, als eine Kombination von Praktiken und Reden, Orten und Regeln? Wie Wissenschaft, Literatur, Theater und die dem Genre verpflichtete Bildkunst ist auch das Ballett eine grammatisch und semantisch durch ihre Tradition überdeterminierte Kunstform, getanzter Begriff. Insofern ist der Körper hier wie Bühne, Leinwand und Rede behandelt, er reproduziert. Wo ist er als Produktion, als Präsenz statt Repräsentation? Klagen über die Quellenlage in der Tanzgeschichte finden sich häufig bei der mehr empirischen, von der Theaterwissenschaft kommenden und wie diese an der Aufführungspraxis interessierten Tanzwissenschaft, die in den von den Textwissenschaften kommenden und von vorneherein mehr an Textzeugnissen interessierten Arbeiten gar nicht thematisiert wird. Die Quellenlage ist nun wohl nicht einfach nur beklagenswert dünn, nicht im Prozeß der Überlieferung sind Bild- und Textzeugen an die Stelle eines ursprünglichen Tanzes getreten, sondern der Tanz als kulturell äußerst bedeutsames Phänomen seit der Wende zum 20. Jahrhundert hatte wohl nie eine andere kulturelle Gestalt. Der ‘Neue Tanz’ dieser Phase ist anders als die syntaktisch und semantisch eindeutig festliegende danse d’école oder auch das traditionelle, Dramentexte exekutierende Theater nichts anderes als genau dieses gesamte Ensemble von Tänzerinnen, flüchtigen Tanzereignissen und ihren visuellen und textuellen Korrespondenten: Gebrauchskünste: Plakat, Werbung (als Wechselwirkung mit der Konsumkultur, von der Inspiration zu Kostüm und Choreographie ausgeht); Porträtkunst von Kaulbach und Stuck; Photo(ateliers) (d’Ora, Nadar, Reutlinger): Star; Position, Pose; frühester Film (Mlle Ancion als Serpentintänzerin bei den Skladanovskys 1895 24 ); Feuilleton-Essay, Tanzkritik, Literatur. Sie alle wahren das “Schweigen” über die Choreographien und ihre Qualitäten. 25 7. “inkommensurabel” Der Topos der Unvergleichbarkeit ist die charakteristische rhetorische Gestalt des ‘Neuen Tanzes’. Um diese konstruierte semantische Leerstelle legen sich Schicht um Schicht vielfältige Bedeutungen und Wertungen, ganze Typologien kultureller Praxen und Semanti- Assoziationen / Dissoziationen 235 ken, die Wahrnehmung von Geschichte, ‘Fremde’ und Moderne. Das Tanzereignis als solches wird ausdrücklich ausgespart, es ist die numinose Quelle, der Stimulus der Rede: “Aber ich will von meiner Tänzerin reden. Doch ich werde kaum versuchen, ihr Tanzen zu beschreiben.” (U 224) 26 Wer benennen könnte, was sie besagt, hätte sie erschöpft: “Der Fortgang dieses Tanzes ist unschilderbar. Die Schilderung müßte sich an Details hängen, die ganz unwesentlich sind, und das Bild wäre verzerrt.” (U 226) Die Mimesis als visuelles und textuelles Verfahren wird zurückgewiesen, wieder wird das Erlebnis zu evozieren gesucht. Diesmal wird dazu der Effekt einer Konfrontation gewählt, der Momente bewußter sprachlicher Einfachheit mit der Gegenwart als einer “raffinierten” und mithin wissenschaftlich und medial “komplexen Zeit” (U 223) überraschend kontrastiert, in der “Söhne von Brahmanen in den Laboratorien von Cambridge und Harvard der Materie die Bestätigung uralter Weisheiten entringen” (U 223) und ein “Interviewer” Rodin über “die Tänzerinnen aus Annam” befragt (U 226). Bezeichnend ist, daß Hofmannsthals Text “Die unvergleichliche Tänzerin” entstand und publiziert wurde, bevor er selbst Ruth St. Denis gesehen hatte: “Auch wird man sie hier sehen.” (U 224) Ruth St. Denis’ einzige, wenn auch dreijährige Europa-Tournee begann 1906. Bevor sie nach Wien kam, trat sie erfolgreich in Berlin auf; ab Oktober 1906 an der Komischen Oper im Entr’acte der Oper Lakmé, danach wurde sie als Solotänzerin an den Wintergarten engagiert. Ihr Tanz, von dem ihm sein Freund Harry Graf Kessler enthusiastisch im Brief berichtete, 27 fügte sich also offensichtlich in den Rahmen von Hofmannsthals Konzept ‘stummer Künste’; es füllte diesen Rahmen in einer “noch vor einem Jahrzehnt” (U 223), also zur Zeit des Mitterwurzer-Essays, noch nicht vorstellbaren Weise. Vergleicht man die beiden Texte, wird ein Zeitindex sichtbar, der den enthusiastischen Ton in der Schilderung von Ruth St. Denis als aus einer enormen semantischen Leistungsfähigkeit des ‘Neuen Tanzes’ gewonnen erscheinen läßt. Er gilt damit nicht nur den Anspruch ab, Literatur unter dem Druck einer entwerteten Tradition zu ermöglichen, sondern womöglich auch unter den Bedingungen einer wissenschaftlich, technisch und medial avancierten Moderne. Der ‘Neue Tanz’ ermöglicht es, die Fülle der Tradition (von Lionardo, Goethe, Tizian, Giorgione ist die Rede) und die Maschinen- und Medienzeit mit dem Leitwert des ‘Lebens’ kurzzuschließen: “seltsame Verbindung eines seltsam lebendigen Wesens mit uralten Traditionen” (U 226f). Diese Leistung erbringt nur ein Tanz, der zum einen vermag, was auch der Schauspieler vermochte und ein Pantomime wie Severin (U 226): “die berauschendste Verkettung von Gebärden, deren nicht eine an die Pose auch nur streift […], deren nicht eine Konvention ist” (U 226), in denen sich “eine innere seelische Notwendigkeit” ausspricht, die auch “die großen Gebärden der Duse über jede Möglichkeit, sie anders zu denken, hinaushebt” (U 225). Der zum anderen aber darüber hinausgeht, indem er jeglichen Verweis unterbindet, Zeichen seiner selbst wird, Signifikant und Signifikat zusammenfallen läßt: “Eben den Tanz, den Tanz an sich, die stumme Musik des menschlichen Leibes” (U 225), “diese strenge, fast abweisende Unmittelbarkeit, dies Kommentarlose” (U 227). Was ein literarischer Text angesichts dieser abweisenden Unmittelbarkeit sein und leisten kann, ist in der Beispielrede eingeschlossen vom “deutsche[n] Juden, Zeltgenosse von Tataren und Tschungusen, [der] von den undurchdringlichsten, erhabensten aller heiligen Bücher des Ostens eine doppelte Übersetzung anfertigt, zuerst französisch, dann deutsch, jede ein bewunderungswürdiges Meisterwerk lapidarer Sprache, ‘Urworte orphisch’ aneinanderreihend …” (U 223f, Herv. GF) Gustav Frank 236 Umgekehrt ist diese moderne und zugleich einfache vor-begriffliche Sprache auf das Gegenüber eines absoluten Tanzes ohne semantischen Kontext angewiesen. Dies macht Hofmannsthal deutlich, wenn er Ruth St. Denis von Isadora Duncan abhebt, deren legitimatorischer Anschluß an den Historismus er verurteilt. Duncan rückt hier in die Position ein, die der Professor gegenüber Mitterwurzers Körperkunst einnahm, nicht zuletzt durch das zum ‘Gedanken’ parallel benutzte pejorative Kennwort ‘Schönheit’ angezeigt: “Diese tanzt. Die Duncan hatte etwas von einem sehr gewinnenden und leidenschaftlich dem Schönen hingegebenen Professor der Archäologie. Diese ist die lydische Tänzerin, aus dem Relief herabgestiegen.” (U 228) 28 Der Hinweis auf die Duse zeigt auch, daß dieser spätere Text sich das gender-Potential des Themas erschlossen hat. Nicht weniger als dreimal, davon zweimal in fast wörtlicher Wiederholung (U 225 u. 227), kommt er auf die Ablehnung des Frauenbildes zu sprechen, das St. Denis’ Tanz verkörpert: “Aber es werden nur wenige Menschen sie wirklich goutieren. Am wenigsten die Frauen.” (U 227) Auch wenn der Tanz nur sich selbst bedeutet, bedeutet er als Erlebnis und als kulturelles Ereignis doch offensichtlich sehr viel. Was er insofern war und bedeutete, bestimmte die Wortkunst entscheidend mit. Das Verhältnis von Literatur und Tanz untersteht dabei selbst einer gender-Ordnung. Das in der Rede vom Tanz implizierte Hierarchiegefälle zwischen dem Tanz als Möglichkeitsbedingung und der so ermöglichten literarischen Rede kehrt sich in der literarischen Praxis offenbar um und zeigt so, daß der ‘Neue Tanz’ als Teil einer Poetik entworfen worden ist. Wo eine choreographische Idee die szenische Konzeption vorherbestimmt und so zur Vor- Schrift von Literatur wird, hat dieser ‘Tanz’ sich zu weit verselbständigt, als daß er noch zum Anlaß einer Übersetzung, zum Finden einer neuen, lapidaren Sprache taugen würde. Das ist im Salome-Projekt von Hofmannsthal und Ruth St. Denis der Fall, das Kessler noch von Berlin aus zustande zu bringen versucht. 29 Das Scheitern des Projekts belegt, wie prekär eine intermediale Öffnung der modernen Literatur für die Literatur in dieser Phase ist, und zeugt vom Vorrang des semiotischen und poetologischen Konzepts ‘Tanz’, in dessen Schatten sich der ‘Neue Tanz’ als eigenständiges Phänomen entwickelt hatte. 30 Wenn Hofmannsthal also sagt: “Auch wird man sie hier sehen.” (U 224), dann meint er damit nicht, daß die Wiener später als Publikum im Erlebnis des Tanzes der St. Denis selbst einholen könnten, was ihm nicht auszusagen gelingen kann, sondern kokettiert durchaus damit, daß man sie ‘hier’, hic et nunc im Text ‘sehen’ wird. Literatur beansprucht letztlich eine konstitutive Rolle für die visuelle Kultur. 8. Der sichtbare Mensch Die Krise der literarischen Repräsentation begünstigte auch den Film, der Hofmannsthal ebenfalls interessierte und für den er neben seinen Balletten und Pantomimen seit 1913 auch Filmszenarien schrieb. 31 Auch der Film erfüllte einige der Kriterien aus Hofmannsthals Konzept der stummen Künste, das wie der Film im selben Jahr 1895 entstand: er war überwiegend wortlose, ortlose, niedere und kommerzielle Unterhaltungskultur. Film und ‘Neuer Tanz’ begegneten sich früh in ihrer Geschichte, insofern sie zur Nummernfolge der Varietés gehörten. Die Durchsetzung des Films erfolgte, als er sich nach einer Frühphase des “Kinos der Attraktionen” 32 mit literarischen Vorbildern zum erzählenden Film verband, der in Kinos stationär wurde. Als Kunstform akzeptiert wurde der Film erst mit dem Beginn der theore- Assoziationen / Dissoziationen 237 tischen Rede vom Film. Zu den wichtigsten frühen theoretischen Texten zum Film gehört Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films von 1924. Balázs entwickelte seine Gedanken nicht als genuine Filmtheorie. Er führte vielmehr Überlegungen fort, die zu einem Konzept visueller Kultur gehörten, das sich in Hofmannsthals Mitterwurzer-Essay abzuzeichnen begann. Erst Balázs fügte jedoch verschiedenste Elemente zu einem theoretischen Konzept zusammen, dem er auch, soweit ich sehe, als erster den Namen “visuelle Kultur” gab. Bezeichnender Weise spielt für dieses Konzept das Verhältnis von Film, Literatur und Tanz zueinander eine zentrale Rolle. Balázs nahm die Sprachkritik der Jahrhundertwende auf, die auch für Hofmannsthal lange vor dem Chandos-Brief zentral war. Er wendete sie jedoch gegen die gesamte Kulturgeschichte seit der Erfindung des Buchdrucks, gegen die Schriftkultur der gesamten Gutenberg- Galaxis: “Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat mit der Zeit das Gesicht des Menschen unleserlich gemacht. Sie haben so viel vom Papier lesen können, daß sie die andere Mitteilungsform vernachlässigen konnten. […] So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche.” 33 Die folgenden Argumente wirken bereits vertraut. Auch bei Balázs verschließt das Wort als Begriff den Zugang zur Seele. “Denn der Mensch der visuellen Kultur ersetzt mit seinen Gebärden nicht Worte […]. Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationelles Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schichte der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar.” (S 52) Doch anders als Hofmannsthal spricht Balázs nicht von einer Liebe zu den Künsten, sondern von einer “Sehnsucht nach dem verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen.” (S 54) Der ‘Mensch’ in einem emphatischen Sinne ist deshalb der restituierte sichtbare Mensch. Diese Restitution als kulturgeschichtliche Wende kündigt sich im Film an. Doch: “Ist es ein Zufall, daß gerade in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig mit dem Film auch der künstlerische Tanz zu einem allgemeinen Kulturbedürfnis wurde? ” (S 54) Was Tanz und Film unterscheidet, zieht offenbar dem ersteren eine Grenze und prädestiniert den letzteren: “die dekorativen Choreographien der Tänzer und Tänzerinnen [werden] diese neue Sprache nicht bringen […]. Der Film ist es, der den unter Begriffen und Worten verschütten Menschen wieder zu unmittelbarer Sichtbarkeit hervorheben wird.” (S 54) Wie im Falle des ‘Neuen Tanzes’ geht es um eine Archäologie, die unter die Kultur führt, nicht zuletzt jedoch unter die, die der Historismus aufgeführt hat. In seiner Argumentation scheint Balázs also direkt an Hofmannsthal anzuschließen. Und auch bei ihm repräsentiert Ruth St. Denis, nicht Isadora Duncan, den ‘Neuen Tanz’, jedoch fast als etwas schon Vergangenes bereits aus der Perspektive ihrer “Selbstbiographie” (S 56). Der Unterschied zum Tanz besteht in zwei Momenten. Film bedeutet eine neuerliche Grenzüberschreitung. Er demokratisiert, was im Tanz elitär und nur wenigen zugänglich geblieben war, und überschreitet damit nicht nur bei den Künstlern sondern auch bei den Publika eine soziale Grenze: er ist “die Volkskunst unseres Jahrhunderts” (S 46). Und Film ist nicht “umrahmte, vom Leben abgesonderte Kunst” (S 56). Daß die Tanzbewegung auf nichts anderes verweist als auf sich selbst, wird hier gegen den Tanz ausgespielt. Sie nimmt vom Leben, und damit ist hier neben demjenigen des “irrationellen Selbst” das Alltagsleben, die Lebens- und Arbeitswelt der Massen gemeint, nichts an und belehrt es umgekehrt auch nicht. Anders der Film. Gustav Frank 238 Balázs zieht hier nicht nur die Summe der Entwicklung des Stummfilms bis an die Grenze des heraufkommenden Tonfilmzeitalters, 34 sondern auch sein Bild vom Tanz ist Mitte der 1920er Jahre, darauf deutete der Verweis auf Ruth St. Denis, eine der prime movers, schon hin, retrospektiv. Umgekehrt zeichnet damit seine Kritik des Tanzes um 1910 dem Tanz Entwicklungslinien vor, die sich entlang der von ihm benannten Defizite ergeben. Wie sehr der ‘Neue Tanz’ Volkskunst geworden ist, zeigt sowohl seine Institutionalisierung in einer Vielzahl von Schulen als auch die Präsenz dieser Schulen als vorbildliches Anschauungsmaterial im unendlich breiten Strom von Publikationen zur Körperkultur und im Kulturfilm der Ufa. 35 Bilder vom Ausdruckstanz gehören mithin zum visuellen Gedächtnis der 1920er Jahre. Noch vor Balázs’ Kritik begannen die Bewegungschöre Rudolf von Labans, die auf den Laien zugeschnitten waren, selbst viele hundert Akteure zu beteiligen. 36 Angesichts der sozio-politischen Entwicklungen der Zeit bleibt der Tanz auch hier nicht neutral, sondern setzt sich mit sozialen Problemen auseinander wie etwa Jo Mihalys Choreographien belegen können. 37 Tänzerische Formen sind nahezu allgegenwärtig; sie konstitutieren sogar etwa bei Valeska Gert eine Art Meta-Tanz, der zeitgenössische Bewegungsrepertoires nicht nur die des Tanzes kritisch zu verhandeln versteht. 38 Tanz und stummer Film sind sich also nicht nur in der Großaufnahme, die Balázs besonders herausstellt und in die eingeht, was an Mimik und Gestik vom Schauspieler und der Tänzerin zu lernen war, 39 sehr nahe, sondern der Tanz scheint auch in seinen Tendenzen der 20er Jahre dem Film ähnlich, solange die Mediendifferenz durch den gemeinsamen Bezug auf den sichtbaren Menschen überbrückt wird. Hofmannsthals Versuch, an Körperzeichen nicht-traditionelle Dichtung anzuschließen, war auf die Stummheit des Tanzes als Schweigen der Tänzer angewiesen. In dem Moment, als der ‘Neue Tanz’ sich als kulturelle Formation konsolidierte, bildete er eigene Institutionen aus und um ihn gestalteten sich eigene Diskurse, die Gründer, Heroen und Geschichte fixierten. Versuche der Tanz-Notation, Experimente mit Tanz-Schrift, wie sie etwa Laban unternahm, wären innerhalb des frühen Konzepts aporetisch gewesen. Gerade das Zentrum der dichterischen Rede vom Tanz, das Tanzereignis, mußte leer, unbestimmt bleiben. Wo die Tanzbewegung selbst in ein Zeichensystem gebannt ist, geht ihre Dynamik als Stimulus, um ihren Ort andere Zeichen kreisen und tanzen zu lassen, verloren. Ebenso wo sie sich anschickt, auf anderes zu verweisen, anderes zu bedeuten als die schöne Beweglichkeit des Lebens. Eine Etappe ihrer gemeinsamen Geschichte, in der Literatur, Tanz und Film durch das gemeinsame Konzept des sichtbaren Menschen aufeinander bezogen waren, geht in einer neuen Konkurrenzsituation von Tanz und Film als institutionell konsolidierte Künste zu Ende. 9. Triangulation ‘Neuer Tanz’ ist ein diskursives Ensemble aus Praktiken und Körpertechniken sowie Texten und Institutionen. Tanzereignisse, Choreographien und Auftritte einzelner Tänzer und Gruppen machen nicht mehr als einen Teil derselben aus. Sie sind nicht verloren, weil die Zeit keine Techniken angemessener Archivierung besaß, sondern sie existieren nur in ihrer historischen Form kultureller Wahrnehmung. Die Rede vom Tanz selbst läßt sich nicht als sein Anderes loslösen. Die literarische Rede ist jedoch nicht nur Form der Wahrnehmung, sie Assoziationen / Dissoziationen 239 ist eine zentrale Ermöglichungsbedingung des ‘Neuen Tanzes’. Diese spezifische Form der literarischen Rede ist wiederum Teil ihres charakteristischen Weges in die Moderne. Tanz und Literatur begegnen einander hier nicht zufällig. Tanz ist nicht ornamental für die Literatur, sondern notwendig für ihre Selbstbestimmung und ihren Legitimationsdiskurs. Literatur ist nicht kontingenter Partner des ‘Neuen Tanzes’, sondern schafft konzeptionell erst den kulturellen Raum, an dem der ‘Neue Tanz’ seinen Platz finden kann. Der nach 1910 mit neuer Orientierung aufkommende narrative Stummfilm, der zu eigenen Ausdrucksmitteln findet, komplementiert und begrenzt die kulturellen Räume von Literatur und Tanz wiederum signifikant. Sein Platz entsteht dort, wo die Entwicklung der avantgardistischen Literatur diese in Aporien führt 40 und die medialen und sozialen Grenzen des im Tanz sichtbar werdenden Menschen liegen. Mit dem der Geodäsie entlehnten Begriff der Triangulation, “dem Inbegriff aller Arbeiten, welche einer geregelten topographischen Aufnahme eines Landes vorhergehen müssen” 41 , soll das hier gewählte Verfahren gekennzeichnet sein, das auf diese Situation des Wechselbezuges reagiert. In dieser Situation ist keine der Künste ohne die andere zu bestimmen. Erst zwei bekannte Punkte erlauben es, jeden dritten anzugeben. Anmerkungen 1 Vgl. etwa Gregor Gumpert: Die Rede vom Tanz. Körperästhetik in der Literatur der Jahrhundertwende. München 1994. Garbiele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995. 2 Vgl. zur Geschichte des Bühnentanzes grundlegend Klaus Kieser / Katja Schneider: “Grundzüge des theatralen Tanzes”. Reclams Ballettführer. Hg. Klaus Kieser / Katja Schneider. 13. Aufl. Stuttgart 2002. S. 11-35. 3 Hugo von Hofmannsthal: “Eine Monographie. ‘Friedrich Mitterwurzer’ von Eugen Guglia”. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa I. Hg. Herbert Steiner. Frankfurt a.M. 1956, S. 228 -232. (Im folgenden im Text nach dieser Ausgabe nachgewiesen mit der Sigle M und der Seitenzahl.) 4 Vgl. zur “Lebensideologie” Martin Lindner: Leben in der Krise: Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne; mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Gläser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar 1994. S. 5 -145. 5 Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München 1996. S. 158. 6 So über die Vereinigungen Robert Musil: Tagebücher. Hg. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976. Bd. 1, S. 347. 7 Vgl. Annette Meyhöfer: Das Motiv des Schauspielers in der Literatur der Jahrhundertwende. Köln/ Wien 1989. 8 Vgl. Ursula Geitner: Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frauen in die Moderne. Bielefeld 1988. Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a.M. 1989. 9 Vgl. Michael Titzmann: “‘Grenzziehung’ vs. ‘Grenztilgung’. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‘Realismus’ und ‘Frühe Moderne’. Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten - realistische Imaginationen. Hg. Hans Krah / Claus-Michael Ort. Kiel 2002. S. 181-209. 10 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. I. K.: Werkausgabe. Hg. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1982. Bd. 3, S. 98. 11 Vgl. David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984. (Anglica Germanica Series 2) 12 Zu Krise und Restauration des Laokoon-Regimes im 19. Jahrhundert vgl. Gustav Frank: “‘Schöner Schein’ nach der Goethezeit: Die Wanderjahre an den Grenzen einer Ästhetik des Nacheinander”. Goethe im Vormärz. Hg. Detlev Kopp / Hans-Martin Kruckis. JB Forum Vormärz Forschung 9 (2003), S. 109 -140. 13 Vgl. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989. Gustav Frank 240 14 Wichtig als Ermöglichungsbedingung einer neuen Literatur ist jedoch, daß sich nunmehr auch das Wechselverhältnis der Künste verändert. War bislang eine Grenzüberschreitung und Vereinigung fragwürdig, weil sie die einheitliche, bruchlose Illusionierung der jeweiligen Kunst irritiert und auf die Mittel durchsichtig gemacht hätte, deren Effekt diese ist, so sind jetzt alle denkbaren Wort-Bild-Formen möglich. Hofmannsthal beobachtet als Essayist die Entwicklungen der bildenden Kunst und arbeitet auch selbst an Wort-Bild-Übergängen. Dabei wird kenntlich, wie er an Bildkunst nur insofern interessiert ist, als sie wie der Schauspieler das nicht-bewußte Seelengeschehen zur Anschauung bringt. Vgl. dazu Ursula Renner: Die Zauberschrift der Bilder. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg 2000. S. 11: “Nicht erst mit dem legendären Chandos-Brief, wie die Forschung zumeist behauptet, sondern bereits seit seinen frühesten Publikationen Anfang der neunziger Jahre fragt Hofmannsthal, was der (Begriffs-)Sprache […] entgegengesetzt werden kann, wenn Psychisches, das Suchprogramm des 19. Jahrhunderts, kommuniziert werden soll. Eine Antwort findet er im nonverbalen Zeichensystem der bildenden Kunst. Wie die bedeutungsimprägnierten und deutungsoffenen Träume können auch die materiellen Bilder Zeugnis ablegen von den ‘subjektiven Wahrheiten’ der Seele. Nicht daß sie vermeintlich mimetisch abbilden, ist ihr Vorzug, sondern daß sie etwas von der Tiefendimension des Lebens an die Oberfläche bringen. Bilder, weil Medien, ‘transponieren’ das ‘Leben’ und machen anschaulich, ‘was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert.’ (RA III 400)” 15 Vgl. Achim Aurnhammer / Thomas Pittrof (Hgg.): “Mehr Dionysos als Apoll”. Antiklassizistische Antike- Rezeption um 1900. Frankfurt a.M. 2002 (Das Abendland; NF Bd. 30) 16 So Brygida Ochaim: “Varieté-Tänzerinnen um 1900”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne.(Katalog) Hg. B.O. / Claudia Balk. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 69 -116, hier S. 95. 17 Vgl. Gustav Frank / Katja Schneider: “Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Moderne (1890 -1938): semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen”. Kodikas/ Code-Ars Semeiotica 24/ 1 (2001): S. 46 -72. Den Anschluß an die Debatten um die Wahrnehmung und den Okkultismus diskutiert Giovanni Lista: “LoÎe Fuller oder die Macht des Geistes”. Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian. 1900 -1915. (Katalog) Hg. Schirn Kunsthalle / Veit Loers. Ostfildern 1995. S. 588 -599. 18 Zu Fuller vgl. Gabriele Brandstetter / Brygida Ochaim: LoÎe Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau. Freiburg 1989. 19 Brygida Ochaim: “Varieté-Tänzerinnen um 1900”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne.(Katalog) Hg. B.O. / Claudia Balk. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 69 -116, hier S. 69. 20 Vgl. etwa Ulrich Linse: “Das ‘natürliche’ Leben: Die Lebensreform”. Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500 -2000. Hg. Richard van Dülmen. Wien u. a. 1998; S. 435 - 456. 21 Baxmann 22 Vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. Inge Baxmann: Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München 2000. 23 Gunhild Oberzaucher-Schüller: “Vorbilder und Wegbereiter. Über den Einfluß der ‘prime movers’ des amerikanischen Modern Dance auf das Werden des Freien Tanzes in Mitteleuropa”. Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. G.O.-S. Wilhelmshaven 1992. S. 347-366, hier S. 357 (Herv. GF). 24 Vgl. Heide Schlüpmann: Die Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Basel/ Frankfurt a.M. 1990. S. 26. 25 Vgl. Claudia Balk: ”Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne.(Katalog) Hg. Brygida Ochaim / C. B. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 7- 68, hier S. 61, FN 10: “Mehr emotionalisierte als informative Zeitungsberichte sowie Autobiographien und Biographien, die primär als Erfolgsgeschichten geschrieben sind. Über den Tanz selbst ist nur wenig Ergiebiges zu erfahren.” 26 Hugo von Hofmannsthal: “Die unvergleichliche Tänzerin”. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II. Hg. Herbert Steiner. Frankfurt a.M. 1976. S. 222-228. (Im folgenden im Text nach dieser Ausgabe nachgewiesen mit der Sigle U und der Seitenzahl.) 27 Vgl. Hugo von Hofmannsthal / Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898 -1929. Hg. Hilde Burger. Frankfurt a.M. 1968. S. 130 -131. 28 Wenn in diesem Beitrag Hofmannsthals Werk besonders hervorgehoben erscheint, dann weil sich in ihm Tendenzen der zeitgenössischen Diskurse auf engem Raum verdichten. Die abschließenden Sätze seines Aufsatzes sind dafür wiederum repräsentativ, wenn man sie im Kontext der im folgenden Jahr erscheinenden kleinen Schrift Sigmund Freuds liest: Der Wahn und die Träume in W. Jensens “Gradiva”. Leipzig/ Wien 1907. 29 Vgl. Hugo von Hofmannsthal / Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898 -1929. Hg. Hilde Burger. Frankfurt a.M. 1968. S. 135ff. Assoziationen / Dissoziationen 241 30 Vgl. zum Verlauf des Salome-Projekts Claudia Balk: “Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. (Katalog) Hg. Brygida Ochaim / C. B. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 7- 68, hier S. 40 - 42. 31 Dazu Heinz Hiebler: “‘… mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert …’ Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne”. Hofmannsthal JB 10 (2002). S. 89 -160. 32 Vgl. Tom Gunning: “The Cinema of Attraction. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde”. Wide Angle Vol. 8/ 3 u. 4 (1986): S. 63 -70. 33 Béla Balázs. Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. [1924] Zitiert nach: B. B. Schriften zum Film. Band 1: ‘Der sichtbare Mensch’. Kritiken und Aufsätze 1922-1926. Hg. Helmut H. Diederichs / Wolfgang Gersch / Magda Nagy. Berlin 1982. S. 51f. (Im folgenden im Text nach dieser Ausgabe nachgewiesen mit der Sigle S und der Seitenzahl.) 34 Vgl. Gustav Frank: “Weekend und vox. Beobachtungen zum entstehenden Tonfilm”. “Modern times”? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925 -1955 Hg. G. F. / Rachel Palfreyman / Stefan Scherer. Bielefeld (im Erscheinen). 35 Vgl. etwa aus demselben Jahr Bildtafeln und Text in Fritz Giese: Die Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung. München 1924. Vgl. Wege zu Kraft und Schönheit (Ufa 1924/ 26). 36 Vgl. “… jeder Mensch ist ein Tänzer.” Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. (Katalog) Hg. Hedwig Müller / Patricia Stöckemann. Gießen 1993. 37 Vgl. Yvonne Hardt: “Vom Krieg, der Pantomime und der Hoffnung. Die Ausdruckstänzerin Jo Mihaly”. tanzdrama 64 (3/ 2002): S. 16 -18. 38 Vgl. dazu Gustav Frank / Katja Schneider: “Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Moderne (1890 -1938): semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen”. Kodikas/ Code-Ars Semeiotica 24/ 1 (2001): S. 46 -72, besonders S. 66f. 39 Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 9 1983. Bd. 1, S. 472: “Der gute Film hat diese Umbetonung oder Sichtbarmachung auf den Leib und die Bewegung bezogen, offenbar belehrt vom neuen Tanz; wonach dieser also das Rätsel lösen mag, wie die Geste gerade so filmhaft reich werden konnte.” 40 Vgl. Gustav Frank: “Probleme der Sichtbarkeit. Die visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts und Okkult-Fantastisches in Literatur und Film um 1910: Afgrunden (Gad/ Nielsen), Die Versuchung der stillen Veronika (Musil), Der Student von Prag (Rye/ Ewers/ Wegener/ Seeber)”. Recherches Germaniques Hors Série 1 (2002), S. 59 -101. 41 Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage. Bd. 16: Sirup bis Turkmenien. Leipzig/ Wien: Bibliographisches Institut 1897, S. 1010.
