Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4
"In dancing she was dancing."
121
2003
Gregor Gumpert
kod263-40243
“In dancing she was dancing.” Freier Tanz und Literatur im Zeichen der Einfachheit Gregor Gumpert für lole Das Einfache, zumal das erarbeitete Einfache, ist das Schwerste. Und doch, oder gerade darum, wird Einfachheit in vielerlei Zusammenhängen umworben: Einfachheit der Darstellung komplexer Sachverhalte in der Wissenschaft; bündige, faßliche Normen des Handelns in der Ethik; und - neben Theorie und Praxis - die Einfachheit des Ausdrucks, die Unmittelbarkeit der Ansprache im künstlerischen Werk. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts - ‘Beginn’ meint hier die Zeit von der Jahrhundertwende bis zur Vorkriegsmoderne - läßt sich gerade in aestheticis eine Liebe zur Einfachheit, oder sollte man sagen: eine Verliebtheit in das Einfache, beobachten, eine entschiedene Hinwendung zu oft provokanter Simplizität. Genannt seien zwei Eckpunkte aus verschiedenen Künsten: die Klavierstücke Gymnopédies und Gnossiennes von Erik Satie, 1888 und 1890; Kasimir Malewitschs Bild Schwarzes Viereck auf weißem Grund von 1913. Für Saties musikalische wie für Malewitschs bildkünstlerische Komposition ist die Reduktion aufs Elementare kennzeichnend. Sie zeigt an, daß Einfachheit hier nicht platt gesetzt, daß nichts übersprungen wurde, daß sich die Werke vielmehr einem - oft genug: mühevollen - Prozeß der Rückführung, der Konzentration, der ‘Essentialisierung’ verdanken. Einfachheit ist schwer zu erarbeiten; und die Arbeit, die zu ihr führt, mitunter schwer zu würdigen. Im Ensemble der Künste rückt in den Jahren um 1900 der Tanz zum Wegbereiter einer neuen Einfachheit auf. Es ist, in erster Linie, Isadora Duncans, der amerikanischen Tänzerin, Revolution, mit der sich eine schlichte, tatsächlich oder vermeintlich ungekünstelte, eine vom Regelcodex der danse d’école gelöste Bewegungssprache durchsetzt. Die tanzästhetischen und -historischen Fakten sind bekannt: Duncans Favorisierung des griechischen Altertums und antiken Bewegungsvokabulars, soweit es aus Plastik und Malerei erschließbar ist; die Kontemplation von Naturbewegungen und die Überführung dieser Bewegungen in tänzerische Verläufe; die organische Prozessualität der tänzerischen Gestalt: Beginn mit einer Pose, aus der sich die Bewegung zwanglos entwickelt - Münden in eine neue Pose, aus der die weitere Bewegung entfaltet wird; Stilbildung als Aufgabe und Verpflichtung der einzelnen Podiumstänzerin; Verzicht auf eine lehr- und lernbare Technik. Der von Duncan inaugurierte sogenannte Freie Tanz und der Tanz derer, die ihr in künstlerischer Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit folgen, fasziniert zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bildhauer und Maler, Theaterreformer und Schriftsteller, die nach neuen Wegen des Ausdrucks suchen. Sie alle nehmen am Freien Tanz - nicht nur, aber doch mit geschärftem Blick eben hierfür - die Einfachheit seines Bewegungsmaterials wahr. Denn was hier zur Anschauung gelangt, ist K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gregor Gumpert 244 zunächst nichts anderes und nicht mehr als ein “Wenden und Beugen des Oberkörpers, Neigen und Zurückwerfen des Kopfes, des Halses und Nackens, Heben und Senken der Schultern, dann Knien und Liegen, sich in langsamen Phasen Erheben.” 1 Die Schwesterkünste des Tanzes machen die Einfachheit, die ihnen der Freie Tanz vorführt, auf je unterschiedliche Weise für sich produktiv. Eines der überzeugendsten - und medial am nächsten liegenden - Beispiele ist die Schöpfung einer beweglichen Bühnenarchitektur, der sogenannten screens, durch Edward Gordon Craig, den englischen Theatertheoretiker und -reformer. Zu den screens - hölzernen Rahmen, über die Segeltuch gespannt ist und die auf einziehbare Laufrollen montiert sind - gelangt Craig inspiriert durch Duncan: Der Freie Tanz setzt ihn auf die Spur bei seiner Suche nach einem Instrument zur Veranschaulichung von Bewegungen, und zwar der ‘klarsten, nacktesten und einfachsten Bewegungen’ überhaupt (wie Craig 1908 formuliert 2 ). Durch die Stellung der screens zueinander ergeben sich auf einer Bühne plastische Formen, die das Publikum als architektonische Struktur wahrnimmt; dank geschickter bühnentechnischer Manipulation aber wechseln die screens ohne Umbaupause ihre Stellung und bringen so, in fließendem Übergang, Form auf Form hervor. Duncans Posen, in denen einfachste Bewegungen angelegt sind, Bewegungen, die sich wiederum zu neuen Posen sammeln, begegnen hier an unbelebtem Material, an einer a-naturalistischen Bühnenarchitektur wieder. Mit Blick auf die Literatur - und das Verhältnis zwischen Tanz und Literatur soll im folgenden interessieren - ist weniger offensichtlich, inwiefern die eine Kunst an der anderen, und zumal an deren neuer Einfachheit, Maß nehmen könne. Dabei ist die Bandbreite der Beziehungen zwischen beiden Künsten und ihren Vertretern denkbar groß: Schriftsteller und Tänzerinnen arbeiten zusammen - Hugo von Hofmannsthal und Grete Wiesenthal -, und es entstehen Texte für den Tanz: Pantomimenszenarien zur tänzerischen Realisation, Tanzspiele als Gesamtkunstwerke en miniature - etwa “At the Hawk’s Well”, ‘An der Falkenquelle’, von William Butler Yeats in Zusammenarbeit mit dem japanischen Tänzer Michio Ito. Die poetologisch bedeutsame Dimension des nicht-akademischen Tanzes hatte am Ausgang des 19. Jahrhunderts schon Stéphane Mallarmé in seinen “Considérations sur l’art du Ballet et la Loïe Fuller” entwickelt; ihm folgen im 20. Jahrhundert Autoren wie Paul Valéry und Rainer Maria Rilke. In schwer übersehbarer Fülle schließlich spielt der neue Tanz eine thematisch zentrale oder motivisch beigeordnete Rolle in Gedichten und Prosatexten von der Jahrhundertwende bis weit über die Vorkriegsmoderne hinaus. Wo aber finden sich jene Berührungspunkte sub specie simplicitatis, um die es hier gehen soll? Es liegt nahe, sich bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage zunächst an die literarischen Klassiker der Beschäftigung mit dem Tanz zu halten. Einer unter ihnen ist Hugo von Hofmannsthal; seine Essays Die unvergleichliche Tänzerin, 1906, und Über die Pantomime, 1911, sind Grundtexte der literarischen Reflexion auf den neuen Tanz. Im Essay von 1906 widmet sich Hofmannsthal einer Darbietung von Ruth St. Denis, einer Tänzerin, die - anders als Isadora Duncan - nicht an die griechische Antike, sondern an fernöstliche Traditionen anknüpfte. Der Dichter ruft eine Reihe von Topoi auf: Der Tanz ist unbeschreiblich; was er zur Anschauung bringt, läßt sich nicht im Medium der Worte vermitteln; er teilt ein Mysterium mit; er gibt “Emanationen absoluter sinnlicher Schönheit” 3 ; er ist von einer Archaik, die höchst zeitgemäß erscheint - “Ich fühle dieses Schauspiel bis zum äußersten imprägniert mit dem Aroma des ganz einzigen Moments, in dem wir leben.” 4 Entscheidend im hier interessierenden Zusammenhang ist jedoch die Charakteristik der Bühnenwirklichkeit des Tanzes. Der Dichter schildert, wie die Tänzerin sitzt, wie sie sich erhebt - “Dieses Aufstehen ist wie ein Wunder” 5 -, wie sie schließlich eine Folge “un- “In dancing she was dancing” 245 aufhörlicher […], richtiger Bewegungen” 6 ausführt. Hofmannsthals Kennzeichnungen erinnern an eine Bemerkung, die Edward Gordon Craig einmal über Isadora Duncan machte: Die Tänzerin habe gezeigt, “what it is to move: to step, to walk, to run; few people can do these things.” 7 Im Pantomimen-Essay von 1911 kommt Hofmannsthal noch einmal auf Ruth St. Denis zu sprechen. Er betont ihr Vermögen, der einfachsten Handlung einen zeremoniellen Charakter zu geben, und benennt die “Folge der einfachsten Gebärden, […] Schreiten und Neigen, Entzünden und Weihen”, in denen sich “unermeßliche Wahrheit, geistige Schönheit entfalten.” 8 Wie sind Hofmannsthals Beobachtungen und tanzästhetische Bestimmungen zu deuten? Ein platonisches, oder besser: ein platonisierendes, Modell scheint zugrundezuliegen. Denn was wären ‘richtige Bewegungen’ anderes als die körperlich, die sinnfällig gewordenen Urbilder der geschwächten, der getrübten, der vermischten und verstellten Bewegungen unseres Alltags? In dieser Perspektive wird verständlich, daß Hofmannsthal von “Emanationen absoluter sinnlicher Schönheit” spricht, also von etwas, was es nicht geben kann: Absolute Schönheit ist unsinnlich, die Emanationen absoluter Schönheit sind sinnlich. Der Tanz realisiert - im strengen Wortsinn: er verwirklicht - ein Unmögliches: Er läßt, für einen Augenblick, Ideen Fleisch werden. Wenn diese Deutung der Überlegungen Hofmannsthals richtig ist, so wird, zumindest in Umrissen, der Weg erkennbar, der von der Tanzkunst und der Einfachheit der Bewegung - und das heißt eben: von deren Ungetrübtheit, Unvermischtheit, von ihrer Einheit mit sich selbst - zur Einfachheit der Kunst der Worte, der Dichtkunst führen könnte. Es ist freilich ein Weg, den Hofmannsthal selbst nicht beschritten hat. An der Einfachheit des neuen Tanzes Maß zu nehmen, hieße für die Dichtkunst: eine Sprache zu schaffen, in der die Worte nackt und bloß würden, kahl und ledig aller unreinen Anhaftung - ihrer störenden Beiklänge, ihrer verwirrenden Grautöne, ihrer geschichtlichen Fracht. Es hieße, die Worte in ihrer Materialiät, ihrer Klanglichkeit, zu sich selbst kommen zu lassen, um sie als ‘Urworte’ zu gebrauchen. Es hieße schließlich, eine - nach konventioneller Meinung - alles andere als dichterisch schöne Sprache zu sprechen, eine Sprache nämlich, die Verzicht leistete auf das, was lange Zeit als das ‘Dichterische’ galt. Diese Sprache besäße wohl jene “Unmittelbarkeit”, die Hofmannsthal an Ruth St. Denis’ Tanz rühmt: “Die ungeheure Unmittelbarkeit dessen, was sie tut, diese strenge, fast abweisende Unmittelbarkeit, dies Kommentarlose […]”. 9 Hofmannsthal hat einen solchen Umgang mit der Sprache nicht gepflegt. Er blieb zeitlebens dem - im weitesten Sinne - symbolistischen Kunstparadigma verpflichtet, das gerade die Arbeit mit den Potentialen der Konnotation, dem Reichtum der Nuance in den Vordergrund rückt: Zwischen den Worten soll ein Verweisungszusammenhang eigener Geltung sich herstellen “comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries”, gleich einer ‘funkelnden Leuchtspur’ über Edelsteinen - so drückt Mallarmé es in Crise de vers aus. 10 Und überdies: Hofmannsthals im Pantomimen-Essay von 1911 aufgestellte Bestimmung der Leistung des Wortgebildes einerseits, des tänzerischen Werks anderseits, sein Beharren auf der fundamentalen Differenz beider, ist dem Versuch einer Übertragung von Verfahrensweisen hinderlich. So wählte Hofmannsthal den für ihn einzig gangbaren Weg der Produktion für den Tanz, der Schöpfung von Szenarien und Libretti, in denen die Poesie der Worte und die Dramaturgie der Erfindung dienstbar der schweigenden Kunst des Körpers werden. Daß der Dichter hiermit Texte schuf, die auch zu lesen sich lohnt, wäre eigener Betrachtung wert. 11 * Gregor Gumpert 246 Die Einfachheit einer neuen Dichtung in Analogie zur Einfachheit des neuen Tanzes - es sind andere literarische Kreise aufzusuchen, um diese Analogie in der Tat bestätigt zu finden. In einem anderen poetischen Universum als dem Hofmannsthals begrenzt die Dichtkunst die Fülle ihrer überkommenen Ausdrucksmöglichkeiten und erwirbt sich in der Beschränkung neue; sie beschwört noch einmal, und anders als je zuvor, die Macht des einzelnen Worts; sie führt eine radikale Reduktion durch und gewinnt im entschiedenen Minimalismus monumentale Züge. Es ist das Werk einer Hohenpriesterin dichterischer Einfachheit, in dem all dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingelöst wird - das Werk der amerikanischen Dichterin Gertrude Stein. She was one being one. She was one always being that one. She was one always having being that one. She was one always going on being that one. She was one being one. 12 So könnte Stein von sich selbst Rede führen, so könnte sie ein Selbstporträt zeichnen, in dem sie sich einfach, in der immerwährenden Einheit und Bestimmtheit ihrer selbst, sprachlich darstellt. Doch spricht die Dichterin in diesem Text - überschrieben Orta or one dancing, verfaßt in den Jahren 1911/ 12 und posthum veröffentlicht 1951 - nicht von sich, jedenfalls nicht expressis verbis von sich, sondern von einer großen Künstlerkollegin und Vorkämpferin des Einfachen, die hier, verschlüsselt, unter dem Namen Orta Davray erscheint - gemeint aber ist: Isadora Duncan. 13 Steins Duncan-Porträt ist in mehrerlei Hinsicht aufschlußreich: als eindrucksvolles Dokument einer schwierigen Einfachheit in der Literatur der Vorkriegsmoderne, einer Einfachheit, die die Analyse vor Probleme stellt; als Zeugnis der einen Kunst über die andere, der Dichtung über den Tanz - ein Text, der seinerseits als “verbal dance of great rhythmic skill” 14 beschrieben worden ist; und schließlich als Reflexion, die im Sprechen über den Tanz auch über Dichtung spricht, genauer: die Tanzen und Schreiben in nächste Nähe rückt. Alle drei Momente spielen ineinander. Was sagt Stein über den Tanz, und wie sagt sie es? Sie sagt sehr wenig und zugleich sehr viel. Man könnte behaupten, sie sage alles und nichts - dies aber auf eine überaus eindringliche Weise, die den Gedanken fließen, ihn mitunter gar, in der Tautologie, kreisen läßt: In being one dancing this one is one being one remembering anything in dancing. In being one dancing this one is one remembering something in dancing. In being one dancing this one was dancing and dancing being that thing being dancing this one was doing that thing was doing dancing. In being one dancing this one was one being dancing. In being dancing this one was dancing. In dancing this one was dancing. 15 Der erste Eindruck des Passus als Ganzen dürfte der einer mit großem Nachdruck, mit insistierendem Gestus vorgebrachten Rede sein. Jeder Satz - gewiß eigenwillig, aber den Regeln der Grammatik gemäß formuliert - ist ganz und gar verständlich. Kompositionell wird mit Wiederholung und Variation gearbeitet; die Komplexität im Aufbau nimmt zunächst zu, dann wieder ab, bis hin zur formelhaften Schlußwendung: “In dancing this one was dancing.” Grundsätzlich bleibt es im Duncan-Porträt bei den hier genannten Verfahren. Dabei sind Umstellungen möglich: Der erste Satz des dem eben zitierten folgenden Passus geht von der formelhaften Schlußwendung aus, führt eine Variation ein - aus “this one” wird “she” - und entfaltet den Gedanken in längeren Satzgebilden unter geringfügig neuem Aspekt. Als kleine Überraschung schleicht sich das Wort “existing”, ledig allen philosophischen Schwergewichts, in den Redefluß ein und wird seinerseits der Wiederholung unterworfen: “In dancing she was dancing” 247 In dancing she was dancing. She was dancing and dancing and in being that one the one dancing and dancing she was dancing and dancing. In dancing, dancing being existing, she was dancing, and in being one dancing dancing was being existing. 16 Die Tänzerin tanzt wirklich - ihr Tanzen ist nichts als Tanzen - in ihrem Tanz ist Tanz überhaupt gegenwärtig. Mit diesen dürren Worten ließe sich die ‘Aussage’, die der soeben gelesene Passus einzuschärfen bemüht scheint, wiedergeben. Damit wäre alles und nichts gesagt; vor allem aber: Die dichterische Einfachheit des Steinschen Textes, der gleichfalls alles und nichts sagt, der aber in der Tat den Fluß, den Entwicklungscharakter, das organische Moment der Darbietungen Isadora Duncans in Worten nachzubilden unternimmt, diese dichterische Einfachheit wäre abhanden gekommen. Die Analyse von Texten Gertrude Steins tut gut daran, sich auf Strukturbeschreibungen zu beschränken, statt aus den Redeinhalten ein diskutables ‘Argument’ abzuziehen. Es gilt hier eher, auf die Dichtung zu blicken, als hinter sie gelangen zu wollen. In Hinsicht auf die Frage nach einer Analogie von Tanzen und Schreiben ist im Duncan- Porträt ein Satz von zentralem Interesse. Er lautet: “She was then resembling some one, one who was not dancing, one who was writing […]”. 17 Eine Ähnlichkeit der porträtierten Tänzerin mit einer oder einem Schreibenden wird festgestellt. Die Feststellung weist auf die genaue Verbindung, die, in Steins Perspektive, zwischen der einen und der anderen ästhetischen Praxis besteht. Tanzen und Schreiben, und das heißt: ein Schreiben wie das im Duncan-Porträt vorgeführte, konvergieren. Von hier aus gelesen, läßt sich Steins Text nicht allein als eine Etüde über ‘dancing’, sondern auch als eine über ‘writing’ auffassen, als eine Meditation über Dichtkunst im Zeichen der neuen, am neuen Tanz geschulten Einfachheit. Es ist bemerkenswert, daß gerade dieser Satz: “She was then resembling some one, one who was not dancing, one who was writing”, der wie kaum ein anderer des Porträts den dicht geschlossenen Immanenzzusammenhang der Rede durchbricht, für Stein selbst offenbar nicht unproblematisch war. Der Satz begegnet im Erstdruck des Textes von 1951, im Typoskript, das die Dichterin als Druckvorlage erstellt hatte, und im Manuskript; in einem Typoskript aber, das Stein zurückbehielt, ist er mit Tinte gestrichen. 18 Er ging, so steht zu vermuten, Stein selbst zu weit, indem er eine Lektüre des Textes pro domo geradezu herausforderte. Die Dichterin mag ihn in ihrem Arbeitsexemplar gestrichen haben, um eine völlige Konzentration auf den einen Gegenstand des Porträts zu erreichen, der unvermischt und in der Einheit seiner selbst, einfach zur Geltung kommen sollte. * Es wäre verfehlt, Gertrude Steins hier vorgestellten Text als Dokument einer ‘Beeinflussung’ durch den Freien Tanz, im besonderen durch Isadora Duncan, zu verstehen. Der Stil, in dem das Porträt gehalten ist, liegt zur Entstehungszeit des Textes - in den Jahren 1911/ 12 - bereits fest; erinnert sei nur an einige Passagen aus dem opus magnum The Making of Americans. Being a History of a Family’s Progress, geschrieben 1906-08, veröffentlicht 1925. Zeitgleich mit der Etüde über ‘dancing’ entstehen literarische Porträts der Maler Picasso und Matisse - die Dichterin zeigt sich stärker an der Bildkunst als am Tanz interessiert. Ihr Buch Tender Buttons, 1914, zeugt davon; im Medium der Worte soll hier eine Gegenstandsrepräsentation geleistet werden, die derjenigen der kubistischen Malerei analog ist. Im Freien Tanz und im Werk ihrer Künstlerkollegin Isadora Duncan dürfte Stein nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine willkommene Bestätigung ihrer eigenen ästhetischen Gregor Gumpert 248 Praxis erblickt haben. Dabei mußte sie freilich über zumindest eine grundlegende Differenz hinwegsehen: Die Einfachheit, die Duncan erstrebte, sollte eine Einfachheit des Natürlichen sein; die Sprache dagegen, die Stein spricht, ist und bleibt - in der Reduktion des Vokabulars, der strengen Beschränkung auf bestimmte Verbformen, der Geradlinigkeit parataktischer Reihung und anderem mehr - in hohem Maße artifiziell. Sie ist inszeniert und wirkt befremdlich. Daß auch Duncans ‘Natürlichkeit’, eine auf der Bühne dargebotene Natürlichkeit, inszeniert ist, leitet auf Fragen, die eigens zu erörtern wären. Auch wenn sich im Duncan-Porträt kein ‘Einfluß’ der einen Kunst auf die andere dokumentiert, ist der Text doch paradigmengeschichtlich und mit Blick auf Konvergenzprozesse zwischen den Künsten von großem erhellenden Wert. Dies sei im folgenden angedeutet. Im Ensemble der Künste sind die Beziehungen, die sich unter den einzelnen Mitwirkenden ausbilden, stets vielgestaltig. Überblickt man die Jahrzehnte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Vorkriegsmoderne, so fällt auf, daß in ihnen die Suche nach einer ‘Leitkunst’ bedeutsam war, nach einer Kunst, deren Verfaßtheit und Verfahrensweisen paradigmatisch für die anderen sein konnten. Théophile Gautier, dem Baudelaire die Fleurs du mal widmet, ruft 1857 in seinem Gedicht “L’Art”, aufgenommen in die Sammlung Emaux et Camées (‘Emaillen und Gemmen’), die Bildhauer-, die Steinschneide- und die Emaillierkunst als musterhaft aus. Was diese sind, soll die Dichtung werden: eine Kunst des genauen Fixierens und der klaren Umrißlinie, die ihren Gebilden Dauer verleiht. Das Gedicht “L’Art” schließt mit der Anweisung: Sculpte, lime, ciselle; Que ton rêve flottant Se scelle Dans le bloc résistant! 19 Um den ‘schwebenden Traum’ in Worte zu fassen, orientiert sich später, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die Dichtung des Symbolismus an der Musik: “De la musique avant toute chose”, beginnt Verlaines “Art poétique” von 1882. 20 Bereits einige Jahre zuvor hatte der englische Kunsttheoretiker Walter Pater formuliert: “All art constantly aspires towards the condition of music” 21 ; das Privileg der Musik, nach deren Zustand oder Seinsweise die anderen Künste streben, erkannte Pater in der vollkommenen Ineinsbildung von “matter” und “form”. 22 In Hinsicht auf die literarischen Avantgarden der Vorkriegsmoderne schließlich, die gegen das symbolistische Kunstparadigma opponieren, läßt sich feststellen: “For the modern period, […] painting takes the place of music as the central […] art. In modernism, all art aspires towards the condition of painting.” 23 Mit ihrem Interesse an bildkünstlerischen Verfahren, an der kubistischen Malerei, ordnet sich Stein aufs genaueste in diesen paradigmengeschichtlichen Zusammenhang ein. Am Übergang jedoch vom symbolistisch-musikalischen zum avantgardistisch-malerischen Paradigma steht um 1900 der Tanz: als bewegte, sich - wie die Musik - in zeitlichem Verlauf manifestierende, dabei - wie die Bildkunst - optisch wahrnehmbare Gestalt. Steins Aufmerksamkeit auf den Tanz und ihr weiterer Weg der Orientierung an der Bildkunst spiegeln die Rolle des Tanzes als eines im Ensemble der Künste bedeutsamen paradigmengeschichtlichen Zwischenspiels. Bei der Ausbildung paradigmatischer Verhältnisse unter den Künsten, bisweilen aber auch unabhängig hiervon, kann es zu Konvergenzprozessen kommen, die sich als Über- “In dancing she was dancing” 249 nahme, oder besser: als Anverwandlung, von Verfahrensweisen der einen Kunst durch die andere beschreiben lassen. Über solche Konvergenzprozesse hat Theodor W. Adorno in seiner Studie Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, veröffentlicht 1965 in einer Festschrift für Daniel-Henry Kahnweiler, Erhellendes gesagt. Adorno stellt fest, daß die Künste ineinander übergehen, “[n]icht jedoch durch Anähnelung, durch Pseudomorphose. […] Sobald die eine Kunst die andere nachahmt, entfernt sie sich von ihr, indem sie den Zwang des eigenen Materials verleugnet, und verkommt zum Synkretismus in der vagen Vorstellung eines undialektischen Kontinuums von Künsten überhaupt. […] Die Künste konvergieren nur, wo jede ihr immanentes Prinzip rein verfolgt.” 24 An Steins Duncan-Porträt ist als literarischem Text nur die eine Richtung des Konvergenzprozesses zu überblicken: die Hinwendung der Dichtung zum Tanz. Dabei fällt auf: Was Stein am Freien Tanz nicht müde wird zu betonen, ist die völlige Realisierung von Tanz als Tanz, eben der Sachverhalt, daß (mit Adornos Worten) die Tanzkunst hier “ihr immanentes Prinzip rein verfolgt”. Allererst so wird der Tanz, in Adornos und offenkundig auch in Steins Perspektive, konvergenzfähig - und kann sich die Dichtung ihm nähern, indem sie ihrerseits ihr “immanentes Prinzip” realisiert. Gertrude Stein führt eine Rede, wie sie dichterischer kaum sein kann; in dem Sinn, daß das ‘Wovon’, der Gegenstand der Rede, spezifisch im ‘Wie’, in der Redeweise, deutbar wird. Anders gesagt: Das Gemeinte wandert ein in den Bau der Rede und bildet mit ihm die einfache Gestalt, die kompakte Einheit der Steinschen Dichtung: “In dancing she was dancing.” Anmerkungen 1 Max Niehaus: Isadora Duncan. Leben - Werk - Wirkung, Wilhelmshaven 1981, p. 131 sq. 2 “plainest, barest and simplest movements”. Edward Gordon Craig: “The Artists of the Theatre of the Future”, in: The Mask, vol. I, no. 1, March 1908, p. 3 -5; nos. 3 - 4, May - June 1908, p. 57-70; hier: p. 69. 3 Hugo von Hofmannsthal: “Die unvergleichliche Tänzerin”, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, ed. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1951, p. 256 -263; hier: p. 261. 4 Ibid., p. 257. 5 ibid., p. 259. 6 ibid., p. 260. 7 Edward Gordon Craig: “Memories of Isadora Duncan”, in: The Listener, vol. XLVII, no. 1214, June 5, 1952; zit. nach Arnold Rood (ed.): Gordon Craig on Movement and Dance, New York 1977, p. 247-252; hier: p. 250. 8 Hugo von Hofmannsthal: “Über die Pantomime”, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa III, ed. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1952, p. 46 -50; hier: p. 48. 9 “Die unvergleichliche Tänzerin”, in: Prosa II, p. 262. 10 Stéphane Mallarmé: “Crise de vers” (1886/ 1897), in: Œuvres complètes, ed. Henri Mondor et G. Jean-Aubry, Paris 1945, réimpr. 1989, p. 360 -368; hier: p. 366. 11 Cf. Gregor Gumpert: Die Rede vom Tanz. Körperästhetik in der Literatur der Jahrhundertwende, München 1994, p. 140 -146. 12 Gertrude Stein: “Orta or one dancing”, in: Ulla E. Dydo (ed.): A Stein Reader, Evanston, Ill. 1993, p. 120 -136; hier: p. 134. 13 Cf. zum Zusammenhang die editorische Bemerkung von Ulla E. Dydo in A Stein Reader, p. 120 sq. 14 Ulla E. Dydo, ibid., p. 120. 15 “Orta or one dancing”, in: A Stein Reader, p. 134. 16 Ibid. 17 Ibid., p. 130. 18 Cf. die editorische Bemerkung von Ulla E. Dydo in A Stein Reader, p. 120. 19 Théophile Gautier: “L’Art”, in: Emaux et Camées, ed. Jean Pommier, Lille et Genève 1947, p. 130 -132; hier: p. 132. Gregor Gumpert 250 20 Paul Verlaine: “Art poétique”, in: Œuvres poétiques complètes, ed. Y.-G. Le Dantec, Paris 1954, p. 206 -207; hier: p. 206. 21 Walter Pater: “The School of Giorgione” [erstmals veröffentlicht 1877 in der ‘Fortnightly Review’], in: The Renaissance. Studies in Art and Poetry. The 1893 Text, ed. Donald L. Hill, Berkely and London 1980, p. 102-122; hier: p. 106. 22 Ibid., p. 109. 23 Reed Way Dasenbrock: The Literary Vorticism of Ezra Pound & Wyndham Lewis. Towards the Condition of Painting, Baltimore and London 1985, p. 5. 24 Theoder W. Adorno: “Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei”, in: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, p. 628 - 642; hier: p. 629.