eJournals Kodikas/Code 26/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4

Tanz-Einstellungen

121
2003
Hans Krah
kod263-40251
Tanz-Einstellungen Ein Blick auf die Geschichte des Tanzes im Film Hans Krah 1. Tanz und Film, Film und Tanz Das Ausdrucksmedium Tanz korrespondiert weniger mit Musik als mit Bewegung. Tanz ist Bewegung im Raum, wodurch dieser Raum konstituiert wird. Bewegte Bilder zeichnen auch das Medium Film aus, auch dieses schafft sich seinen eigenen Raum. Der Film scheint somit prädisponiert für die Darstellung und Integration von Tanz zu sein. Nicht erst zur Tonfilmzeit rückt der Tanz denn in den filmischen Horizont. Bereits die Produktionen eines Meliés führen Tanzszenen vor, und auch die Welle der Salome-Verfilmungen kommt ohne Ton aus. 1 Die Beziehungen und Verflechtungen der beiden Medien Film und Tanz sind vielfältig. So etwa in der Tanz-Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn spezifisch mediale Techniken des neuen (und technischen) Mediums Film - Unterbrechung, Fragmentierung etc. - und filmische Kodierungsweisen für die Formensprache des Tanzes eingesetzt werden, 2 oder wenn am Ende des Jahrhunderts dem Tanz in Experimentalfilmen neue Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen werden. 3 Ebenso waren und sind immer wieder Choreographen an der Produktion von Filmen beteiligt oder Tänzer als Darsteller und Filmschauspieler zu sehen. 4 Tanz im Film (und damit ist im folgenden das Mainstream-Kino und somit der Spielfilm gemeint) ist allerdings nie mit Tanz als aktuellem eigenständigem Ausdrucks-Medium und autonomer Kunstform identisch, und selten wird im Film auf diesen Status Bezug genommen: Nicht der zeitgenössischen Tanzkunst, dem Tanztheater, wird mit Tanz im Film ein Forum eröffnet. Diese, dieses, wird statt dessen konventionalisiert. Tanz wird transformiert in kulturelle Vorstellungen - Modelle - über den Tanz und funktionalisiert: Tanz dient der filmischen Bedeutungsgenerierung. Der Film bildet Tanz nicht einfach ab, sondern konstruiert ein ‘Modell von Tanz’: Tanz im Film ist nie nur Dokument einer vorfilmisch existenten Wirklichkeit, 5 Filmtanz nie nur nach den Beschreibungskategorien von ‘Tanz’ zu beschreiben. Tanz im Film ist den spezifisch filmischen Mitteln unterworfen: den allgemeinen der Modi der Vermittlung an sich, und den speziellen, wie gerade der Gegenstand ‘Tanz’ inszeniert wird. Das Medium Film konstituiert sich als modellbildendes semiotisches System durch die Konstruktion eines ‘Rahmens’ und bildet immer eine eigene Wirklichkeit ab, 6 und wenn diese mit der uns bekannten Wirklichkeit identisch zu sein scheint, so ist dieser Effekt selbst Strategie und Ergebnis einer spezifisch gewählten Konstruktion. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Hans Krah 252 So ist der Film nicht an einen ‘Stoff’ gebunden: Es gibt keine vorgegebene Abhängigkeit von einem Stoff als Instanz der Inszenierung, an die es sich zu halten gälte. Abweichungen von Vorgaben sind ohne weiteres möglich, und, vor allem, der Film regelt und organisiert (und zwar jeder Film aufs neue), wie der adaptierte Stoff zu sehen, in welche Kontexte er wie argumentativ einzuordnen ist. So etwa, welche Charakterisierung und Bewertung Mata Hari widerfährt 7 oder wie selbst der scheinbar festgefügte Salome-Stoff für ihm gegenläufige Konzepte dienstbar zu machen ist: Die Salome Rita Hayworths in Salome (USA 1953, William Dieterle) versucht nicht nur, durch ihren Tanz Johannes das Leben zu retten, sie wird zudem christlich ausgerichtet auf das ‘Heil’, das sich in der Bergpredigt transzendiert und im Mann (Stewart Granger) konkretisiert findet. Zudem kann der Film einen Metadiskurs über Tanz integrieren, kann gleichzeitig mit der Darstellung von Tanz auch Aussagen über den Status von Tanz machen. Dies gilt etwa und insbesondere dafür, welche Rückschlüsse der Tanz im Film über das Verhältnis der jeweiligen Kultur zum Körper zuläßt und welche Aussagen darüber zu machen sind, wie der Körper in der jeweiligen Kultur inszeniert und funktionalisiert werden kann (siehe unten). Der Film ist wie alle anderen Künste auch Teil der Denkgeschichte: Tanz im Film verrät mehr über die Kultur, in der der jeweilige Film entstanden ist, als über Tanz. Die Funktion von Tanzszenen erschöpft sich nicht rein in Attraktion und Unterhaltung, auch wenn dies im Musical oder Revuefilm so erscheinen mag und hier der visuell dargestellte Tanz allein aufgrund seines quantitativen Anteils dominant ein sinnliches Erleben indiziert und auf ein solches ausgerichtet ist. Auch dies ist eine Funktion, eine grundlegende, die allen Tanzdarstellungen zugrunde liegt und bei allen mehr oder weniger zentral mitschwingen dürfte. Diese Ausrichtung auf sinnliches Erleben ist gerade im Film eine erst bewußt zu installierende Funktion, da dem Film als technischem Medium eine solche Qualität zunächst abgeht und sie ihm erst sekundär wieder eingeschrieben werden muß. Der Film spricht zwar Auge und Ohr an, aber nicht unmittelbar, nicht als ephemere Qualität, wie sie Tanz, Theater und andere Performancekünste aufweisen. Die zweidimensionale Leinwand zum ‘Leben’ zu erwecken ist dem Film zwar gelungen, durchaus aber erst als Ergebnis der verschiedensten Erlebnis-Strategien. Der Tanz ist im Film darüber hinaus immer eingebunden in die Narration, in eine Geschichte, wie locker oder thematisch und wie relevant oder beiläufig dies auch sein kann. Zwar kann die Funktion der Befriedigung von visuellen Bedürfnissen - die Bereitstellung sinnlich opulenter Bilder, durch den Tanz konfigurierter abstrakter Formationen und von Bewegung um der Bewegung willen - eine große Autonomie gegenüber der filmischen Umwelt und damit der Handlung erlangen; dies macht einen Großteil der Faszination von Tanz im Film aus. Dem Tanz haben sich im Laufe der Filmgeschichte aber auch weitere Funktionen angelagert. Er kann als spezifisch modellierter Topos Bedeutung kondensieren und so argumentative Kohärenz stiften, er kann der Selbstthematisierung des eigenen Mediums Film im Unterschied, im Vergleich zu anderen Künsten dienen, und er kann bei der Verhandlung von kulturell diskutierten Werten und Normen eingesetzt sein und hier je unterschiedlich zugewiesene Lösungen für Konflikte bieten. So sehr diese Aspekte kombiniert sein können und je Einzelfilm unterschiedlich gewichtet sind, so gilt prinzipiell, daß der Tanz als ‘Modell von Welt’ fungiert, d.h., daß mit dem Tanz zusätzliche Vorstellungen über eine reine Tanzästhetik hinaus transportiert werden. Tanz-Einstellungen 253 2. Tanz-Rhetorik Filmgeschichtlich ein älteres Modell, das sich früh entwickelt hat, dessen Existenz in modalisierter Form und spezifischen Genres aber bis in die gegenwärtige Filmproduktion reicht, ist die Bindung des Tanzes an einen klar umrissenen Vorstellungshorizont, der Semantik, Evaluation, Darstellungspragmatik und Funktionszusammenhang umschließt, und den Tanz als Verlockung, Bedrohung, Gefahr und Scheinrealität setzt. Die Rede ist vom Tanz als Topos der Verführung. Kulturelle Referenz, auf die dieses filmische Konzept zurückgreift, dürfte die insbesondere durch die Adaption in Oscar Wildes Theaterstück von 1893 präfigurierte Salome und ihr ‘Tanz der sieben Schleier’ sein. 8 Salome-Verfilmungen finden sich denn bereits in der Frühzeit des Films, so 1908, 1918 und 1923. 9 Sie etablieren, gemeinsam mit und in Abhängigkeit von anderen medialen Erscheinungsformen, 10 einen Katalog an Merkmalen, der dann auch für Tanzszenen ohne einen konkreten Salome-Bezug seine Gültigkeit erlangt hat. Tanz repräsentiert in dieser Konzeption in christlicher Terminologie die Sünde und in moderner eine Abweichung von der Normalität. Diese Form des Tanzes wird einem Ritual analog in Szene gesetzt, ist also immer mehr als reine Unterhaltung; dient dieser Tanz in der erzählten Geschichte der Unterhaltung, dann ist diese selbst als Nicht-Unterhaltung inszeniert, wie etwa in Mata Hari (1931) zu sehen ist. 11 Der Tanz ist etwas, was es nicht immer gibt, dessen Aufführung eine Besonderheit darstellt. In ihm werden technisch Elemente von Tempeltanz, Bauchtanz und Ausdruckstanz vermengt, und es wird eine Aura des Übermenschlichen evoziert, als sei der Tanz von Kräften über oder unter dem Menschlichen animiert. Dergestalt den Realitätsstatus sprengend bzw. die Normalität überbietend, erscheint er in der filmischen Diegesis 12 als Faszination. Diese ist gekoppelt an die Exotik und Fremdheit, die der Tänzerin (! ) im Verhältnis zur filmischen Umwelt zukommt. In dieser Fremdheit sind ekstatische und wilde mit sakralen Elementen gepaart. Die Tänzerin erscheint als Hohepriesterin einer paganen Macht, so, wenn Mata Hari vor der Statue des Shiva tanzt. Diese Macht verkörpert in der filmischen Logik immer ein Gegenprinzip, zumeist eines, das sich durch Triebhaftigkeit und Grausamkeit auszeichnet und mehr oder weniger deutlich immer mit einem spezifischen Konstrukt von Weiblichkeit verbunden wird. Der Tanz läßt aus der patriarchalen Ordnung der Welt einen Blick in eine andere, ausgegrenzte Welt zu, in animalische Bereiche; die Tänzerin öffnet diese Bereiche. Allerdings bleibt diese Entgrenzung an den Körper der Tänzerin gebunden. Diese vollführt zwar raumausgreifende und Raum in Besitz nehmende Bewegungen, diese Raumaneignung ist aber an eine äußere und markierte Grenze, die der Performance, gebunden. Die möglich erscheinende Auflösung der Ordnung durch den Tanz relativiert sich durch feste Rahmenbedingungen, in die der Tanz eingebunden ist; seine Auswirkungen sind letztlich kalkulierbar. Eine Auflösung vollzieht sich allerdings an der Tänzerin. Der Tanz ist stets ein nichtakrobatischer Tanz, ein Ausdruckstanz, scheinbar ohne kodifizierte Regeln der Bewegungsabläufe, ohne feste, vorgegebene Schrittfolgen, eingegeben vom Gefühl bzw. von der durch die höhere Macht repräsentierten ‘Natur’ der Tänzerin. Signalisiert wird eine Veräußerlichung von Gefühl, die auf die Person, die den Tanz vollführt, rückgebunden wird: im Tanz äußert sich, so die filmisch Setzung, das Innere; das eigentliche Wesen der Person tritt zutage. Die Performance gilt als notwendig authentisch, als unmittelbares Dokument und Zeugnis, insbesondere der moralischen Integrität. Aufgelöst erscheint also die Grenze von außen und innen, die Person der Tänzerin bietet sich ganz dar. Ein Verstellen im Tanz ist nicht möglich, so ist präsupponiert, Tanz ist Wahrheitsbeweis. 13 Hans Krah 254 Diese Zurschaustellung des Wesens bedeutet aber nicht gleichzeitig eine Zurschaustellung des Körpers. Dieser ist statt dessen immer verhüllt, mit Schleiern und fließenden Gewändern, so daß die Kontur der Tanzenden nicht genau wahrnehmbar ist. Zum einen indiziert dies den Scheinstatus, der diesem Tanz zukommt, da er die ‘tatsächlichen’ Umrisse der Wirklichkeit im wörtlichen Sinne verschleiert. Zum anderen impliziert diese Auflösung die Auflösung der Person, verhindert deren eindeutige Identifizierung, 14 und signalisiert mithin, daß eine Identität der Person gefährdet oder eine solche nicht gegeben ist. Zu sehen ist dies etwa indirekt und unterschwellig anhand Mata Haris (1931) und Lilys in Legend (Legende, GB 1985, Ridley Scott), explizit verdeutlicht wird dieses Konstrukt in Metropolis (D 1926, Fritz Lang), wenn die tanzende Maria nicht Maria, sondern deren Doppelgängerin, die Automate, ist, oder en détail in Salome’s Last Dance von Ken Russel (Salomes letzter Tanz, GB 1988), wenn Salome im Tanz kurzzeitig das Geschlecht zu wechseln scheint. Solche Spaltungen indizieren, daß das Wesen, das die Tänzerin offenbart, selbst als wesentlich undurchschaubar, als aus verschiedenen Anteilen zusammengesetzt gedacht wird. Dieser Tanz ist des weiteren mit Geschlechterrollen und dem Verhältnis der Geschlechter verbunden und demgemäß zentral mit Erotik und Sexualität. Dieser Tanz korreliert immer mit erotischer Attraktion und Attraktivität, ist äquivalentes Substitut für Sexualität und dementsprechend zu übersetzen: “Tanz für mich” ist die Aufforderung, sexuell verfügbar zu sein. Unterschwellig schwingt die Konnotation des Tanzes, Zeichen sexueller Verfügbarkeit zu sein, in allen Filmen mit. In der Salome aus den 50er Jahren artikuliert sich dies explizit, wenn als bewußte Regel der Welt gilt, daß, wer vor Herodes tanzt, damit zugleich auch die Einwilligung für den anschließenden Beischlaf gibt. In Verbindung zu sehen ist diese Dimension des Tanzes mit seiner Präsentation im Discours, also der Art und Weise, wie der Tanz durch kinematographische Mittel, durch Point of view, Montage, Kamerahandlung, vermittelt wird. Generell gilt, daß der Tanz im Überblick, von einer entfernten Kameraposition aus, gezeigt wird. Diese Tänze werden zumeist nicht und nicht zentral fragmentiert, d.h. nicht Detail- und Großaufnahmen einzelner (Körper-)Teile dominieren, sondern die Einstellungen der Tänzerin in der Totalen. Verbunden ist dies statt dessen damit, daß durch die Schnittechnik das männliche Begehren direkt in die Präsentation des Tanzes eingebunden wird. Die Einstellungen der Tanz- Tanz-Einstellungen 255 szenen sind prinzipiell alternierend mit Einstellungen der Blicke der zumeist männlichen Zuschauer des Tanzes montiert. Zu dem, was filmisch den Tanz konstituiert, zur Topologie des Tanzes, gehört also das diegetische Publikum dazu, gehört die Reaktion auf den Tanz: Dieser Tanz ist immer in Relation zu sehen, als Tanz und Beobachtung des Tanzes. Primär ist der Tanz dabei Objekt von männlicher Betrachtung - statt der anschließenden körperlichen Inbesitznahme nach dem Tanz, die in den Filmen nicht vollzogen wird, realisiert sich eine Inbesitznahme durch Blicke, die die sexuelle substituieren -, sekundär und potentiell auch von weiblicher Reaktion auf diese männliche Betrachtung. 15 Die Übersicht, die der filmische Point of view gewährleistet, distanziert den Filmrezipienten von dem Geschehen. Nicht er selbst ist Betrachter/ Voyeur des Tanzes, sondern maximal Voyeur der filmisch evozierten Topologie: Damit ist er in der Rolle des distanzierten und auf Distanz gehaltenen Beobachters, der in das Geschehen nicht unmittelbar involviert und den durch dieses Geschehen initiierten Gefährdungen nicht ausgesetzt ist. Das “Tanz für mich” ist stets ein ambivalenter Wunsch, da sich die Machtverhältnisse vertauschen und Abhängigkeiten oszillieren können. Der Beobachter wird vom Beobachteten abhängig - das Objekt entfaltet eine Eigendynamik, die es inhärent bereits immer besessen hat und die es nur zu katalysieren galt. Der Tanz wird so zur Chiffre der Bedrohung und Gefahr. Ist der Tanz einerseits Erlaubnis, Eingeständnis der sexuellen Verfügbarkeit, so macht er dadurch andererseits den Mann verwundbar. Denn dieses ‘Versprechen’ wird nie eingelöst, verbleibt auf dem Status des - freilich körperlichen - Zeichens. Nur als Tänzerin ist die Person Körper, als Frau entzieht sie sich, wie dies durch den Tanz selbst bereits symbolisiert ist, wenn sie in der Auflösung nicht greifbar, nicht faßbar ist. Die Frau als Tänzerin steht über dem Mann, wobei diese Hierarchisierung automatisch damit einhergeht, daß sich das scheinbar göttliche Wesen als dämonisches erweist. Dies zeigt sich gerade dann am deutlichsten, wenn die Frau durch den Tanz in Besitz des dem Mann gehörenden Schwertes gelangt, zu gelangen trachtet: In The Golden Blade (Das goldene Schwert, USA 1953, Nathan Juran) etwa dient der Tanz funktional nur dazu, dem Helden sein Wunderschwert, das “immun und unbesiegbar” macht, zu rauben. Diese ‘Verführungsleistung’ ist immer an eine Singularisierung gebunden. Im Kollektiv ist der Tanz nicht bedrohlich, dies ist er nur, wenn er in einer Tänzerin, in einem exzeptionellen Körper gebündelt ist. Der Tanz ist also auch insofern mehr als Tanz, als die Performance nicht ‘spurlos’ vorübergeht, sondern Auswirkungen in der dargestellten Welt zeigt: Der Kopf des Täufers auf einer silbernen Platte steht stellvertretend für das Ausgeliefertsein des Mannes an die Frau, die nun über diesen verfügen kann - was zumindest metaphorisch den Tod des Mannes impliziert. Innerdiegetisch ist denn der Tanz von der Norminstanz des Films immer negativ bewertet, wobei sich diese Bewertung narrativ im Gang der Handlung bestätigt, durch die Konsequenzen, die der Tanz hat. Die sexuell-private Ebene ist stets an eine gesellschaftlichpolitische Dimension gekoppelt. Der Tanz raubt den Verstand, setzt die Ratio außer Kraft und verursacht entweder Handlungen, bei denen der einzelne eine Verletzung der Werteordnung begeht oder durch die die männliche Solidargemeinschaft selbst in Gefahr gerät, auseinanderzubrechen. Unproduktive Konkurrenz entsteht, die sich destruktiv auszuwirken droht und letztlich als zivilisationsgefährdend gesetzt ist. In Mata Hari (1931) etwa ist der erste Fall vorgeführt, wenn die durch das Betrachten des Tanzes zu Verehrern gewordenen Männer zu Landesverrätern werden und die Wertehierarchie ‘Gott-Vaterland-Ehre’ dem Wert ‘Mata Hari’ untergeordnet wird, in Metropolis der zweite, wenn sich die Tanzzuschauer gegenseitig belauern und beeifern. Losgelassen sind die sieben Todsünden, wie dies in Parallelmontage symbolisiert wird. 16 In Excalibur (USA 1981, John Boorman) hat die Hans Krah 256 Aufforderung des Grafen von Cornwall an seine Frau Igraine, vor ihm und Uther Pendragon zu tanzen, konsequenterweise den Bruch des Friedens und den Raub von Igraine durch Uther zur Folge. Dem Tanz ist eine Ereignishaftigkeit inkorporiert, er ist immer Ereignis, ist immer Ordnungsverletzung, 17 stellt er doch ein Eindringen (der durch die Frau repräsentierten und an sie gebündelten Semantiken) in die öffentliche Sphäre, in die Sphäre der Politik und des Mannes dar. Tangiert werden grundlegende Grenzen, abgebildet wird mit dem Tanz eine Verletzung der grundlegenden Ordnung der dargestellten Welten; eine Ordnung, die der Normalität und (damit) der Realität entspricht. Der Tanz ist quasi realitätsinkompatibel - und einem phantastischen Ereignis angenähert. 18 Nicht zufällig dürfte der Fantasyfilm - neben Historien- und Abenteuerfilmen - das Trägergenre sein, in dem sich diese Konzeption des Tanzes in der Filmgeschichte bis in die jüngste Zeit rekurrent findet. 19 Der Tanz ist zwar zumeist (ein) Höhepunkt des Films, aber nie unmittelbar dessen Ende. Denn so wie die Performance der Reaktion des Zuschauers bedarf, bedarf der Film der Reaktion auf den Tanz. Zum einen der oben beschriebenen, worin sich die Warnung vor dieser Gefahr artikuliert, zum anderen werden diese Reaktionen regelmäßig mit Gegenreaktionen konfrontiert. Die ‘Gefahren’ sind letztlich zu bewältigen, der Tanz ist nie geeignet, wirklich die männliche Ordnung auf Dauer zu schädigen. Am Ende kommt es immer zur Überwindung des im Tanz enthaltenen Gefahrenpotentials und zur Restituierung der männlichen Ordnung - und damit zur Aufrechterhaltung der Zivilisation. Diese Zurücknahme der Bedrohung geht (selbstverständlich) zu Lasten der Tänzerin. Salome wird von Herodes getötet, 20 Mata Hari erschossen, der Automat Maria als Hexe verbrannt. Ein Überleben ist zumeist nur im Modell der Heimholung der ‘normalisierten’ Frau, die von ihren durch den Tanz symbolisierten abweichenden Anteilen gereinigt ist (exemplarisch in Legende), zu garantieren. Aber auch dieses Modell kann, wie Mata Hari zeigt, den sühnenden Tod erfordern. Darüber hinaus wird die Gefährdung ‘Tanz’ selbst im Modell des männlichen Kampfes, der männlichen Konkurrenz untereinander, inszeniert. In den wenigsten Fällen handelt es sich um ein autonomes weibliches Tanzen - das ursprüngliche Salome-Modell ist in diesem Punkt schnell verändert -; statt dessen findet der Tanz unter männlicher Anregung eines ‘Meisters’ statt, so etwa in Metropolis, Legend, Dr. Mabuse, der Spieler (D 1922, Fritz Lang), The Golden Voyage of Sindbad (Sindbads gefährliche Abenteuer, USA 1973, Gordon Hessler), Excalibur, The Golden Blade. Diese Tanzrhetorik ist kein besonders modernes Konzept, es ist aber ein sehr resistentes, immer wieder wiederholtes Modell. Wird sie in den frühen Filmen fokussiert inszeniert, über Protagonistinnen wie Salome oder Mata Hari, so verselbständigt sich diese Tanzrhetorik schnell als zur Verfügung stehender filmischer Kode, der als Bedeutungselement auch nichtnarrativ oder nur in Episode zur Verfügung steht und als Topos zitiert werden kann (so z.B. bereits in Dr. Mabuse). Der Tanz stellt damit kein ‘kontingentes’ Phänomen mehr dar, sondern ist filmisch kodifiziert. Er ist aufgeladen mit Bedeutung und weist eine implizite Referenz auf, die abrufbar und über kulturelles Wissen anwendbar ist, ohne daß dies filmisch expliziert werden müßte. Der Verweis reicht, um das konnotierte Bedeutungsspektrum zu etablieren; die Episode reicht, da sie mehr als Episode ist, zur Chiffre wird - “Tänzerinnen zu haben” wird Inventar, wird Attribut des ‘Bösen’ oder moralisch Verworfenen (etwa in Il figlio di Spartacus [Der Sohn des Spartakus, Italien 1962, Sergio Corbucci]), eine negative Bewertung indiziert es allemal, so ist in den Filmen als fester Topos inszeniert. Tanz-Einstellungen 257 Durch diese Vorgeformtheit wird gleichzeitig verhindert, daß sich andere Bedeutungen, andere, zusätzliche Kontexte an den Tanz anlagern könnten. Der Tanz ist nicht frei, sondern aufgrund seiner festumrissenen Semantik resistent davor, auch etwas anderes bedeuten, andere Botschaften transportieren und für andere Kontexte funktionalisiert werden zu können. 21 Damit korrespondiert, daß Filme, die dieses Tanzmodell enthalten, denn auch keine Tanzfilme im Genresinn sind. 3. Tanz-Film Mit Beginn des Tonfilms etabliert sich schnell ein neues filmisches Genre, das sich als Musik-, Tanz-, Revuefilm umschreiben läßt. Dies scheint evident, spielt doch die akustische Qualität in diesem Korpus eine zentrale Rolle, und scheint der Tanz gleichsam natürlich prädisponiert, die neue Technik zur Geltung zu bringen. Daß viele der ersten Tonfilme Revuefilme sind, läßt sich zudem aber auch hinsichtlich der Debatte um den Tonfilm sehen. Diesem wird ja vorgeworfen, nicht mehr Kunst zu sein. Insofern sich nun die Produktion auf Filme konzentriert, die selbst künstlerische Handlungen darstellen, ist ein Element gegeben, in der Argumentation zwischen den Fronten zu vermitteln und die angebliche Aufhebung der Kunst durch den Tonfilm zu substituieren. In der Terminologie von Lévi-Strauss haben diese Filme Trickster-Status, da sie in ihren Geschichten, etwa durch die Einbeziehung von Tanz, Realität nicht einfach abbilden, sondern eine solche vermittelt über Kunst darstellen. Sei der Tonfilm weniger künstlerisch in der filmischen Machart, so gleiche er dies durch die Präsentation von Kunst aus. An dieses Problemfeld schließt sich das folgende an. Der Film ist nicht einfach nur Vermittlungsinstanz, sondern eigenständiges Medium, und als dieses mußte sich der Film im Laufe der Filmgeschichte erst durchsetzen - und immer wieder im Vergleich mit anderen, alten und neuen, Medien seine sich selbst zugeschriebenen Qualitäten hervorheben, freilich als Selbstinszenierung. 22 Für das Verhältnis von Tanz und Film heißt dies konkret: Gerade der Tanzfilm zeigt, welche ‘Vorteile’ der Film gegenüber dem Tanz bietet, worin der Zusatznutzen der filmischen Präsentation von Tanz gegenüber dem eigentlichen Tanz liegt. In nicht wenigen der frühen Revuefilme ist gerade das Verhältnis von Theater und Film - Broadway und Hollywood - in der Diegese, also den dargestellten Geschichten explizit Thema, 23 und auch da, wo dies nicht der Fall ist, lassen sich implizit und unterschwellig prinzipielle Differenzierungen, die an das Medium gebunden sind, feststellen. Insofern der Tanz in eine Geschichte integriert ist, ja vielmehr der Tanz selbst als Geschichte inszeniert wird, erlaubt dies gegenüber dem Tanz als Kunstform eine Aufhebung des punktuellen zeitlichen Moments. Durch die Integration in eine Geschichte bildet der Tanz nicht nur den dramatischen Höhepunkt am Ende des Films, insofern spätestens dann der Tanz in der Bühnensituation als fertig choreographierter aufgeführt wird, bereits der Gesamtfilm entspricht dem Tanz. Die Show am Ende ist im Film in ihren pragmatischen Rahmen gestellt, d.h. die erzählte Geschichte ist regelmäßig die der Genese der Show, der Rahmenbedingungen der Produktion, die von Audition, Training, Vorbereitung etc., mit ihren Mühen, ihrer Arbeit, ihren Intrigen. Der syntagmatische Prozeß des eigentlich vor dem Tanz stattfindenden Geschehens, das in einer Tanzaufführung selbstverständlich ausgeblendet bleibt und notwendig ausgeblendet bleiben muß, verleibt sich dem Paradigma Film ein und wird im Paradigma Film medial aufgewertet: Das Syntagma Film, als zeitlich geordnetes Nacheinander im chronologischen Verlauf - und damit die im Film gezeigte Geschichte - wird sekundär, Hans Krah 258 zugunsten der im Film von Anfang an dargestellten Topik ‘Tanz’. Damit kann sowohl eine Narrativierung des Tanzes - und können die dadurch bedingten Vorteile - als auch die Irrelevanz einer solchen Narration als genuin filmische Leistung präsentiert werden: Gerade durch die Darstellung der Geschichte, der Genese des Tanzes, kann diese Geschichte in ihren eigentlichen, realen Folgen, Auswirkungen und Konsequenzen eliminiert werden. Sie ist im Film präsent und damit transzendiert, ist von ihrer eigentlichen Funktion der Selektion entbunden. Bereits die Proben sind so perfekt wie die spätere Show. Anhand von A Chorus Line (USA 1985, Richard Attenborough) läßt sich dies veranschaulichen: In der vorgeführten Handlung geht es um die Auswahl von Tänzern für eine Show. Der Plot läuft auf die Reduktion der Tänzer auf acht Verbleibende hinaus, die für die Show benötigt werden. Im Film sind nun aber zunächst alle vorhanden, die sich der Audition unterziehen, und damit sind diese Tänzer alle mehr oder weniger Stars, auch die, die im Laufe der Audition ausgeschieden werden - und denen somit kein beruflicher Erfolg auf der Showbühne beschieden ist. Das Ende des Films verdeutlicht diesen Horizont, indem es sich von seinen eigenen, diegetischen Vorgaben löst und den Film selbst - ohne Vermittlung - zur Bühne werden läßt. Die Show, um deren Realisierung es in der vorgeführten Geschichte geht, kann nicht mit der Show identisch sein, die am Ende des Films tatsächlich visuell vorgeführt wird. Auf der Bühne stehen nicht nur die acht Auserwählten, sondern auch alle anderen - selbst derjenige, der sich den Fuß verletzt hat und damit eigentlich, im Rahmen der Logik der vorgeführten Geschichte, nicht mehr als Tänzer zur Verfügung steht. Zudem werden die Tänzer nicht als ‘Chorus Line’ präsentiert, als Hintergrundstänzer, worum es eigentlich ging, sondern als den gesamten Bühnenraum und die gesamte Aufmerksamkeit der Zuschauer in Anspruch nehmend; kein Solotänzer ist vorhanden, alle sind gleichermaßen beteiligt. Diese Show hat sich von ihrer Geschichte emanzipiert, ist eine ganz andere als die angekündigte, und ist damit direkter Reflex auf den Film, das Medium Film. Einerseits kann eine Reduzierung vorgenommen werden, dramaturgisch wie ideologisch bedingt (wer ausscheidet, besitzt nicht die richtige Einstellung, vertritt nicht die vom Film propagierten Werte und Normen, so wäre zu belegen), gleichzeitig erweist sich diese Reduzierung aber als zumindest im Film nicht ‘real’ von Belang, ist auf den Bereich des ideologisch Wünschenswerten verlagert. 24 Damit kann das Medium beides zugleich, Attraktion und ideologische Regulation qua Narration, leisten. Im Medium Film sind Dreidimensionalität und Körperhaftigkeit generell reduziert auf den zweidimensionalen Raum des Filmbildes. Dies scheint zunächst ein Nachteil gegenüber dem Medium Tanz zu sein. Doch dieser Raum ist nur ein Teil dessen, was Raum im Film bedeutet. Neben dieser Dimension und aufbauend auf ihr konstituiert sich Film zweitens aus dem Architekturraum, demjenigen Anteil, der aus der Fläche den Eindruck von Dreidimensionalität entstehen läßt, und drittens aus dem filmischen Raum, der basierend auf den visualisierten Ausschnitten als virtueller Raum und Gesamtwelt im Kopf des Zuschauers entsteht. Damit ist im Film die Simulation von Körperlichkeit, von Körpern gegeben, die per se an den Rahmen dieser Simulation gebunden und damit in ihrer (bedrohlichen) Körperlichkeit begrenzt und gebändigt sind. Zudem besteht sowohl, indem die erste Komponente der Raumkonstituierung betont wird, die Möglichkeit der Funktionalisierung der Flächenhaftigkeit - als Ornament - als auch - trotz oder gerade wegen der Reduzierung und Begrenzung ‘echter’ Räume - die Möglichkeit der Raumerweiterung im filmischen Raum. Durch Montage, Kamerahandlung und Point of view läßt sich der Bühnenraum ‘öffnen’, lassen sich Wahrnehmungshorizonte und Blickperspektiven ausdehnen. Im Film ist somit die Auflösung der Grundbedingung und des Grundbezuges von Tanz möglich: des Raumes. Fragmentierung, also die Auswahl von Details und die Veränderung des Ausschnittes durch verschiede- Tanz-Einstellungen 259 ne Einstellungsgrößen, ermöglicht einerseits die Fokussierung von Details und in der gewählten Auswahl eine Betonung, Relevantsetzung und Bedeutungsaufladung des Gezeigten, die es sonst nicht gehabt hätte, und scheint dadurch den Raum zunächst zu begrenzen. Doch diese Auswahl bedeutet andererseits auch eine Autonomisierung des Gezeigten von dem eigentlich und ursprünglich zugehörigen Rahmen: Ein einzelnes Bein wird nicht mehr als Teil des Körpers gedacht, sondern als Bein - und kann als dieses metaphorisch/ zeichenhaft interpretiert werden, ermöglicht also einen erweiterten Symbolraum. Begrenzt wird zudem nicht der Raum, zumindest wird die Begrenzung nicht diesem angelastet, sondern der momentane Blick: Die Grenzen und Begrenzungen werden vom Raum auf die Wahrnehmungsebene verschoben. Dadurch erlaubt die Fragmentierung gleichzeitig eine Aufhebung von Begrenzung und Beengung an sich, d.h. der Architekturraum, die präsentierte Bühne, verschwindet aus der Wahrnehmung und dem Bewußtsein. Forciert wird die Konstruktion eines virtuellen Raumes, der dem realen übergeordnet und überlegen ist. Die Bühnengrenze ist als diese Bühnenbegrenzung nicht mehr sichtbar, und damit ist sie ihrer Funktion als Grenze enthoben. Durch Fragmentierung, variable Einstellungsgrößen und unterschiedliche Kameraperspektiven wie -standorten wird die Distanz zwischen Objekt und Subjekt aufgehoben, die Kamera - und mit ihr der Zuschauer - ist mitten im Raum; konstituiert wird über diese neuen Blickqualitäten ein neuer Raum, der sich nun nicht mehr auf die tatsächliche Topographie stützt, sich nicht darauf zu stützen braucht, sondern auf die Wahrnehmungsdimension. Was in der filmischen Konstruktion damit geleistet wird, ist das Verschwinden der Rampe, derjenigen Grenze, die im Theater einerseits Publikum und Bühnengeschehen trennt und andererseits gerade durch diese Trennung den Kunststatus dieses Geschehens konstituiert, indem sie feste Verhältnisse schafft. Drei graduell verschiedene Schritte lassen sich im Film bei der Präsentation solchen Geschehens festhalten: Bei den ersten beiden präsentieren die Filme regelmäßig Theaterbühnen in ihren filmischen Diegesen. Deren Präsentation kann dabei zum einen immer noch eine sein, bei der der Raum der Bühne, in ihren architektonischen Ausmaßen, diegetisch noch real möglich wäre, auch wenn genau diese Dimension nivelliert wird, da deren Konturierung als Ganzes dem Blick entschwunden ist - und damit eine Auflösung dieser Rahmenbedingung geschaffen wird. So kann dann in einem zweiten Schritt nahtlos, d.h. als gradueller Übergang, diese Präsentation in eine Konzeption übergehen, in der der präsentierte Bühnenraum per se nicht mehr real möglich ist und sich ein Bühnenraum, obwohl er im Film als solcher eingeführt wird, von seiner räumlichen Dimensionierung nicht mehr als architektonisch machbar erweist. Dies ist die häufigste Form der Präsentation in den Revuefilmen, und hier wird der Unterschied zur Rezeptionssituation im Theater am deutlichsten dokumentiert. Vorgeführt werden Raumerweiterungen und insbesondere Raumkonzeptionen, die ein diegetisches Publikum (also die Zuschauer, die im Film die Zuschauer der vorgeführten Show bilden) von der Betrachtung des Geschehens generell ausschließen oder es, rekonstruiert man die Raumverhältnisse, zumindest nicht Hans Krah 260 an der den Tanz bestimmenden Choreographie teilhaben lassen. Footlight Parade (Parade im Rampenlicht, USA 1933, Lloyd Bacon, Busby Berkeley) und hierin insbesondere Busby Berkeleys Inszenierung des Wasserballetts verdeutlicht dies aufs extremste. Hier ist das Wasserbecken von allen vier Seiten begrenzt, von allen vier Seiten springen die Schwimmerinnen ins Wasser - obwohl diese Darbietung explizit in einem Theater vor Publikum situiert gesetzt ist. Nur vom Blick von oben ist diese Gesamtkonzeption allerdings zu erkennen, nur von hier - und somit nur vom Filmrezipienten - ist die eigentliche Ordnung und Ästhetik, ist die ornamentale Bedeutung, die durch die proxemische Anordnung der Einzelkörper als Ganzes gebildet wird, zu sehen. Nicht aber von einem diegetischen Zuschauer der Revue, dem der hier geschaffene Kunstgenuß von seinem Blickfeld aus, seinem Sitz in den Zuschauerreihen, gänzlich versperrt ist oder dessen Perspektive zumindest nur eine eingeschränkte, die Bedeutung nicht voll erfassende chaotische Wahrnehmung zulassen würde. 25 Demgemäß ist er hier, im Unterschied zum oben Gesagten zur Tanzrhetorik, regelmäßig auch ausgeblendet, die Kamera konzentriert sich auf das Bühnengeschehen, ohne simultan Reaktionen darauf einzufangen und in parallelen Einstellungen dazu zu kontrastieren. Regelmäßig und generell zeichnet diese Inszenierungsstrategie die Präsentation der Tanzszenen im Revuefilm der 30er und 40er Jahre aus, tendenziell auf den Schlußhöhepunkt ausgerichtet. Das Geschehen wird zunächst immer auf einer Bühne situiert, um sich von diesem räumlichen Punkt aus von den Bedingungen zu emanzipieren, sich von den räumlichen Vorgaben zu entgrenzen und erst nach Beendigung der Aufführung wieder dahin zurückzukehren. 26 Während der Präsentation gibt es keine Schwenks auf das Publikum, keine Pausen; Bühnenbilder verändern sich quasi von selbst. Die Darstellung verabsolutiert sich, ist einer konkreten Aufführungssituation und deren pragmatischen Zwängen enthoben. Die Bühne wird damit nur mehr durch den Film konstruiert, der Film setzt sich selbst als Bühne. Der dritte Schritt, der hier noch zu vollziehen ist, ist der vollständige Verzicht auf die Darstellung einer diegetischen Bühne (und ein diegetisches Publikum), was dann den Übergang zum reinen Musical bedeutet. 27 Tanz (und Gesang) ist hier dann Ausdruck der momentanen Gefühlslage, nicht mehr diegetische Kunst, sondern Kommunikationsform. Dies geht mit einer vollständigen Auflösung diegetischer Grenzen (zwischen Tanz und Nicht-Tanz) einher, vor allem räumlicher, die auch mit der Auflösung anderer korrespondieren kann; so etwa Zeitauflösungen, d.h. auch Erinnerungen oder Erzählungen werden tanzend, im Tanz gezeigt, oder die Auflösung von Realität und Phantasie, wie dies wohl am schönsten der Tanz von Gene Kelly mit der Trickfilmmaus Jerry in Anchors Aweigh (Urlaub in Hollywood, USA 1944, George Sidney) zu dokumentieren vermag. 28 Was in der expliziten Inszenierung einer Bühnensituation zudem implizit gemacht wird, ist die Gegenüberstellung - und Unterscheidung - eines Theaterpublikums und eines Filmpublikums. Zumindest in der Frühphase der 30er und 40er Jahre ist hier ein Aspekt der Popularisierung zu greifen. Nicht allerdings eine, die der Verbreitung des Tanzes dient. So dient bereits die Multiplizierung von Tänzern auf der Filmbühne nicht nur dem Effekt der dramaturgischen Steigerung, in ihr zeigt sich auch eine kollektive, populäre Funktion - Filmstar kann jeder sein -, eine Positionierung, die dem elitären Tanz, der Tanzkunst vom Medium Film abgesprochen wird. Die Ausdifferenzierung des Publikums, das in der Revue, im Theater begrenzt ist, in der Diegese also den Eindruck des Mondänen, Elitären, Abweichenden erzeugt, so deutlich in Premiere (Österreich 1937, Geza von Bolvary) zu sehen, dient also auch dazu, den ‘Normalmenschen’, den der Filmzuschauer repräsentiert, an der ‘Kunst’ teilnehmen zu lassen. Film geriert sich also als ‘demokratisch’ und popularisierend vermittelnd. Tanz-Einstellungen 261 Die Choreographie ist bei den Revuefilmen dabei durchgängig von Virtuosität bestimmt. Wie gerade das Beispiel Steptanz zeigt, geht es um Akrobatik, technisches Können und Perfektion. Einerseits ist damit die Grundlage geschaffen für das narrativ-ideologische Schema der Konkurrenz, der/ die Beste zu sein, andererseits wird eine Exzeptionalität und Singularität des Tanzes durch diesen Rahmen auch relativiert. Tanzen ist kein Ereignis und keine Ausnahme mehr, sondern dergestalt kontextualisiert selbst Abbild gesellschaftlicher und marktwirtschaftlicher Paradigmen. Star zu werden innerhalb sozial gegebener Umstände und unter widrigen Bedingungen (die Wirtschaftskrise der 30er Jahre), aus der Reihe zu tanzen und dennoch als Star in der Ordnung der Welt eingebunden zu bleiben - in dieser rudimentären ideologischen Funktion des Aufsteigens, des Verbildlichens und Verkörperns des American dream ist der Tanz fruchtbar gemacht. Gefestigt wird damit zum einen das Sozialgefüge, zum anderen auch die Relevanz des Mediums. Ist man Star, dann steht man im Starsystem selbst medial zur Verfügung, ist für die anderen in dieser Rolle zu funktionalisieren. 29 Gerade die Relevanz der Selbstthematisierung des Mediums, und sei sie nur implizit, dürfte dafür verantwortlich sein, daß diese Filme eine gewisse Resistenz gegenüber ideologischer Funktionalisierung aufweisen, eine gewisse Offenheit hinsichtlich einer Vermittlung von Werten und Normen strukturell angelegt erscheint. Insofern das Medium, der mediale Aspekt bewußtgemacht wird, ist eine Simulation von Unmittelbarkeit, die insbesondere im NS-Film zur ästhetischen Strategie der Vermittlung ideologischer Positionen gehört, eher erschwert. Gerade im Bereich der Geschlechterrollen ist tendenziell eine weniger rigide Position zu konstatieren. So verläuft die Entwicklung des Tanzfilms denn auch zunächst relativ parallel, d.h., die oben skizzierten Konzeptionen liegen amerikanischen wie deutschen Produktionen gleichermaßen zugrunde. Der deutsche Revuefilm der 30er Jahre erscheint im Vergleich mit anderen Produktionen der Zeit tatsächlich weniger ideologisch infiltriert. 30 Daß dies aber nicht notwendig so sein muß und keine Eigenschaft des Tanzfilms genuin ist, läßt sich besonders deutlich am Beispiel Kora Terry (D 1940, Georg Jacoby) zeigen. In diesem Tanzfilm ist die vorgeführte Geschichte in einem dezidiert ideologischen Kontext situiert und funktional an ihn gekoppelt, ist allerdings in Abweichung zu den herkömmlichen Revuefilmen auch mit einem anderen Modell von Tanz kombiniert, insofern die eingangs skizzierte Tanzrhetorik bemüht wird; eine Engführung, die ansonsten nicht gegeben ist. Damit kann Attraktion vorgeführt und gleichzeitig kommentiert werden. Kora Terry, die ältere Schwester von Mara Terry und wie diese Tänzerin, verkörpert ein Frauenbild, das eine Kombination und Bündelung sämtlicher Negationen des Normkonformen und damit des propagierten (NS-)Wertsystems darstellt. Dies betrifft nicht nur die Ebene der Geschlechterrolle, Kora ist eine aktive, untreue, männerzerstörende Frau, die ihre (ledigen) Mutterpflichten vernachläßigt, dies betrifft auch das geforderte Verhalten gegenüber anderen, sie ist egoistisch, nur auf sich bezogen. Insbesondere ihr Verhalten gegenüber der Volksgemeinschaft an sich, sie wird zur Verräterin, stellt sie außerhalb des Akzeptablen und Tole- Hans Krah 262 rierbaren. Kora ist es nun, die in ihrer Show Tänze aufführt, die erotisch lasziv und eindeutig sexuell konnotiert sind, und dies ist im Film durchaus in ästhetisch schönen Bildern und technisch perfekt inszeniert und wird somit als diese Performance auch filmisch als visueller Genuß vermittelt. Diese scheinbare Ambivalenz ist allerdings nur unter bestimmten Rahmenbedingungen der Inszenierung ‘erlaubt’ - und damit in ihrem Status als tatsächliche Ambivalenz deutlich relativiert. So ist sie gebunden an die sowieso verwerfliche Frau, die diese Abweichung denn letal zu büßen hat (wenn die in ihrem Wesen normkonforme Mara nach dem Tod von Terry die Rolle ihrer Schwester übernimmt, tanzt sie nicht mehr diese Tänze), gebunden an den Aufführungsort im Ausland, in Afrika außerhalb des europäischen Abendlands, und gebunden an den Rahmen der Aufführung und die Aufführungssemantik der oben skizzierten Tanzrhetorik. 31 Dieser Tanz stellt nicht den Schlußhöhepunkt dar, sondern als Extrempunkt der Normabweichung einen Wendepunkt im Geschehen, der Anlaß der Katharsis ist und zum Ausgangspunkt der Wiederherstellung der Ordnung wird. Und vor allem gibt es in der Inszenierung dieses Tanzes keine mediale Entgrenzung und Raumauflösung, sondern er bleibt an die diegetische Bühne und damit an deren Grenzen gebunden. Die Distanz bleibt gewahrt. Die ideologisch-moralische Verkommenheit kann - schwelgerisch - dargestellt werden, da sie in die Narration eingebunden ist und gegen sich selbst verwendet wird. Der Film erfüllt sowohl das Bedürfnis nach Exotik und Erotik, bei gleichzeitiger massiver Sanktionierung und Funktionalisierung für das ideologisch Wünschenswerte. Daß der Tanz hier die zu transportierende Ideologie als ein Element unterstützt, die Ideologie also vorgelagert ist und der Tanz innerhalb dieses Rahmens argumentativ eingesetzt ist, ist eine ältere Konzeption, die mit dem Bild von Tanz korrespondiert, wie es in der Tanzrhetorik dargelegt wurde. Daneben entwickelt sich im Laufe der Filmgeschichte eine weitere Form, wie der Tanz ideologisch (im weiteren Sinne) funktionalisiert werden kann. 4. Tanz-Emphase Tanz ist ein vielfältiges Phänomen, das sowohl zwischen alltäglicher Unterhaltungskultur und akademischer Ausbildung als auch zwischen von allen praktizierter Tätigkeit (im Volkstanz) und bewundernd zu rezipierender Darbietung exzeptioneller anderer changiert. Professionalität und Perfektion auf der einen Seite stehen der jedem prinzipiell zugänglichen Bewegungsdisposition auf der anderen Seite gegenüber. Die Breite dieses Spektrums läßt den Tanz als Interaktionsform für jede Form kommunikativen Handelns repräsentativ werden. Die dem Tanz inhärenten Paradigmen, die Konstituenten, in deren Spannungsfeld er sich positioniert, können so im filmischen Tanz funktionalisiert werden: Der Aspekt der Technik, Präzision, Körperbeherrschung wird dann in Differenz zu Gefühl gesetzt, der der Ordnung zu individuellem Ausdruck, der der Kunst und des Artifiziellen zu dem der Natur. Damit wird der Tanz Tanz-Einstellungen 263 selbst Träger von Ideologie. 32 Diese Form des Tanzes im Film, die als das engere Genre Tanzfilm verstanden werden kann, ist eine jüngere Entwicklung des Umgangs mit Tanz im Film und konstituiert sich in den späten 40er Jahren. Verbunden ist dies erstens mit einer Autonomisierung von Tanz (im filmischen Kontext). In den Filmen hat sich der Tanz von seinen Mitkünsten emanzipiert, in die er gerade im Revuefilm (der 30er und 40er Jahre) als eine unter anderen integriert ist. Der Tanz ist nicht mehr nur ein Element in einer Reihe verschiedener Kunstformen, wie sie in einer Revue nummernmäßig nacheinander präsentiert werden, etwa Musik-, Gesangs-, Akrobatik-, Sketcheinlagen, 33 und er wird nicht mehr gleichzeitig von Gesang begleitet. Nun singt der Tänzer nicht mehr, sondern er tanzt ausschließlich. Der Tanz wird zum ein und alles. Zudem und damit verbunden erhält der Tanz zweitens einen anderen Status. Dadurch, daß er nun nicht mehr dem Paradigma Kunst untergeordnet ist, scheint er auch gleichzeitig dazu prädisponiert zu sein, Leben abzubilden, Leben an sich widerzuspiegeln. Tanz und Lebenswelt des Tänzers werden enggeführt, der Tanz wird als intrinsisches Merkmal an die Person - und Psyche - des Tänzers gebunden, seine Ausübung ist nicht mehr eine zu veräußerlichende Möglichkeit, sondern wird Conditio sine qua non. Damit ist der Tanz mehr als nur Tanz; er, der Umgang mit ihm und die mit ihm verhandelten Probleme und Lösungen repräsentieren das Weltmodell an sich, sind Projektionen, wie eine wünschenswerte Ordnung vorgestellt wird. Dies kann zum einen die Kultur an sich betreffen, das Verhältnis des einzelnen zur Gesamtheit regulierend. So werden mit dem Tanz nicht nur die oben aufgelisteten Kategorien relevant, sondern zudem an den Tanz spezifische Zusatzmerkmale gebündelt und Zuschreibungen geleistet, etwa die des Männlichen oder des Weiblichen, und damit ist der Tanzgeschichte eine generelle Werte- und Normendiskussion inkorporiert. Tanz wird zum Stellvertreterkampfplatz. Zum anderen wird die Person des Tänzers fokussiert. Der Tanz wird in eine Geschichte eingebaut, nun aber nicht mehr rekursiv in eine Geschichte eines/ des Tanzes, einer Tanzaufführung, sondern in eine Lebensgeschichte: eine Selbstfindungsgeschichte, eine Aufstiegsgeschichte, eine Adoleszenzgeschichte. Somit wird die Narration spezifisch relevant, da über sie die ideologische Funktionalisierung läuft und durch sie das Tanzgeschehen auf eine quasi transzendente, verallgemeinerbare Ebene verschoben wird. Daß diese Tendenz zur Mythisierung dominant ist und mittlerweile den kulturellen Konsens prägt, ist gerade dort zu erkennen, wo sie gebrochen wird, wo Filme Demythisierung betreiben und damit die ansonsten stillschweigende Akzeptanz dieses Topos der Tanz-Emphase thematisch werden lassen. Eingebürgerte Erwartungshaltungen werden denn insbesondere und generell in den Filmen der End-60er und 70er Jahre relativiert - und als ideologische Konstrukte entlarvt. 34 So etwa in Episode in Fame (Fame - Der Weg zum Ruhm, USA 1979, Alan Parker), wenn der Rausschmiß aus der Tanzklasse eben nicht die Konsequenz hat, sich vor die U-Bahn zu schmeißen, oder insgesamt in They Shoot Horses, Don’t They? (Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß, USA 1969, Sidney Pollack), wo sich der Mythos des Nicht-Aufgebens als ökonomisches Kalkül erweist und sich dadurch gerade eine tödliche Konsequenz ergibt. Faßbar wird diese Autonomisierung und Neufunktionalisierung des Tanzes paradigmatisch mit dem Film The Red Shoes (Die roten Schuhe, GB 1948, Emeric Pressburger), in dem diese Zeichenfunktion des Tanzes als über sich hinaus verweisend und einen spezifischen Bezug zum Leben der Tänzerin etablierend deutlich in Szene gesetzt ist. Hier ist der Tanz, insofern die individuelle Lebensgeschichte einer Tänzerin fokussiert ist, zunächst frei von den festen Kontexten, wie sie bisher dem Tanz zugeordnet waren, sei es der festen Semantik, sei es der Integration in Künste und den Gesamtrahmen ‘Tanz’ oder - als Musical Hans Krah 264 - dem Darstellungsmodus ‘Tanz’. Dieser scheinbare Eigenwert wird dann aber sekundär genutzt. Dies korreliert damit, daß ein Spannungsverhältnis zwischen Tanz und Leben konstruiert wird. Im Revuefilm korrespondierte die Ausübung des Tanzes harmonisch mit dem Leben. Das Am-besten-tanzen-Können impliziert, daß auch im privaten Bereich ein Happy-End, eine Ehe mit dem/ der Richtigen, zustande kommt. Wer hier tanzt, wird belohnt, tanzen heißt dezidiert nicht, auf privates Glück zu verzichten. Eine Entscheidung zwischen (beruflichem) Tanz und privatem (Beziehungs-)Glück ist nie wirklich erforderlich. Wo dies als Konflikt inszeniert ist, zeigt der Handlungsverlauf, daß es sich bei diesem Problem um ein Scheinproblem handelt (etwa in Dancing Lady [Ich tanze nur für dich, USA 1934, Robert Z. Leonard]). Der Tanz dient einer Bewußtwerdung und hilft der Partnerfindung. In The Red Shoes wird dieses Verhältnis nun zum zentralen Konflikt. Hier werden Tanz und Privatheit als Opposition inszeniert, als exklusive Bereiche: der eine schließt den anderen notwendig aus. Die beiden Bereiche sind zudem nicht gleichrangig. Der Tanz wird als Abweichung stilisiert. Funktionalisiert werden dabei Strategien beider anderer Tanzmodelle, wie sie bisher skizziert wurden. Aufgegriffen werden auf abstrakter Ebene Paradigmen der Tanzrhetorik. Vorgeführt wird zwar keine Verführung durch den Tanz, wohl aber eine Verführung zum Tanz, und d.h. zur Abkehr vom ‘normalen’ Leben. Und diese Abkehr ist für die Protagonistin Victoria Paige eben nicht lebbar. Im Unterschied zu den Revuefilmen geht der Tanz in diesem Konzept nun auch mit Tod und Tragik einher. Gemildert ist diese Tragik allerdings dadurch, daß dieser Tod unweigerlich ist, daß alles von vornherein auf den Tod ausgerichtet ist, wie die phantastische Dimension, konkretisiert im Bezug zu Andersens Märchen von den roten Schuhen, vorgibt. Der Tanz wird zur Parabel des Lebens und erhält eine allegorische Funktion; er bildet mise en abyme das Leben, den Zustand von Victoria Paige ab. Diese Vernetzung von Tanz und Leben wird insbesondere durch die Kombination von Elementen der Tanzrhetorik, die phantastische Dimension, und des Merkmals der Raumauflösung der Revuefilme installiert. Wie dort ist die diegetische Aufführung des titelgebenden Balletts ‘Die roten Schuhe’ der Konzeption des Verlassens der diegetischen Aufführungsbedingungen verpflichtet - und sie ist verdichtet und gesteigert. Kein Publikum ist zu sehen, keine Pausen, die Bühne verschwindet zugunsten eines imaginären Raumes, der in seiner Hermetik ein Eigenleben suggeriert. Gerade dadurch läßt sich dieser Tanz aber auch als losgelöst von seinem Realitätsstatus als öffentliche Aufführung interpretieren: Der Tanz transzendiert zum Innenraum, läßt sich als Traum, als Psychogramm der Tänzerin lesen. Was sie in ihrem Tanz schafft, ist ein Abbild ihres inneren Zustands. Die phantastische Dimension ist psychologisch deutbar, der Tanz führt ins Innere der Person, ist traumanalog. Dies wird forciert durch den Bezug zum Intertext ‘Die roten Schuhe’, eine Referenz, die zudem eine Zusatzdimension eröffnet, die über den engeren filmischen Kontext hinausgeht. 35 Zum einen wird damit eine quasi vorgegebene, auf die Welt Bezug nehmende Interpretationshilfe installiert, zum anderen die Unausweichlichkeit der vorgeführten Konfliktlösung als evident gesetzt und zum dritten, da es sich ja um einen phantastischen Kontext handelt, ein Signal gegeben, die Handlung uneigentlich zu lesen und als zeichenhafte Verhandlung zu deuten. Im Revuefilm, dies sei an dieser Stelle angemerkt, ist ein solches Ausgreifen auf zusätzliche, außertextuelle Verweisebenen eher nicht gegeben; dort dominiert eine Selbstbezüglichkeit, gerade auch in dem, was in den Shows diegetisch aufgeführt wird. Auf der diegetischen Bühne im Film ist rekursiv das zu sehen, was den Film über in der Diegese vorgeführt wurde, die Kunst entspringt dem Leben, oder anders ausgedrückt, Filmgeschichte und filmische Kunst werden aufeinander abgebildet: der Verlauf auf das momentane, punktuelle Ereignis. Tanz-Einstellungen 265 So etwa, wenn die Kulissen der Show in Born to Dance (Zum Tanzen geboren, USA 1936, Roy Del Ruth) ein Kriegsschiff darstellen, genau dieser Marinekontext aber den diegetischen Geschehenskontext außerhalb der Show bildet. Oder wenn in Hallo Janine! (D 1939, Carl Boese) die Geschichte genau dazu dient, am Ende den fehlenden Titel für die Show zu liefern, eben ‘Hallo Janine’. Nun, in The Red Shoes, fungiert die Kunst durch ihre Referenz als Leitlinie, dem Geschehen zusätzliche Bedeutung zuzusprechen, und dient dabei als Deutung, als Interpretationshilfe und damit als Interpretationslenkung. Es geht um Paradigmenvermittlung und ideologische Regulation. Ist es im Ballett als phantastisches Element ein Teufelspakt, der die Protagonistin durch den ‘Gewinn’ der roten Tanzschuhe von ihrem herkömmlichen Leben abzieht und tanzend zugrunde gehen läßt, so ist es in der erzählten Geschichte um die Tänzerin Victoria Paige ein Wertkonflikt, der sie am Ende in den Selbstmord treibt. Diese Parallelisierung dient ideologischen Zwecken. Denn sie kaschiert, daß dieser Wertkonflikt, der in der strikten und unhinterfragten Trennung zwischen beruflichem Tanzen einerseits und individueller Erfüllung und Ehe andererseits begründet ist, auf einer kulturellen Setzung beruht, die dieser rigiden Grenzziehung durch die Parallelisierung einer rationalen Diskussion enthebt. Gleichfalls determiniert sie den Gang der Handlung, sie blendet alternative Handlungs- und Problemlösungsvarianten aus. 36 Die Trennung der beiden Bereiche ‘künstlerische Entfaltung’ und ‘privates Glück’ gilt zudem nicht generell, sondern ist wesentlich an die Zusatzdifferenzierung männlich/ weiblich gebunden. Der Problemkomplex gilt nur für Frauen, nur hier bedarf es einer ideologischen Regulation. Denn eigentlich geht es in The Red Shoes um die Verhandlung von Geschlechterrollen, um eine Abweichung von einer spezifischen Frauenrolle, die narrative Sanktionierung dieser Nicht-Erfülllung und damit die Dokumentation von Werthierarchien und Normvorstellungen: konkret das Zurückstehen der Frau hinter die Belange des Mannes. Gekoppelt wird dies mit unterschiedlichen Medialitätskonzeptionen männlicher und weiblicher Kunst: Eine Körperbindung von Kunst wird an die Geschlechter verteilt. So kann der männliche Künstler als Komponist bei der Uraufführung seines Werkes körperlich absent sein, ohne auf die Aufführung seiner Kunst verzichten zu müssen, Victoria Paige als Tänzerin kann dies nicht. Das angebliche männliche Entgegenkommen, mit dem der Film auf der Oberfläche argumentiert, erweist sich als Teil der filmischen Strategie, eine Reintegration der Frau in ihre traditionelle Rolle nicht als männlichen Zwang erscheinen zu lassen, sondern als auf gemeinsamen Prämissen beruhend und natürlich notwendig, um das ‘Leben’ der Frau zu erhalten. Argumentationen, die in ihrer kulturellen Relevanz in die Nachkriegsgeschichte zu verorten und vor dem Hintergrund einer (patriarchalen) Rekonstituierung aufgebrochener Rollenmuster zu verstehen sind. Die Verknüpfung von Tanz und Leben, wie sie für The Red Shoes zu rekonstruieren ist, ist historisch wie an dieses spezifische Einzelbeispiel gebunden, sowohl was die Struktur, als Mise en abyme und Parabel, als auch was die Funktion betrifft. Eine Koppelung an sich, also die je individuell unterschiedlich gesetzte Verbindung von Tanz und Leben ist allerdings paradigmatisch und kulturell funktional. Das Genre Tanzfilm, der Tanz bzw. dessen Funktionalisierung wird Seismograph für die Kultur, Tanzfilme sind Dokumente ihrer Zeit, für Probleme und propagierte Lösungen. Einige Linien und zentrale Schnittpunkte dieses Diskurses seien abschließend skizziert. Ist in The Red Shoes der Tanz noch eingebunden in die professionelle und akademische Ebene des Ballettanzes, und damit in diesem Kunstrahmen dem ‘Normalmenschen’ entzogen, so emanzipiert er sich im Laufe der 50er Jahre hiervon. Etwa ab den späten 50er Jahren ist Hans Krah 266 der Tanz statt dessen an die Differenz der Generationen gebunden, ist mit emphatischer Jugend und Jugendbewegung korreliert und wird Ausdruck und Zeichen eines jugendlichen Aufbegehrens. Diese Grundkonstante des Tanzes, die sich in vielfältigen Ausprägungen konkretisiert und den Mythos ‘Tanz’ mit etabliert, gerät dann in den End-60ern selbst in den Blickpunkt und kulminiert zum Ort der Auseinandersetzung mit sozialen Zuständen und Mißständen. Wieder wird der Tanz zum Mise en abyme, nun aber nicht einer Individualpsyche oder des Traums vom Glück und des Moments eines sinnhaft zu deutenden Aufbegehrens, sondern in gegenteiliger Semantisierung als Symptom des gesellschaftlichen Status quo: In They Shoot Horses, Don’t They? indizieren die unmenschlichen Bedingungen des Dauertanzwettbewerbs auch das Fehlen jeglichen Freiraums im Leben an sich, der Film legt auf nüchterne und unsentimentale Weise nahe, daß die einzige und konsequente Lösung nur darin bestehen kann, sich gnadenhalber erschießen zu lassen. Die Situierung der Handlung in den 30er Jahren der wirtschaftlichen Depression erzeugt dabei einerseits Distanz, andererseits entlarvt sie die mediale Darstellung dieser Zeit - in den Revuefilmen - als realitätsfern und gerade den Tanz als Mittel der ideologischen Regulation und Projektion von Wünschen. In den 70er Jahren wird hieran angeknüpft, wenngleich die Radikalität zugunsten eines eher ‘dokumentarischen’ Blicks auf die gegebenen Verhältnisse, ohne dominante moralische Bewertung, zurückgenommen ist. So wird in den 70er Jahren nicht auf das tradierte Aufsteigermodell rekurriert. Der Tanz ist statt dessen Zeichen eines Lebensgefühls, einer Einstellung, und wird an Adoleszenz gebunden. Vorgeführt werden nicht Geschichten, die eine stringente Narration aufweisen, die auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtet sind, sondern Zustandsbeschreibungen eines Zeitgefühls - individuell wie kulturell. Der Tanz bildet dabei nicht Leben ab, sondern ist diesem, dem Alltagsleben, gegenübergestellt. Tanz und Tanzen werden zum heterotopen Freiraum, der neben dem Raum des Alltags existiert und in dem und durch den der Alltag temporär verlassen werden kann. Im Tanzen ‘erlaubt’ es die Bewegung, erstarrte Ordnungen symbolisch zu verlassen, ohne daß sich die beiden Räume in ihrer Semantik durch den je anderen beeinflussen würden; Saturday Night Fever (Nur Samstag Nacht, USA 1977, John Badham) gibt dieses Programm vor. 37 Der Tanz - wie der gesamte Film - bietet keine Problemlösung, sondern dient dem Aufzeigen problematischer Verhältnisse, insbesondere des gebrochenen Verhältnisses zu Tradition und Mythen. In den 80er Jahren ist weniger eine Fortsetzung und Weiterentwicklung als ein deutlicher Bruch mit den Positionen der 70er Jahre zu verzeichnen. Nun wird der Tanz in den Diskurs um Wert- und Normenorientierung eingebunden, als Helfer, Verunsicherungen zu beenden. Dies ist mit einer Zurücknahme an gesellschaftlicher Reflexion verbunden. An den bestehenden (sozialen) Verhältnissen wird nicht mehr gerührt, diese entziehen sich selbst einer indirekten und impliziten Verantwortung für die Lebensverhältnisse des einzelnen. Nun werden Tanz und Leben wieder enggeführt, nicht als ein Nebeneinander wie in den 70ern, sondern nun gilt es, durch den Tanz (und damit in alleiniger Verantwortung der Person) das Leben zu meistern. Der Tanz dient nun dazu, Selbstverwirklichung und Anpassung sich ‘harmonisch’ verbinden zu lassen und das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft und seine Rolle in ihr zu bestimmen und neu zu regeln. Gerade der Tanz ist als dieses Instrument der Einübung in neue Paradigmen und Werte geeignet, da er gleichzeitig Freiraum für den einzelnen konnotiert - als Ausdruck des Selbst fungiert - und diese Bedeutungskomponente als freiwillige und einsichtige Akzeptanz der Ordnung, nach einer oder über eine Phase der Rebellion, funktionalisiert werden kann. Eine gegenläufige Strategie, mit der in den Filmen Tanz-Einstellungen 267 der 80er Jahre die Einübung und Verinnerlichung von tradierten Normen praktiziert wird, ist, wie An Officer and a Gentleman (Ein Offizier und Gentleman, USA 1982, Taylor Hackford) vorgibt, die vorübergehende Reduktion eines/ jeden Freiraums in der militärischen Ausbildung. Beiden Strategien gemeinsam ist das zentrale Paradigma der Körperdisziplinierung. Über die propagierte Relevanz des (eigenen) Körpers und dessen Modellierung und Inszenierung - Arbeit am Körper - werden ideologische Positionen dem Individuum eingeschrieben. Diese Körperdisziplinierung und damit die Einübung in Werte und Normen, statt einer kritischen Reflexion, geht mit neuen Körperkonzepten einher, wie sie sich in der Dominanz von Training, Bodybuilding, Körperkult fassen lassen - etwas, was so im Film der 70er Jahre nicht zu verzeichnen ist. Die neue Zuweisung von Sinn und Ziel und die Integration des Individuums in die Gemeinschaft (als gesetzte und tradierte Wert- und Normenordnung) zeigen sich im Unterschied zu den Filmen der 70er Jahre insbesondere dort, wo Filme in Sequels wiederaufgegriffen werden und nun nicht dort weitererzählt wird, wo die ersten Filme enden, sondern neue Geschichten erzählt werden, bzw. die gleiche Geschichte in einem Akt der Überschreibung und Reinterpretation noch einmal erzählt wird, nun aber als stringente Aufstiegsgeschichte, wie etwa in Staying Alive (USA 1982, Sylvester Stallone) als Sequel von Saturday Night Fever. Flashdance (USA 1983, Adrian Lyne) zeigt dann diese neuen Paradigmen, denen der Tanz nun zugeordnet ist, anhand von Parallelgeschichten und inszeniert deutlich anhand der Protagonistin die neuen filmischen Strategien: Ideologisierung (insbesondere hinsichtlich einer neuen Festigung von Geschlechterrollen in traditioneller Weise und einer Anerkennung spezifischer Traditionen) geht mit einer Ästhetisierung der Bilder und einer Professionalisierung des Körpers durch Eintrainierung einher. Zwei zusätzliche Strategien der Problemlösungen sind Harmonisierung und Historisierung. Die Harmonisierung bedient sich der Operation der Entgrenzung und Raumauflösung. Diese findet sich nun allerdings nicht mehr auf der Ebene des Mediums, sondern wird von der Bildebene in die Geschichte verlagert. Die Grenze der Bühne wird nicht mehr durch filmische Inszenierungsmittel aufgelöst, sondern, diegetisch real, dadurch, daß sich Publikum und Akteure im Schlußhöhepunkt vermischen, wie dies etwa Dirty Dancing (USA 1987, Emile Ardolino) vorführt. Versinnbildlicht werden soll dadurch, daß Grenzen nicht mehr relevant sind, daß sich Ordnungen also überwinden lassen. Insofern dies allerdings nur punktuell und verlagert auf den Tanz, die Tanzperformance, gilt, stellen diese Grenzauflösungen immer nur symbolische Auflösungen dar, die Problemkonstellationen der dargestellten Welt nur überlagern. Sie vermitteln evident, daß Probleme gelöst werden, ohne daß wirklich Probleme gelöst werden, sich diese Auflösungen auf Ordnungsveränderungen auswirken würden: Selten wird eine tatsächliche Überwindung erstarrter Formen abgebildet. Zumeist, wie in Dirty Dancing, kaschiert diese Oberflächenebene nur, daß sich eigentlich nichts ändert, daß Ordnungen - hier die patriarchal dominierte - prinzipiell anerkannt werden und nur mit deren Einverständnis dann eine Pseudo-Auflösung als harmonische inszeniert werden kann. Diese Strategie verbindet sich mit einer Historisierung der vorgeführten Geschichten, die diese Operationalisierungen kaschiert und auffängt. Die zeitliche Situierung der dargestellten Geschichten ist relevant und bedeutsam, da dadurch mit kulturellem Wissen über den Tanz und den zeitgeschichtlichen Kontext argumentiert werden kann. Wenn etwa in Dirty Dancing die Geschichte (anstatt eine Gegenwartshandlung zu sein) in die 60er Jahre verlagert ist, dann werden die vorgeführten Probleme scheinbar in die Vergangenheit verlagert und als Probleme dieser Zeit ausgegeben, und dadurch wird durch kulturelles Wissen über die historische Hans Krah 268 Situation argumentative Evidenz erzeugt. Die vorgeführten Probleme der Generationen, von Vater und Tochter, und des Verhältnisses von Mann und Frau scheinen in der vorgeführten Konzeption und Relevanz als glaubhaft, als echte und ernste Problemkonstellationen, die es in den 60er Jahren eben gab. Die vorgeführten Lösungen erscheinen innerhalb dieses Paradigmas ebenfalls als die einzig möglichen und praktikablen. Die spezifische Individuation der Protagonistin vom Mauerblümchen zur scheinbar selbstbewußten Frau und ihr Versuch des Ausbruchs aus der bestehenden Ordnung kann als Selbstfindung ausgegeben werden, auch wenn diese einerseits eine nun freiwillige und einsichtige Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse bedeutet und insbesondere die väterliche Autorität unangetastet läßt und sie andererseits nur in der Übergabe der Frau vom Vater an den Partner besteht, der - als Tanzlehrer - die Frau - durch den Tanz - zur Frau erst formt. Insofern diese Konzeption in der Filmargumentation in den Rahmen einer natürlichen Ordnung gebettet wird, die historische Verlagerung also gerade nicht einer Relativierung von Werten und Normen dient, sondern deren universelle anthropologische Gültigkeit präsupponiert und postuliert, erhält sie gleichwohl als Modellvorstellung und Wünschenswertes Geltung auch für die Zeit der Textproduktion. Die vorgeführten Werte und Normen und die Problemlösungen bei Konflikten werden als unhinterfragbare Konstanten menschlichen Zusammenlebens gesetzt - und deren konservativ-restaurative Implikationen einer Diskussion enthoben. Wo eine solche Historisierung nicht gegeben ist, erweisen sich die Filme denn zumeist als weniger ideologisch ausgerichtet, wie das analog konstruierte Gegenbeispiel zu Dirty Dancing, Strictly Ballroom (Australien 1992, Baz Luhrmann), zeigt. Auch in diesem Film zentriert sich das Ordnungsmodell um gleiche Paradigmen, Mann/ Frau, Natur/ Kunst, Ordnung/ Aufbegehren, ohne allerdings die damit verbundenen Grenzziehungen, Hierarchisierungen und Merkmalsbündelungen zu übernehmen, sondern sie mit Hilfe der Auflösung der Achse fremd/ vertraut zumindest zu hinterfragen und sie so tatsächlich zu einem Instrument von Selbstfindung zu machen. Die analoge Auflösung von Zuschauern und Akteuren am Ende des Films kann hier dann tatsächlich für einen veränderten Zustand stehen, für die geglückte Überwindung eines in Ordnungsfetischismus überkommenen Systems; dies funktioniert allerdings auch nur, da dieses System selbst bereits als Abweichung markiert ist, als künstliches einem auf Natürlichkeit basierenden Prinzip weicht und Familie nicht zeichenhaft in die Vermittlung dieses ideologischen Programms eingebunden war, sondern dieser Ordnung gegenüberstand. Tanz als Ausbruch aus gegebenen Verhältnissen und unbegründeten Ordnungen und damit als Instrument der Selbstfindung, dies scheint in Überwindung der 80er Jahre wieder verstärkt das Modell zu sein, für das der Tanz funktionalisiert wird. Billy Elliott - I will dance (GB 2000, Stephen Daldry) mag hierfür stehen, ein Film, der zwar ebenfalls zunächst in der Vergangenheit situiert ist, Mitte der 80er Jahre beginnt, dessen Histoire aber bis zur Gegenwart reicht und damit nicht einer Historisierung, sondern filmstrategisch funktional der Abbildung eines individuellen Lebensverlaufs dient, der dann wieder sekundär repräsentativ ist: Veränderung ist möglich. Insofern er aber auf eine Ideologisierung verzichtet, verzichtet er als Tanzfilm auch auf die ästhetische Inszenierung von Tanzaufführungen, auf das sinnliche Erleben visueller Attraktion. Demgegenüber steht ein Film wie Moulin Rouge (Australien/ USA 2001, Baz Luhrmann), der diese Dimension dominieren läßt und dabei das Prinzip der Auflösung vom Raum auf die Zeit erweitert. Insofern die Entgrenzung hier auch auf die historische Verortung bezogen ist, wird dieser ihre ideologische Funktionalisierbarkeit von vornherein entzogen, zugleich springt die Auflösung auf das Modell von Tanz über: Mit Moulin Rouge bricht der Tanz im Tanz-Einstellungen 269 Film selbst aus den festen Vorstellungen - eines vorherrschenden Modells über Tanz - aus und eröffnet damit (wieder) die Möglichkeit des freien Umgangs im Film. Anmerkungen 1 Vgl. zum Musikfilm allgemein Klaus Kanzog, “Wir machen Musik, da geht euch der Hut hoch! ” Zur Definition, zum Spektrum und zur Geschichte des deutschen Musikfilms, in Michael Schaudig (Hg.), Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematograpie: Strukturen, Diskurse, Kontexte, München 1996, S. 197-240. 2 Siehe Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/ M. 1995, S. 442- 467. 3 Etwa Peter Greenaway und sein Projekt ‘Rosa’ (Belgien 1992, 15 min.). 4 Etwa Harald Kreutzberg in G.W. Pabsts Paracelsus (D, 1943). 5 Dies gilt im besonderen auch für Filme, die sich als Tanz-Biographien präsentieren. 6 Zur theoretischen Fundierung sei auf Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, und dens., Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt/ M. 1977, verwiesen. 7 Etwa in Mata Hari (USA 1931, George Fitzmaurice). 8 Vgl. zum Salome-Stoff Matthäus 14, 3 -12; Markus 6, 17-23, beide ohne die Namensnennung Salome. Bei beiden ist es zudem Herodias, die ihrer Tochter eingibt, für den Tanz vor Herodes das Haupt des Täufers zu verlangen. Die Uminterpretation, daß Salome selbst für sich das Haupt will, geht wesentlich auf Wildes Adaption zurück. Siehe zum Salome-Komplex auch Brandstetter, S. 225 -245. 9 Salome (USA 1908, J. Stuart Blackton), Salome (USA 1918, J. Gordon Edwards), Salome (USA 1923, Malcolm Strauss), Salome (USA 1923, Charles Bryant, mit Natacha Rambova, Prod.: Alla Nazimova). 10 Gemeint sind die Ikonographien, wie sie sich in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende finden. 11 Zum Auftritt der historischen Mata Hari im Pariser Musée Guiment am 13. März 1905 siehe Brandstetter, S. 85 - 87. 12 Die Diegesis als Konstrukt der filmischen Beschreibung umfaßt die dargestellte fiktionale Welt in ihrer rekonstruierbaren Gesamtheit, d.h. ihre raumzeitliche Situierung, ihr Kausalsystem und die in ihr stattfindenden Geschehnisse. Zu ihr gehören also die Figuren und der von ihnen auditiv und visuell zugängliche und wahrnehmbare Raum. Die Bezeichnung “diegetisch” bezieht sich demgemäß als Standpunktangabe auf die Position und Wahrnehmungsperspektive des Dargestellten. 13 So etwa in Kora Terry (D 1940, Georg Jacoby), wenn die vermeintlich verruchte Schwester einen positiv konnotierten Tanz aufführt - und sich eben als die brave Schwester entpuppt. Explizit als Beweis für das Bestehen eines (erotischen) Normverstoßes dient der Tempeltanz in Das indische Grabmal (BRD/ Frankreich/ Italien 1958, Fritz Lang). 14 Diese Argumentation funktioniert vor der Folie des Denkens, daß die eindeutige und feste Personengrenze konstitutiver Bestandteil von “Person” ist. Diese Position dürfte zwar ein Relikt des 19. Jahrhunderts, dennoch aber im Allgemeinwissen verankert sein. 15 So etwa Herodias in Salome (1923, Bryant), oder Cara Carozza in Dr. Mabuse, der Spieler (D 1922, Fritz Lang, Teil 1: Der große Spieler - Ein Bild der Zeit). Deren Kommentar “Können tut sie gar nichts” ist von der Ebene der Virtuosität zu übersetzen als: ‘Sie ist keine Rivalin’. 16 In der literarischen Vorlage, dem Roman von Thea von Harbou von 1926, ist diese Ebene noch deutlicher beschrieben. 17 Begriffe und Konzepte aus Lotmans Grenzüberschreitungstheorie, vgl. einführend und zusammenfassend Hans Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen, in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica 22, 1999, 1-2, S. 3 -12. 18 Siehe dazu Hans Krah und Marianne Wünsch, Phantastisch/ Phantastik, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, hg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart, Weimar 2002, S. 798-814. 19 So in The Golden Voyage of Sindbad (Sindbads gefährliche Abenteuer, USA 1973, Gordon Hessler), wenn der Magier die Statue der Göttin Kali tanzen läßt, in Legend (Legende, GB 1985, Ridley Scott), Excalibur (USA 1981, John Boorman), Batman and Robin (Batman und Robin, USA 1997, Joel Schumacher) mit dem Auftritt von Poison Ivy. Hans Krah 270 20 Bereits Oscar Wildes Umdeutung korreliert damit, daß Herodes abschließend Salome tötet - diese Konstellation dürfte im 20. Jahrhundert mehr Reiz haben, als auf eine Einflußnahme von Herodias auf ihre Tochter (und damit auf eine starke Mutter) zu rekurrieren. 21 Im Tanz selbst können solche Klischees und Stereotype fruchtbar gemacht werden, im Film ist dies aufgrund der Medialität per se anders gelagert, wenngleich es selbstverständlich Ausnahmen gibt. So verwendet etwa Arnold Fancks Der heilige Berg (D, 1926) diese Semantik in seinem Plot. Hier wird der Versuch inszeniert, diese Semantik über eine esoterische Tanzvariante (Leni Riefenstahls), Sport und ‘erhabene’ Natur, zu entfunktionalisieren; die männliche Solidarität, die durch den Tanz verloren zu gehen scheint, bricht nicht - auch wenn es den beiden Männern das Leben kostet; die Tänzerin kann am Leben bleiben. 22 Siehe hierzu auch Ursula von Keitz, Der Blick ins Imaginäre. Über ‘Erzählen’ und ‘Sehen’ bei Murnau, in: Klaus Kreimeier (Hg.): Die Metaphysik des Dekors. Raum, Architektur und Licht im klassischen deutschen Stummfilm. Marburg 1994, S. 80 -99. 23 So etwa in Footlight Parade (Parade im Rampenlicht, USA 1933, Lloyd Bacon, Busby Berkeley), Hellzappopin (In der Hölle ist der Teufel los, USA 1941, H.C. Potter), The Ice-Follies 1939 (Tanz auf dem Eis, USA 1939, Reinhold Schünzel). Zum amerikanischen Revuefilm und Musical siehe einführend allgemein Jane Feuer, The Hollywood Musical, London 1982; Rick Altman, The American Film Musical, Bloomington 1987. 24 ‘Ideologie’ (und ‘ideologisch’) ist hier und im folgenden im Sinne einer Paradigmenvermittlung verstanden. Diese Verwendung deckt sich mit der “diskursive[n] Definition der Ideologie als Regulationsprozesse”, wie sie Stephen Lowry: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus. Tübingen 1991, S. 49, bestimmt. Die ideologischen Diskursformationen “stellen Normen und Verhaltensregeln auf, bestimmen Werte, modellieren Gefühle und Affekte, definieren Sinn und schaffen Konsens. Genauso wichtig ist auch ihre negative Funktion: zu verhindern, daß potentiell kritische Bedeutungen entstehen und artikuliert werden” (Lowry, S. 46). Gegebenheiten werden als selbstverständlich wahrgenommen und nicht hinterfragt. Wertsysteme sind immer direkte Strategie einer Kultur, bestimmte Verhaltensweisen, Vorstellungen etc. als Werte zu setzen und über bestimmte Verfahren zu vermitteln. 25 Teilweise sind diese Inszenierungen sogar bühnentechnisch unmöglich und nur durch filmische Tricks zu realisieren, so etwa die Spiegelungen in Premiere, die nur durch die Technik des Splitscreen und somit nur filmisch existent sind. 26 Die Technik der Entgrenzung kann dann zusätzlich, wie in Premiere, zum Aufbau eines Starimages funktionalisiert sein; vgl. Jan-Oliver Decker, Die Leidenschaft, die Leiden schafft, oder wie inszeniert man eine Stimme? Anmerkungen zum Starimage von Zarah Leander, in: Hans Krah (Hg.), Geschichte(n). NS-Film - NS- Spuren heute, Kiel 1999, S. 97-122. 27 Zwischenformen und graduelle Abstufungen sind ohne weiteres möglich, etwa in Born to Dance oder Take me out to the Ball Game (Spiel zu dritt, USA 1949, Busby Berkeley), wo zwar bereits Musicaleinlagen vorhanden sind, gleichzeitig aber noch die Fiktion der Bühne, auf die der Film dann am Ende auch hinzielt. 28 Andererseits wird der Tanz damit auch gebunden und ist nicht mehr freies Zeichensystem, signalisiert er doch genau diesen Wechsel des Erzählmodus. 29 In den deutschen Filmen wird daneben häufig der bereits ‘fertige’ Star präsentiert, und nicht dessen Aufstieg, um ihn in dieser Rolle für die Volksgemeinschaft zu funktionalisieren. So etwa in Die Frau meiner Träume (D 1944, Georg Jacoby). 30 Vgl. etwa auch Klaus Kreimeier, Die UFA Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München 1995, S. 282ff. Die Betonung liegt allerdings im ‘weniger’, gemeint ist also ein gradueller Unterschied, der sich zudem mit der Chronologie, frühere Filme, spätere Filme, verändern dürfte. Gemeint ist nicht die Behauptung einer generellen Absenz von Ideologie im sogenannten NS-Unterhaltungsfilm (siehe dazu Hans Krah und Marianne Wünsch, Der Film des Nationalsozialismus als Vorbehaltsfilm oder ‘Ufa-Klassiker’: vom Umgang mit der Vergangenheit. Eine Einführung, in: Hans Krah (Hg.), NS-Film - NS-Spuren heute. Kiel 1999, S. 9 -29). Allgemein zum deutschen Revuefilm siehe Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933 -1945. Zusammengestellt von Helga Belach, München 1979. 31 So etwa als Detail das Tanzattribut ‘Schlange’, das auf den Verführungskontext verweist. 32 Verstanden, wie in Anm. 24 erläutert. 33 Deutlich ist dieses Prinzip etwa in Ziegfelds Follies (Ziegfelds himmlische Träume, USA 1946, Lemuel Ayers, Roy del Ruth) zu sehen. 34 Vgl. dazu Hans Krah und Wolfgang Struck, Gebrochene Helden / gebrochene Traditionen / gebrochene Mythen: der Film der 70er Jahre, in: Hans Krah (Hg.), All-Gemeinwissen. Kulturelle Kommunikation in populären Medien, Kiel 2001, S. 117-137. Tanz-Einstellungen 271 35 Ebenso referiert das filminterne ‘Ballet Lermontov’ auf das Ballet Russe unter der Leitung von Sergei Diaghilev, der in der Figur des Boris Lermontov abgebildet ist. 36 Dies entspricht einer Mythisierung im Sinne Barthes’ (siehe Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/ M. 1988). 37 Siehe hierzu auch Krah/ Struck, S. 118ff.