eJournals Kodikas/Code 26/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4

Lauter schlechte Kopien - Formen und Funktionen des Tanzes in den Filmen Federico Fellinis

121
2003
Kay Kirchmann
kod263-40273
Lauter schlechte Kopien … Formen und Funktionen des Tanzes in den Filmen Federico Fellinis Kay Kirchmann “What is your opinion of our great Federico Fellini? ” “He dances! ” Dialogpassage aus Pier Paolo Pasolinis La ricotta / Der Weichkäse Selbst guten Kennern des italienischen Regisseurs Federico Fellini (1920-1993) wird Tanz nicht an vorderster Stelle in den Sinn kommen, wenn es um die rekurrierenden Motive und Topoi seiner insgesamt 21 Spielfilme (hinzu kommen seine drei Beiträge zu verschiedenen Episodenfilmen) geht, die er zwischen 1950 und 1990 drehte. Und doch findet sich in einem jüngst erschienen “Fellini Lexicon” ein gleich mehrseitiges Lemna “Dance” (Rohdie 2002, S. 40-45), das einleitend lakonisch attestiert: “Most Fellini films have dance sequences. Usually there are several in in a single film. In La dolce vita, there are ten dance numbers. In Otto e mezzo, there are nine. In La città della donne, seven. In La voce della luna, five” (ebd., S. 40). Einmal entsprechend sensibilisiert, fällt einem dann tatsächlich auf, wie sehr im eigenen (und mutmaßlich auch im kollektiven) Bildgedächtnis prominente Filmszenen Fellinis gespeichert sind, in denen Tanz eine zentrale Rolle einnimmt: der Auftritt im TV- Studio aus Ginger e Fred/ Ginger und Fred (1985), Anita Ekbergs ekstatischer Tanz in den Caracalla-Thermen aus La dolce vita/ Das süße Leben (1960), der Tanz mit der mechanischen Puppe aus Casanova/ Fellinis Casanova (1976), der abschließende zirzensische Reigen aus Otto e mezzo/ Achteinhalb (1963) … Zu diesen hochgradig memorierungsfähigen Szenen gehört sicherlich auch die folgende Sequenz, die in ihrer Struktur bereits erste Hinweise auf die Funktion derartiger Tänze in und für Fellinis Gesamtwerk gibt. Im Juli 1914 begibt sich eine illustre Gesellschaft an Bord des Ozeandampfers ‘Gloria N.’, um die Asche einer berühmten Opernsängerin auf dem Weg zur Seebestattung zu begleiten: Operndiven beiderlei Geschlechts, Dirigenten, Künstler, Impressarios, Adlige, begüterte Nichtsnutze … Während diese Vertreter eines großbürgerlichen Kulturbetriebs die mehrtägige Schiffsreise zur permanenten narzisstischen Selbstbespiegelung, zu Rankünen und Kabalen nutzen, bricht die sorgfältig ausgeblendete soziale und politische Realität eines Tages in Gestalt serbischer Flüchtlinge, die vom Kapitän auf See aufgelesen und auf dem obligaten Achterdeck einquartiert wurden, in die elitäre Hermetik ein. Von den Protagonisten des Oberdecks halb fasziniert, halb misstrauisch beäugt, beginnen die Serben eines nachts die Lieder ihrer verlorenen Heimat zu intonieren und einen ihren Volkstänze zu zelebrieren. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Kay Kirchmann 274 Sofort begeben sich zwei ältere Tanzforscher hinunter zum ‘bunten Völkchen’, um zu erklären, dass die Serben hier in unzulässiger Weise Fruchtbarkeitstänze mit Folklore vermischen und um den Tänzern nunmehr die ‘richtigen’ Posen beizubringen: Die Moderne durchbricht in Gestalt ihrer wissenschaftlichen Zweckrationalität die magische Selbstvergessenheit der Tanzenden und versucht, das Archaisch-Vitale einer Volkskultur zu domestizieren. Mehr und mehr Angehörige der großbürgerlichen Kultur defilieren schließlich hinunter auf das Achterdeck, mischen sich unter die Tanzenden - jedoch mit eindeutig erotisch geprägten Ambitionen: Unfähig, die kulturelle Alterität dieser Tanztradition auch nur wahrzunehmen, projizieren sie die affektmodulierenden Funktionen der bürgerlichen Tanzpraxis in diese Situation hinein, missverstehen die pagane Tradition als Medium einer sublimierten erotischen Begegnung. Schließlich verfallen auch die auf dem Oberdeck Verbliebenen dem Reiz des Tanzes, lassen sich nun ihrerseits zu grotesk anmutenden Hüpf- und Kreisbewegungen animieren, die bei ihnen aber ohnehin wiederum nur als Vehikel zur Erlangung sozialer Gratifikation fungieren … Wie und in welcher Form auch immer sich die Protagonisten (groß-)bürgerlicher Modernität bemühen, am Vitalismus des Volkstanzes zu partizipieren - sie bleiben dabei auf den Status einer schlechten Kopie reduziert, ohne Kenntnis des subtilen Regelwerks, ohne Verständnis für eine kulturelle Dynamik, die sich jenseits bürgerlicher Normen und Verkehrsformen situiert, ohne jede Grazie und ohne wirkliche Lust an der Bewegung um ihrer selbst willen. Der Topos einer Begegnung zwischen den Kulturen und Klassen im Tanz bleibt eine leere Phrase, statt dessen ist hier nur ein fundamentales Missverstehen und Sich-verfehlen am Werke, liegt eine unüberschreitbare Inkongruenz von modernen und vormodernen Gesellschaftsformationen vor. Die Kritik am Projekt der Moderne, das in Italien bekanntlich erst verspätet einsetzte (vgl. Hausmann 1994) und das die extrem heterogenen kulturellen, ökonomischen und sozialen Strukturen der jungen Nation vor nachhaltige, bis heute nicht rundum bewältigte Probleme stellte, zieht sich wie ein roter Faden durch den italienischen Film nach der Blütephase des Neorealismus 1945-1954 (vgl. Schlappner 1958). Die Skepsis gegenüber einer primär als bürgerlich identifizierten Modernisierung verbindet - ungeachtet aller stilistischen, ideologischen und intellektuellen Differenzen - denn auch die wichtigsten Regisseure des italienischen Kinos der späten fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini und eben Federico Fellini (vgl. Buache 1969). Mit Antonioni teilt Fellini den klinischen Blick auf die Defizite der neuen urbanen Mittelstandsschichten (vgl. Fellini 1995, S. 80), wie er selbst ihn etwa in La dolce vita vorführte, mit Pasolini die geheime Sympathie für die durch die moderne Homogenisierung bedrohte Volkskultur - nur, dass anders als bei Pasolini (vgl. Klimke 1988) Fellinis Zeichnung dieses ‘Volkes’ frei von agitatorischen und sozialutopistischen Untertönen, statt dessen immer mit einer gewissen Ironie versehen ist. Mit großer und notorischer Skepsis gegenüber den Postulaten des ‘politischen’ Films ausgestattet (vgl. Burke 1996, S. 312ff. sowie Fellini 1989, passim), artikuliert sich Fellinis Trauerarbeit am Untergang einer ehedem lebendigen Volkskultur eher in einer Tonlage, die zwischen mildem Sarkasmus und Melancholie angesiedelt ist. Die oben beschriebene Szene aus Fellinis E la nave va/ Fellinis Schiff der Träume (1983) kann insofern als paradigmatisch für seine Inszenierung von sozialen Deformationen in (und bedingt durch den Siegeszug) einer kapitalistisch-bürgerlich geprägten Moderne angesehen werden. Diesem Blick auf kulturelle Schismen und Konfliktlagen, wie sie sich in dieser konfrontativen Wucht wahrscheinlich nur in Gesellschaften beobachten lassen, die von der Modernisierung binnen kürzester Zeit gleichsam ‘überrollt’ worden sind, verdankt sich wohl Lauter schlechte Kopien … 275 auch Fellinis bestenfalls ambivalente Haltung zur sogenannten Hochkultur überhaupt. Biographisch vom Comic und der Karikatur herkommend, sind Fellinis Affektionen für den Zirkus, das Vaudeville, aber auch den populären amerikanischen Film (vgl. Fellini 1995, S. 86f.) so legendär wie in zahllosen Selbstzeugnissen unmissverständlich artikuliert. Zu den vielen Dingen, die er nicht mag, zählte er selbst “Theatralik, Brecht, Pirandello, Dario Fo, Magritte und Ballett”, während er zu seinen Favoriten u.a. “James Bond, die Marx Brothers, Matisse, Piero della Francesca, Chandler, Simenon, Dickens, Kafka, Totò und den Onestep” (Fellini 1989, S.110f.) rechnete. Ballett, nein - Onestep, ja; in dieser simplen, aber signifikanten Dichotomie konturiert sich denn auch schon programmatisch jenes Spektrum an Tanzformen, das überhaupt nur Eingang in Fellinis kinematografischen Kosmos finden kann und wird: Populäre Tänze, Gesellschaftstänze, Volkstänze, kurzum - alles, was vom Odium des bürgerlichen Kunstbegriffs und seinen Performativitätspraxen frei ist. Entsprechend fällt denn auch die kaleidoskopartige Auflistung einschlägiger Sequenzen in dem eingangs erwähnten Lexikoneintrag aus: The dance numbers are various: There are chorus lines, New Year’s Eve balls, striptease, rock and roll, belly dancing, the Charleston, the waltz, the mambo, cha-cha-cha, jive, tap dancing, Flamenco, a clicking of heels. There is dancing at weddings, parties, celebrations, discothèques, night clubs, on stage, at rehearsals, in public toilets. There are dancing dwarfs, Serbs, clowns, peasants, whores, transvestites, orientals and gays. Children are danced with, and dolls. There is a bullfight dance. There is piggy-back dancing. (Rohdie 2002, S. 40) Die reine Quantität derartiger Szenen sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Tanz dennoch nicht das Zentrum von Fellinis Filmen ausmacht, sondern nur einen unter vielen Inszenierungsparametern darstellt. Und dennoch verschaffen einem diese vielen, wenn auch oft nur recht kurzen Tanzsequenzen durchaus interessante Einsichten in Fellinis Themen, seine ästhetischen Grundüberzeugungen und seine individuelle Symbolproduktion. Denn auch wenn man angesichts der aufgeführten stupenden Vielzahl an Stilen, Lokalitäten und Konstellationen keine eindimensionale Inszenierung des Tanzes bei Fellini wird erwarten dürfen, so lassen sich hierin aber sehr wohl wiederkehrende dramaturgische patterns und Funktionskontexte beobachten, welche die Semantik dieser Tanzinszenierungen unmittelbar an Fellinis Leitmotive, wie z.B. die oben angesprochene Modernitäts-Kritik, anschließbar macht. In einem ersten Klassifikationsversuch lassen sich dabei vier basale Formen und Gattungen des Tanze(n)s ausdifferenzieren: da sind zunächst die - jedoch vergleichsweise raren - Volkstänze, unter denen das eingangs analysierte Beispiel wohl das prägnanteste darstellt; da ist ferner der klassische Gesellschaftstanz (Walzer, Foxtrott, Cha Cha Cha etc.), wie er v.a. im Kontext der vielen, meist ‘verunglückten’ Feste, Feiern und Partys auftaucht, wie sie Fellini immer wieder mit beißendem Spott inszeniert; außerdem die solistischen Tänze, die oft vor einer Gruppe anderer Menschen spontan und regelfrei zelebriert werden; und schließlich und endlich die Bühnentänze vor einem zahlenden Publikum. Wie sich zeigen wird, bleibt dieses Spektrum verschiedener Tanzgattungen dabei im wesentlichen durch zwei übergreifende Phänomene ver- und zusammengebunden, die insofern zugleich als ein wiederkehrendes Inszenierungsmuster ersichtlich werden: 1. Die Tanzenden sind in aller Regel völlig unbegabt, versuchen sich bestenfalls als schlechte Kopien einschlägiger Vorbilder aus anderen Medien; 2. Diese Tänze werden so gut wie nie vollendet, sondern abge-, wenigstens aber unterbrochen. Kay Kirchmann 276 Abb. 1 (aus La dolce Vita) Genau hierin manifestiert sich denn auch die tiefere Semantik von Fellinis Tanzszenen, die es im folgenden darzulegen gilt. Beginnen wir mit dem Typus Gesellschaftstanz: Wie schon erwähnt, gibt es in Fellinis Filmen eine Vielzahl an Feiern, die vom Familienfest bis hin zu orgienähnlichen Partys reichen. Gegen das Klischee von der sinnenfrohen italienischen Konzelebration derartiger Anlässe inszeniert Fellini diese Feiern durchgehend als Fiasko, als Ort und Medium zwischenmenschlicher Konflikte, existentieller Einsamkeit und letztlich kläglich scheiternder Kommunikations- und Interaktionsversuche. Gesellschaftliches Leben verkommt hierin zum negativen Spektakel, zum Vehikel permanenter Selbstinszenierung geltungssüchtiger Individuen, zur Bühne der Eitelkeiten und planen Begierden. Das Fest fügt sich somit nahtlos ein in jene falsche “theatricalisation of the world [wherein] the most ordinary and banal activities can become theatre” (ebd., S. 127). Entsprechend degeneriert denn auch der Tanz auf solchen Feiern zur theatralischen Inszenierung des Geschlechtlichen, wird die Begegnung zwischen Mann und Frau im und beim Tanz lediglich genutzt, vordergründige Komplimente zu lancieren (z.B. beim Tanz zwischen Marcello und Silvia in La dolce vita) und die meist fremde Frau zum Beischlaf zu überreden (z.B. auf dem Fest in Amarcord 1973). Während des Tanzens wird also - in aller Regel von den Männern - signifikant viel geredet, geschmeichelt, verbale Selbstdarstellung betrieben und entsprechend uninspiriert und unrhythmisch getanzt. Der Gesellschaftstanz fungiert und funktioniert bei Fellini weder als Instrument der Triebsublimation noch als subtile Form der erotischen Inauguration - er wird vielmehr dezidiert bar jedes erotischen Untertons inszeniert, praktiziert von untalentierten und unsinnlich agierenden Paaren ohne jede Grazie und Begeisterung für die Sache selbst. Der Tanz ist und bleibt ein leidlich erfolgreich genutztes Mittel zum Zweck, bietet allenfalls billige Gelegenheit zur primär verbal vollzogenen Werbung, und er kann entsprechend vorzeitig abgebrochen werden, wenn die platte ‘Anmache’ endgültig gescheitert ist oder zum gewünschten Erfolg geführt hat. Auffallend ist dabei, dass selbst dann und dort, wo das Werben scheinbar erfolgreich war, keine wirkliche Kommunikation zwischen Mann und Frau stattfindet [Abb. 1]: In aller Regel lassen die Frauen das Procedere stillschweigend über sich ergehen, wenden sich schließlich entweder abrupt ab oder willigen merkwürdig uninspiriert ein, gemeinsam die Tanzfläche zu verlassen. Nichtigkeit und Austauschbarkeit derart entsinnlichter und sinnentleerter Pseudo-Kommunikation, die für Fellini Ausdruck und Resultat einer modernen “Entmystifizierung der Rituale und der Abwertung des Zeremoniells” (Fellini 1989, S. 128) sind, finden in dem schon angesprochenen Tanz Casanovas mit der mechanischen Puppe ihren schlechthin sinnfälligen Ausdruck: So mechanisch wie hier erscheint der Vollzug des Paartanzes in allen Fellini-Filmen, so mechanisch wie die Puppe selbst und der ihr spiegelbildlich zugeordnete “mechanische Eros [d]er menschlichen Kolbenmaschine” (Fellini 1989, S. 20) namens Casanova, so mechanisch Lauter schlechte Kopien … 277 spult sich das ganze (beschränkte) erotische Kommunikations- und Interaktionsrepertoire der Protagonisten aller Fellini-Filme ab. Die existentielle Kommunikationslosigkeit zwischen den Geschlechtern gipfelt schließlich in jenen verzweifelt-exaltierten Solotänzen, mittels derer z.B. auf den Orgien in La dolce vita (vergeblich) versucht wird, endlich Aufmerksamkeit und Affekte auf sich zu lenken. Soweit ich sehe, gibt es bei Fellini nur eine einzige gegenläufige Inszenierung des Paartanzes, die zugleich unmissverständlich als (wenngleich historisch überholtes) Gegenprogramm fungiert: den Walzer-Tanz von Marcellos knapp sechzigjährigem Vater mit dem Animiermädchen Fanny in der Bar “Cha Cha” aus La Dolce Vita. Im Drehbuch ausdrücklich als “wirklich guter Tänzer” (Fellini/ Lo Duca 1961, S. 88) herausgestellt, zelebriert Signore Rubini sr. den Walzer mit dem ganzen Charme, der ganzen Würde und der ganzen Lebenslust des Grandsigneurs, ohne ernsthafte erotische Ambition und gerade deshalb mit beträchtlicher Wirkung auf seine junge Tanzpartnerin, die ihn zurecht als fleischgewordenes Gegenstück zu seinem Sohn und dessen bohémehaften Freunden versteht. Signore Rubini sieht die ganze Szenerie des Nachtlokals und der Tanzens eben “mit den Augen einer vergangenen Epoche” (ebd., S. 82), und gerade dies versetzt ihn in die Lage, den Tanz zum Medium wahrhafter sozialer Kommunikation zu machen. Doch gerade die eineindeutige Markierung des Vaters als liebenswerter, aber nicht mehr zeitgemäßer Figur verdeutlicht ein weiteres Mal Fellinis mitleidlosen Blick auf die Verlustgrößen, die mit der Etablierung einer modernen Großstadtkultur unwiderruflich einhergehen. Signore Rubinis Walzer bleibt ein seltenes Moment der Utopie in Fellinis filmischen Tanzinszenierungen, ist darin zugleich aber nur ein fernes Echo einer längst untergegangenen Tanz-, Lebens- und Liebeskultur. Neben das angeführte Moment des solipsistisch-narzisstischen Solotanzes treten andere Figurationen des solistischen Tanzens mit deutlich anderer Semantisierung. Es handelt sich hierbei um kurze, durchweg sehr schnell wieder abge- oder unterbrochene Bewegungsfragmente, Manifestationen temporärer Selbstvergessenheit in einer jedes Regelwerk und jede Choreographie sprengenden tänzerischen Lust an der Bewegung. Es sind zudem ephemere Glücksmomente, in denen das tanzende Subjekt vorübergehend in der Lage ist, seine es beobachtende Umwelt mit ihrem Erwartungsdruck auszublenden - und wahrscheinlich gerade deshalb von dieser Umwelt über kurz oder lang wieder in das Geflecht sozialer Zwänge rückgebunden wird. Signifikant in diesem Zusammenhang ist fraglos, dass derartige Tanzfragmente sich häufig an dafür nicht vorgesehenen Lokalitäten zutragen, den gesellschaftlich legitimierten räumlichen und institutionellen Kontext des Tanzens kurzfristig aussetzen und überschreiten. Zu dieser Figuration des Tanzes zählen u.a. die von ‘Ginger’/ Amalia beobachteten Tanzeinlagen der jungen Frau auf dem Parkplatz vor (! ) der Diskothek sowie des dunkelhäutigen Autogrammjägers im Bahnhof von Rom (Ginger e Fred), Cabirias ausgelassener Tanz auf dem Kontakthof (La notte di Cabiria/ Die Nächte der Cabiria 1957) und im Nachtclub [Abb. 2], Silvias kurzfristige Ekstase beim Flamenco (La dolce vita) oder das glückselige Hüpfen des jungen Internatsschülers Guido am Strand (Otto e mezzo). In solchen Szenen artikuliert sich Fellinis ästhetische Utopie einer konstruktiven Regression in einen prä-sozialisierten, prä-rationalisierten Zustand, der seine Protagonisten vorübergehend in die Lage versetzt, (wieder) zu “spielen wie die Kinder” (Fellini 1989, S. 138), bevor entweder die Vertreter der ‘erwachsenen’ Gesellschaftsordnung (die Priester in Otto e mezzo, der eifersüchtige Ehemann in La dolce vita etc.) sanktionierend eingreifen und den Tanz unterbinden, oder die internalisierten Fremdzwänge dafür Sorge tragen, dass die Figuren selbst schamhaft wieder von ihrem Tun ablassen. Kay Kirchmann 278 Abb. 2 (aus La notte di Cabiria) Diesen kurzen Momenten der Selbstverwirklichung im Paar- (Signore Rubini) oder Solotanz steht unterdessen jenes Paradigma des Tanzes bei Fellini diametral gegenüber, das als sein vorherrschendes Inszenierungsmuster des Tänzerischen schlechthin angesehen werden muss: der misslungene und misslingende (Bühnen-)Tanz un- oder minderbegabter Tänzer vor einem zahlenden Publikum: “Th[os]e dances are not compelling as dance. There […] is no contribution to dance, no performance to cheer. Those without talent for dance, dance nevertheless”. (Rohdie 2002, S. 40) Aus der Vielzahl diesbezüglicher Beispiele seien hier nur einige genannt: ‘Ginger’ und ‘Freds’ Step-Tanz im TV-Studio (Ginger e Fred), der Verführungstanz Saraghinas vor den Jungen am Strand (Otto e mezzo), die unfreiwillig komischen Auftritte der Revuegirls in Luci del varieta/ Lichter des Varieté (1950) sowie der Tänzer und Komiker im schäbigen Varieté aus Roma (1972) [Abb. 3]. Es sind v.a. diese Tanzeinlagen, die notorisch - entweder bedingt durch das Unvermögen der Tanzenden (‘Freds’ Schwächeanfall beim Steppen [Abb. 4]) oder durch die entnervten Reaktionen eines gelangweilten Publikums (in Roma wird zwecks vorzeitiger Beendigung des grausigen Schauspiels gar eine tote Katze auf die Bühne geworfen) - eine nachhaltige Unterbrechung, wenn nicht ihr vorzeitiges Ende finden. Die negativen Reaktionen der Öffentlichkeit, vor der und für die diese Tänze aufgeführt werden, erwachsen dabei unmittelbar der Tatsache, dass es sich bei diesen Einlagen um ausgesprochen schlechte Kopien einschlägig bekannter Vorbilder aus der Bühnen- oder Filmgeschichte handelt. Die paradoxe Intention der jeweiligen Performer - nämlich Individualität ausgerechnet durch das Kopieren berühmter Vorbilder erlangen zu wollen - wird vom Publikum negativ auf sie zurückgespiegelt, indem der Charakter der Travestie, zu der Lauter schlechte Kopien … 279 Abb. 3 (aus Roma) Abb. 4 (aus Ginger e Fred) Kay Kirchmann 280 diese Kopien unbeabsichtigt degenerieren, bei ihm lediglich Gelächter und Hohn provoziert. Sam Rohdie fasst das durchgängige Inszenierungsprinzip des Tanzes vor zahlendem Publikum bei Fellini daher folgendermaßen zusammen: “Dances in a Fellini film are usually half-finished, merely glimpsed, often slovenly, laughable, mocking, absurd. […] The performance does not excced the character for its value as dance, but becomes an instrument of caricature […]. […] The dances are travesties, a distorted mirror, resemblances, like metaphors, but the terms are semblances of the thing to itself, that is, a caricature, a mocking double” (ebd., S. 40ff.) Dass diese Performanzen zu reinen Karikaturen verkommen, resultiert aus einer ganzen Summe phänomenaler Unangemessenheiten und Disproportionalitäten: jeweils falsch bzw. unangemessen sind - der (gemessen am Original) völlig triviale Aufführungsort und -kontext, - die Diskrepanz zwischen den künstlerischen Kompetenzen und den körperlichen sowie erotischen Potentialen der Kopierenden und denen der abwesenden Originale, - die fehlakzentuierte Übersteigerung einzelner Bewegungsphasen mangels tieferen Einblicks in die inszenatorischen Qualitäten des nachgeahmten Tanzes, - die offenkundige narzisstische Selbstüberschätzung der Aufführenden und - ihre nicht minder fundamentale Fehleinschätzung der eigentlichen Unterhaltungsbedürfnisse ihres jeweiligen Publikums. Einzig die monströse Saraghina aus Otto e mezzo vermag die pubertären Bedürfnisse ihrer jugendlichen Zuschauer richtig einzuschätzen und bietet ihnen für ein paar zusammengekratzte Lire einen Pseudo-Striptease [Abb. 5], der jedoch allein diesen Jungen und auch dies nur aufgrund ihrer mangelnden Vergleichskompetenzen als erotisch erscheinen mag. Hier nun bleibt es uns als Kinopublikum vorbehalten, mit entlarvendem Gelächter die Travestie als solche zu identifizieren und zu markieren. Angesichts des hier aufgeblätterten Panoramas verschiedener Inszenierungsformen des Tanzes bei Fellini fällt es zunächst schwer, diese auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Ihr verbindendes Element könnte jedoch in jenem Verlust an ‘Ursprünglichkeit’ und ‘Echtheit’ auf ästhetischer, sozialer und vitaler Ebene liegen, die als Bezugsgröße hinter dem Spott des ehemaligen Karikaturisten und filmischen Satirikers Fellini erahnbar wird. Wenn der satirische Angriff immer an die Orientierung an eine verlorengegangene Positivbestimmung rückgebunden bleibt, wenn in der ätzenden Gegenwartskritik immer auch ein Stück Trauerarbeit mit am Werke ist, so könnte letztere sich hier auf eine (vielleicht auch nur phantasmatisch imaginierte) vorgängige Epoche beziehen, in der Tanz noch ‘unmittelbarer’ Körperausdruck und keine Folie sozialer Normativität gewesen ist. Der Moderne jedenfalls spricht Fellini derartige Kompetenzen rundum ab, nicht nur, aber auch, was ihre konkreten Tanzpraxen angeht. Epilog Im Herbst 1987 hatte der Verfasser das außerordentliche Vergnügen, Federico Fellini persönlich kennen zu lernen und ihn auf einem kurzen Spaziergang von seiner Wohnung zur Lauter schlechte Kopien … 281 Abb. 5 (aus Otto e mezzo) Piazza Populo zu begleiten, wo Fellini auf ein Taxi warten musste, das ihn zu den Studios nach Cinecittá bringen sollte (natürlich war in Rom gerade mal wieder ein großer Streik, von dem sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel betroffen waren). Während Fellini - ausgestattet mit seinem legendären Pepita-Hut und dem nicht minder obligatorischen Trenchcoat - auf sein Taxi wartete, hängte er sich mit ausgestrecktem Arm an einer Straßenlaterne ein und schwang daran selbstvergessen wie ein spielendes Kind im Wind hin und her. Es war unübersehbar eine Kopie der einschlägigen Szenen Gene Kellys aus Singing in the rain/ Du sollst mein Glücksstern sein (1952), aber es war wahrlich keine schlechte Kopie … Literatur Buache, Freddy 1969: Le cinema italien d'Antonioni a Rosi au tournant des années 60. Yverdon: La Thièle. Burke, Frank 1996: Fellini's films - from postwar to postmodern. New York: Twayne. Fellini, Federico / Joseph Maria Lo Duca 1961: Das süße Leben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Fellini, Federico 1989: Spielen wie die Kinder. Aus Gesprächen Federico Fellinis mit Journalisten, ausgewählt von Daniel Keel. Zürich: Diogenes. Fellini, Federico 1995: Ich bin ein großer Lügner. Ein Gespräch mit Damien Pettigrew. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Hausmann, Friederike 1994: Kleine Geschichte Italiens seit 1943. Berlin: Wagenbach. Klimke, Christoph (Hg.) 1988: Kraft der Vergangenheit. Zu Motiven der Filme von Pier Paolo Pasolini. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Kay Kirchmann 282 Rohdie, Sam 2002: Fellini Lexicon. London: British Film Institute. Schlappner, Martin 1958: Von Rossellini zu Fellini. Das Menschenbild im italienischen Neo-Realismus. Zürich: Origo-Verlag.