Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4
In die Luft geschrieben
121
2003
Christina Thurner
kod263-40307
In die Luft geschrieben Beobachtungen zur Semiose im zeitgenössischen Tanz Christina Thurner Der vorliegende Essay befasst sich mit Tanz-Zeichen. Die Beziehung von Tanz und Zeichen, von bewegter Körperkunst und Semiose ist ein schwieriges, ein immer wieder andiskutiertes, jedoch - wohl nicht zufällig - bisher nicht erschöpfend untersuchtes Thema. Eine umfassende, differenzierte Untersuchung kann und soll auch dieser Text nicht leisten. Er bietet vielmehr Beobachtungen, die sich auf drei ausgewählte zeitgenössische Choreographien beziehen. Anhand dieser Beispiele sollen essayistisch Perspektiven eröffnet und Denkanstösse gegeben werden zu einem Thema, das es gewiss noch ausführlicher und detaillierter zu analysieren gilt. Geht man von der Definition aus, Semiose sei ein dynamischer Prozess, in dem ein Zeichen seine Wirkung entfalte und in dem Zeichen wiederum auf andere Zeichen verweisen, 1 dann ist diesem Prozess stets schon Bewegung eingeschrieben. Die Bewegung, von der dieser Beitrag handelt, ist somit eine doppelte. Einerseits - es soll ja um Tanz gehen - ist konkrete Bewegung eines oder mehrerer Körper auf der Bühne gemeint. Andererseits berufe ich mich aber auch auf die Bewegung des zeichenhaften Verweisens. Diese beiden Bewegungen fallen nämlich in einigen neueren, sogenannten zeitgenössischen Tanzstücken in signifikanter Weise zusammen. In diesen Stücken reflektiert der Tanz auf der Bühne seine eigene Zeichenproduktion. Im Folgenden soll auf Beispiele solcher Reflexionen eingegangen werden. Dabei gilt es zu zeigen, wie sublim und vielgestaltig der Tanz als nonverbale, flüchtige Kunstform diesen Prozess seiner eigenen Semiose vermittelt. Der zeitgenössische Tanz emanzipiert sich dadurch von dem Klischee der poetischen, überkulturell verständlichen, weil nur gefühlsmässig zu erfassenden Körperkunst und profiliert sich als eine künstlerische Ausdrucksform, die bisweilen sogar metazeichenhafte Züge annimmt. Bevor auf die konkreten, aktuellen Beispiele eingegangen werden kann, müssen zuerst einige theoretische und historische Prämissen vorausgeschickt werden - freilich verkürzt und schematisch. Zeichenträger im Tanz sind bekanntlich die Körper im Raum, wobei ja auch Körper und Raum keine ontologisch gegebenen Grössen sind, eine Erkenntnis, die in der Theorie seit den 1970er und dann besonders in den 1980er/ 90er Jahren auf breiter Basis analysiert wird. 2 Die Körper im Raum bilden, so vermeintlich ‘natürlich’ sie auch erscheinen, ein Zeichensystem, das jeweils historisch, gesellschaftlich und kulturell bestimmt ist. Die (inter-)agierenden Körper auf der Bühne sind stets Zeichenträger, und die Zeichen, die sie produzieren, unterliegen der Macht der Diskurse. Während im 19. Jahrhundert der stilisierte Körper im Ballett das Ideal der Schwerelosigkeit anstrebte, indem er mit den Mitteln der klassischen Tanztechnik das in die Vertikale weisende Elevationsprinzip befolgte, bewegte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christina Thurner 308 avantgardistischen Kreisen der sogenannte ,Naturkörper’ barfüssig und bodenständig im Raum. 3 Ab den 1960er/ 70er Jahren beginnt dann eine kritische und engagierte Reflexion der Körper-Bilder und ihrer Zeichenhaftigkeit, es wird mit diesen Bildern und Zeichen gespielt und experimentiert. Auch der Bühnentanz stellt die Frage nach dem Subjekt und seiner Position im Raum unter veränderten Vorzeichen: Der Körper wird fortan verstanden als (Zeichen-)‘Material’, das nicht mehr re-präsentiert, sondern vielmehr präsentiert; er stellt nicht mehr referentiell Handlungen dar, sondern agiert performativ. 4 Der “postdramatische Körper” - so Hans-Thies Lehmann - zeichne sich “durch seine Präsenz aus, nicht etwa durch seine Fähigkeit zu bedeuten”. 5 Die Hervorhebung der Materialität des Körpers im postdramatischen Theater und dessen Theorie hat sicherlich auch dem Bühnentanz zu grösserer Aufmerksamkeit verholfen. Dazu wiederum Lehmann: “Nicht zufällig ist es der Tanz, an dem sich die neuen Körperbilder am deutlichsten ablesen lassen. Ihn kennzeichnet drastisch, was im postdramatischen Theater überhaupt gilt: er formuliert nicht Sinn, sondern artikuliert Energie, stellt keine Illustration, sondern ein Agieren dar.” 6 Nun wird bei solchen Zuschreibungen zuweilen übersehen, dass sich auch im Tanz besonders ab den 1980er/ 90er Jahren ein experimentelles Genre herausgebildet hat, das sich nicht auf die Demonstration von Präsenz, auf die Artikulation von Energie beschränkt, sondern vielmehr - wie das Theater, jedoch mit noch ausgeprägter auf den Körper konzentrierteren Mitteln - das Spannungsverhältnis zwischen performativer und referentieller Funktion erprobt. Begreift Erika Fischer-Lichte das Theater als “eine performative Kunst par excellence”, weil es “den menschlichen Körper als wichtigstes Ausdrucksmittel und Instrument” einsetze, um auf die Körper der Zuschauer einzuwirken, 7 so müsste der Tanz als reines Körpertheater in der Lage sein, diesen Anspruch noch zu potenzieren. Auch im zeitgenössischen Tanz der letzten Jahre wurden neue Bedingungen für das Zuschauen geschaffen. Die Art des Vollzugs von Gesten wird hervorgehoben, das Publikum soll die Bedeutung einzelner Handlungen aufgrund spezifischer “Wahrnehmungsmuster, Assoziationsregeln, Erinnerungen, Diskurse” erschliessen. 8 Solche Vorführungen/ Performances provozieren eine Rezeption, die zwischen der Wahrnehmung von Präsenz, Repräsentation und Medialität oszilliert. Die Semiose selbst wird inszeniert, das heisst sie wird in der physisch materiellen Demonstration verschoben, verzerrt oder dynamisiert und dadurch immer wieder gestört, unterbrochen und auf ihre eigene Prozesshaftigkeit zurückgeworfen. Mit diesen Prämissen arbeiten massgebliche zeitgenössische Choreographinnen, Choreographen und Performer wie beispielsweise Meg Stuart, Anna Huber, Xavier Le Roy, Jérôme Bel, Gilles Jobin - um nur einige zu nennen - an der Aufsprengung traditionell festgefügter Re-Präsentationsmodelle, Zeichensysteme und ihrer semantischen Dimension. Anhand der Soloarbeit Soft Wear von Meg Stuart soll im Folgenden zunächst exemplarisch gezeigt werden, wie die Choreographin und Tänzerin ihren Körper als Zeichenträger zur Schau stellt, die Zeichenproduktion und Semiose jedoch kunstfertig so dynamisiert und schliesslich in einer solchen Intensität betreibt, dass die Rezipienten die Zeichen nicht mehr zu “lesen”, geschweige denn zu interpretieren vermögen. Sie werden vielmehr Zeugen eines rastlosen Verweisprozesses, in den sie als Rezipienten mit einbezogen werden. Anschliessend wird auf zwei Stücke, Braindance und The Moebius Strip, des Lausanner Choreographen Gilles Jobin eingegangen, der die bewegte Semiose über die Körpergrenzen hinaus betreibt und in seinen Produktionen ein Spannungsfeld zwischen physischer Präsenz und medialer oder ‘Virtual Reality’ aufbaut. In die Luft geschrieben 309 Abb. 1: Meg Stuart: Soft Wear (Videostill) Doch zunächst zu Meg Stuart. Ihr Solo Soft Wear ist im Rahmen eines Städteprojekts mit dem Titel Highway 101 9 entstanden. In T-shirt und Jeans steht Stuart vor dem Publikum. Zuerst bewegt sie nur leicht ihre Schultern, krümmt ihren Rücken, bevor sie sich wieder aufrichtet, ihre Brust herausstreckt, posiert, die Muskeln spielen lässt, um dann zu Boden zu gehen, mit zuckenden Hüften und wechselndem Ausdruck im Blick. Eine Flut von Zeichen produziert Meg Stuart in Soft Wear mittels ihres Körpers. Sie gibt sich übergangslos verklemmt, beklommen, cool, sexy, schlapp oder tobend und demonstriert, dass jeder Körper mehrere ist: Schamkörper, Ausstellungskörper, Lustkörper, Arbeitskörper, Sportkörper, öffentlicher und privater Körper. 10 Doch bald lässt sich angesichts der rasenden Signifikanten nichts mehr deuten, denn Bedeutung ist - dies impliziert das Kurzstück - nur noch flüchtig zu haben. Freilich werden in diesem Stück Tanz Energien artikuliert und Materialität markiert. Darin erschöpft sich das Solo jedoch bei weitem nicht. Bedeutung wird zwar nicht mehr artikuliert, vielmehr wird die Bedeutungs- und Sinnproduktion vorgeführt und reflektiert. Meg Stuart stellt so den medialen Charakter der körperlichen Bewegung zur Schau, eine spezifische Eigenschaft des Tanzes, die auch Giorgio Agamben in seinem Text Noten zur Geste geltend macht, indem er feststellt: “Wenn der Tanz Geste ist, so deshalb, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Vorführung des medialen Charakters der körperlichen Bewegung. Die Geste ist die Darbietung der Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen.” 11 Bereits der schillernde Titel von Stuarts Solo, Soft Wear, weist über die De- Christina Thurner 310 monstration der reinen Präsenz hinaus. Die Metapher für den Körper als pures Material wäre ‘Hardware’. Der homophone Ausdruck ‘Software’, auf den der Titel rekurriert, meint jedoch gerade nichtapparative, “immaterielle” Funktionsbestandteile, die zum Betrieb einer Datenverarbeitungsanlage erforderlich sind. Die immateriellen Daten sind bei Stuart die Zeichen im Prozess der Semiose. Diese trägt (‘to wear’) die Tänzerin auf ihrer körperlichen Oberfläche scheinbar leicht und geschmeidig (‘soft’) wie andere ihre Kleider. Meg Stuart stellt in ihrer Arbeit, für die Soft Wear hier als Beispiel steht, “sich und die Untersuchungsmaterie Körper mit all ihren Implikationen […] auf harte Proben. Ihre Vorstellungskraft und analytische Präzision haben unseren Blick auf diese Materie deutlich verändert.” 12 Durch die Ausstellung der Materialität von Körper-Gesten tritt deren Zeichencharakter hier nicht etwa zurück, wie Fischer-Lichte dies in Bezug auf Robert Wilsons performatives Theater feststellt, 13 vielmehr wird dieser demonstrativ an die Körperoberfläche gebracht. Meg Stuarts Arbeit zeigt gerade, dass körperliche Gesten durchaus einen Zeichencharakter haben können, der sich eben nicht - wie im traditionellen Theater und im Handlungsballett vorausgesetzt - erschöpft in der “Handlung einer Rollenfigur […], in der deren Intentionen, Stimmungen, Gefühle u.ä. zum Ausdruck kommen”, 14 der vielmehr einen dynamischen, flüchtigen Endlosprozess in Gang setzt - die Semiose. An ein solches Verfahren schliesst der Choreograph und Tänzer Gilles Jobin in seinem Stück Braindance an. 15 Er geht aber noch einen Schritt weiter und darüber hinaus und fügt der auf Verweise und auf Irritation angelegten Reflexion herkömmlicher Paradigmen gewissermassen eine sinnliche Wende bei. Braindance stellt so nicht nur eine Reflexion, sondern eine Reaktion des Bühnentanzes im Sinne einer Gegenwirkung auf Medialisierung und Virtual Reality dar. Das Stück beginnt mit einer regelrechten Demonstration der Physis. Auf der kahlen Bühne sind lediglich fünf Körper und ein paar Schaumstoffrollen zu sehen. Ohne je Handlungen und Rollenfiguren darzustellen, ohne narrativ zu werden, allein durch die Anordnung und Präsentation der Körper appelliert Jobins Choreographie eindringlich an unser Archiv von Körperbildern. Mit einer ostentativen Sachlichkeit kommen da zwei Männer immer wieder auf die Bühne, um die drei am Boden liegenden, leblos scheinenden Frauenkörper umzulagern, durch den Raum zu schleifen und ihnen die Kleider vom Leib zu ziehen. Die nackte Haut quietscht, wenn sie über den Boden rutscht; teilweise entblösst bleiben die drei Frauen liegen und erinnern so an zurückgelassene, geschändete Leichen. Oder aber es machen sich gleich vier Menschen an einer Tänzerin zu schaffen, prüfen ihren Körper auf Dehnbarkeit und Reissfestigkeit, indem sie in alle Richtungen an den Gliedern zerren. Im erbarmungslosen Licht zeichnen sich grausam alle Knochen ab und drohen sich aus ihrer Verankerung zu lösen. Unerbittliche Körperversuche sind es, die der Lausanner Künstler zur Schau stellt. Tatsächlich wird hier auf der Bühne niemand versehrt; das Schreckliche läuft in der Vorstellung der Zuschauenden ab. Diese Vorstellung ist geprägt von medial angeeignetem Wissen über Bilder aus Fernsehen, Kino oder aus dem Internet. So evoziert das Stück - gestützt auf dieses medial angeeignete Wissen der Zuschauer - Assoziationen an Krieg, Seuchen, Folter und Misshandlung, die gerade indem sie durch den physisch präsenten Körper vermittelt werden, beklemmend, ja gar körperlich schmerzhaft auf die Betrachter wirken. Es tut sich zwischen den Tanzenden und den Zuschauern, die alle im gleichen Raum anwesend sind, eine Art “Zwischenleiblichkeit” auf, wie Fischer-Lichte einen solchen Effekt in Anlehung an Merleau-Ponty nennt, ein “raum-zeitliches Kräftefeld, das zwischen den Körpern der Beteiligten entsteht und sie - wenn auch durchaus auf unterschiedliche Weise In die Luft geschrieben 311 - affiziert”. 16 Lehmann spricht mit Verweis auf Artaud vom Modell einer “Ansteckung”, einer “Teilhabe” oder einer “mimetischen Verschmelzung” zwischen Performern und Zuschauenden in der theatralen Kommunikation qua Körper. 17 Die Zuschauer assoziieren in Braindance die Zerstörung des Körpers. Dadurch erfahren sie selber eine Irritation. Diese führt zu einer Aufstörung der Sinne und zu einer Destabilisierung. Daran schliesst Jobin Szenen der Körperfragmentierung an, in denen nahezu statisch einzelne Körperpartien ins Scheinwerferlicht gerückt werden, während der Rest der Körper tatsächlich ausgeblendet ist und also als nicht existent erscheint. Diese Bilder sind ästhetisiert; ihre spezifische Ästhetik des Schaurig-Schönen erhalten sie einerseits durch die vorausgegangene Aufstörung der Sinne der Zuschauenden, andererseits durch das Zusammentreffen von einer radikalen Ausstellung der Körperpartien und einer ausgeklügelten Beleuchtung. Durch eine betonte Langsamkeit der Bewegung oder durch die Statik wird der Körper in seiner Gegenständlichkeit vorgeführt und gleichzeitig als Kunstfigur aus dem Raumzeit-Kontinuum heraus genommen. 18 Diese Szenen bei Jobin greifen auf die traditionsreiche Figur der lebenden Skulptur zurück, die - wie Lehmann dies formuliert hat - in besonderer Weise postdramatische Körperpräsenz markiert: “Wenn im Theater der 80er und 90er Jahre das skulpturale Motiv wiederkehrt, so unter ganz anderen Vorzeichen als in der klassischen Moderne. Aus dem Ideal wird ein Angstmotiv. Der Körper wird nicht um seiner plastischen Identität willen ausgestellt, sondern zur schmerzhaften Konfrontation mit dem Unvollkommenen.” 19 Die Körperbilder in Braindance verweisen im Kontext mit den Eingangsszenen des Stück stets unabwendbar, irritierend und verstörend auf konkrete oder eben virtuell “reale” Begebenheiten. 20 In dieses Vexierspiel von Ästhetisierung und Deixis baut Jobin dann seinen überraschenden Schluss des Stückes. Wie aus heiterem Himmel hebt aus dem Off eine Stimme an, das bekannte kosakische Wiegenlied zu singen, “Schlaf mein Kind, ich wieg dich leise …”, bis fast zur Unkenntlichkeit gedehnt, aber wehmütig und kräftig. Plötzlich werden die fragmentierten Körper wieder zu Einheiten hergestellt. Warm und erbarmungsvoll scheinen Musik und Licht die nackten, gebeutelten Figuren auf der Bühne gar zu liebkosen. Nach den medialen Verweisen und der formalen Ästhetisierung steht der Körper wieder als menschlicher Körper auf der Bühne und stellt sich selbstreferentiell in seiner ganzen Präsenz aus. Die Choreographie von Braindance rekurriert also deiktisch auf medial geprägte Vorstellungen und Zeichen, indem sie Reizbilder imitierend zitiert und physisch präsent macht. Die geradezu kathartische Wirkung des Schlusses rührt dann von einem plötzlichen Umschlag in der Diktion sowohl der Körper als auch der althergebrachten Partnermedien im Bühnentanz: dem Ton und dem Licht. Jobins Stück macht deutlich, was der Bühnentanz den ‘Cyborgs’ und den telematischen ‘Virtual Realities’ entgegenzuhalten hat: die Physis nämlich, die der Tanz - performativ und referentiell auf ein ganzes Archiv von Körperbildern und ihre Bedeutungen verweisend - verzerrt, fragmentiert, dem Schein nach destruiert, um sie dann unvermittelt und nur für Momente wieder als harmonische, wenn auch nicht idealische Einheit zu präsentieren. Steht am Schluss von Braindance die Wiederherstellung und Manifestation des menschlichen Körpers, so endet das Folgestück von Gilles Jobin, The Moebius Strip (2001), mit der Auflösung der Physis in der Medialität. Dieses Stück stellt radikaler und grundsätzlicher noch als Soft Wear und Braindance die Frage nach der Position des Tanzes zwischen Präsenz, Präsentation, Repräsentation, zwischen Materialität und Medialität. Auch The Moebius Strip reflektiert dabei die Zeichenproduktion und -rezeption im Tanz als einen Prozess des Ver- Christina Thurner 312 weisens. Der Titel nimmt die Spezifika dieses Prozesses metaphorisch vorweg. Das Möbiussche Band ist eine gedrehte Endlosschlaufe. Beginnt man bei einem Punkt, der Fläche in eine Richtung entlangzufahren, so kommt man nach einer Umdrehung zwar am gleichen Punkt an, jedoch auf der anderen Seite der Fläche, ohne dass man den Rand überschritten hat. Erst nach der zweiten Runde ist man am ursprünglichen Ausgangsort. Der Titel von Jobins Stück verweist also einerseits auf einen endlosen Vorgang. Andererseits steht das mathematische Phänomen des Möbiusbands, das das Vorstellungsvermögen herausfordert, für die Irritation, auf direktem Weg zunächst doch woanders als vielleicht erwartet, nämlich auf der Gegenseite, anzukommen. In Jobins Werk bezieht sich diese Irritation freilich auf die Bedingungen des Tanzes. Es geht im Stück The Moebius Strip scheinbar um die reine Bewegung, die sich aus sich heraus speist und endlos und selbstreferentiell auf nichts Äusseres verweist. Aber auch dieses Endlosband wird gedreht und hat zwei ‘Seiten’: Die eine könnte man wiederum mit der ‘reinen physischen Präsenz’, die andere mit ‘gestischer Mittelbarkeit’ umschreiben. Man gelangt im Laufe der Vorführung einmal auf diese und dann auf die andere ‘Seite’. Immer wieder stellen die Tanzenden eine Art Möbiusband, indem sie sich eine an den anderen reihen, bis jemand ausbricht aus der Leiberkette und Regung zeigt. In diesen Momenten kippt der Tanz jäh von der Demonstration der Materialität zur Repräsentation von Emotionen, Handlungen. Diese oszillierende Bewegung zieht sich durch das ganze Stück und erfasst verschiedene Bereiche. Dabei werden demonstrativ die Parameter des Tanzes erforscht: Der Raum, in dem die Choreographie sich realisiert, wird durch die Bewegung gestaltet. Mit ihren Körpern schreiben die Tanzenden zunächst Geraden in die Luft, sie legen Winkel und rastern so geometrisch den Raum. Diese flüchtige, aber in der Vorstellung eine Weile haften bleibende Rasterung füllen sie erst mit der Zeit auch mit ungeraden Linien, mit Torsionen und immer wieder mit plötzlich bedeutungstragenden Gesten wie Flucht und Verfolgung, Aggression und Abwehr. Auch die Zeit, die zweite wichtige Dimension der Choreographie, wird regelrecht ausgestellt oder, andersherum betrachtet, Zeit wird durch die Bewegung hergestellt. Durch deutliche Rhythmisierung, d.h. wiederholte Forcierung und Bremsung der Bewegung, durch Dehnung und Raffung der Sequenzen, durch den Wechsel von Aktion und Stillstand spielen die Tanzenden mit dem Faktor Zeit. Abb. 2 und 3: Gilles Jobin: The Moebius Strip Fotos: Manuel Vason In die Luft geschrieben 313 Abb. 4: Gilles Jobin: The Moebius Strip Foto: Manuel Vason Schliesslich macht die Experimentier- und Irritierlust auch vor dem Körper nicht halt. Die Tanzenden treten ab, und nur ihre Kleider bleiben liegen als leere Stellvertreter, als Zeichen, die auf die entschlüpften Körper verweisen. Der Hülle entledigt, nur noch in Unterwäsche, kehren die Körper dann zurück und treiben - ähnlich wie in Braindance - ihr Spiel zwischen Konkretion und Abstraktion, zwischen Repräsentation und Präsentation. Sie vollführen Handlungen, die in ihrer Qualität “lesbar” sind als panisch, sinnlich, sanft, grob, die sich jedoch einer bleibenden Interpretation immer wieder entziehen und zu abstrakten ästhetisierten Körpermustern im Raum werden, bis sich daraus unerwartet wieder ein Körper als Zeichenträger erhebt, auf andere Zeichen verweist usw. Gegen Ende des Stücks werden weisse Blätter am Boden ausgelegt, so dass eine Art Matrix entsteht. Auf dieser tanzen die Performer und erscheinen in diffusem Licht wie virtuelle Gestalten. Der Stroboskopeffekt stört ausserdem die Kontinuität ihrer Bewegung. Vor den Augen der Zuschauenden verschwimmt und flackert das Geschehen, verzerren sich die Konturen. Und wie zum Schluss wiederum nur noch die Kleider als Stellvertreter daliegen, Christina Thurner 314 muss man feststellen, dass man beim Schauen förmlich den Übergang verpasst hat vom materiellen Objekt, dem Körper der Tanzenden, zum referentiellen Zeichen, den leeren Kleidern. Durch diese letzte Irritation der Wahrnehmung wird - quasi als optisches Finale - noch einmal der fliessende Übergang von ‘Realität’ zu ‘Virtualität’, von ‘physischer Präsenz’ zur ‘Medialität’ vorgeführt. Mit diesen drei Beispielen sollte gezeigt werden, inwiefern der Tanz seine Bedingungen und seine gattungsspezifischen Möglichkeiten in unserer Zeit reflektiert und als Reflexion auf die Bühne bringt. Es ging auch darum, auf die meines Erachtens noch zu wenig untersuchte massgebliche Stellung des zeitgenössischen Tanzes - oder zumindest einer bestimmten Richtung desselben - innerhalb des postdramatischen oder performativen Theaters aufmerksam zu machen. So vereint die Kunstform ‘Tanz’ traditionellerweise zwei Merkmale, die in letzter Zeit von Theaterwissenschaftlern wie Erika Fischer-Lichte und Hans-Thies Lehmann (einmal mehr) als paradigmatisch für eine neue Theatralität geltend gemacht werden: Er operiert mit dem menschlichen Körper als zentralem Medium, und er hat gleichzeitig einen flüchtigen, transitorischen Charakter. Indem der zeitgenössische Tanz in evidenter Weise von seinen Mitteln Gebrauch macht, um diese Merkmale auszustellen und regelrecht zu inszenieren, kommt ihm eine Bedeutung zu, auf die in den Theater- und Kulturwissenschaften zwar immer wieder hingewiesen wird, die jedoch für die Bestätigung dieser Thesen noch wenig fruchtbar gemacht worden ist. Wie ich gezeigt habe, gilt für diesen Tanz namentlich auch, was Fischer-Lichte für das Theater formuliert hat: “Indem Theater mit überlieferten Vorstellungen, Regeln und Strategien von Performance, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung spielt, […] definiert es diese Begriffe neu.” 21 Freilich wird ‘Theater’ hier auch als Überbegriff für verschiedene performative Künste und für das Ereignis der theatralen Aufführung gebraucht. Indem solche Aufführungen “mit ihrer Materialität, Medialität und Semiotizität spielen, spielen sie […] auf folgenreiche Weise zugleich mit den Konzepten von Performativität und Ereignishaftigkeit, die sie sowohl erweitern als auch konkretisieren. […] Aufführung erscheint als ‘Ort’, an dem geläufige und für unsere Kultur grundlegende Gegensätze wie die zwischen Signifikant und Signifikat, Sinnlichkeit und Sinn, Wirkung und Bedeutung, Präsenz und Repräsentation als Gegensätze aufgehoben werden, ohne dass doch verbleibende Differenzen verwischt würden. Allerdings erfahren diese Differenzen im Spiel durch das Spiel immer neue Verschiebungen.” 22 Eine solche Art von Aufführung bieten alle drei hier geschilderten Werke zeitgenössischen Tanzes. Spielerisch stellen und behandeln sie zeitgemäss theoretische Fragen. Sie können so - in Anlehnung an Mieke Bal - als “theoretische Objekte” bezeichnet werden, in denen sich Theorie und Praxis verbindet und die eine “Art des Theoretisierens” evozieren, die dynamisch ist und “nicht zu einer Schlussfolgerung von Wissen-als-Besitz führt, sondern zu einer fortlaufenden Entdeckung von Unwissenheit, welche […] der Schlüssel zu produktivem Theoretisieren jenseits der Theorie/ Praxis-Scheide ist.” 23 Alle drei hier behandelten Stücke betreiben so auch ein offenes Spiel der Semiose. Dieses führt, wie beschrieben, nicht zu einem Schluss, zu einem Endpunkt der Analyse, sondern zu neuen Fragen, zu offen gelegten Differenzen und Irritationen. Die Zeichen, die in diesen Arbeiten produziert und inszeniert werden, sind zwar flüchtig in die Luft geschrieben, dennoch gilt: “Der unendliche Prozess der Semiose, in dem Zeichen durch Verweise auf andere Zeichen mit Zeichen verbunden sind und aus Zeichen […] neue Zeichen […] entstehen, ist ein dialogischer Prozess.” 24 In den Stücken eröffnet sich zwischen Performern und Zuschauern ein dialogisches Feld, in dem Bedeutungen erzeugt und nachhaltig verhandelt werden. Dieses Feld - Fischer-Lichte nennt ein solches ein “liminales Feld” - “ist nur In die Luft geschrieben 315 Abb. 5: Gilles Jobin: Braindance Foto: Isabelle Meister insofern ein semiotisches Feld, als sich auf ihm eine sich unendlich fortsetzende bzw. fortzeugende Semiosis entfaltet, nicht aber in dem Sinn, dass hier ganz bestimmte Bedeutungen hervorgebracht würden. D.h. das liminale Feld ist zu verstehen als Frei- und Spielraum, welchen die künstlerische Performance allen Beteiligten - Performern und Zuschauern - eröffnet, um […] mit allen möglichen Relationen und Bedeutungen experimentieren […] zu können.” 25 Sowohl der semantisch vervielfältigte Körper in Meg Stuarts Soft Wear als auch die ostentativen Körperversuche in Gilles Jobins Braindance und die physisch medialen Endlosverweise in The Moebius Strip sollen hier als Beispiele dafür stehen, wie der Tanz, der lange Zeit bezüglich Beachtung und Ansehen anderen Künsten nachstand, aus seinen charakteristischen Merkmalen und Möglichkeiten plötzlich Paradigmen entstehen lässt, die im Fokus der Theorie stehen. Oder anders herum formuliert: Die Theorie hat sich in das liminale Feld der Tanzperformances vorgewagt, sich dort inspirieren lassen, und sie kann da, wenn sie sich einlässt, wohl noch einiges in Erfahrung bringen. Anmerkungen 1 Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, 227, in Anlehnung an Charles Sanders Peirce: “Semiose ist der Prozess, in dem ein Zeichen seine Wirkung entfaltet. […] Der dynamische Prozess der Semiose […] ist ein unendlicher Prozess des Verweisens von Zeichen auf andere Zeichen im Verlauf der Interpretation dieser Zeichen.” Vgl. dazu auch die eher Anwender orientierte Definition von Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 164: “Als eine Christina Thurner 316 Semiose ist der Prozess einer Zeichenverwendung (als Produkt oder Rezeption) definiert, als dessen Resultat Bedeutung erzeugt wird. Dieser Prozess vollzieht sich in den drei semiotischen Dimensionen: der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension.” 2 Vgl. zum Körperkonzept beispielsweise die Studie von Rudolf zur Lippe, Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Reinbek bei Hamburg 1988, die grundlegende Beiträge seines zweibändigen Werkes Naturbeherrschung am Menschen, Frankfurt a.M. 1974, zur Körpergeschichte zusammenfasst. Entscheidend geprägt, neu gedacht und radikalisiert wurde der Körperdiskurs später in der Gender- Debatte, so zum Beispiel von Judith Butler in ihrem Buch Bodies that Matter, in der deutschen Übersetzung: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997. Butler beruft sich dabei u.a. auf Michel Foucault. Vgl. zur Wahrnehmung und zu den Verhandlungen des Körpers in der Moderne auch Brandstetter, ReMembering the Body. Zur Geschichte der abendländischen Raumtheorien informiert u.a. Max Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt 1960. 3 Vgl. zu den Körperkonzepten im Tanz auch Brandstetter, Bewegung, die unter die Haut geht; und dies., Intervalle, hier 225. 4 Vgl. zum Verhältnis von referentieller und performativer Funktion des Theaters auch Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, 14ff. 5 Lehmann, Postdramatisches Theater, 368. (Hervorhebung im Original) 6 Lehmann, Postdramatisches Theater, 371. (Hervorhebung im Original) 7 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 16. (Hervorhebung im Original) 8 Vgl. dazu auch Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, 16, die diesen Vorgang wiederum in Bezug auf das performative Theater beschrieben hat. 9 Das Projekt wurde im März 2000 im Kaaitheater in Brüssel begonnen und dann in Wien, Paris, Rotterdam und Zürich fortgeführt. 10 Vgl. zum vielfachen Körper auch Lehmann, Postdramatisches Theater, 362. 11 Agamben, Noten zur Geste, 103. (Hervorhebung im Original) 12 Ploebst, no wind no word, 35. 13 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 147: “Das Betonen der Materialität (im Sinne ihrer Körperlichkeit, Räumlichkeit) der Geste lässt ihren möglichen Zeichencharakter zurücktreten.” 14 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 147. 15 Braindance wurde 1999 uraufgeführt. 16 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 150. Vgl. dazu Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, insbes.187f.: “Die Reversibilität des Sichtbaren und des Berührbaren öffnet uns zwar noch nicht dem Unkörperlichen, aber doch einem zwischenleiblichen Sein, einem präsumptiven Bereich des Sichtbaren und des Berührbaren, der sich weiter ausdehnt als die Dinge, die ich gegenwärtig berühre und sehe. Es gibt einen Zirkel […] von Sichtbarem und Sehendem, […] es gibt sogar Einschreibung des Berührenden in das Sichtbare, des Sehenden in das Berührbare, und umgekehrt gibt es schliesslich eine Ausbreitung dieses Austauschs auf alle Körper desselben Typus und Stils […].” 17 Lehmann, Postdramatisches Theater, 369. 18 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 374. 19 Lehmann, Postdramatisches Theater, 379f. 20 Das Stück Braindance ist erklärtermassen eine Weiterführung von Gilles Jobin Choreographie A+B=X. Schon dort geht es um Körperstudien; während jene ästhetisch kühl von jeglichem Menschlichen abstrahieren, kommt in Braindance eben dieser Aspekt wieder hinzu, und aus den kunstvollen, verblüffenden Spielereien werden regelrechte Versuche an Körpern. 21 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 290. 22 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 343. 23 Bal, Performanz und Performativität, 206. 24 Nöth, Handbuch der Semiotik, 227. 25 Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, 27. Literatur Agamben, Giorgio: Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik. Tübingen 1992. S. 97-107. In die Luft geschrieben 317 Bal, Mieke. Performanz und Performativität. In: Huber, Jörg: Kultur - Analysen. Interventionen von Dirk Baecker, Mieke Bal u.a. Zürich 2001. S. 197-241. Brandstetter, Gabriele: Bewegung, die unter die Haut geht - Körperkonzepte im modernen Tanz. In: Der Tanz der Dinge. Schweizer Tanzmagazin, März-Mai 1998. S. 4 -7. Brandstetter, Gabriele: Intervalle. Raum, Zeit und Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts. In: Bergelt, Martin; Völckers, Hortensia (Hgg.): Zeit-Räume. Zeiträume - Raumzeiten - Zeitträume. München, Wien 1991. S. 225 -269. Brandstetter, Gabriele; Völckers, Hortensia (Hgg.): ReMembering the Body. Ostfildern-Ruit 2000. Fischer-Lichte, Erika: Auf dem Weg zu einer performativen Kultur. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Bd. 7, Heft 1/ 1998. S. 13 -29. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen, Basel 2001. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. v. Claude Lefort. Übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1994 (= Übergänge Bd. 13). Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. Ploebst, Helmut: no wind no word. Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels. New choreography in the society of the spectacle. 9 Portraits: Meg Stuart, Vera Mantero, Xavier Le Roy, Benoît Lachambre, Raimund Hoghe, Emio Greco / PC, Jo-o Fiadeiro, Boris Charmatz, Jérôme Bel. München 2001.
