Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4
Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform
121
2003
Claudia Rosiny
kod263-40331
Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform Bedeutungsebenen in Monoloog von Anne Terese de Keersmaeker Claudia Rosiny Videotanz bezeichnet eine junge intermediale Kunstform, bei der sich Tanz und Film respektive Video vermischen - Choreographien für die Kamera, die auf einer Theaterbühne nicht möglich wären. Bei einigen dieser Videotänze bildete eine Bühnenchoreographie die Vorlage, sozusagen das tänzerische Bewegungsmaterial für eine filmische Neufassung. Die Filme der britischen Gruppe DV 8 Physical Theatre wie Dead Dreams of Monochrome Men, Strange Fish oder Enter Achilles, entstanden in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, sind solche Beispiele. Da Filme, vor allem wenn sie im Fernsehen ausgestrahlt werden, ein viel grösseres Publikum erreichen, sind die genannten DV 8-Filme oftmals bekannter als die jeweils gleichnamigen Bühnenwerke. Wer Bühnen- und Filmversion kennt, sieht die Eigenständigkeit und unterschiedlichen Wirkungsweisen beider Varianten trotz gleicher Bewegungsabläufe und Handlungslinien. Bei anderen kreieren Choreographie und Regie gemeinsam ein Werk direkt für die Kamera. Mit Wurzeln in den Vereinigten Staaten verbreitete sich der Videotanz parallel zu einem wachsenden Interesse am Bühnentanz mit neuen Variablen im Tanztheater und postmodernen Tanz ausgehend von Frankreich ab Anfang der achtziger Jahre in Europa. Als Pionier einer direkt für die Kamera inszenierten Choreographie gilt Merce Cunningham, ebenso Vaterfigur des postmodernen Tanzes, der bereits in den siebziger Jahren mit der unterschiedlichen Wirkungsweise von Zeit und Raum auf dem Fernsehmonitor experimentierte. In seiner Zusammenarbeit mit dem zu jener Zeit bei der Company fest angestellten Filmemacher Charles Atlas oder mit dem Videokunstpionier Nam June Paik in Merce by Merce by Paik erkundete er damals schon elektronische Möglichkeiten des Videomediums. In weiteren Arbeiten wie Fractions I, Locale oder Channels/ Inserts untersuchte er die Eigenheiten des filmischen Raumes und die unterschiedliche Wirkung filmischer Zeit. Bemerkenswert ist, dass Cunningham auch bei den allerjüngsten Tanzexperimenten mit dem Computer wieder zur Avantgarde zählt und beispielsweise das Programm LifeForms mitentwickelte. 1 “I work in video and film because they are visual media that interest me. I’m interested in making things come alive in a smaller space like the television or movie screen. And I like the way film or television has of refocusing or refreshing the eye.” 2 Anfang der achtziger Jahre tauchten Tanzvideos in grosser Zahl mit der Einrichtung eigener Videotheken und Screenings auf Festivals in Frankreich auf, beispielsweise 1982 in Avignon, darunter auch eines der ersten Cunningham-Werke Blue Studio: Five Segments, in dem Cunningham selbst vor der Kamera tanzend mit dem Blue-box-Verfahren experimentierte. Nachdem in den Vereinigten Staaten bzw. Kanada in den siebziger Jahren auch schon K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Claudia Rosiny 332 einschlägige Festivals und Fachtagungen stattfanden, beispielsweise das älteste tanzspezifische Filmfestival Dance on Camera, das seit 1972 jährlich von der 1956 gegründeten Dance Films Association ausgerichtet wird, entstand auf europäischem Boden erstmalig 1988 mit dem Grand Prix Vidéo Danse ein internationales Forum. Die Einrichtung in Frankreich fiel zudem mit einer Deklaration des gleichen Jahres zum Jahr des Tanzes durch den damaligen Kulturminister Jack Lang zusammen. Dadurch erlangte sowohl der zeitgenössische Tanz als auch eine neue Form in der Verbindung mit filmischen Medien in Frankreich eine grössere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Es fällt auf, dass sich viele Protagonisten des zeitgenössischen Tanzes parallel auch dem Videotanz widmeten. Entsprechende Choreographinnen und Choreographen in Frankreich, die teilweise bis heute sowohl für die Bühne als auch im Film arbeiten, sind: Joëlle Bouvier / Régis Obadia, Jean-Claude Gallotta, Philippe Decouflé, Régine Chopinot, Mark Tompkins. In Belgien sind dies auch heute noch Wim Vandekeybus und Anne Teresa de Keersmaeker, deren Videowerk Monoloog aus dem Jahre 1989 im zweiten Teil dieses Aufsatzes exemplarisch untersucht werden soll. Auch Cunninghams Vorreiterfunktion sowohl im Tanz als auch im Videotanz entspricht diesem doppelten Interesse. In Frankreich hatte ausserdem das Kulturministerium Anfang der achtziger Jahre Projektgelder zur Stimulierung audiovisueller Experimente im Tanz zur Verfügung gestellt. Aus dieser frühen Zeit, aus dem Jahr 1984 stammen beispielsweise die 13minütigen Kurzwerke Jump von Philippe Decouflé und Rude Raid von Régine Chopinot. Zwischen den neuen Bühnenentwicklungen und diesen filmischen Arbeiten scheint, oberflächlich betrachtet, ein Widerspruch zu liegen, vermitteln doch die zeitgenössischen Bühnenformen, besonders die des Tanztheaters starke emotionale Implikationen sowie eine alle Sinne ansprechende körperliche Direktheit, während Film- und Videobilder eine entsprechende Wirkung primär nur visuell und akustisch in einer eindimensionalen Kommunikationsrichtung auslösen können. Dieser scheinbare Gegensatz erweist sich bei näherer Betrachtung als Quelle gegenseitiger Beeinflussung und Befruchtung. Man denke nur daran, wie in der Bühnensprache des zeitgenössischen Tanzes zunehmend dem Film entlehnte Fragmentierungen verwendet werden. Dies resultiert aus veränderten Wahrnehmungsstrukturen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, wie Bernard Noël (1991: 23) diese Entwicklung beschriebt: “Der Kern des Problems ist heute vielleicht der, dass sich unsere Sichtweise der Dinge verändert, so wie sich mit der Entdeckung der Perspektive einst die Sichtweise der Renaissance veränderte. Wir müssen die Dinge neu sehen lernen.” 3 . Vorläufer und parallele intermediale Felder Der Tanz ging bereits seit Beginn von Filmgeschichte und moderner Tanzgeschichte zur Wende zum 20. Jahrhundert eine Hassliebe mit den filmischen Medien ein. “Dance is threedimensional, television is two-dimensional. End of argument.” 4 Mit diesem keine weitere Diskussion zulassenden Satz beschrieb noch Anfang der achtziger Jahre der New Yorker Kritiker Clive Barnes (1982: 46) die Unvereinbarkeiten. Tanz braucht die Weite des Raumes, Video spielt sich auf der matten Scheibe einer kleinen Box ab. Dennoch verband sich die raumorientierte Bewegungskunst mit einem bewegten Zeitbild durch die Geschichte der filmischen Medien. Von den Stummfilmen über erste Fernsehversuche bis hin zum Videoeinsatz bei zeitgenössischen Tanzcompagnien heute entstanden immer wieder experimentierfreudige Fusionen. Videotanz stellt also keine neue Kunstform dar, sondern ästhetische Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform 333 Merkmale und Wahrnehmungsmechanismen haben Bezüge zu historischen Vorläufern anderer Kunstrichtungen, besonders zu den filmischen Experimenten der Avantgarde der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Schliesslich ist der Videotanz eine Erscheinungsform unter vielen hin zur gegenwärtigen zwischen allen Kunstsparten auftretenden Intermedialität, der Hybridisierung und Vermischung künstlerischer Ausdrucksformen, deren Ursprünge ebenfalls bereits in den ersten Dekaden des letzten Jahrhunderts zu suchen sind. Intermediale Praktiken durchziehen parallel seit der Theateravantgarde der zehner und zwanziger Jahre über die Happening- und Fluxusbewegung der sechziger Jahre bis zur Performance-Kultur auch die Geschichte der darstellenden Künste. Solche Spielarten der bildenden Kunst wurden beispielsweise von John Cage und seiner frühen Zusammenarbeit u.a. mit Merce Cunningham Anfang der fünfziger Jahre am Black-Mountain-College in North Carolina stimuliert, wo u.a. Robert Rauschenberg und Allan Kaprow bei emigrierten Bauhaus-Künstlern studierten. Durch Multi-Media-Projekte zeichnen sich insbesondere die Tanzschaffenden der sechziger Jahre in New York aus, die oftmals in Cunninghams Company gewachsenen Vertreterinnen und Vertreter des Post-Modern Dance, neben der unabhängigen Meredith Monk vor allem die Gründerinnen des Judson Church Movement Yvonne Rainer und Trisha Brown sowie Twyla Tharp. Auch Lucinda Childs arbeitete mit Rainer und wirkte ausserdem in einigen Werken von Robert Wilson mit, beispielsweise in der Wilson/ Glass-Oper Einstein on the Beach, von der auch eine Videointerpretation gemacht wurde. Über die Happening- und Fluxusbewegung ist eine multimediale Theaterpraxis nicht nur im Tanz zu beobachten, sondern eine Entwicklungslinie lässt sich bis zu neuen Theaterpraktiken der siebziger und achtziger Jahre einer Wooster Group in New York oder eines Giorgio Barberio Corsetti in Italien ziehen. 5 Ein weiteres intermediales Feld, das heute auf vielen Tanzbühnen eine Fortsetzung findet, sind Videoprojektionen in Form von bewegten Tanzkulissen - bunte Bilder, die im schlechteren Fall zu einer den Tanz überflutenden Dekoration werden, im besseren Fall eine Ergänzung und Interaktion mit der Bewegung auf der Bühne bieten. Und nicht zuletzt hat die Mediatisierung allgemein auch zu einer Filmisierung, zu einer filmischen Ästhetik von Unterbrechung und Montage im Tanztheater und zeitgenössischen Tanz geführt, wie dies zum Beispiel für die Stücke von Pina Bausch typisch ist. Relevante Entwicklungsschritte in der Filmgeschichte Die ersten Versuche Tanz auf sich bewegenden Bildern festzuhalten, machten bereits Filmpioniere wie Thomas Edison oder Georges Méliès. Damals hatte die Kamera noch einen festen Standpunkt, sie wurde weder durch Schwenks noch Fahrten bewegt und benutzte nur ein festes Objektiv. Diese ersten Tanzfilme waren kurze Reproduktionen von einfachen Tänzen. 1894 z.B. zeichnete Thomas Edison einen zweiminütigen Tanz von Ruth Dennis auf. Kamerabewegungen wurden erst später angewendet, beispielsweise in D.W. Griffiths Film Intolerance von 1916, in dem wiederum die inzwischen unter dem Künstlernamen Ruth St. Denis bekannt gewordene Ruth Dennis tanzte. Überhaupt agierten in den Filmanfängen viele Tänzerinnen, denn im Stummfilm waren vor allem Bewegungsausdruck und Gestik gefragt. Experimente von Tanz im Film erprobten beispielsweise Georges Méliès und Emile Cohl in Frankreich mit Ausschnitten von Loïe Fuller. Fullers Schleiertänze mit ihren auf Stoffe projizierten farbigen Lichtspiele wiesen eine vom Film beeinflusste Ästhetik auf. 1919 Claudia Rosiny 334 realisierte sie mit Le Lys de la vie sogar einen ersten eigenen Experimentalfilm. Entwicklungslinien zwischen reproduktiven, d.h. dokumentarischen Werken und experimentellen, d.h. künstlerischen Filmen durchziehen die weitere Film-, Fernseh- und Videogeschichte, ohne dass immer eindeutige dichotome Trennungen gezogen werden können. Ein wichtiger technischer Entwicklungsschritt für den Tanzfilm war die Entwicklung des Tonfilms in den späten zwanziger Jahren, denn nun erst konnte die für den Tanz so wichtige Musik synchronisiert werden. Auffallend war, dass in der Anfangszeit des Tonfilms die Kamera zuerst wieder weniger bewegt wurde und den festen Platz im Zuschauerraum einnahm. Tanzszenen waren jedoch im Kino fast ausschliesslich Zwischenspiele in einem narrativen Film. Analoge Muster finden sich bis heute in Kinowerken mit Tanzthemen wie beispielsweise in Dirty Dancing, Fame, A Chorus Line, West Side Story, Strictly Ballroom etc. Während die vogelperspektivischen Aufnahmen von “Girl”-Ornamenten und aufwändigen Kamerafahrten eines Busby Berkeley fast in Vergessenheit geraten sind, blieben Fred Astaires Filmmusicals bis heute populär. Zwischen 1933 und 1957 gestaltete Astaire rund 150 Tanznummern. Er prägte einen konservativen Stil der Dokumentation von Tanz: Nicht nur sollte die Kamera passiv bleiben und stets den ganzen Körper im Bild behalten, auch Schnitte durften die Integrität der Choreographie nicht stören und waren, falls überhaupt eingesetzt, kaum wahrnehmbar. Seine Ansprüche an die Kamera, die ausschliesslich im Dienste des Tanzes zu stehen hatte, beeinflussten nicht nur die Musical-Generation Hollywoods von den frühen dreissiger bis in die späten fünfziger Jahre - unter ihnen vor allem Gene Kelly -, sondern der Musical-Film legte allgemeine Grundsätze für die Reproduktion von Tanz im Film bis heute fest. Wichtige Impulse für einen gewagteren Einsatz von Kamera und Montage gaben Experimentalfilmer wie Fernand Léger, Maya Deren, Ed Emshwiller, Shirley Clarke, Norman McLaren oder Hilary Harris, die Tanz zum Thema ihrer Filme machten. Maya Derens dreiminütiges Werk A study in Choreography for the Camera aus dem Jahre 1945, in dem ein Tänzer in Zeitlupe in einem einzigen Sprung mittels Montage durch verschiedene Räume zu gleiten scheint, kann als früher Meilenstein für die Entwicklung des Videotanzes gesehen werden. Zeit und Raum werden durch filmische Mittel verfremdet. Der Tanz erhält dadurch eine Schwerelosigkeit, die auf einer Bühne nicht möglich wäre. Mögliche Methoden zur Untersuchung von Filmbeispielen Seit der Entwicklung des Videotanzes ausgehend von den Vereinigten Staaten und, wie dargelegt, seit Mitte der achtziger Jahre sich in Europa ausbreitend, lassen sich im kreativen Umgang mit der Kamera unterschiedliche Konzepte für Kamera-Choreographien analysieren. In einer ersten grösseren Untersuchung habe ich versucht, neben einer quantitativen Analyse zu Merkmalen von Kategorien, Längen, Besetzungen etc. diese unterschiedliche Konzepte mittels verschiedenen Zuordnungen zu konzeptionellen Ansätzen in einem ästhetischen Panorama auszubreiten. 6 Die gewählten Parameter waren Körper, Kamera, Raum, Zeit, Ton elektronische Bildstrukturen und Narration der Bewegung, zu denen folgende abschliessende Thesen formuliert wurden: Körper Im Videotanz zeigen sich Ausdrucksweisen des zeitgenössischen Tanzes, Alltagsbewegungen und Stilelemente aus dem Tanztheater oder eines physisch orientierten Tanzes, beispielsweise Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform 335 der Contact Improvisation. Diese Formen sind schon für sich durch Merkmale wie Wiederholungen und Unterbrechungen gekennzeichnet, die auch im Film wirksam werden. Videotanz spielt mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen, mit dem Abbild des Körpers auf unterschiedlichen Ebenen medialer Repräsentation. Kamera Im Videotanz wird die Kamera zum wichtigen Bewegungselement. Sie kann Bewegungen intensivieren oder aufheben, in ihrer Räumlichkeit variieren und verfremden, kann distanziert beobachten oder “mittanzen” und so eine kinästhetische Wirkung, eine Art Mittanzen der Muskeln der Zuschauenden auslösen. Raum Videotanz sucht analog neuen Theater- und Tanzformen Räumlichkeiten ausserhalb von gewöhnlichen Theaterräumen: leere oder markante Gebäude, Landschaften und realistische Umgebungen. Im Videotanz unterstützen die gewählten Räumlichkeiten ein mögliches narratives Motiv. An den räumlichen Übergängen, an den Schnittstellen der Montage eröffnen sich mediale Möglichkeiten, die die Wahrnehmung irritieren können. Zeit Videotanz baut auf illusionsbildenden Zeitstrukturen und assoziativen Bilderreihen. Dabei werden oft geschlossene Dramaturgien, jedoch ohne eine narrative Auflösung verwendet. Im Videotanz werden zeitverfremdende Mittel eingesetzt: Zeitlupe, Zeitraffer und Stoptricks können eine eigene Bewegungszeit der Bilder konstruieren. Tonebene Im Videotanz dient die Tonebene - wenn Originaltöne der Tanzenden oder eine akustische Atmosphäre nicht sogar ganz fehlen - mehrheitlich wie im Spielfilm einer Untermalung. Gelegentlich entstehen eigene Konzepte aus einem Kontrast von Bild- und Tonebene. Elektronische Bildstrukturen Im Videotanz werden elektronische Bildstrukturen manchmal im Sinne einer inneren Montage in erzählerische Strukturen eingearbeitet. Bei einer Dominanz des Visuellen verschwindet dagegen die körperliche Ausdruckskraft auf dieser aufgelösten Bildebene. Narration der Bewegung Videotanz bedient sich filmischer Erzählweisen, in denen Ausdrucksarten des Körpers und der Bewegung die Geschichten motivieren. In diesen Konzepten vermischen sich alle Aspekte des Einsatzes von Körper, Kamera, Raum, Zeit, Tonebene und elektronischen Bildmanipulationen zu intermedialen, zugleich originellen Kunstwerken. Dabei ist es unwesentlich, ob Ideen und Material von einer Bühnenchoreographie stammen oder direkt für die Kamera entwickelt werden, zumal vom Produkt selbst diese Unterscheidung oft nicht gezogen werden kann. Durch derartige gelenkte Sichtweisen konnten zwar viele Filme in Ansätzen angeschaut und einzelne konzeptionelle Merkmale herausgearbeitet werden. Es unterblieb jedoch eine komplexere und detailliertere Analyse von einzelnen Werken. Auch lief diese Zuordnung Claudia Rosiny 336 Gefahr einer zu starken Schematisierung, hätten doch einige der gewählten Filmbeispiele gleichermassen unter verschiedenen Blickwinkeln ausgewählt und besprochen werden können. Dennoch scheint es mir ein mögliches methodisches Vorgehen, Filmbeispiele unter zuvor gesetzten Parametern zu beleuchten, um dadurch nicht nur konzeptionelle Merkmale herauszuarbeiten, sondern mit diesem differenzierten Transfer eines audiovisuellen Beispieles in eine Textinterpretation auch unterschiedliche Zeichencodes und Bedeutungsebenen herauszuarbeiten. Das folgende Beispiel Monoloog von Anne Teresa de Keersmaeker stand bei meiner damaligen Analyse für einen auffallenden Gebrauch der Tonebene als eigenem Bedeutungsträger, während in fast allen damals untersuchten Beispiele die Tonebene meist nur im Sinne einer Untermalung fungierte. Analyse eines Videowerkes Monoloog (35) Titel: Monoloog voor Fumiyo Ikeda op het einde van Ottone, Ottone Choreographie: Anne Teresa de Keersmaeker • Regie: Walter Verdin Musik: Claudio Monteverdi • Land: Belgien Länge: 5' s/ w • Format: Video • Produktionsjahr: 1989 Das Stück stand - wie der Titel verlauten lässt - eigentlich am Ende einer abendfüllenden Choreographie Ottone, Ottone von Anne Teresa de Keersmaeker, die ein Jahr nach der Filmproduktion des Monologs vom gleichen Regisseur Walter Verdin in eine einstündige filmische Fassung umgesetzt wurde. Während der fünfminütige Monoloog ein Schwarzweiss- Film ist, wechselte Verdin in Ottone, Ottone zwischen Schwarzweiss- und farbigen Bildern. Die Filmfassungen beider Werke mit den gemischten Farbbildern, oft kollidierender Montage und unterschiedlichsten Blickwinkeln und Einstellungsgrössen für die verschiedensten Einzel- und Gruppenaktionen in Ottone, Ottone im Gegensatz zur einzigen schwarzweissen Nahaufnahme in Monoloog sind überhaupt nicht vergleichbar, lassen noch nicht einmal einen Zusammenhang beider Werke vermuten. Zu Monteverdi’s Oper L’Incoronazione di Poppea filmt eine fixierte Kamera in Monoloog in einer Nahaufnahme in einer einzigen Einstellung ohne Schnittunterbrechung nur die Mimik der Japanerin. Aus einer entspannten Ruhestellung wird ganz allmählich eine Anspannung und Bewegung entwickelt, um am Ende wieder in eine Entspannung und Gelöstheit zu kehren. Ein Spiel zwischen Bild- und Tonebene entsteht dadurch, dass die verschiedenen Komponenten - Körperausdruck (nur Mimik), Bild (mit einer Zeitverfremdung in Zeitlupe), Sprache und Musik - auseinanderlaufen und dadurch in sich ergänzender und intensivierender Weise Emotionen wie Wut, Verzweiflung, Schmerz und Erlösung ausdrücken. Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform 337 Folgendes Schema zeigt die zur Dramaturgie verwendeten Zeichensysteme Sprache, Musik, Zeitlupeneinsatz und Mimik im zeitlichen Zusammenspiel während des knapp fünfeinhalbminütigen Werkes: 0 1 2 3 4 5 Sprache Musik Zeitlupe Mimik Die Nahaufnahme von Fumiyo Ikeda, bei der der Kopf oben sowie das Kinn leicht angeschnitten sind, zeigt ihren Kopf zunächst gesenkt, so dass das Gesicht nur halb erkennbar ist. Als erstes beginnt ein suchendes Bewegen der Augen, bevor der Blick kurz in die Kamera gerichtet wird und wiederum nach einem Senken des Gesichts der Mund zu zucken beginnt. Die Vorbereitung zum Sprechen wird dadurch bereits dramatisiert, der Spracheinsatz beginnt erst nach 20 Sekunden synchron im Bild sichtbar. 7 Es sind Wortfetzen und Satzfragmente, die, falls sie aus dem Französischen übersetzt würden, aufgrund von Unvollständigkeiten und Wiederholungen keinen kompletten Sinn ergäben. Es geht aber um einen Beziehungskonflikt - jemand hat sie verlassen und sich für eine andere entschieden, obwohl der Partner immer versichert hatte, es gäbe nur sie. Im Sprachausdruck ist eine stetige Steigerung von Wut spürbar. Der Wutausbruch gipfelt in einem Schrei nach 2'17''. Danach sind nur noch Mimik und Mundbewegungen zu sehen, die allerdings weiterhin verbale Wutausbrüche zum Ausdruck bringen. Bei 1'07'' setzt bereits Monteverdis Musik als asynchrone Tonquelle ein, die bis zum Schluss des Films ein Gesangsduo von einem Mann und einer Frau in italienischer Sprache wiedergibt und kurz vor Ende des Films ausklingt. Als dritte Steigerungsebene zur Dramatisierung setzt bei 1'48'' im Bild eine Zeitlupe ein, die wie die Musik bis zum Ende des Films bestehen bleibt, wobei die verlangsamte Bildqualität in der Phase der Bewegungsentspannung nicht mehr deutlich zu erkennen ist. Durch diese Zeitlupe löst sich die Sprache von einer synchronen Lippenbewegung, jedenfalls solange, wie Textebene und Zeitlupe zusammenlaufen. Diese Phase dauert eigentlich nur 30 Sekunden, dient aber der deutlichen Vorbereitung des dramatischen Klimax mit dem Schrei in Zeitlupe, der durch diese Verfremdung eine verstärkte Zeichenhaftigkeit erfährt. Der Verlauf des Körperausdrucks, also vornehmlich der Mimik mit einzelnen Arm- und Handbewegungen lässt sich wie im Schema dargestellt in einem klaren Spannungsbogen wiedergeben: erste Augen- und Mundbewegungen, eine die Sprache unterstützende Mimik Claudia Rosiny 338 bis zu den Schrei verstärkendes Kopfschütteln (bei 2'30''), das durch die Zeitlupe und den Pagenschnitt ausserdem zu seltsamen Bewegungsmustern mutiert, und zweimaliges Erheben von Fäusten (bei 2'48'' und 3'37''), gesteigert zu zusammen gekniffenen Augen, die ab der vierten Minute mit einer zuerst nur als Ahnung erkennbaren Entspannung ein In-sich-Kehren andeuten, um anschliessend ganz allmählich zu einer wortlosen Entspannung zu finden. Zum Schluss werden die Hände wie zur Beruhigung kurz auf den Kopf gelegt, mit dem Senken des Blicks wiederum gesenkt und Fumiyo Ikeda geht aus dem Bild, so dass als letztes Bild nur ein leerer weisser Raum zu sehen ist. Eindrücklich an diesem Filmbeispiel ist, wie mit der Reduktion der filmischen Mittel und einen ausschliesslich auf den Gesichtsausdruck konzentrierten Tanzausdruck eine ausserordentlich starke Wirkung erzielt werden kann. Das Auseinanderdriften von Bild- und Tonebene durch den gezielten Einsatz einer einfachen Zeitlupe irritiert zuerst, trägt aber in der Folge zu einer Intensivierung der Bedeutungsebene bei. Auch das Zusammenspiel von zwei Tonquellen, der gesprochenen Sprache und der gesungenen Oper, trägt zu einer Verdichtung des Ausdrucks bei. Obwohl Monoloog voor Fumiyo Ikeda aus dem Rahmen üblicher Choreographien fällt, die meist einen erkennbaren Raum brauchen und von Personen zumeist in Ganzkörperbewegungen getanzt werden, zeigt dieses Beispiel doch sehr deutlich, wie wenige konzeptionelle Mittel es selbst im Videotanz braucht, um mit diesen eine Erweiterung der Sinneswahrnehmung zu erzielen. Anmerkungen 1 Eine ausführliche Würdigung und Analyse von Cunninghams vielfältigem Schaffen bietet Sabine Huschka: “Merce Cunningham und der moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik”, Würzburg 2000. 2 Zitat von Merce Cunningam im Katalog des Videovertriebs der Cunningham Foundation, New York. 3 Bernard Noël aus: “Le lieu des Signes”, zit. in: Jean-Marc Adolphe: “Von Quellen und Bestimmungen. Konzepte von Gedächtnis, Bewegung und Wahrnehmung im Tanz Frankreichs”, in: Zeitgeist - Jahrbuch Ballett International, 14. Jg., Nr. 1, Januar 1991, S. 22-29, S. 23. 4 Barnes, Clive: Barnes on …. In: Ballet News, Vol. 4, Nr. 2, August 1982, S. 46. 5 Vgl. hierzu Barbara Büscher: “Theater und Video - jenseits des Fernsehens? Intermediale Praktiken in den achtziger Jahren”, in: Rolf Bolwin, Peter Seibert (Hg.): Theater und Fernsehen. Bilanz einer Beziehung, Studien zur Kommunikationswissenschaft Band 18, Opladen 1996, S. 145 -168. 6 Rosiny, Claudia: “Videotanz. Panorama einer intermedialen Kunstform”, Zürich 1999. 7 Mit den Begriffen synchron und asynchron beziehe ich mich auf die von Siegfried Kracauer begründete Struktur der Bild-Ton-Verknüpfungen. Vgl. Kracauer: “Theorie des Films. Die Errettung der äusseren Wirklichkeit (1. Aufl. 1964), Frankfurt a.M. 1985, S. 158ff.