Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2004
271-2
Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt
61
2004
Jürgen Trabant
Depuis trente ans, Humboldt est présent dans la réflexion linguistique d'Henri Meschonnic. La philosophie du langage de Humboldt est une pensée fraternelle qui sert de point de repère pour la théorie du langage non réductionniste de Meschonnic: "Penser Humboldt aujourd'hui". L'article relève les six moments théoriques les plus importants dans cette lecture française du penseur allemand: le langage comme activité, la priorité du discours avant la langue, la liaison étroite avec la culture et la société, la lute contre le signe, la radicale non-naturalité du langage, le continu. Il esquisse quelques limites de la réception ainsi que quelques différences avec d'autres lectures de l'ɶuvre humboldtienne, notamment en ce qui concerne la mise en relief d'une pensée de la diversité linguistique chez Humboldt. Finalement, l'article accentue l'intempestivité de la pensée de Humboldt.
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Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt Jürgen Trabant Depuis trente ans, Humboldt est présent dans la réflexion linguistique d’Henri Meschonnic. La philosophie du langage de Humboldt est une pensée fraternelle qui sert de point de repère pour la théorie du langage non réductionniste de Meschonnic: “Penser Humboldt aujourd’hui”. L’article relève les six moments théoriques les plus importants dans cette lecture française du penseur allemand: le langage comme activité, la priorité du discours avant la langue, la liaison étroite avec la culture et la société, la lutte contre le signe, la radicale non-naturalité du langage, le continu. Il esquisse quelques limites de la réception ainsi que quelques différences avec d’autres lectures de l’œuvre humboldtienne, notamment en ce qui concerne la mise en relief d’une pensée de la diversité linguistique chez Humboldt. Finalement, l’article accentue l’intempestivité de la pensée de Humboldt. 1. Seit fast dreißig Jahren ist Humboldt im Werk von Henri Meschonnic präsent. Der erste ausdrücklich “humboldtische” Text Meschonnics stammt aus dem Jahre 1975. Das Kapitel “Humboldt ou le sens du langage” in dem Buch Le signe et le poème ist offensichtlich durch die Begegnung mit Humboldts Hauptwerk angeregt worden, das 1974 zusammen mit anderen wichtigen Texten Humboldts in der französischen Übersetzung von Pierre Caussat erschienen war. Diese Lektüre war, wenn ich es richtig sehe, eine Art Offenbarung, die Entdeckung eines brüderlichen Sprachdenkens, auf das Meschonnic sich von nun an beziehen konnte, gerade auch in seiner Kritik an dem, was ihm an falscher Theorie begegnete: an Peirce, an Chomsky, an der Phänomenologie, an Heidegger und Derrida, d.h. am Semiotizismus, am mentalistischen und formalistischen Universalismus, an einem ahistorischen Sprachdenken, an philosophischer Sprach-Ontologie. Humboldts Bedeutung für das Denken Meschonnics ist seit 1975 stetig gewachsen. 1995 gibt Meschonnic dann sogar ein Buch heraus, das Humboldt im Titel führt: La pensée dans la langue. Humboldt et après und in dem sich der programmatische Artikel “Penser Humboldt aujourd’hui” findet: “Humboldt heute denken”. 1 Zwischen 1975 und 1995 erscheinen zwei weitere wichtige Arbeiten über Humboldt: 1978 das große Kapitel über Humboldt, Saussure und Chomsky und 1985 ein Artikel über die französische Übersetzung von “Über die Aufgabe des Geschichtschreibers”. 2002 widmet Meschonnic dem Verfasser dieser Zeilen den Artikel “Oublier Hegel, se souvenir de Humboldt”. Im vorliegenden Heft schließlich gibt Meschonnic Humboldt mehr Zukunft als Vergangenheit: “Humboldt, plus d’avenir que de passé”. Zusammengenommen würden diese sechs Artikel ein schönes Buch über Humboldt ergeben. Aber es gibt nicht nur diese ausdrücklich Humboldt gewidmeten Arbeiten, sondern eine Gegenwart Humboldts in allen Büchern Meschonnics - bis hin zu solchen Büchern, wo man eine solche Präsenz gar nicht erwartet wie z.B. in dem Buch über Spinoza (Meschonnic 2002b). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Jürgen Trabant 132 Meschonnic ist der französische Sprachdenker, der im Anschluß an - und bald auch in kritischer Auseinandersetzung mit - Caussats Übersetzung Humboldt auf die Tagesordnung der neuesten französischen Sprachreflexion gesetzt hat. Meschonnic ist aber kein Humboldt- Forscher, kein Humboldt-Spezialist im eigentlichen Sinne. Der französische Humboldt- Forscher seiner Generation ist eher Jean Quillien, ein Philosoph, der sich vor allem für Humboldts Anthropologie und nicht für Humboldts Sprachdenken interessiert, was ihm Meschonnics herbe Kritik in “Penser Humboldt aujourd’hui” (1995) eingebracht hat. 2 Meschonnic ist auch kein Humboldt-Forscher wie etwa Jean Rousseau, der in zahlreichen hochgelehrten Arbeiten Humboldts Beitrag für die Geschichte der Sprachwissenschaft thematisiert hat, 3 oder wie jetzt Denis Thouard, der endlich Humboldts Beitrag zur Sprachphilosophie in Frankreich bekannt macht. 4 Meschonnic integriert stattdessen Humboldt in sein eigenes originelles Denken der Sprache. 5 Er behandelt Humboldt nicht als einen historischen Gegenstand oder wie eine Autorität der Vergangenheit, sondern wie einen sehr gegenwärtigen Mitdenker. “Humboldt heute denken” heißt Meschonnics Aufforderung, die diese Präsenz deutlich zum Ausdruck bringt. Humboldt ist einer der drei “Autoren” Meschonnics, die beiden anderen sind Saussure und Benveniste. Die vier “autori” Vicos, auf den ich hier Bezug nehme, waren Platon, Tacitus, Grotius und Bacon. Aber anders als bei Vicos Autoren, welche vier verschiedene Aspekte des Vicoschen Werks betrafen und “Väter” des Vicoschen Denkens waren (“autori” bei Vico sind die “Väter”, die Gründer), repräsentieren Meschonnics drei Autoren eher eine einzige Sache, nämlich ein nicht-reduktionistisches Denken der Sprache. Und wenn sie auch sicher ebenso fundamental sind wie bei Vico, so sind sie doch weniger “Väter” als eher Brüder im Denken, Gefährten, bei denen Meschonnic Kraft für seinen Kampf um die Sprache schöpft, für ein emphatisches Denken der Sprache als Sprache und für die (Wieder)Entfaltung eines “Sprachsinns” in unsere Kultur. Denn die Sprache ist im Exil, sie ist verbannt aus den intellektuellen und wissenschaftlichen Aktivitäten und Bemühungen unserer Kultur. Meschonnic kämpft um ihre Heimholung. Vielleicht ist dies ein sinnloser Kampf, ein seit langem verlorener Kampf. Die causes perdues sind aber nicht notwendigerweise die schlechtesten. “Humboldt heute denken” nennt Meschonnic diesen Kampf, dem ich mich zutiefst verbunden fühle. 2. Um mir die dreißigjährige Präsenz Humboldts in Meschonnics Kampf um die Sprache zu vergegenwärtigen, habe ich nicht nur die genannten, explizit Humboldt gewidmeten Aufsätze wiedergelesen, sondern gerade auch solche Werke aufgesucht, die Humboldt gar nicht ausdrücklich behandeln, die aber Humboldt erwähnen, ihn also als Zeugen für das Denken der Sprache aufrufen. 6 Aus diesen Lektüren gehen die folgenden sechs Momente des Humboldtschen Sprachdenkens als die für Meschonnic wichtigsten theoretischen Elemente hervor. 2.1 Das erste und wichtigste Theorem des Humboldtschen Sprachdenkens in Meschonnics Werk ist sicher die Auffassung von Sprache als Tätigkeit des wirklich sprechenden Menschen: Wir haben es historisch nur immer mit dem wirklich sprechenden Menschen zu tun. (GS VII: 42) Die Rede ist der Ausgangspunkt und der Bezugspunkt jeder Sprachreflexion und jeder wissenschaftlichen Bemühung um die Sprache. Sprache ist - mit dem berühmten aristote- Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt 133 lischen Ausdruck - enérgeia, “genetische”, “hervorbringende”, schöpferische, d.h. im weitesten Sinne poetische Aktivität. Sprache ist gemäß der folgenden berühmten Passage, die in keiner echten humboldtschen Sprachtheorie fehlen darf, “Arbeit des Geistes”: Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens […]. Gerade das Höchste und Feinste […] kann nur, was umso mehr beweist, daß die eigentliche Sprache in dem Acte des wirklichen Hervorbringens liegt, in der verbundenen Rede wahrgenommen und geahndet werden. Nur sie muß man sich überhaupt in allen Untersuchungen, welche in die lebendige Wesenheit der Sprache eindringen sollen, immer als das Wahre und Erste denken. (GS VII: 45f., Herv. J.T.) Alle anderen Theoreme folgen aus dieser fundamentalen Passage, die gleichsam den ganzen Humboldt in nuce enthält. 2.2 Wenn man sich bei allen Sprachuntersuchungen immer die Rede als das Wahre und Erste denken muß, wenn also nur in der Rede die Sprache lebendig ist, dann ist das, was die Sprachwissenschaft produziert, die Abstraktion von Grammatik und Wortschatz aus der lebendigen Rede, notwendigerweise nur “das todte Gerippe” (GS VI: 147) der Sprache. Humboldt fährt daher bekanntlich an der zitierten Stelle aus dem Hauptwerk fort: Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung. (GS VII: 46) Die Sprache als langue im strukturalistischen Verständnis ist eine tote Abstraktion, jede Reduktion der Sprache auf eine solche Abstraktion entspricht nicht der “lebendigen Wesenheit” der Sprache. 2.3 Da die Sprache konkrete Tätigkeit wirklich sprechender Menschen ist, ist sie notwendigerweise in konkreten historischen Kontexten und politischen Gesellschaften situiert. Sprachtheorie ist notwendigerweise auch soziale, politische und historische Theorie. Humboldt verweist daher auch auf seinen Aufsatz über den Geschichtsschreiber und die dort dargelegte Methode historischer Forschung, wenn er in seinem Hauptwerk auf die Methode der Sprachforschung zu sprechen kommt: es ist dieselbe Methode. Meschonnic insistiert oft und eindringlich auf dieser Identität der verschiedenen Theorien: Theorie der Sprache, Theorie der Gesellschaft, Theorie der Politik, Theorie der Geschichte - dieselbe Theorie. Das Humboldtsche Wort, das Meschonnic hier aufruft, ist das der “Wechselwirkung”: die Sprache steht in Wechselwirkung mit allem, was sie umgibt, mit der gesamten Kultur, in der sie hervorgebracht wird. 2.4 Humboldts Sprachauffassung verbietet es, Sprache als Zeichen zu fassen. “Zeichen” ist in der europäischen Tradition eher ein visueller Gegenstand, es ist zumeist statisch oder diskontinuierlich, vor allem ist es sekundär, d.h. seine Materialität verschwindet, um seinem Inhalt Platz zu machen, der beim Zeichen immer die Priorität hat, es ist arbiträr. Das Wort ist Jürgen Trabant 134 für Humboldt aber kein Zeichen. Der Kampf gegen das Zeichen ist gleichsam das einzige polemische Moment im ganzen Werk Humboldts. Humboldt ist ja ein zutiefst unpolemischer, irenischer Denker. Aber die semiotische Sprachauffassung in der Tradition des aristotelischen De interpretatione ist der theoretische Feind Humboldts, ein “Irrtum”, gegen den Humboldt sein ganzes Sprachdenken richtet. In De interpretatione und folglich in der gesamten europäischen Tradition, die von diesem Text abhängt, bezeichnet das Wort - als “arbiträres” Zeichen - den Gedanken (Begriff, conceptus), um ihn anderen mitzuteilen. Die bei allen Menschen gleichen Begriffe würden demnach unabhängig von der Sprache erzeugt, d.h. das Denken entstünde ohne Sprache. Die Sprachen wären dann nur Ensembles von verschiedenen arbiträren Signifikanten, die ein bei allen Menschen gleiches Denken bezeichnen und anderen mitteilen. “Diese Ansicht ist die dem Sprachstudium verderbliche” (GS VI: 119), die Humboldt ausdrücklich korrigieren will, wenn er die Sprache als “das bildende Organ des Gedanken” (GS VII: 53), also als die das Denken selbst produzierende, kognitive Tätigkeit, und nicht als bloß sekundäres Instrument zur Kommunikation eines sprachlos gefaßten Denkens versteht. Meschonnics Gegenbegriff zum “Zeichen” ist der “Rhythmus”, den er zum Schlüsselbegriff seiner Sprachkonzeption gemacht hat. 7 Der entsprechende Terminus Humboldts ist eher derjenige der “Artikulation”. Meschonnics “Rhythmus” gibt wie Humboldts antisemiotische, “artikulatorische” Sprach-Auffassung der Materialität der Sprache ein größeres Gewicht und eliminiert damit auch die sekundäre, nur dienende, instrumentelle Rolle des Signifikanten. An dieser Stelle möchte ich eine kleine Bemerkung zum Rhythmus einfügen. Meschonnic hat Humboldts Bemerkungen zum Rhythmus kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Natürlich nimmt der Rhythmus bei Humboldt nicht die zentrale Stelle ein, die er bei Meschonnic innehat. Kein anderer Sprachdenker hat den Rhythmus so sehr ins Zentrum der Sprachtheorie gerückt wie Meschonnic. Gerade deswegen möchte ich aber die folgende schöne Humboldt- Passage über den Rhythmus aus dem Agamemnon-Vorwort über das Übersetzen zitieren. Überhaupt ist es merkwürdig, daß Meschonnic, dieser große Übersetzer und Theoretiker der Übersetzung, 8 Humboldts Überlegungen zum Übersetzen, die seinen eigenen sehr nahestehen, nur sehr summarisch behandelt. Der Rhythmus, wie er in den Griechischen Dichtern, und vorzüglich in den dramatischen, denen keine Versart fremd bleibt, waltet, ist gewissermassen eine Welt für sich, auch abgesondert vom Gedanken, und von der von Melodie begleiteten Musik. Er stellt das dunkle Wogen der Empfindung und des Gemüthes dar, ehe es sich in Worte ergiesst, oder wenn ihr Schall vor ihm verklungen ist. Die Form jeder Anmuth und Erhabenheit, die Mannigfaltigkeit jedes Charakters liegt in ihm, entwickelt sich in freiwilliger Fülle, verbindet sich zu immer neuen Schöpfungen, ist reine Form, von keinem Stoffe beschwert, und offenbart sich an Tönen, also an dem, was am tiefsten die Seele ergreift, weil es dem Wesen der innern Empfindung am nächsten steht. (GS VIII: 135) Es wäre interessant zu erfahren, wie Meschonnic diese Passage über den Rhythmus als einer “Welt für sich” versteht. Daß der Rhythmus “das dunkle Wogen der Empfindung und des Gemüthes” darstellt, dürfte Meschonnic gefallen. Das Wort “Wogen”, das hier den Rhythmus charakterisiert, findet sich im übrigen auch im Zentrum einer Passage, an der Humboldt die Bewegung sexueller Liebe beschreibt (GS I: 318). 2.5 Humboldt insistiert mehrfach auf dem ganz besonderen Wesen der Sprache. Die Sprache hat kein Analogon im Universum. Dennoch bezeichnet er die Sprache oft mit Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt 135 Ausdrücken, die eigentlich nur auf Naturgegenstände zutreffen, wie etwa “Organismus”, “Organ”, “Instinkt”. Dies ist aber immer nur eine provisorische terminologische Lösung. In Wirklichkeit hat die Sprache für Humboldt kein Äquivalent in der Natur. Daher macht er oft bei der Verwendung solcher naturalistischer Termini ausdrückliche Vorbehalte. So sagt er z.B., wo er die Sprache mit einem Instinkt vergleicht, daß man die Sprache, obwohl es nichts ihr Vergleichbares in der Natur gebe, einen Instinkt, genauer einen “intellektuellen Instinkt der Vernunft” nennen könne (GS IV: 15). Die radikale Nicht-Natürlichkeit der Sprache ist auch ein zentrales Moment der Sprachtheorie Meschonnics. 2.6 Schließlich bezieht sich Meschonnic auf Humboldt im Zusammenhang mit seinem Begriff des “Kontinuierlichen”, das er als für die Sprache wesentlich dem Diskontinuierlichen gegenüberstellt. Wir haben schon gesehen, daß das Diskontinuierliche mit dem Zeichen verbunden ist. Und natürlich ist das Diskontinuierliche oder Diskrete das Ergebnis jeder strukturalistischen Tätigkeit. Die Linguistik muß diskontinuierliche, diskrete Einheiten konstruieren, sie muß diskrete Einheiten aus der konkreten und kontinuierlichen Tätigkeit der Rede abstrahieren. Das Diskontinuierliche ist also das notwendige Resultat der “Skelettierung” der Sprache durch die Tätigkeit der Sprachbeschreibung. Jeder Sprachwissenschaftler weiß im Prinzip, daß das Diskrete und Diskontinuierliche der Sprache der Effekt einer Abstraktionsleistung ist und daß sich die diskreten Einheiten in der sprachlichen Wirklichkeit in einem nicht-segmentierten Kontinuum befinden. Jeder Phonetiker oder Phonologe weiß, daß die Phoneme in der konkreten Rede nicht abgrenzbar sind und daß das lautliche Ereignis ein Kontinuum ist. Da die Schrift, vor allem die Alphabetschrift, die Mutter aller Sprachwissenschaft ist, ist die Bevorzugung des Diskontinuierlich-Diskreten in der Sprachwissenschaft ein Erbe des Skriptismus der Linguistik. Aber, obwohl sie es eigentlich wissen, tendieren die Sprachwissenschaftler dazu, dies zu vergessen und ganz auf das Diskrete zu setzen. Meschonnic kämpft nun in seiner Sprachtheorie, die - wie wir gesehen haben - ja ganz auf die Rede, die enérgeia, die Tätigkeit, abstellt, leidenschaftlich gegen das Diskontinuierliche und beruft sich dabei auf Humboldt als Kronzeugen. Nun findet man aber bei Humboldt eigentlich keine Stelle, an der er das Kontinuierliche gegen das Diskontinuierliche ausspielt. Sicher ist die Sprache, wie wir an der berühmten Stelle aus der Kawi-Einleitung gesehen haben, etwas “beständig Vorübergehendes”. Und sicher steht dieses “beständig Vorübergehende” der Schrift, also dem Festgestellten, “Mumienhaften”, und dem Ergebnis der Sprachwissenschaft, der Grammatik und dem Wörterbuch, dem - extrem diskreten - “todten Gerippe”, gegenüber. Dennoch aber ist für Humboldt das strukturelle Charakteristikum der Sprache nicht so sehr das Kontinuierliche, sondern eher eine Kombination aus Kontinuierlichem und Diskontinuierlichem, nämlich das, was er “Artikulation” oder “Gliederung” nennt. Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Sprache; es ist nichts in ihr, das nicht Theil und Ganzes seyn könnte, die Wirkung ihres beständigen Geschäfts ruht auf der Leichtigkeit, Genauigkeit und Uebereinstimmung ihrer Trennungen und Zusammensetzungen. Der Begriff der Gliederung ist ihre logische Funktion, so wie die des Denkens selbst. (GS V: 122) Jenes beständig Vorübergehende ist “gegliedert”, und die Termini, die diese Gliederung beschreiben, sind “Trennung” oder “Teilung” einerseits und “Verbindung” oder “Zusammensetzung” andererseits. Artikulation ist also gleichzeitig Segmentierung in diskrete Einheiten und kontinuierliche Verbindung dieser Einheiten. Anstelle einer Theorie des Kontinuierlichen finden wir bei Humboldt eher eine Theorie der Artikulation. Und weil dies Jürgen Trabant 136 so ist, ist schließlich sogar die alphabetische Schrift, die die Gliederung abbildet, die höchste Form des Sprachlichen - sie ist sozusagen die ihres eigenen strukturellen Grundgesetzes bewußt gewordene Sprache -, auch wenn sie das beständig Vorübergehende sistiert bzw. “mumienartig aufbewahrt”. 3. Humboldt geht also über Meschonnic hinaus. Humboldt geht ja zumeist über unsere Interpretationen hinaus, weil er ein Denker hochkomplexer Synthesen ist, unsere Interpretationen aber oft vereinfachen, zumal wenn wir in unseren theoretischen Kämpfen der größeren Prägnanz wegen ein klares Wort sprechen müssen. Humboldt denkt oft A und B gleichzeitig, das “Vermählen” der Gegensätze ist ja das ganz besondere Charakteristikum seines Denkstils. Und dieser synthetische Denkstil scheint mir nun ein Zug zu sein, der Humboldt deutlich von Meschonnic unterscheidet: Meschonnic ist nämlich kein Denker irenischer Inklusionen und liebender Verbindungen, er ist eher ein Autor, der in seinem Kampf um die Sprache klare Oppositionen kennt und dramatische, oft schmerzhafte Exklusionen vornimmt. “Kritik” ist das Charakteristikum der Theorie Meschonnics, d.h. “Unterscheiden”, “Trennen”, während Humboldts Theorie eindeutig unter dem Stichwort der “Synthese” steht. Dieses Bedürfnis nach Verbindung von manchmal schwer zu vereinbarenden Gegensätzen ist der Grund für die oft festgestellte “Schwierigkeit” der Humboldtschen Texte. Daher gibt es nun bei Humboldt alle jene Züge, die Meschonnic hervorhebt und die ich im ersten Teil meiner Anmerkungen dargestellt habe, und gleichzeitig in gewissem Maße auch das Gegenteil. Dieses Problem jeder Humboldt-Lektüre möchte ich an zwei weiteren Punkten der Meschonnicschen Humboldt-Interpretation andeuten. In der Tat ist, erstens, nach Humboldt das Wort kein Zeichen, sondern eine ganz besondere Struktur zwischen Zeichen und Abbild. Und es ist ebenso wahr, daß Humboldt oft und energisch gegen die europäische Tradition polemisiert, die das Wort als Zeichen auffaßt. Aber bei all dieser antisemiotischen Kritik sagt Humboldt doch auch, daß die Sprache als Zeichen verwendet werden kann (GS IV: 29). Und er nennt seinerseits durchaus die Wörter oft Zeichen, nämlich dort, wo es nicht darauf ankommt, dort also, wo er selber den traditionellen europäischen Diskurs spricht, den er an anderen Stellen lebhaft kritisiert. Zweitens ist die Sprache natürlich enérgeia, Rede, Arbeit des Geistes, und die Rede immer das Erste und Wahre. Die Wörter gehen aus der Rede hervor und nicht umgekehrt, und die Grammatiken und Wörterbücher sind tote Gerippe der lebendigen Sprache, Machwerke wissenschaftlicher Zergliederung. Dennoch aber sind diese wissenschaftlichen Abstraktionen notwendige wissenschaftliche Operationen: Ausdrücklich sagt Humboldt, daß die Segmentierung und Analyse der Sprachen, “die Zergliedrung ihres Baues”, die zu Grammatiken und Wörterbüchern führt, “unentbehrlich” für das Sprachstudium ist (GS VII: 47f.). Meschonnics Humboldt ist daher also - aber das ist nicht weiter überraschend - nicht vollständig. Es ist ein Humboldt, der Meschonnic, dem Theoretiker der Rede, der Wechselwirkung, dem Gegner des Zeichens, dem Denker des Kontinuierlichen und dem Vertreter einer poetischen Linguistik außerordentlich ähnlich sieht. Eine solche brüderliche Ähnlichkeit ist im Prozeß der Rezeption und Interpretation nichts Ungewöhnliches. Im Vorgang der Aneignung reduziert der Rezipierende die Komplexität des zugrundeliegenden Denkens, das im Falle von Humboldts synthetischer Gleichzeitigkeit von A und B hochgradig komplex ist. Was aber wichtiger ist als die - unmögliche - Vollständigkeit ist die Wahrheit der Interpretation. Und Meschonnics Humboldt ist ein “wahrer Humboldt”. Denn es gibt natürlich Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt 137 auch Interpretationen, bei denen die Komplexitätsreduktion marginale Elemente ins Zentrum befördert und daher zu wirklich irreführenden Deutungen führt. Dies ist z.B. der Fall bei Habermas, der sich einen universalistischen Humboldt konstruiert, 9 bei Chomsky, der die berühmte Formel vom “unendlichen Gebrauch endlicher Mittel” gründlich mißversteht, 10 und eklatant bei denen, die Humboldt immer wieder als den Begründer der Sprachtypologie feiern. 11 Meschonnics Humboldt erfaßt das Zentrum des Humboldtschen Sprachdenkens: die Sprache als Rede, als poetische Tätigkeit, die kein Zeichen ist und die sich mit dem historischen Kontext in engster Wechselwirkung befindet. Trotz dieser tiefen “Wahrheit” der Meschonnicschen Humboldt-Aneignung gibt es aus meiner Sicht eine Lücke bzw. die Ausblendung eines ganz zentralen theoretischen Moments des Humboldtschen Sprachdenkens, dem aber offensichtlich nicht Meschonnics linguistische Leidenschaft gehört: die Verschiedenheit der Sprachen. Gewiß faßt Humboldt die Sprache als Energie, als Rede des wirklich sprechenden Menschen. Aber was ihn vielleicht am meisten beschäftigt und was im Mittelpunkt seines Projekts eines “vergleichenden Sprachstudiums” (denn darum geht es von Anfang an) steht, ist die Tatsache, daß diese universelle und individuelle Tätigkeit des konkreten Menschen sich mithilfe der historisch partikularen Techniken realisiert, die die Sprachen sind. Gewiß ist Humboldts Gegenstand die Sprache überhaupt, das Sprechen, aber Sprechen ist immer Sprechen nach den Traditionen einer bestimmten Sprachgemeinschaft, die er “Nation” nennt. Das Lateinsche drückte diese historisch partikulare Determination des Universellen ja besonders schön aus, mit Adverben nämlich: latine loqui, graece loqui, germanice loqui. D.h. man spricht, loqui, jedes menschliche Wesen spricht, Sprechen loqui ist also eine universelle Tätigkeit, aber man tut dies auf lateinische, griechische, germanische etc. Art und Weise, so wie man laut, schnell, frei etc. spricht. Das Ensemble dieser glossonymischen Adverbien ist das Zentrum des linguistischen Interesses Humboldts, des “vergleichenden Sprachstudiums”. Dieses Studium soll nämlich erkunden, wie die verschiedenen “Nationen” die allen Menschen gleichermaßen gegebene Aufgabe der Sprachbildung und der Erzeugung des Denkens realisieren (GS VII: 14). Der Titel seines Hauptwerkes enthält bekanntlich dieses zentrale Anliegen: “Verschiedenheit”: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Die Verschiedenheit der Sprachen, die Erzeugung der verschiedenen “Weltansichten” (GS IV: 27), die historisch je besondere Erzeugung des menschlichen Denkens, ist nun eindeutig kein wichtiges Thema im Sprachdenken Meschonnics. 12 4. Mit einem Blick auf meine eigene Humboldt-Interpretation möchte ich diesen Punkt noch etwas verdeutlichen. Der Aspekt der Verschiedenheit der Weltansichten spielt in meiner Humboldt-Aneignung die größte Rolle. 13 Das sprachtheoretische Problem, das mich am meisten beschäftigt, ist die Frage der Verschiedenheit der Sprachen. Anders als Meschonnic leide ich weniger an der Verdinglichung der Sprache durch die Linguistik als an der Uniformierung und Vereinheitlichung der Sprachen in den dominanten geistigen, politischen und kulturellen Tendenzen unserer Zeit. Humboldt dient mir daher vor allem als Zeuge für die Bedeutsamkeit der sprachlichen Diversität, die eine Diversität des Denkens ist. Angesichts der universellen Vereinheitlichung, der sprachlichen Globalisierung und der philosophischen Wut gegen die Sprache liegt mir die historische Besonderheit der Sprache - latine, graece, francisce, germanice loqui - am Herzen. Mein Humboldt, in dessen Zentrum sich das Moment der sprachlichen Verschiedenheit befindet, ist komplementär zu Meschonnics Humboldt, der die lebendige Rede, die enérgeia des wirklich sprechenden Menschen in den Mittelpunkt rückt. Jürgen Trabant 138 Natürlich ist auch mein Humboldt nicht vollständig. Ich eliminiere z.B. bestimmte Züge des Humboldtschen Denkens, die mir unsympathisch sind: So spreche ich fast nie von dem, was die Linguistik vor allem in Humboldt hat sehen wollen, von Humboldt als dem Begründer der Typologie. Einerseits tue ich dies deswegen nicht, weil ich diese Meinung für einen Irrtum halte. Es gibt Passagen, die “typologische” Aussagen enthalten, aber Humboldt hat die Typologie (Klassifikation) der Sprachen ausdrücklich als eine Unmöglichkeit bezeichnet. Andererseits aber spreche ich auch nicht gern von diesen “typologischen” Äußerungen Humboldts (die es natürlich gibt), weil sie eine Idee enthalten, die mir besonders zuwider ist, die Idee einer qualitativen Rangordnung der Sprachen. Für Humboldt sind die flektierenden Sprachen - vor allem das Griechische, aber auch das Sanskrit und die anderen indo-europäischen Sprachen - “vollkommener” als die anderen, weil die Flexion die universelle Aufgabe der Sprachbildung besser als andere strukturellen Verfahren erfüllen würde. Jedem modernen Linguisten muß eine solche Auffassung widerstreben: jede Sprache erfüllt ihre Aufgabe vollkommen. Jede Sprache macht es anders, und jede Sprache ist deswegen ein kostbares Geschöpf des menschlichen Geistes - das war ja gerade Humboldts grandiose Grundidee. Jede Sprache macht es aber auch genausogut wie jede andere. Was nun die Theorie der Verschiedenheit der Sprachen angeht, so bleibt Humboldt nicht bei der Feststellung verschiedener Strukturen der Sprachen stehen, die heute im Zentrum der deskriptiven Linguistik stehen. Humboldt möchte die Verschiedenheit eher in jener individuellen Form aufspüre, die er den Charakter der Sprachen nennt, der sich nicht so sehr aus grammatisch-strukturellen Zügen, sondern aus dem Gebrauch der Sprachen in Texten und in Reden der sie wirklich sprechenden Menschen, aus der “Literatur”, ergebe. Diesen - von der Sprachwissenschaft vergessenen - Gedanken einer textbezogenen sprachwissenschaftlichen Forschung - einer Charakteristik, nicht einer Typologie der Sprachen - versuche ich in meiner Humboldt-Lektüre der Sprachwissenschaft wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sofern dabei, wie gesagt, Texte und Reden, kurz: die gesamte Literatur in einer Sprache, im Spiel sind, trifft sich hier mein Humboldt mit Meschonnics Interpretation. Denn die Rede ist nun einmal das Erste und Wahre “in allen Untersuchungen, welche in die lebendige Wesenheit der Sprache eindringen sollen” (GS VII: 46). 5. Beide interpretative Konstruktionen gehen aus von bestimmten Unzulänglichkeiten des aktuellen Sprachdenkens, in der Linguistik, in der Philosophie oder in den Diskursen unserer Kultur überhaupt, und beide fordern dazu auf, “Humboldt heute zu denken”, als Heilmittel gegen die linguistischen Krankheiten oder die Sprachvergessenheit unserer Zeit. Dies führt mich - angeregt von Meschonnics schönem Aufsatz-Titel “Penser Humboldt aujourd’hui” - zu einer abschließenden Bemerkungen über die Zeitgemäßheit Humboldts. Auch im Titel seines Vortrags auf dem hier dokumentierten Kolloquium hat Meschonnic Humboldts Zeit wieder aufgerufen: “Humboldt, plus d’avenir que de passé”, “Humboldt, mehr Zukunft als Vergangenheit”. Die emphatische Einordnung Humboldts in das Heute oder in die Zukunft deutet jedenfalls auf ein Problem, das Humboldt mit der Zeit oder der Zeitgenossenschaft hat. Meschonnic bemerkt schon in seiner ersten Arbeit, 1975, daß Humboldt seine Fragen zu früh gestellt habe (1975: 123f.). Es ist ganz offensichtlich ein unzeitgemäßes Denken der Sprache. Worin besteht diese Unzeitgemäßheit? Kommt es tatsächlich zu früh oder vielleicht doch eher zu spät? Einerseits ist es sicher ein verspätetes Denken. Obwohl er ein Zeitgenosse der klassischen Gründungsväter der neuen Sprachwissenschaft - Bopp und Grimm - ist und manchmal auch einfach zu diesen Gründern der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft hinzugezählt wird, gehört er nicht zu deren Modernität, also zur Modernität der Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt 139 Linguistik des 19. Jahrhunderts. Humboldt setzt vielmehr das Sprachdenken des 18. Jahrhunderts fort. Er ist nämlich der Erbe und Vollender des anthropologischen Sprachdenkens der aufklärerischen Sprachreflexion seit Bacon. Ich verstehe unter “anthropologisch” (im Gegensatz zu “historisch”) eine durch folgende Koordinaten charakterisierte Sprachreflexion: Sie denkt die Sprachen im Raum, sie denkt die Sprachen in ihrer Verschiedenheit, und sie denkt diese Verschiedenheit als eine kognitive. Sie interessiert sich also, wie Leibniz es formuliert hat, vor allem für die “wunderbare Vielfalt der Operationen unseres Geistes”, wie sie sich in den verschiedenen Sprachen manifestiert. Und dieses schon von Leibniz ins Auge gefaßte anthropologische linguistische Projekt einer Beschreibung aller Sprachen der Menschheit in ihrer Verschiedenheit ist auch um 1800 noch ein modernes und junges Projekt, sofern es noch kaum in Angriff genommen worden ist, ein Projekt, das offensichtlich immer noch zu früh kommt. Das andere Projekt, das in Humboldts Generation als neu und modern begeistert begrüßt wird, das also zeitgemäß zu sein scheint, ist ebenfalls mit dem Namen von Leibniz verbunden, der auch eine historische Linguistik ins Auge gefaßt und selber betrieben hatte. Dennoch ist dieses scheinbar so moderne Projekt das traditionellere: Es ist die seit dem 16. Jahrhundert betriebene historische Erforschung der Sprachen, die die Sprachen in der Dimension der Zeit aufsucht, um ihren Ursprung und folglich ihre zugrundeliegende Identität zu finden, die sich vor allem auf die materielle Seite der Wörter und Morpheme (also nicht auf das Kognitive), auf die Sprachen als Ensembles von Lauten bezieht. Die Jungen, die die neue Linguistik gründen, führen eindeutig dieses alte diachronische Projekt weiter. Nicht das Ziel und die Gegenstände dieser Linguistik sind neu, sondern nur die Methode. Und in der Tat gehört Humboldt, der unzeitgemäße, nicht zu diesem Projekt, auch wenn er Bopp und Grimm bewunderte. Seine Linguistik, das anthropologische Projekt, wird erst hundert Jahre später, in der modernen deskriptiven Linguistik, auf der Tagesordnung stehen. Meschonnic weist mehrfach darauf hin, daß Humboldts globale Vision natürlich auch den engen indo-europäischen Rahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft sprengt. Aber wenn Humboldts Projekt endlich ins Zentrum der Sprachwissenschaft rückt, wenn die Linguistik sich endlich wieder für die wunderbare Vielfalt der Operationen unseres Geistes interessiert, wenn sie endlich “anthropologisch” statt “historisch” ist, dann wird sie sich zwar durchaus auf Humboldt als einen der ihren berufen und doch die Begegnung mit Humboldt verfehlen. Denn sie wird sich einerseits vor allem nur mit den Strukturen der Sprachen beschäftigen, ohne sich um die Reden in diesen Sprachen, um die Literatur, um die Sprachen in ihrem Gebrauch zu kümmern, was nach Humboldt aber doch das Zentrum, den “Schlußstein”, des vergleichenden Sprachstudiums ausmachen soll. Sie wird also nur die “toten Gerippe” abstrahieren und nicht versuchen, den “Charakter” der Sprachen zu erfassen. Und andererseits wird sie selbst da, wo sie sich durchaus in diesem “literarischen” Zentrum befindet, in der sprachlichen Tätigkeit, die Inhalte transportiert und nicht nur aus Lauten besteht, wie etwa bei Voßler, Humboldt insofern verfehlen, als sie sich dann doch nicht vom diachronisch-historischen Paradigma emanzipieren kann. 14 Humboldt bleibt also auch in der Erneuerung der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert, die sich auf ihn bezieht, unzeitgemäß. Sein - vielleicht zu neues und kühnes - umfassendes Projekt eines vergleichenden Sprachstudiums wird auch im 20. Jahrhundert mit keiner der beiden großen Erneuerungsbemühungen zusammenfallen, weder mit der synchronischen Linguistik, noch mit Voßlers “idealistischer”, d.h. rede-bezogener und semantischer, aber eben doch nach wie vor diachronischer Sprachwissenschaft. Jürgen Trabant 140 Humboldt heute denken kann also nicht heißen, Humboldt aus seiner Unzeitgemäßheit zu befreien, sondern eher, diese Unzeitgemäßheit zu betonen, die es ermöglicht, das vermeintlich gerade Zeitgemäße aus seiner Exklusivität und Enge zu befreien. Denn Humboldt sagt z.B. den Sprachwissenschaftlern, die sich um die wissenschaftliche Beschreibung der Sprachen bemühen: Dies ist selbstverständlich “unentbehrlich”, aber eure Ergebnisse sind “tote Gerippe” der Sprachen, vergeßt nicht, daß die Sprache eine poetische Tätigkeit des wirklich sprechenden Menschen ist. Die, die eine genetisch angeborene Universalgrammatik suchen (was er übrigens vermutlich begrüßt hätte, war er doch von der natürlichen Vorgegebenheit der Sprachfähigkeit überzeugt), mahnt er, die Verschiedenheit der Sprachen und ihre kulturelle Bedingtheit nicht zu vernachlässigen. Allen schreibt er ins Stammbuch: Die Sprachen sind keine Zeichen, sondern ganz besondere Strukturen, die verschiedene “Weltansichten” transportieren, kostbare geistige Gebilde, die die “wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes” manifestieren und daher Achtung und Pflege verdienen: Sprach-Kultur. Denn, noch einmal, erstens: Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. […] Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens […]. Gerade das Höchste und Feinste […] kann nur, was umso mehr beweist, daß die eigentliche Sprache in dem Acte des wirklichen Hervorbringens liegt, in der verbundenen Rede wahrgenommen und geahndet werden. Nur sie muß man sich überhaupt in allen Untersuchungen, welche in die lebendige Wesenheit der Sprache eindringen sollen, immer als das Wahre und Erste denken. (GS VII: 45f.) Und zweitens: Ihre [der Sprachen] Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (GS IV: 27) Diese von Humboldts Sprachdenken ausgehenden Mahnungen irritieren. Aber das ist gerade sein Unzeitgemäßes: Es ist ein Stachel im Fleisch des jeweilig Zeitgemäßen. In diesem Sinne hat Humboldt heute, wie Meschonnic sagt, mehr Zukunft als Vergangenheit: plus d’avenir que de passé. Anmerkungen 1 Deutsch in der Übersetzung von Bettina Lindorfer in Trabant (Hg. 1995): 67- 89. 2 Vgl. Quillien (1983), (1991). 3 Z.B. in Rousseau/ Thouard (1999). 4 Vgl. Humboldt (2000), Rousseau/ Thouard (1999). 5 Vgl. Trabant (1990a). Vgl. auch Lindorfer (1990) über Meschonnic in dieser Zeitschrift. 6 Wie z.B. Meschonnic (1982), (1991), (1999), (2002b). 7 Vgl. Meschonnic (1982). 8 Vgl. Meschonnic (1999), das die wichtigsten Arbeiten Meschonnics zum Übersetzen enthält. 9 Vgl. Trabant (1993). 10 Vgl. Trabant (1998). 11 Vgl. Coseriu (1972). Anmerkungen zu Meschonnic und Humboldt 141 12 Zu weiteren Aspekten der Meschonnicschen Humboldt-Lektüre vgl. Jostes (2004) und in diesem Band. 13 Vgl. Trabant (1986), (1990). Beide Bücher sind auch in französischer Übersetzung erschienen. 14 Zu Humboldts Position in der Geschichte der Sprachwissenschaft vgl. Trabant (2003: Kap. 6). Bibliographie Coseriu, Eugenio (1972): Über die Sprachtypologie Wilhelm von Humboldts. Ein Beitrag zur Kritik der sprachwissenschaftlichen Überlieferung. In: Beiträge zu vergleichenden Literaturgeschichte (Fs. Kurt Wais). Tübingen: Niemeyer: 107-135. Humboldt, Wilhelm von - (1903 -36): Gesammelte Schriften [GS] (Hg. Albert Leitzmann u.a.). 17 Bde. Berlin: Behr. - (1974): Introduction à l’œuvre sur le kavi et autres essais (traduction et introduction de Pierre Caussat). Paris: Seuil. - (2000): Sur le caractère national des langues et autres écrits sur le langage (présenté, traduit et commenté par Denis Thouard). Paris: Seuil. Jostes, Brigitte (2004): Fremdheit. Historisch-anthropologische Erkundungen einer linguistischen Kategorie. Paderborn: Schöningh. Lindorfer, Bettina (1990): Ein kalkuliertes Schauspiel. Derridas schreibende Philosophie in der Kritik Henri Meschonnics. In: Kodikas/ Code 13: 245 -257. Meschonnic, Henri (1975): Humboldt ou le sens du langage. 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