eJournals Kodikas/Code 27/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
273-4

Behauptung (in) der Schrift - Zur Problematik von Schrift und Individualität bei Wilhelm von Humboldt und Jacques Derrida

121
2004
Markus Meßling
kod273-40163
Behauptung (in) der Schrift Zur Problematik von Schrift und Individualität bei Wilhelm von Humboldt und Jacques Derrida Markus Meßling The article examines two of the most important theories of writing, Wilhelm von Humboldt’s and Jacques Derrida’s grammatologies. Being not in line with tradition Humboldt’s definition of the extension of writing puts his reflections out of Derrida’s critique of European logocentrism. For Humboldt, writing corresponds with the anthropological principle of articulation. Fulfilling an objectifying function for cognition, this principle of formal segmentation itself is like an immaterial ‘inner writing’, which, by its sense-generating nature, is similar to Derrida’s concept of ‘writing’ as trace. But whereas for Humboldt writing (in its ‘inner’ and ‘outer’ sense) is the specific expression of historically formed cultural subjects, for Derrida, on the contrary, it is the symbol of deconstruction of any essentialist concept of language. Both conceptions lead to a crisis of individuality: For Humboldt, the encounter of the individual with a mighty cultural structure to be internalized in the process of ontogenesis makes the alienation plausible felt in the mother tongue. For Derrida, language as a cultural entity can only be adopted, but never be internalized nor ‘possessed’ by man, it remains the Other, and therefore is not a natural part of identity. This “non-identity” of language makes possible attributions to it in which then lies the power of cultural inor exclusion. Yet for both, Humboldt and Derrida, it is by the means of writing that the subject can hold its relative individuality against the structural and cultural power of language. Non que je cultive l’intraduisible. […] Mais “intraduisible” demeure - doit rester, me dit ma loi - l’économie poétique de l’idiome, celui qui m’importe, car je mourrais encore plus vite sans lui … Jacques Derrida (1996: 100-101). 1. Wider das Exterioritätspostulat: Die Schrift als das Umfassende Insofern, als Sprache das in der Entwicklung des Menschen früher ausgeprägte Kommunikationsmedium ist - sowohl was die Geschichte der Menschheit als auch was die Ontogenese betrifft - hat Schrift nur mit Rückbezug auf sprachliche Strukturen entwickelt werden können: Dass die Schrift von der Sprache her geformt wird, entspricht dem Gang der Evolution ebenso wie der Logik jedes einzelnen Schrifterwerbs. Sprache ist in jeder Hinsicht das “ältere” Medium. (Stetter 1997: 468) Auch Wilhelm von Humboldts Reflexion der Schrift scheint zunächst ganz eindeutig von der Konstatierung einer äußeren Sekundarität der Schrift geprägt zu sein, indem nämlich allein “das tönende Wort […] gleichsam eine Verkörperung des Gedanken, die Schrift eine des K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Markus Meßling 164 Tons” (GS V: 109) ist. Dieses Primat der Sprache vor der Schrift korreliert mit der dialogischen Grundausrichtung von Humboldts Sprachwissenschaft und Philosophie, 1 deren Kernbegriff die Bestimmung der Sprache als Tätigkeit (enérgeia), als “jedesmaliges Sprechen” (GS VII: 46), und deren symbolischer Referenzpunkt die Athener Philosophenschule ist. 2 Die Schrift wird bei Humboldt aber dennoch nicht “der epiphänomenalen Schattenhaftigkeit überantwortet, die ihr schon Platon und Paulus zugedacht haben”, wie Michael Wetzel (2005: 82) behauptet. Denn wenn Humboldts Sprachbegriff im Wesentlichen auf der Stimme und dem Laut aufbaut, so ist die Schrift in seiner Konzeption doch an die gleiche produzierende Sprachanlage gebunden wie die Sprache selbst und daher eher deren genetische Schwester als eine technisch nachgebildete Abbildlichkeit: Die Wirkung des Geistes wird also gleichartig seyn auf Sprache und Schrift, sie wird auf die Erlangung und Wahl der letzteren Einfluss haben, und vollkommenere Sprachen werden von vollkommenerer Schrift, und umgekehrt begleitet seyn. (GS V: 37; H.v.m.) Ulrich Welbers spricht daher in Bezug auf das Sprache-Schrift-Verhältnis in der humboldtschen Reflexion von einem “integrierte[n] Konzept […], das sich seiner Handhabbarmachung durch Dichotomisierung ostentativ entzieht” (2002: 242). Der innere Zusammenhang von Sprache und Schrift ist es auch, der Humboldt in seiner ersten Abhandlung zur Schrift mehr interessiert, als deren äußerliche Verschiedenheit: Ohne die nun zuerst erwähnte Einwirkung auszuschliessen, welche die erfundne, oder eingeführte Schrift auf eine vorher mit keiner versehenen Sprache ausübt, ist es doch vorzugsweise meine Absicht, in der gegenwärtigen Abhandlung von dem zuletzt geschilderten innren, in der Anlage des spracherfindenden Geistes gegründeten Zusammenhange der Sprache und Schrift zu reden. (GS V: 38; H.v.m.) Eine Auffassung der Schrift als “Zeichen für Zeichen” lässt sich auch an Humboldts allgemeiner Schriftdefinition nicht festmachen: Unter Schrift im engsten Sinne kann man nur Zeichen verstehen, welche bestimmte Wörter in bestimmter Folge andeuten. Nur eine solche kann wirklich gelesen werden. Schrift im weitläufigsten Verstande ist dagegen Mittheilung blosser Gedanken, die durch Laute geschieht. (GS V: 34) Über den materiell-äußerlichen Aspekt der Sprach-Abbildung hinaus wird hier ein mehrschichtiger Schriftbegriff formuliert: “Schrift kann also sowohl aus der philologischen Analyse als auch aus der erkenntnis- und kommunikationstheoretischen Perspektive begründet werden.” (Welbers 2002: 249), wobei sich die erkenntnistheoretische Ebene der Schriftbetrachtung auf die Frage des lautlich gliedernden formalen Verfahrens der Gedankenmitteilung bezieht. 3 Humboldts Philosophie reiht sich daher zweifelsohne nicht in eine abendländische Tradition der Ent-Äußerung und moralischen Sanktionierung der Schrift ein, in der Jacques Derrida die Inszenierung eines kulturellen und von der saussureschen Sprachwissenschaft beförderten “Ketzerprozesses” (“le procès d’une hérésie”) ausmacht: Cet accent commençait à se laisser entendre lorsque, au moment de nouer déjà dans la même possibilité l’epistémè et le logos, le Phèdre dénonçait l’écriture comme intrusion de la technique artificieuse, effraction d’une espèce tout à fait originale, violence archétypique: irruption du dehors dans le dedans, entamant l’intériorité de l’âme, la présence vivante de l’âme à soi dans le logos vrai, l’assistance que se porte à elle-même la parole. En s’emportant ainsi, la véhémente argumentation de Saussure vise plus qu’une erreur théorique, plus qu’une faute morale: une sorte de souillure et d’abord un péché. Le péché a souvent été défini - entre autres par Malebranche et par Kant - l’inversion des rapports naturels entre l’âme et le corps dans la passion. Behauptung (in) der Schrift 165 Saussure accuse ici l’inversion des rapports naturels entre la parole et l’écriture. Ce n’est pas une simple analogie: l’écriture, la lettre, l’inscription sensible ont toujours été considérées par la tradition occidentale comme le corps et la matière extérieurs à l’esprit, au souffle, au verbe et au logos. Et le problème de l’âme et du corps est sans doute dérivé du problème de l’écriture auquel il semble - inversement - prêter ses métaphores. (Derrida 1967a: 52; H.v.m.). 4 Dass Humboldts Schriftdefinition im Allgemeinen, trotz der phonozentrischen Ausgangsannahme, dass “die Sprache doch vor der Schrift da ist” (GS V: 112), keineswegs von Derridas mit Emphase vorgetragener Kritik am Mythos der Repräsentation getroffen wird, darauf hat bereits Christian Stetter (1990: 192f.) hingewiesen, der aufgezeigt hat, dass die Extension des humboldtschen Begriffs der Schrift über diejenige der Sprache hinausgeht. Es ist jedoch interessant und durchaus eine Bemerkung wert, dass Humboldt seinen weiten Schriftbegriff in der Beschäftigung mit dem System der ägyptischen Hieroglyphenschrift entwickelt. Humboldt erkennt nämlich, dass im ägyptischen Schriftsystem, das er in diesen ersten Betrachtungen über Schrift und Sprache noch als ein nicht-phonetisches Gebilde begreift, der Zusammenhang zwischen Gedanke, Sprache und Schrift (Bildzeichen) nach verschiedenen Gesetzlichkeiten geregelt wird, weil die Hieroglyphenschrift zwischen der Darstellung einer Idee, also der Ideographie im engen Sinne, und einem stark konventionalisierten Zusammenhang zwischen einem Bildzeichen und einem Wort, also einem logographischen Verfahren, variieren kann: Wollte man jede Mittheilung von Gedanken Sprache, und nur die von Worten Schrift nennen, so hätte dies zwar auf den ersten Anblick etwas für sich, brächte aber in die gegenwärtige Materie grosse Verwirrung, und stiesse noch viel mehr gegen den Sprachgebrauch an. Denn man müsste dieselbe Schriftart, z.B. die Hieroglyphen, zugleich zur Sprache und zur Schrift rechnen, je nachdem sie in unvollkommnem Zustande Gedanken, oder im ausgebildetsten Worte anzeigte. (GS V: 34-35) Hieraus folgert Humboldt, dass die ältere Sprache strukturell betrachtet das ‘engere’, die jüngere Schrift aber das ‘weitere’ Zeichensystem ist. Ganz gegen die These einer traditionellen Abbildlichkeit der Schrift wird hier die Sprache in ihrer medialen Struktur - ohne Zweifel nicht in ihrer anthropologischen Relevanz - unter dem Dach der Extension des Schriftbegriffes aufgenommen. Schrift erscheint als das der Sprache übergeordnete Medium, als das Umfassende: Es ist daher richtiger und genauer, Sprache bloss auf die Bezeichnung der Gedanken durch Laute zu beschränken, und unter Schrift jede andre Bezeichnungsart der Gedanken, so wie die der Laute selbst, zusammenzufassen. (GS V: 35) Ulrich Welbers hat allerdings zu Recht vorgeschlagen, diese Textstellen, an denen sich ein die Sprache umfassender Schriftbegriff festmachen lässt, nicht absolut, sondern in Bezug zur humboldtschen Sprachkonzeption insgesamt zu lesen: Die Umkehrung der Extension des Sprachwie des Schriftbegriffs indes für humboldt-typisch zu halten, ginge wohl zu weit. Humboldt verwendet Sprache hier einmal als Chiffre für aktuale mündliche Sprachverwendung, und Schrift geht hier so weit auf Artikulation hinaus, dass sich ihr Begriff ohne die Kontextuierung in einem umfassenden Sprachverständnis kaum systematisch dauerhaft halten und aufhalten könnte. Für Humboldt ist die Perspektive wichtig: Schrift ist ein konstitutiver Teil der artikulatorisch-wirklichkeitskonstituierenden Funktion der Sprache, […]. (Welbers 2002: 250) Dennoch lässt sich festhalten, dass der Schrift in den zitierten Textauszügen, die ja an diesbezüglich zentraler Stelle, nämlich in Humboldts Abhandlung Ueber den Zusammenhang Markus Meßling 166 der Schrift mit der Sprache (GS V: 31-106) stehen, eine in semiotischer wie erkenntnistheoretischer Hinsicht über die materielle Fixierung von Sprache hinausgehende Relevanz zugesprochen wird. Es ist allerdings tatsächlich fraglich, ob die zentrale Bedeutung der Schrift für Humboldt vor allem in der Problematik von deren Extension zu suchen ist. Sie liegt vielmehr in dem, was Welbers hier die “artikulatorisch-wirklichkeitskonstituierende Funktion” nennt. Wenn in der humboldtschen Abhandlung die Beschreibung der Schrift nämlich “so weit auf Artikulation hinaus[geht]”, so deshalb, weil sie für Humboldt die Verkörperung des formal-gliedernden Prinzips der Sprache, genauer, der je spezifischen Sprachanlage ist, in der sie mit der Sprache strukturell und historisch verbunden ist. Da das Verfahren einer formal gliedernden Verobjektivierung des Stoffs die nicht hintergehbare geistige, also ‘innere’ Bedingung jeder sprachlichen Tätigkeit ist, geht die erkenntnistheoretische Relevanz der Schrift bei Humboldt zurück bis ins innerste Moment der Sprache. 2. Primat der Sprache und Urschrift der Form: Zu Humboldts innerem Schriftbegriff und Jacques Derridas Konzept der trace Im ersten Moment der Lektüre mag es fast scheinen, als habe Humboldt die erstaunlich traditionsungemäße Bestimmung der Extensionen von Sprache und Schrift in seiner Abhandlung nur vorgenommen, um sie sogleich mit umso größerer Wortgewalt zu revidieren und das alte Primat der Sprache, ihren nicht nur historischen, sondern auch wesenhaften Vorrang umso emphatischer zu restaurieren: Es braucht übrigens kaum bemerkt zu werden, dass auch da, wo die Schrift Gedanken bezeichnet, ihr in dem Sinne dessen, von dem sie ausgeht, doch immer einigermassen bestimmte Worte in einigermassen bestimmter Folge zum Grunde liegen. Denn die Schrift, auch da, wo sie sich noch am wenigsten vom Bilde unterscheidet, ist doch immer nur Bezeichnung des schon durch die Sprache geformten Gedanken. (GS V: 35; H.v.m.) Allein, was Humboldt hier meint, ist nicht die lautliche Sprache, die Stimme, sondern ein innerer Begriff von Sprache, das ihr innewohnende Prinzip der formalen Differenz, das in der Artikulation durch lautliche Differenzierung und in der graphematischen Struktur der Schrift widergespiegelt wird. Dass Humboldt einen solchen inneren Sprachbegriff kennt, zeigt seine Vorstellung von der Sprachfähigkeit des Menschen jenseits der Fähigkeit zur lautlichen Artikulation: Die Sprache aber liegt in der Seele, und kann sogar bei widerstrebenden Organen und fehlendem äusseren Sinn hervorgebracht werden. Dies sieht man bei dem Unterrichte der Taubstummen, der nur dadurch möglich wird, dass der innere Drang der Seele, die Gedanken in Worte zu kleiden, demselben entgegenkommt, und vermittelst erleichternder Anleitung den Mangel ersetzt, und die Hindernisse besiegt. (GS V: 117, H.v.m.) Die transphonetische Charakteristik der inneren Sprache betont Humboldt auch an anderer Stelle: Dass die Sprache ohne vernommenen Laut möglich bleibt, und insofern ganz innerlich ist, lehrt das Beispiel der Taubstummen. Durch das Ohr ist jeder Zugang zu ihnen verschlossen, sie lernen aber das Gesprochene an der Bewegung der Sprachwerkzeuge des Redenden und dann an der Schrift verstehen, sie sprechen selbst, indem man die Lage und Bewegung ihrer Sprachwerkzeuge lenkt. (GS VI: 153) 5 Behauptung (in) der Schrift 167 Es gibt also bei Humboldt die Vorstellung einer inneren Sprache jenseits der Stimme, die in ihrer Funktion als “bildende[s] Organ des Gedanken” (GS VII: 53), als formatives Prinzip der Kognition, Geltung vor jeder tatsächlichen lautlichen oder skripturalen Äußerung hat. Als Prinzip der für das Bewusstsein unabdingbaren formalen Verobjektivierung des Gedankens entspricht diese lautlose Artikulation dabei eher einer formalisierenden Spur, einer immateriellen Schrift als einer Sprache. Humboldt selbst macht in seinem Brief vom 5. März 1826 an August Wilhelm von Schlegel das Konzept einer virtuellen Schrift expressis verbis stark: Sie sagen: die Buchstabenschrift wäre schon in den frühesten Zeiten virtualiter vorhanden gewesen, wenn sie auch nicht in Ausübung gebracht wurde. Wenn Sie damit die Stelle meiner Abhandlung [Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau; M.M.] vergleichen, wo ich S. 14 vom geistigen Theile des Alphabets, noch ohne Zeichen fürs Auge, spreche, so werden Sie sehen, daß es im Grunde dasselbe ist. (BAWS: 198-199) 6 Diese immaterielle Schrift ist also eine ‘erste Schrift’, eine Urschrift der Form, deren Funktion als sinngenerierende psychische Spur (trace) Jacques Derrida in seiner Freud-Lektüre verdeutlicht: L’absence de tout code exhaustif et absolument infaillible, cela veut dire que dans l’écriture psychique, qui annonce ainsi le sens de toute écriture en général, la différence entre signifiant et signifié n’est jamais radicale. L’expérience inconsciente, avant le rêve qui suit des frayages anciens, n’emprunte pas, produit ses propres signifiants, ne les crée certes pas dans leurs corps mais en produit la signifiance. Dès lors ce ne sont plus à proprement parler des signifiants. (Derrida 1967b: 311) Derrida teilt mit Humboldt die Vorstellung von einer sinngenerierenden Formativität, er radikalisiert sie jedoch in der Idee der Stellvertretung. Die Form (der Signifikant) tritt bei Derrida als Stellvertreterin, als “supplément” für einen an sich nicht präsenten gedanklichen Gehalt auf. 7 Sie ist damit das Symbol der Abwesenheit von substanzieller Präsenz, 8 ein Symbol des Todes. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Jacques Derrida an verschiedener Stelle auf den ägyptischen Gott Thot zu sprechen kommt, den Gott des Mondes, Stellvertreter von Gottvater und Sonnengott Amun Rê, denn der ägyptischen Göttermythologie zufolge ist Thot der Erfinder der Hieroglyphenschrift und zugleich Schreiber vor dem Jüngsten Gericht, bisweilen Fährmann der Toten. 9 In ihrer stellvertretenden Funktion geht die Form ganz in der Signifikanz auf, sie wird zur Bedeutung und verschwindet so als Form, weshalb sie dann auch, wie Derrida im vorangegangenen Zitat betont, kein eigentlicher Signifikant mehr ist. Wilhelm von Humboldt geht dagegen durchaus von einer Stofflichkeit jenseits der Form aus, aber nur in der Form wird der Gedanke dem Subjekt bewusst. Die Form erfüllt dabei nicht die Funktion des Stellvertretens, sondern ist das den semantischen Gehalt formende Konstitutive, das synthetisch mit dem Gedanken verbunden ist. Dies ist deshalb relevant, weil der Gedanke auch nur der Form entsprechend, in der er herausgebildet wurde, veräußerlicht werden kann. Sprache als phoné und Schrift als techné sind genau daher in ihrer spezifischen Charakteristik bedingt durch die innere Sprache, die Urschrift der Form. Andererseits - und auch das ist ganz humboldtisch vom dialogischen Prinzip der Reziprozität her gedacht - wirkt die äußere Formativität, sowohl der lautlichen Sprache als auch der Schrift, auf die innere Sprachform zurück: Die aus der Seele heraustönende specifische Sprachanlage verstärkt sich in ihrer Eigenthümlichkeit, indem sie wieder ihr eignes Tönen, als etwas fremdes Erklingendes, vernimmt. (GS V: 117) Markus Meßling 168 Die innere Formativität nimmt die Form des über das Ohr eindringenden Wortes wahr, nimmt dessen Klang in sich auf, ertastet mit dem Auge das Schriftzeichen, es entstehen Isomorphien und Kontraste zwischen ‘Außen’ und ‘Innen’, wobei die konkreten, lautlichen Formen der Sprache die innerlichen Formen erhärten oder die Bildung neuer verursachen. So dringt die spezifische Sprache in die universelle Spur der gedanklichen Hervorbringung ein, vermählen sich Historizität der jeweiligen Einzelsprache und Universalität der im Individuum angelegten Urschrift der Form, wodurch die Sprachanlage in ihrer spezifischen Eigentümlichkeit überhaupt erst entsteht: “Auf dieser mittleren Ebene zwischen ‘allgemeiner Sprachkraft’ und ‘wirklichem Sprechen’, die aus nahe liegenden gründen zunächst an die Nationen geknüpft wird, […], bilden sich die allgemeinen Formen besonderer Sprachen.” (Borsche 1989: 59) Die innere Sprachform, also die formale Anlage einer spezifischen Sprache ist daher kein Mysterium, sie ist keine rätselhafte Gegebenheit, sondern entsteht aus der geistigen Arbeit an den äußeren Formen: “Die freie Arbeit des Geistes besteht in der fortwährenden Bildung des Denkens am schon Gedachten, des Sprechens am schon Gesprochenen.” (Borsche 1989: 61) Gedacht werden kann immer nur anhand der Formen, die die Lautsprache bereitstellt. 10 Es ist daher richtig, dass Donatella Di Cesare die Bedeutung der äußeren Form betont; 11 die Umkehrung der Gewichtung hin zu einem Primat der Äußerlichkeit wird aber dem Sprachbegriff Humboldts nicht gerecht, der in §14 der Kawi-Einleitung Innerlichkeit und Äußerlichkeit synthetisch zu vermählen sucht: Die Bezeichnung des Begriffs gehört dem immer mehr objektiven Verfahren des Sprachsinnes an. Die Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens ist ein neuer Act des sprachlichen Selbstbewußtseins, durch welchen der einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesammtheit der möglichen Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird. Erst durch diese, in möglichster Reinheit und Tiefe vollendete, und der Sprache selbst fest einverleibte Operation verbindet sich in derselben, in der gehörigen Verschmelzung und Unterordnung, ihre selbstständige, aus dem Denken entspringende, und ihre mehr den äußeren Eindrücken in reiner Empfänglichkeit folgende Thätigkeit. (GS VII: 109; H.v.m.) Gleichwohl zeigt sich hier ein Vorrang, eine logische Bedingtheit. Denn die Fähigkeit zur “Versetzung” eines Begriffs in eine determinierte “Kategorie des Denkens” muss immer schon gegeben sein, die innere Formativität muss immer schon da sein, ohne sie ist Sprachlichkeit nicht denkbar, weil die äußeren Formen, also die gestische, lautliche und skripturale Artikulation, zwar sinnlich wahrgenommen, dem Subjekt jedoch nicht als artikulierte, das heißt gegliederte semantische Entitäten bewusst werden könnten. Insofern gibt es in der Tat eine Priorität der Form vor dem Stoff, eine erste Spur der Form, eine Urschrift. Sie ist jedoch, um mit Ernst Cassirer (1923: 107) zu sprechen, als “ein Prius der Geltung, nicht als ein solches des empirisch-zeitlichen Daseins gefasst”. Die innere, immaterielle Formativität bleibt dabei im wahrsten Sinne des Wortes Sprach-los ohne die Verschmelzung mit Ton, Gestus oder graphischem Zeichen. Sie bedarf der Adaptation der äußeren Formen. Anders gesagt: Die ursprüngliche Artikulation von sinnvoller Rede ist nur begreiflich zu machen, wenn man sie einerseits als durch ein solches Prinzip [einer intellektuellen Tätigkeit] verursacht sowie andererseits als durch den Laut bedingt betrachtet. So verstanden ist die innere Form einer Sprache nicht eine ‘ideale Norm’ für immer schon mangelhafte Realisierungen im äußeren Laut, sondern lediglich ein Moment der wirklich artikulierten Rede: Erst als äußere erhält die innere Sprachform Bestimmtheit. (Borsche 1989: 57) Inneres und Äußeres sind also in Humboldts Sprachkonzept dialektisch in der Zeit verschränkt. 12 Hier schließt sich nun der Zirkel der humboldtschen Grammatologie. Denn vor Behauptung (in) der Schrift 169 dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es nicht mehr verwunderlich, dass Humboldt die Entstehung der ersten historischen Schrift, der graphischen Urschrift, eben gerade nicht mehr einfach als einen Vorgang der Abbildung von Sprache, als eine reine Äußerlichkeit betrachtet, denn sie ist in ihrer Formalität an die Urschrift der Form, und, genauer, in ihrer spezifischen graphischen Form an die Sprachanlage gebunden. Die ägyptische Hieroglyphenschrift konnte also nur aus dem Sprachsinn geboren werden: Die Aegyptische Verwandlung der Bilder in Schrift konnte nicht vor sich gehen, ohne wirkliche Reflexion über die Natur der Sprache, oder ohne plötzlich erwachendes richtiges Gefühl derselben […]. (GS V: 45) Nur die tiefe Überzeugung von der Reziprozität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit der ‘Schrift’ kann Humboldt dazu bewegen, die Genese der ägyptischen Hieroglyphenschrift nicht aus dem Geiste der Kunst zu erklären - obwohl er die Bildhaftigkeit der ägyptischen Hieroglyphen in diesem ersten Text über die Schrift noch als pikto-ideographisches System deutet. Zwar sieht Humboldt in der Emanzipation der Kunst von ihrer nachrichtlichen Mitteilungsfunktion den Rahmen, in dem das Bedürfnis und damit schließlich das Nachdenken über ein graphisches Kommunikationsmittel aufkam (vgl. hierzu GS V: 47f.). Allein, Schrift, auch Bilderschrift, entsteht erst aus der intuitiven Einsicht in die Formativität von Sprache, aus dem Sprach-Sinn: Dass der Schritt, welcher von dem Malen zu dem Schreiben mit Bildern führte, wahrhaft ein Uebergang in eine neue Gattung war, lässt sich leicht an einem Beispiel versinnlichen. Wenn man malend einen Jäger, der einen Löwen erlegt, vorstellte, so konnte man durch mannigfaltige Abstufungen das Bild in allen seinen Teilen sowohl bestimmen, als vereinfachen, und dadurch dem Begriff Genauigkeit und Klarheit geben; aber man blieb dabei immer in dem Gebiet des Malens. Auf den Einfall, die Vorstellung zu zerlegen, das Abschiessen des Pfeiles von dem Schiessenden zu trennen, konnte man nicht auf jenem Wege gerathen; er konnte nur durch ein sich vordrängendes Gefühl der von der bildlichen Darstellung ganz abweichenden Natur der Sprache entstehen, die eine solche Trennung verlangt. (GS V: 49; H.v.m.) Humboldts Interpretation der Schrift als Verkörperung der Sprachanlage ist eine Bejahung der Subjektivität im eigentlichen Sinne: In ihrer Gebundenheit an die innere Sprachform des Menschen ist die Schrift Ausdruck menschlicher Wesenhaftigkeit und zugleich selbst ein aus der spezifischen Anlage hervorgehendes historisches Subjekt. Hier klafft nun in aller Klarheit die Differenz zwischen der humboldtschen und der derridaschen Grammatologie auf. Denn die historische, lineare Schrift ist bei Derrida an das Prinzip der Spur (trace) gebunden, das er ja ursprünglich von der Reflexion der äußerlichen Schrift entwickelt hat, 13 und somit an das Prinzip der Stellvertretung. Damit aber ist auch sie ein Symbol der Aufhebung von substanzieller Präsenz und der Determination des Subjektes, das sich zwar in der Schrift ausdrückt, also wird, und doch durch den stellvertretenden Charakter der Zeichen an die Unmöglichkeit einer Festschreibung, und damit an seine eigene Vergänglichkeit erinnert wird: Or, l’espacement comme écriture est le devenir-absent et le devenir-inconscient du sujet. Par le mouvement de sa dérive, l’émancipation du signe constitue en retour le désir de la présence. Ce devenir - ou cette dérive - ne survient pas au sujet qui le choisirait ou s’y laisserait passivement entraîner. Comme rapport du sujet à sa mort, ce devenir est la constitution même de la subjectivité. A tous les niveaux d’organisation de la vie, c’est-à-dire de l’économie de la mort. Tout graphème est d’essence testamentaire. Et l’absence originale du sujet de l’écriture est aussi celle de la chose et du référent. (Derrida 1967a: 100-101) Markus Meßling 170 So kündigen sich zwei verschiedene anthropologische Anliegen der Schriftbetrachtung an: Während Humboldts Grammatologie zum Ziel hat, anhand linguistischer Untersuchungen der Schrift(en) eine Aussage über die Sprachanlage(n) und damit über den Menschen und seine historische Verschiedenheit zu treffen, trachtet Derrida mit seiner Grammatologie nach einer “- durchstrichenen - Transzendentalität der Urspur” (1983: 157) 14 , die die Grundlage einer Meta-Rationalität und Meta-Wissenschaftlichkeit sein soll, die “in ein und derselben Geste […] den Menschen, die Wissenschaft und die Zeile [überschreiten]” (1983: 156) 15 . Und doch, wenn wir der Frage des Verhältnisses von Subjekt(ivität) und Schrift noch ein wenig folgen, stoßen wir auf eine erstaunliche Nähe der beiden Denker, und zwar in jener identitären Krise, die im Kern sowohl von Humboldts als auch von Derridas Sprachreflexion aufscheint: die Problematik der Selbstbehauptung in der Fremdheit der Sprache. 3. Macht und Freiheit: Anthropologische Konsequenzen des Schriftkonzepts bei Humboldt und Derrida Die grammatologische Aufhebung einer natürlich gegebenen Subjektivität ist für Jacques Derrida ja nicht nur Anlass zum testamentarischen Vollzug in der Schrift, sondern auch die Grundlage für ein Denken der Freiheit, denn die “Schrift ist nicht nur die Weise, das Eigene zu nennen und damit seiner Eigenheit zu berauben. Sie ist auch Eröffnung des Spiels der Differenzen.” (Kimmerle 2000: 38) Die für Jacques Derrida von der Schrift symbolisierte Aufhebung einer Subjekt-Gegebenheit, einer essenziellen ‘Präsenz’ und letztlich einer göttlichen Absolutheit geht einher mit der Erkenntnis von der Nicht-Festgeschriebenheit und Nicht-Festschreibbarkeit von Wahrheit überhaupt. Wenn es jedoch keine absolute Wahrheit gibt, kein göttliches Gesetz, das sich selbst offenbarte, durch das der Mensch determiniert wäre, indem er in es ‘einträte’, in ihm ‘stünde’, so ist er doch immer auf dem Weg dorthin, stets bewegt, sich einer angenommenen Wahrheit immer wieder anzunähern: Evidemment: dans cette situation où, ce qui se passe, c’est que le jugement doit se passer de critères et que la loi se passe de loi, dans ce hors-la-loi de la loi, nous avons d’autant plus à répondre devant la loi. Car l’absence de critériologie, la structure imprésentable de la loi des lois ne nous dispense pas de juger à tous les sens, théorique et pragmatique, de ce mot, […]; au contraire, elle nous enjoint de nous présenter devant la loi et de répondre a priori de nous devant elle qui n’est pas là. En cela aussi nous sommes, quoi que nous en ayons, des préjugés. (Derrida 1985: 94-95) Das in der Grammatologie entwickelte Prinzip der steten Suche bzw. Setzung und steten Sinn-Aufschiebung wird hier zur conditio humana, 16 und in diesem Sinne ist der Mensch im Denken Derridas ein “Préjugé” 17 , ein Vorverurteilter. Aber seine Vorverurteilung ist jene zur Freiheit, denn die Abwesenheit eines absoluten Gesetzes ist die notwendige Voraussetzung für das menschliche Urteilen, das die Frage der Gesetzesanwendung überschreitet: Si les critères étaient simplement disponibles, si la loi était présente, là, devant nous, il n’y aurait pas de jugement. Il y aurait tout au plus savoir, technique, application d’un code, apparence de décision, faux procès, ou encore récit, simulacre narratif au sujet du jugement. Il n’y aurait pas lieu de juger ou de s’inquiéter du jugement, il n’y aurait plus à se demander “comment juger? ”. (Derrida 1985: 94) Behauptung (in) der Schrift 171 So liegt in der Setzung von ‘Wahrheit’, in diesem immer wieder auszuhandelnden kantschen “Als ob” 18 die Möglichkeit zum Selbstentwurf. Dies hat Jacques Derrida in seiner Lektüre von Franz Kafkas Parabel Vor dem Gesetz reflektiert: La loi est interdite. Mais cette auto-interdiction contradictoire laisse l’homme s’auto-déterminer “librement”, bien que cette liberté s’annule comme auto-interdiction d’entrer dans la loi. Devant la loi, l’homme est sujet de la loi, comparaissant devant elle. Certes. Mais, devant elle parce qu’il ne peut y entrer, il est aussi hors la loi. Il n’est pas sous la loi ou dans la loi. Sujet de la loi: hors la loi. (Derrida 1985: 122) Und etwas weiter im Text: Elle [la loi] laisse l’homme se déterminer librement, elle le laisse attendre, elle le délaisse. Et puis neutre, ni au féminin, ni au masculin, indifférente parce qu’on ne sait pas si c’est une personne (respectable) ou une chose, qui ou quoi. La loi se produit (sans se montrer, donc sans se produire) dans l’espace de ce non-savoir. (Derrida 1985: 125) Hier verschmelzen die grammatologische Aufhebung von essenzialistisch gedachter Subjektivität in der Sprache und die talmudische, jedesmalige Annäherung - als sprachliche Setzung - an das politisch-religiöse ‘Gesetz’ zur Freiheit des Menschen. Wenn aber Sprache von einem solchen grammatologischen Prinzip der Aufhebung charakterisiert ist, sie also im Gegensatz zu Humboldts Konzeption nicht Ausdruck einer natürlich gegebenen und historisch (weiter-)entwickelten Subjektivität ist, die das Individuum nach deren - für Humboldt allerdings spannungsreichen - Aneignung charakterisiert, wenn sie also auch niemandem kulturell ‘gehört’, wie kann sie dann das Medium jener “colonialité de la culture” (Derrida 1996: 47) sein, die Derrida selbst in der traumatischen Begegnung mit einer machtvollen sprachlichen Fremdheit - der des Französischen - erfahren hat und die er in dem Dyptichon “Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne.” (Derrida 1996: 13) zu fassen sucht? Wie erklärt sich die Erfahrung sprachlicher Fremdheit, die Derrida in Le monolinguisme de l’autre mit so schmerzlichen Worten beschreibt? Sie ist dort nämlich nicht nur die Begegnung mit einer fremden Sprache, sondern die Erfahrung der Fremdheit in der eigenen Sprache: Or jamais cette langue, la seule que je sois ainsi voué à parler, tant que parler me sera possible, à la vie à la mort, cette seule langue, vois-tu, jamais ce ne sera la mienne. Jamais elle ne le fut en vérité. Tu perçois du coup l’origine de mes souffrances, puisque cette langue les traverse de part en part, et le lieu de mes passions, de mes désirs, de mes prières, la vocation de mes spérences. (Derrida 1996: 14) Auch in der humboldtschen Sprachbetrachtung ist die Problematik der Fremdheit präsent und auch bei Humboldt ist sie nicht einfach die Begegnung mit einer anderen Sprache, sondern stellt für ihn sogar eine menschliche Urerfahrung dar, insofern nämlich, als sie jedes Individuum in der Ontogenese wieder erfährt. Da die Sprache als genetische Schwester der Schrift aus der gleichen formalen Anlage entspringt, ist auch sie Ausdruck eines Sprachsinns, und damit einer natürlich gegebenen, sich dann entfaltenden kollektiven Subjektivität. Wie die Schrift, die dies schon durch die spezifische Äußerlichkeit symbolisiert, ist die Sprache Ausdruck der historischen Gewordenheit einer kulturellen Entität. Jedes Individuum, das in eine kulturelle Gemeinschaft “hineingeboren” wird, ist daher in eine sprachliche Situation geworfen, der es sich nicht entziehen kann. Denn es erwächst ja nicht jedes Mal eine neue Sprache in diesem Prozess, sondern das Individuum, das mit der universellen Fähigkeit zu sprechen in die Welt kommt, muss diejenige Sprache erlernen, die es umgibt, um zu kommunizieren und um die Markus Meßling 172 formale Materialität seiner höheren geistigen Vorgänge zu erwerben. Die grundsätzliche Erfahrung der Fremdheit in der eigenen Muttersprache wird bei Humboldt also plausibel durch eine sanfte Unterwerfung des Individuums unter eine kollektive, historisch gewachsene sprachliche Struktur: Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit, für den Menschen etwas Fremdes; er ist dadurch auf der einen Seite gebunden, aber auf der andren durch das von allen früheren Geschlechtern in sie Gelegte bereichert, erkräftigt, und angeregt. Indem sie dem Erkennbaren, als subjectiv, entgegensteht, tritt sie dem Menschen, als objectiv, gegenüber. (GS IV: 27; H.v.m.) Wie stark aber ist das Denken des Individuums durch das ihm von der Tradition verliehene Instrument der Sprache bereits vorgeformt? Christian Stetter (1990: 184) hat die Vorstellung, der humboldtschen Erkenntnistheorie liege das Konzept einer sprachlichen Determiniertheit des Denkens zu Grunde, negiert und beurteilt das Sprachsystem als Angebot an zweckmäßigen Formen, derer sich die Einbildungskraft aufgrund der “Isomorphie von sprachlicher und logischer Artikulation” (ebda.) bedienen kann, um sinnvolle Gedanken zu bilden. Humboldt selbst hat dies so formuliert: Die Sprache hat dann das Verdienst, der Mannigfaltigkeit der Wendungen Freiheit und Reichthum an Mitteln zu gewähren, wenn sie oft auch nur die Möglichkeit darbietet, diese in jedem Augenblick selbst zu erschaffen. (GS VII: 93) Jürgen Trabant (1985: 178f.) betont in Bezug auf Humboldts Sprachdenken, dass “die Weltansichten keine Gefängnisse des Denkens” sind, nicht nur, weil jedes individuelle Sprechen über die historisch-kollektive Ansicht der Einzelsprache hinausgeht, sondern auch, weil die eigenen Grenzen durch Erlernen anderer Sprachen überwindbar sind. Darüber hinaus ist in einem allgemeineren philosophischen Sinn für Humboldt die - auch sprachliche - “Beschränkung der Individualität des Menschen” (GS VII: 25) und die Leitung durch ein “Princip der Totalität” (ebda.: 24) sogar die notwendige Bedingung für jede Gemeinschaftlichkeit, aus der zentrale emotionale, politische und ethische Bindungen wie Freundschaft und Humanität hervorgehen. 19 Das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Sprache bleibt aber für Humboldt spannungsreich. Die Freiheitsproblematik ist in Form der für die Sprache konstitutiven Spannung zwischen der “selbstständigen Macht” (GS VII: 63) der Sprache als System und dem menschlichen Geist und seiner das System verändernden “Gewalt” im humboldtschen Sprachdenken stets präsent. 20 Das zeigen die folgenden Zeilen aus § 9 über “Natur und Beschaffenheit der Sprache überhaupt”, dem philosophischen Kern von Humboldts Hauptwerk, der Einleitung zum Kawi-Werk: Die Sprache gehört mir an, weil ich sie so hervorbringe, als ich thue; und da der Grund hiervon zugleich in dem Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter liegt, […], so ist es die Sprache selbst, von der ich dabei Einschränkung erfahre. Allein was mich in ihr beschränkt und bestimmt, ist in sie aus menschlicher, mit mir innerlich zusammenhängender Natur gekommen, und das Fremde in ihr ist daher dies nur für meine augenblicklich individuelle, nicht meine ursprünglich wahre Natur. Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volke alles dasjenige bindend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der einzelnen Generation in Berührung tritt, […], so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der letzteren, durch die Möglichkeit, ihre Formen, dem allgemeinen Verständniß Behauptung (in) der Schrift 173 unbeschadet, auf sehr verschiedene Weise aufzunehmen, und durch die Gewalt, welche alles lebendig Geistige über das todt Überlieferte ausübt, wird das Gleichgewicht wieder einigermaßen hergestellt. (GS VII 63-64; H.v.m.) Die Fremdheit des Individuums in seiner Sprache wird also bei Humboldt plausibel durch die Begegnung mit der semantisch-strukturellen Beschaffenheit dieser Sprache und dem darin enthaltenen geistigen Kondensat, das Humboldt den “(National-) Charakter” nennt, mit der spezifischen Individualität der Sprache also, ihrer formalen, historischen, kulturellen, politischen und sozialen Eigenschaft. Die Schrift, in der diese Eigenschaften in nicht unerheblicher Weise formal, funktional und ästhetisch materialisiert sind, verdeutlicht diese Fremdheit, ist aber zugleich das Medium, das ihre Reflexion erst ermöglicht. 21 Wenn aber die Begegnung mit der Sprache in anthropologischer Hinsicht spannungsreich bleibt, so ist ihre individuelle Aneignung für Humboldt doch gleichbedeutend mit der Eingliederung in einen “Nationalcharakter”. Trotz der verbleibenden Fremdheit ist die Individualität der (Mutter-) Sprache als “Weltansicht” substanziell und damit unumstößlich Teil der kulturellen Identität des Subjekts, und zwar ein “bereichernder, erkräftigender, anregender” (vgl. noch einmal GS IV: 27). 22 Hier setzt nun die Problematik der Fremdheit in der Sprache bei Derrida ein. Denn der Zusammenhang von Sprache und Identität stellt sich für ihn wesentlich prekärer dar. Wenn Jacques Derrida das Konzept von Sprache als Ausdruck einer gegebenen Subjektivität gerade ablehnt, so ist es doch genau jene Begegnung mit der zivilisatorischen Besetzung des und durch das Französische, die ihn in die existenzielle Erfahrung sprachlicher Fremdheit führt, von der Le monolinguisme de l’autre erzählt. Gemeint ist seine Erfahrung als Franzose algerisch-jüdischer Herkunft, der keine andere Sprache als das Französische besitzt, das ihn doch diszipliniert und ihm schließlich entzogen werden soll und in gewisser Weise auch wird, 23 die Erfahrung also einer Abhängigkeitsliebe vom “Mutterland” und seiner Metropole Paris, der “Ville-Capitale-Mère-Patrie” (Derrida 1996: 73), in der Frankreich als monumentale Schulmeisterin auftritt: Un pays de rêve, donc, à une distance inobjectivable. En tant que modèle du bien-parler et du bien-écrire, il représentait la langue du maître (je crois n’avoir d’ailleurs jamais reconnu d’autre souverain dans ma vie). Le maître prenait d’abord et en particulier la figure du maître d’école. (Derrida 1996: 73) Die Besatzer sind “oppresseurs et normatifs, normalisateurs et moralisateurs” (Derrida 2005: 39), ihre koloniale Macht ist umfassend, sie enthält die kulturelle Kraft der Bezeichnung: “La maîtrise, on le sait, commence par le pouvoir de nommer, d’imposer et de légitimer les appellations.” (Derrida 1996: 68; H.v.m.) 24 Benennung und Normierung, Setzung in der eigenen Sprache und Gesetz - die sprachliche Hoheit ist die am weitesten tragende und zugleich subtilste Macht der Besatzer, weil sie Aneignung in einem zweifachen Sinne bedeutet: Le monolinguisme de l’autre, ce serait d’abord cette souveraineté, cette loi venue d’ailleurs, sans doute, mais aussi et d’abord la langue même de la Loi. Et la Loi comme Langue. Son expérience serait apparemment autonome, puisque je dois la parler, cette loi, et me l’approprier pour l’entendre comme si je me la donnais moi-même; mais elle demeure nécessairement, ainsi le veut au fond l’essence de toute loi, hétéronome. La folie de la loi loge sa possibilité à demeure dans le foyer de cette auto-hétéronomie. C’est en faisant fond sur ce fond qu’opère le monolinguisme imposé par l’autre, ici par une souveraineté d’essence toujours coloniale et qui tend, répressiblement et irrépressiblement, à réduire les langues à l’Un, c’est-à-dire à l’hégémonie de l’homogène. (Derrida 1996: 69) Markus Meßling 174 Zwar lehnt Jacques Derrida die nahe liegende Schlussfolgerung ab, seine Reflexion über die Sprache sei allein das Produkt seiner “anamnèse auto-biographique” (Derrida 1996: 39), sei ein “timide essai de Bildungsroman intellectuel” (Derrida 1996: 131). Denn er erkennt darin die Konsequenz einer Unübersetzbarkeit im philosophischen Sinne, einer grundsätzlichen Fremdheit, eines “‘ailleurs’ dont le lieu et la langue m’étaient à moi-même inconnus ou interdits, comme si j’essayais de traduire dans la seule langue et dans la seule culture francooccidentale dont je dispose, dans laquelle j’ai été jeté à la naissance, une possibilité à moimême inaccessible, […], comme si je tissais encore quelque voile à l’envers […] et comme si les points de passage nécessaires de ce tissage à l’envers étaient des lieux de transcendance, donc d’un ‘ailleurs’ absolu, au regard de la philosophie occidentale gréco-latino-chrétienne, […].” (Derrida 1996: 131-132) Und doch gesteht er ein, dass nichts von dieser Erkenntnis von der Alterität der Sprache und der Alterität im Denken und von deren (Nicht-) Reflexion in der abendländischen Philosophie ihm ohne seine “Krankengeschichte” begreiflich geworden wäre: Certes. Mais je ne saurais en rendre compte à partir de la situation individuelle que je viens de décrire si schématiquement. Cela ne peut s’expliquer à partir du trajet individuel, celui du jeune Juif “franco-maghrébin” d’une certaine génération. […] Une généalogie judéo-franco-maghrébine n’éclaire pas tout, loin de là. Mais pourrais-je rien expliquer sans elle, jamais? Non, rien, rien de ce qui m’occupe, m’engage, me tient en mouvement ou en “communication”, […]. (Derrida 1996: 132-133) Es wird deutlich, wie zentral die Lebenserfahrungen, die Derrida in Le monolinguisme de l’autre schildert und reflektiert, für sein philosophisches Denken insgesamt sind. Weniger als ein discours de la méthode ist das kleine Buch daher die relativ späte Offenlegung einer individuellen ‘Urerfahrung’, die jene der Fremdheit im vermeintlich Eigenen und der Dezentrierung des Selbst ist, und zwar dort, wo diese Entrückung am schmerzhaftesten erscheint: in der eigenen Sprache. Die fest mit dem Selbst verbunden geglaubte Sprache kann ‘entzogen’ werden - natürlich nicht im materiellen Sinne und auch nicht ihre Verfügung im Sinne der Kompetenz, aber doch ihre kulturell-identitäre Funktion. Sie ist nicht Ausdruck einer historischen Subjektivität, die als angeeignete im humboldtschen Sinne von ‘innen heraus’ Teil der Identität des Individuums wäre. In Apprendre à vivre enfin lautet dies so: “Une histoire singulière a exacerbé chez moi cette loi universelle: une langue, ça n’appartient pas. Pas naturellement et par essence.” (Derrida 2005: 39) Sprache ist nur sprechbar, nutzbar, sie bleibt dabei etwas Geliehenes, ‘Anderes’, darin liegt ihre wesenhafte Fremdheit. Wenn eine Sprache aber nicht/ niemandem ‘gehört’, also nicht Ausdruck einer Identität ist, so ist sie auch selbst nicht per se determiniert: In diesem Sinne ist das Postulat der “non-identité à soi de toute langue” (Derrida 1996: 123) zu verstehen. Der identitäre ‘Charakter’ einer Sprache ist immer das Produkt ihrer Bestimmung, und daher resultiert dann auch die Möglichkeit ihrer kulturellen Zuordnung, der Zuschreibung von Sprache an jemanden, an ein kulturelles Kollektiv und der damit verbundene herrschaftliche Gebrauch: “[…] une langue, ça n’appartient pas. […] D’où les fantasmes de propriété, d’appropriation et d’imposition colonationaliste.” (Derrida 2005: 39-40) Die derridasche Lektüre philosophischer Texte, in der das Aporetische, die unausgesprochene Gegenbewegung, das implizite Fremde gesucht und ans Licht befördert werden, offenbart sich als subversive Unterwanderung, die die Aufhebung kultureller Festschreibungen und metaphysischer Zuschreibungen zwar postuliert, aber gerade aus der bitteren sprachlichen Erfahrung von deren subtiler Macht und kolonialer Kraft, also aus der Erfahrung ihrer Realität heraus. Hier wird die politische Prägung eines Behauptung (in) der Schrift 175 großen Denkers deutlich, dessen Konzeption von Subjektivität nicht “das Produkt einer auf das Soziale nicht mehr bezogenen individuellen Selbsterfindung ist” (Kalb 2000: 164) 25 , sondern einem aus der beschriebenen Erfahrung hervorgehenden ethischen Impetus folgt. Die philosophische Konsequenz sollte das begriffliche Ringen mit der ‘Festschreibung’ des Menschen in einer dekonstruktivistischen Sprache sein. So erhellt auch die Grammatologie (1967a), Derridas disours de la méthode, vor diesem Hintergrund: Tous ces mots: vérité, aliénation, appropriation, habitation, “chez-soi”, ipséité, place du sujet, loi, etc., demeurent à mes yeux problématiques. Sans exception. Ils portent le sceau de cette métaphysique qui s’est imposée à travers, justement, cette langue de l’autre, ce monolinguisme de l’autre. Si bien que ce débat avec le monolinguisme n’aura pas été autre chose qu’une écriture déconstructive. Celle-ci toujours s’en prend au corps de cette langue, ma seule langue, et de ce qu’elle porte le plus ou le mieux, à savoir cette tradition philosophique qui nous fournit la réserve de concepts dont je dois bien me servir, et que je dois bien servir depuis tout à l’heure pour décrire cette situation, jusque dans la distinction entre universalité transcendentale ou ontologique et empiricité phénoménale. (Derrida 1996: 115) Über die bereits beschriebene symbolische Aufhebung essenzialistisch gedachter Subjektivität hinaus kommt hier eine weitere Relevanz der Schrift zum Ausdruck; diese ist zwar konkreter, aber doch von ebenso dekonstruktivistischem Charakter, indem sie den ‘Köper’ der Sprache angreift, also deren Struktur modifiziert oder gar partiell zerstört, allerdings mit dem Ziel, etwas neu in ihr formulierbar zu machen, sie sich in gewisser Weise anzueignen. Gemeint ist hier die Schrift als subversives Verfahren, als “révolution interminable” (Derrida 2005: 31), jene Arbeit an der Sprache, durch die etwas Besonderes, in der Individualität des Schreibenden Liegendes Eingang in die kulturell ‘beschriebene’ Sprache findet. 26 Was seine Texte wie nur wenige andere philosophische Schreibungen zeigen, jene “résistance acharnée” (Derrida 1996: 99) des individuellen Sprachgebrauchs, jene ‘Unübersetzbarkeit’ - bis hin zur Unverständlichkeit, ist man bei der Lektüre bisweilen genötigt hinzuzufügen - hat Jacques Derrida in seinem letzten Interview mit Jean Birnbaum so benannt: Et de même que j’aime la vie, et ma vie, j’aime ce qui m’a constitué, et dont l’élément même est la langue, cette langue française qui est la seule langue qu’on m’a appris à cultiver, la seule aussi dont je puisse me dire plus ou moins responsable. Voilà pourquoi il y a dans mon écriture une façon, je ne dirais pas perverse, mais un peu violente, de traiter cette langue. Par amour. L’amour en général passe par l’amour de la langue, qui n’est ni nationaliste ni conservateur, mais qui exige des preuves. Et des épreuves. On ne fait pas n’importe quoi avec la langue, elle nous préexiste, elle nous survit. Si l’on affecte la langue de quelque chose, il faut le faire de façon raffinée, en respectant dans l’irrespect sa loi secrète. C’est ça, la fidélité infidèle: quand je violente la langue française, je le fais avec le respect raffiné de ce que je crois être une injonction de cette langue, dans sa vie, dans son évolution. […] Laisser des traces dans l’histoire de la langue française, voilà ce qui m’intéresse. Je vis de cette passion […]. (Derrida 2005: 37-38; H.v.m.) Hier wird deutlich, dass die französische Sprache für Derrida durchaus ein historisches ‘Subjekt’ ist, das seine Struktur und innere Gesetzlichkeit evolutionär ausgeprägt hat. Dieses Subjekt hat jedoch sein eigenes Leben, ist gewissermaßen ein Abstraktum, etwas Eigenes und nicht Ausdruck einer kollektiven Subjektivität. Die kulturell-identitäre Zuschreibung des Französischen bleibt für Derrida ein “Phantom”, eine Konstruktion, gegen die es die Freiheit des eigenen Sprechens, das eigene “Idiom” zu behaupten gilt. Im individuellen Sprachgebrauch sieht indes auch Humboldt ein Moment der Freiheit, das der strukturellen Macht der Sprache abgerungen werden kann: Markus Meßling 176 In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modificiert, offenbart sich, ihrer im vorigen dargestellten Macht gegenüber, eine Gewalt des Menschen über sie. Ihre Macht kann man (wenn man den Ausdruck auf geistige Kraft anwenden will) als ein physiologisches Wirken ansehen; die von ihm ausgehende Gewalt ist ein rein dynamisches. In dem auf ihn ausgeübten Einfluß liegt die Gesetzmäßigkeit der Sprache und ihrer Formen, in der aus ihm kommenden Rückwirkung ein Princip der Freiheit. (GS VII: 65; H.v.m.) Erst diese Freiheit der dynamischen Veränderung ist es, die Individualität ermöglicht und schließlich, in der Summe der individuellen Text-Arbeiten, auch den spezifischen Charakter einer Sprache ausprägt. Das Studium des Charakters, das für Humboldt den “Schlussstein der Sprachkunde” (GS IV: 13) darstellt, 27 geht daher von der Frage des Stils aus, der “das Resultat des individuellen synthetischen Aktes des Sprechens ist” (Cesare 1998: 127). Immer wieder bezieht Humboldt sich auf die Eigenheiten von Texten - der Bezug auf die griechischen Schriftsteller von Homer bis zu den Byzantinern zur Charakterisierung des Griechischen in der Kawi-Einleitung 28 ist dafür nur ein Beispiel von vielen in Humboldts Werk. Als Bedingung aber für die Ausprägung von Individualität in Texten kommt der Schrift eine eminent wichtige Funktion zu: Erst die schriftlich fixierte Tradition, welche die Individualität der einzelnen Sprecher in die vom synthetischen Akt der Rede zurückbleibende Spur einschreibt, erlaubt sowohl die Bearbeitung der Sprachstruktur, als auch die Ausbildung des Charakters. Und noch einmal zeigt sich die eigenständige Stellung Humboldts, der gerade in der Schrift die Grundlage erkennt, auf der sich die sprachliche Individualität konstituieren kann. (Cesare: 127) Es ist das grammatische und semantische Ausschreiten und Ausdehnen der vorgegebenen Struktur, die der Sprache aus Liebe zugefügte, ja eingeschriebene Gewalt, was Humboldt interessiert, weil nur darin sprachliche Dynamik, Leben, Individualität ist. Jürgen Trabant hat daher Humboldts anthropologische Position als “Studium der Subversion oder der Auflehnung (Gewalt) gegen die Systeme” (1986a: 202-204) beschrieben. Es ist schon erstaunlich, dass Jacques Derrida Wilhelm von Humboldt in seinen Reflexionen nicht begegnet ist - oder uns zumindest nichts darüber mitgeteilt hat. Anmerkungen 1 Vgl. Welbers (2002: 239f.) 2 Vgl. Trabant (1986b: 301), der Humboldts Erkenntnistheorie folgendermaßen charakterisiert: “Humboldts philosophischer Weg lässt sich geradezu als ein Weg vom Bild zur Stimme, als Transformation der Ein- Bildungs-Kraft in Ein-Stimmungs-Kraft bzw. Überein-Stimmungs-Kraft darstellen. Humboldts Sprachtheorie stellt eine Wende von der traditionell visuell-okularen (solipsistischen) Erkenntnistheorie zu einer auditivaurikularen (dialogischen) Erkenntnistheorie dar.” Vgl. auch Caussat (2002), der Humboldts philosophische “Dialogik” kontrastierend gegen Hegels auf das Ich, das Selbst bezogene, monologische Dialektik herausgearbeitet hat. 3 “Was Schrift abbildet, sind nicht die physiologisch bestimmbaren Laute, sondern die Form, die bedeutungsunterscheidend sprachliche Ausdrücke bestimmt, also eben die sprachliche Artikulation: […].” (Maas 1986: 280) 4 Ausführlicher zur Frage von ‘Innerlichkeit’ und ‘Äußerlichkeit’ vgl. das gesamte Kapitel “Le dehors et le dedans” (Derrida 1967a: 46-64). - Dass Derrida Saussure mit dieser Verortung zwar ideengeschichtlich, aber nicht in sprachwissenschaftlicher Hinsicht gerecht wird, hat Fehr (1992) betont, der aufgezeigt hat, dass Saussure Sprache in seinen späten Vorlesungen eben nicht mehr als “langage”/ ”Logos”, sondern von der “langue”/ ”glossa” und schließlich sogar den “langues”, der Verschiedenheit der (natürlichen) Sprachen, her denkt: “Der Zeichenbegriff ist also bei Saussaure sozusagen kontrapunktisch zur Erfahrung der Zersplitterung Behauptung (in) der Schrift 177 der Sprachen gesetzt und hat die Aufgabe, die Möglichkeit sprachlicher Kommunikation zu garantieren, die ja in Frage gestellt ist, wenn es nur noch Individualsprachen gibt.” (Ebda.: 51) Wenn Saussure die Schrift aus dem Gegenstandsbereich der Linguistik ausgrenzt, so nicht vom Standpunkt einer Metaphysik der Präsenz aus, sondern es “drängt sich jetzt der Schluss auf, dass Saussures Vorbehalte gegenüber der Schrift daher rühren, dass die Schrift in seinen Augen die Tendenz hatte, die von ihm als grundlegend erkannte Auflösung und Zersplitterung der Sprachen in Lokal- und Individualsprachen zu verschleiern oder in ihrer Radikalität zu mildern. Denn in der Schrift haben lokale und individuelle Abweichungen keinen Platz.” (Ebda.: 52) 5 Vgl. hierzu Trabant (1986b: 307), der in der hier dargestellten kinematographischen Formung des Gedankens die von der Stimme letztlich unabhängige Geltung des artikulatorischen Prinzips der Sprache sieht: “Artikulierte Sprache bleibt damit zwar an die Bewegungsabläufe des Mundes gebunden. Diese werden aber über das Auge wahrgenommen und schließlich mit der Schrift der Hand überantwortet. Artikulierte Sprache ist vom Laut unabhängig, da es eine Artikulationsfähigkeit jenseits des Lauts gibt. Die Buchstabenschrift als Abbildung der letztlich transphonetischen Artikulation, ist damit wesentlich kinematographisch statt phonographisch.” 6 Vgl. auch Christy (1994: 28), der betont, dass die Annahme einer solchen ‘inneren Schrift’ Humboldt erlaubt, die Entwicklung einer gliedernden formalen Struktur auch bei solchen Sprachen zu erklären, die keine (materielle) Schrift besitzen, die die Sprachanalyse begünstigen würde, und: “By allowing for the inner existence of writing prior to its outer manifestation, Humboldt was additionally able to reconcile with reality his view that writing was an indispensable component in the process whereby a language develops into an ever more complete, more perfect organ of human expression.” (Ebda.) 7 Zum Begriff der “supplémentarité” im derridaschen Diskurs vgl. dessen terminologisch aufschlussreichen Aufsatz “La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines”, in: Ders. (1967c: v.a. 423-425). 8 Hierin sehen Fehrmann/ Linz/ Epping-Jäger (2005: 9) einen zentralen Erkenntnisgewinn des Spur-Begriffs: “Die theoretische Produktivität des Begriffs, die sich gleichermaßen in den Kulturwie in den Neurowissenschaften zeigt, in der Informatik ebenso wie in der Psychologie, scheint aus der Eigentümlichkeit der Spur zu resultieren, eine Beziehung zwischen Absenz und Präsenz zu stiften, die gerade nicht auf dem Prinzip der Repräsentation beruht. Spuren sind Hinterlassenschaften, keine Abbildungen von Ereignissen. Ihre Funktion liegt nicht im Bewahren, sondern im Verweisen auf Nicht-Gegenwärtiges.” 9 Vgl. Derrida (1967a: 100f./ Fußnote 31) sowie das Kapitel “Die Einschreibung der Fäden/ Söhne: Theuth, Hermes, Thot, Nabux, Nebo” in: Ders. (1972: 94-106). 10 “Humboldt denkt hier die sprachmediale Wende Hamanns weiter, indem er das spurlose Denken erst in der Spur der sinnlichen Repräsentanz durch den Laut zu sich selbst kommen, erst aus der Nachträglichkeit einer ‘’Lektüre’ der eigenen Spur’ oder durch die ‘semiologische Medialität des sinnlich erscheinenden Sprachzeichens’ Sinn und Bedeutung erlangen lässt.” (Wetzel 2005: 80) 11 Vgl. Di Cesare (1998: 88). 12 Vgl. Borsche (1989: 60-62). 13 Vgl. hierzu das Kapitel “Le dehors est le dedans” in Derrida (1967a: 65-95). 14 Im Original: “la transcendantalité - sous rature - de l’archi-trace” (Derrida 1967a: 132). 15 Im Original: “Elles [la méta-rationalité et la méta-scientificité] passent d’un seul et même geste l’homme, la science et la ligne”, Derrida (1967a: 131). Vgl. hierzu auch die begriffliche Abgrenzung der “grammatologie” von der “graphologie” in: Ders. (1967a: 131ff). Zum Zusammenhang zwischen der Dekonstruktion als ‘Methode’ und der Dekonstruktion des emphatischen Subjekt-Begriffs vgl. Kimmerle (2000: 23ff.). 16 Kimmerle (2000: 28) beschreibt die Bedeutung der Schrift für den Menschen im Denken Derridas daher mit dem heideggerschen Terminus des “Existentials”. 17 So lautet auch der Titel von Jacques Derridas Kafka-Lektüre (Derrida 1985). 18 Zu Derridas Reflexion des kategorischen Imperativs im Zusammenhang mit der Problematik des Gesetzes bzw. des Urteilens vgl. Derrida (1985: 108f.); an zentraler Stelle heißt es hier: “Ce ‘comme si’ permet d’accorder la raison pratique avec une téléologie historique et la possibilité d’un progrès à l’infini. J’avais essayé de montrer comment il introduisait virtuellement narrativité et fiction au cœur même de la pensée de la loi, à l’instant où celle-ci se met à parler et à interpeller le sujet moral.” (108) 19 Vgl. GS VII: 24f. 20 Zu Humboldt und der Fremdheit der Sprache vgl. auch Trabant (1997) sowie Jostes (2004: v.a. 9-16). Die humboldtsche Konzeption der Sprache als “individuelles Allgemeines” hat Kalb (2000) in ihrer Bedeutung für das Verständnis von Nietzsches Theorie des Subjekts reflektiert. 21 “Die Schrift gibt die Sprache als eine Größe zu erkennen, die der individuellen sprachlichen Sinngebung vorausgeht und zugleich die Bedingung ihrer Möglichkeit ist.” (Jostes 2004: 149) Markus Meßling 178 22 In dieser Hinsicht steht Humboldt damit ganz in der Tradition Johann Gottfried Herders; vgl. zu dessen Idee der vor allem sprachlich vermittelten kulturellen Zugehörigkeit Berlin (1999: 60-61). 23 Die Sprachproblematik, die Jacques Derrida als französischer Staatsbürger jüdischer Herkunft im kolonialen Algerien bewusst erlebt und die durch den Entzug der Staatsbürgerschaft unter dem Vichy-Regime zum Trauma wird, hat Jürgen Trabant (im Druck) analysiert. 24 Mit fast den gleichen Worten beginnt Louis-Jean Calvet (1974) das zentrale Kapitel “Le droit de nommer” in seinem wichtigen Buch über Sprachwissenschaft und Kolonialismus: “Tout commence par la nomination. Le mépris de l’autre (c’est-à-dire la méconnaissance ou l’incompréhension de l’autre non assortie d’un souci et d’un effort de connaissance ou de compréhension) se manifeste dès les premiers contacts pré-coloniaux dans l’entreprise taxinomique.” (56), um wenige Seiten weiter das Fazit zu ziehen: “Et c’est ne forcer que peu la métaphore que de dire ici que le partage colonial commence par la segmentation taxinomique.” (58). 25 Dies zu betonen, scheint mir umso wichtiger, als Christoph Kalb (ebda.) mit Nietzsche und Heidegger als Wegbereitern “jener ‘postmodernen’ Missverständnisse” (einer sich selbst sprechenden Sprache und einer nichtsozialen Subjektkonstitution) Traditionen aufruft, die natürlich auch für Derridas Denken von entscheidender Bedeutung sind. 26 Dass dies in gewisser Weise ein Unterfangen von stets beschränktem Erfolg ist, gesteht Derrida in dem vorangegangenen Zitat selbstkritisch ein: “[…] ma seule langue, et de ce qu’elle porte le plus ou le mieux, à savoir cette tradition philosophique qui nous fournit la réserve de concepts dont je dois bien me servir, et que je dois bien servir […].” (Derrida 1996: 115) 27 Vgl. Trabant (1986b: 308-310). 28 Vgl. GS VII: 202-204. Bibliographie Berlin, Sir Isaiah (1999): The Roots of Romanticism (The A.W. Mellon Lectures in the Fine Arts, Bollingen series XXXV: 45). Hrsg. von Henry Hardy. 3 Princeton, N.J. 2001: Princeton University Press. Borsche, Tilman (1989): “Die innere Form der Sprache. Betrachtungen zu einem Mythos der Humboldt-Herme(neu)tik”. In: Scharf, Hans-Werner (Hg.): Wilhelm von Humboldts Sprachdenken - Symposium zum 150. Todestag. Essen: Hobbing: 47-65. Calvet, Louis-Jean (1974): Linguistique et colonialisme. Petit traité de glottophagie. Paris: Payot. Cassirer, Ernst (1923): Philosophie der symbolischen Formen (Erster Teil: Die Sprache). 2 Oxford 1954: Bruno Cassirer. Caussat, Pierre (2002): “Dialektik gegen Dialogik. Über die Unmöglichkeit jeder wirklichen Begegnung zwischen Hegel und Humboldt”. In: Lindorfer, Bettina / Naguschewski, Dirk (Hg.): Hegel: zur Sprache. Beiträge zur Geschichte des europäischen Sprachdenkens. 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