eJournals Kodikas/Code 27/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
273-4

Der Keiler sprach zur Sau: "Wir werden Mann und Frau!" - Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen im Bilderbuch

121
2004
Dagmar Schmauks
kod273-40285
Der Keiler sprach zur Sau: “Wir werden Mann und Frau”. * Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen im Bilderbuch Dagmar Schmauks 1. Einleitung Seit Jahren wird in Kinder- und Jugendbüchern kräftig gegrunzt und herumgeschnobert. Die Geschichten von Schweinchen Babe und Rennschwein Rudi Rüssel etwa waren als Filme Kassenschlager und als Bücher Bestseller. Was macht Schweine - neben Pferden, Hunden, Katzen und Mäusen - zu idealen Helden für Kinder- und Jugendbücher? Schweine sind kluge, lebhafte und sehr soziale Tiere und daher ideale Identifikationsfiguren. Ferner sind die Ferkel besonders neugierig, drollig und sprechen das Kindchenschema an. Daneben aber existiert weiterhin das Wildschwein als Inbegriff des Urigen und Tapferen. Vor allem die Keiler beeindrucken durch Größe, Gewicht und Wehrhaftigkeit, denn ihre gefährlichen Hauer sind deutlich sichtbar. Bereits das Aufstöbern eines heimlich lebenden Keilers erfordert einen erfahrenen Spurenleser, und die rasende Wut und Verteidigungsbereitschaft eines verletzten Tieres sind sprichwörtlich. Zahllose Texte, Bilder und Skulpturen von der Antike bis heute zeigen den siegreichen Kampf eines Jägers und seiner Meute mit einem Keiler (zahlreiche Beispiele in Dannenberg 1990: 19ff); man denke etwa an die Sage des Herakles, zu dessen zwölf Heldentaten die Überwältigung des Erymanthischen Ebers zählte. Die Keilerjagd galt folglich immer als herausragende Bewährungsprobe, vor allem für Männer - eine Ausnahme war die Jägerin Atalante aus Arkadien, die an der Jagd auf den Kalydonischen Eber teilnahm -, wie etwa der folgende ukrainische Haussegen belegt: Gott schicke den Tyrannen Läuse, den Einsamen Hunde, den Kindern Schmetterlinge, den Frauen Nerze, den Männern Wildschweine, uns allen aber einen Adler, der uns auf seinen Fittichen zu IHM trägt. Auch heute noch ist es ein Lebenstraum vieler Jäger, einen kapitalen Keiler zu schießen. Einschlägige Jagdreisen garantieren dieses Ziel, so dass der präparierte Keilerkopf mit K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 286 Abb. 1: Gratispostkarte der Deutschen Post Consult GmbH möglichst ausladenden Hauern dann künftig vom Erfolg des Schützen kündet. Es liegt daher nahe, das Stereotyp des wilden Keilers auch in anderen Kontexten zu verwenden. In den zahlreichen Asterix-Comics von René Goscinny und Albert Uderzo beweist Obelix (der als Kind in einen Zaubertrank gefallen ist) seine außergewöhnliche Kraft durch das mühelose Erlegen von Wildschweinen mit bloßen Händen. Auch in zeitgenössischen Werbeanzeigen dienen Keiler zur Darstellung ungezügelter Wildheit; das Beispiel in Abbildung 1 bezieht sich explizit auf Werbung als “aggressive Keilerei”. Seit langem sind Bär, Wolf und Luchs in den meisten Gebieten Mitteleuropas ausgestorben, so dass Wildschweine die letzten wirklich gefährlichen Wildtiere sind (Zecken hingegen, die jährlich wesentlich mehr gesundheitliche Schäden verursachen, sind zu unscheinbar, um zum Symbol bedrohlicher Urnatur oder gar zur begehrten Trophäe zu werden). In Gegenden mit hohem Schwarzwildbestand werden Wanderer, Jogger und Radfahrer davor gewarnt, im Frühling in Dickungen einzudringen, wo sie Attacken führender Bachen provozieren könnten. Dieser Artikel geht von der speziellen Beobachtung aus, dass in mehreren Bilderbüchern eine Liebesbeziehung zwischen Wild- und Hausschwein beschrieben wird, wobei die Rollenverteilung einheitlich ist, denn die “Mischehe” besteht immer zwischen Wildschwein-Keiler und Hausschwein-Sau. Diese Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen wird im Folgenden analysiert, wobei die Perspektiven von Zoologie, Geschlechtsforschung sowie Sprach- und Literaturwissenschaft zusammengeführt werden. Als Brückenwissenschaft dient die Semiotik, da sich die Charakterisierungen der Rassen und Geschlechter als Zeichenprozesse auffassen lassen. Voranzuschicken sind einige terminologische Klärungen. • In diesem Artikel werden Wildschweine und Hausschweine der sprachlichen Kürze wegen als “Rassen” bezeichnet. Diese Redeweise deckt sich nicht ganz mit der zoologischen, die nur innerhalb der Haustierform von Rassen spricht, etwa dem “Angler Sattelschwein” oder dem “Schwäbisch-Hällischen Schwein” (illustrierte Darstellungen aller Schweinerassen weltweit von “American Landrace” bis “Wuzhishan” unter <http: / / www.ansi.okstate.edu/ breeds/ swine/ >). • Ein weibliches Hausschwein heißt “Sau”, ein männliches “Eber”, ein Jungtier “Ferkel”. Bei Wildschweinen lauten die entsprechenden Ausdrücke “Bache”, “Keiler” und “Frisch- Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 287 ling”. Der Plural “Säue” bezeichnet immer weibliche Hausschweine; ganz vermieden wird demgegenüber der Jägerausdruck “Sauen” (= Wildschweine ab dem 3. Lebensjahr unabhängig vom Geschlecht). In Abschnitt 2 werden zunächst einige zoologische und kulturgeschichtliche Fakten skizziert, die zum Verstehen von (Bilder-)Büchern über Schweine beitragen. 1 Dabei geht es insbesondere um die Domestizierung von Schweinen und die heutige Beziehung zwischen Wild- und Hausschwein. Der zentrale Abschnitt 3 stellt die ausgewählten Bilderbücher vor und analysiert, wie die Stereotype der Rassen (Wildvs. Hausschwein) mit den Stereotypen des Geschlechts verknüpft werden. Es zeigt sich, dass Liebesbeziehungen über die Rassenschranken hinweg immer zwischen einem Keiler und einer Sau geknüpft werden, nie umgekehrt zwischen einer Bache und einem Eber. Diese Rollenverteilung entspricht zwar der Vorstellung von “männlicher” Urwüchsigkeit und “weiblicher” Verfeinerung, wird aber in den Büchern nicht plakativ (und langweilig) durchgehalten, sondern in kreativer und witziger Weise in Frage gestellt. Ein Fazit in Abschnitt 4 rundet die Analyse ab. Ferner gibt es im Anhang als optionale Lektüre die Erzählung “Der Deckeber und die schöne Bache”, in der eine abweichende Rollenverteilung beschrieben wird. 2. Die zoologische und kulturgeschichtliche Ausgangslage Schweine wurden in mehreren Gegenden Eurasiens und in unterschiedlichen Epochen domestiziert. Ferner gibt es noch heute Zwischenstufen “halbwilder” Haltung, in denen die Schweine nur zeitweise in der Nähe des Menschen leben und sich von selbst immer wieder mit Wildschweinen kreuzen. Die Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Schwein war vermutlich nicht sehr schwierig, da sich von der Mutter getrennte Frischlinge leicht auf den Menschen prägen lassen (man denke an das spätere “Polizeischwein” Luise; Franke 1991). Der Kontakt zu einzelnen Tieren kann sehr eng sein, so säugten malayische Frauen manchmal Ferkel (Dannenberg 1990: 24f und 32ff). Auch erwachsene Wildschweine werden schnell vertraut, wenn man ihnen regelmäßig Abfälle anbietet. In Berlin etwa dringen sie zunehmend in die waldnahen Außenbezirke ein, um Komposthaufen, Mülltonnen und Friedhöfe zu durchstöbern. Florian Möllers (2003) hat ihr Treiben unter dem Motto “auf Rüsselhöhe mit den Hauptstadtschweinen” mit Texten und Fotos dokumentiert. Die spätere Geschichte der Schweinezucht verlief regional sehr unterschiedlich. Für nomadisch lebende Menschen sind Schweine ungeeignete Nutztiere, denn mit ihnen kann man sich nicht stetig und geordnet fortbewegen wie mit Schaf-, Ziegen-, Rinder- oder Kamelherden (Dannenberg 1990: 24). Hinzu kamen medizinische Bedenken, als man erkannte, dass Menschen sich durch Schweinefleisch mit Trichinen und Bandwurmfinnen anstecken können (ebenda 45), sowie einige kulturelle Vorbehalte gegen Schweinehaltung. So galt das Schwein den Nomaden als ein verachtenswertes Statussymbol sesshafter Ackerbauern, die mit ihnen um die Nutzung von Flächen konkurrierten (ebenda 46). Da alle Hausschweinrassen vom eurasischen Wildschwein (Sus scrofa) abstammen, sind sie untereinander und mit der Wildform unbeschränkt kreuzbar. Dies erwies sich in jüngster Zeit als vorteilhaft, als bisherige Zuchtziele hinterfragt wurden. Jede marktorientierte Züchtung konzentriert sich nämlich auf erwünschte Eigenschaften und bewirkt daher immer den unwiderruflichen Verlust genetischer Vielfalt. So ist es in der intensiven Tierhaltung nicht mehr wichtig, ob Tiere vielerlei Futter verwerten können oder extreme Temperaturen aushalten. Ausschlaggebend ist lediglich, dass sie möglichst fruchtbar sind, schnell schlachtreif Dagmar Schmauks 288 werden und den Käuferwünschen entsprechend viel mageres Fleisch liefern. Als Nebenwirkung von Domestizierung und Züchtung nahm auch die Gehirnmasse des Schweines ab, da viele Fähigkeiten nicht mehr gefordert wurden. Dieser Intelligenzverlust durch bequeme Lebensbedingungen veranlasste in den 1940er Jahren Konrad Lorenz dazu, im Analogieschluss tendenziös von der “Verhausschweinung des Menschen” zu sprechen. Motiviert durch den rapiden Artenschwund und die damit einhergehende genetische Verarmung setzte ab den 1980er Jahren eine neue Wertschätzung alter Haustierrassen ein. Weil diese damals aber zum Teil bereits ausgestorben waren, begann man mit einer gezielten Rückzüchtung. Eine einmal ausgestorbene Rasse lässt sich jedoch grundsätzlich nicht wiedergewinnen; man kann lediglich die noch verbliebenen Nachkommen untereinander und mit der jeweiligen Wildform so kreuzen, dass die verloren gegangenen Gene zum Teil rekombiniert werden. Das Zuchtziel sind hierbei Tiere, die der Ursprungsform hinsichtlich Aussehen und Verhalten möglichst ähnlich sind. Der Terminus “Rückzüchtung” wurde in den 1930er Jahren geprägt, als der ausgestorbene Auerochse neu gezüchtet wurde. Ein neueres Beispiel ist die Rückzüchtung des robusten und genügsamen Deutschen Weideschweins, die 1980 von der Freien Universität Berlin begonnen wurde (Plarre 1999). Diese Weideschweine sind nicht nur eine wertvolle genetische Ressource für die Zukunft, sondern auch eine kulturhistorische Bereicherung, da die Besucher des Museumsdorfes Düppel (Berlin) nun wieder “hautnah” das Aussehen und Verhalten von Tieren erleben, die sie bislang nur aus Abbildungen kennen - zu diesen zählen mittelalterliche Bilder wie Dürers Kupferstich Der verlorene Sohn ebenso wie Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie etwa im Deutschen Schweinemuseum zu sehen sind (Teltow- Ruhlsdorf; siehe <www.deutsches-schweinemuseum.de>). Die “Düppeler Weideschweine” stammen zu rund je einem Drittel von Wildschweinen, Wollschweinen und anderen Landrassen ab; bereits die Ferkel zeigen ihre “urige” Abstammung durch ihre später verblassende Streifenzeichnung. Weideschweine sind besonders geeignet für die extensive Landwirtschaft und haben sie sich innerhalb weniger Jahre als preiswerte “Landschaftspfleger” beliebt gemacht, die durch ihr unermüdliches Wühlen wertvolle Freiflächen für einige sonst vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten schaffen. Im Hinblick auf den Inhalt der untersuchten Bilderbücher ist vorauszuschicken, dass die in ihnen allen beschriebene “romantische” und dauerhafte Bindung eines Schweinepaares in der Natur nicht vorkommt (eine genauere Begründung folgt in Abschnitt 4). Wildschweine leben in “matriarchalischen” Rotten, die von der ältesten Bache geleitet werden und aus weiblichen Verwandten aller Generationen bestehen. Keiler hingegen sind Einzelgänger, die zu solchen Rotten nur während der Brunstzeit (bei Schweinen auch “Rauschzeit”) stoßen, die etwa von November bis Januar dauert. Die Rausche der Führungsbache löst die Rausche der anderen Bachen aus, so dass alle trächtigen Tiere gleichzeitig werfen und ihre Frischlinge gemeinsam aufziehen können. Auch Hausschwein-Säue leben selten in “Monogamie” mit einem Eber, denn falls überhaupt ein Eber zu ihrer Gruppe zählt, ist er für mehrere Säue “zuständig”. Das Happy- End von Keiler und Sau als Kleinfamilie im Wald ist also immer nur die Übertragung eines menschlichen Familienmodells. Wahr ist allerdings, dass Wildschweine aus Menschensicht ein recht “liebevolles” Paarungsverhalten aufweisen. Die Keiler folgen den Geruchsfährten rauschiger Bachen kilometerweit, umwerben sie durch Imponiergehabe, Umkreisen, rhythmisches Grunzen, Stupsen in die Flanken, Knabbern an den Ohren sowie Rüsselkontakte mit Anhauchen (vgl. Hennig 1998: 37f sowie die “biographische” Beschreibung aus Sicht einer Frischlingsbache in Streblow 1987: 113-119, auch 132). Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 289 3. Rassen- und Geschlechtsstereotype im Bilderbuch Menschen haben zu Tieren vielschichtige und widersprüchliche Beziehungen, die sich in vielen sprachlichen Phänomenen spiegeln. Jeder kennt Tierfabeln als bewährtes Mittel, soziale Zustände in verfremdeter Weise anzuprangern. Aber auch in alltäglichen Situationen beschreiben wir Menschen unter Rückgriff auf Tiere und deren stereotype Bewertungen. Im positiven Fall vergleichen wir Menschen mit Tieren, denen wir erstrebenswerte Eigenschaften zuschreiben. So sagen wir, jemand sei “treu wie ein Hund”, “fleißig wie eine Biene” oder “ein toller Hecht”. Auch Kosenamen gehören hierher, denn da bei vielen Säugetieren und Vögeln die Tierkinder besonders weich und niedlich sind, werden Ausdrücke wie “Hasi”, “Kätzchen” oder “mein Lämmlein” vorzugsweise für Kinder oder die Partnerin verwendet. Weitaus umfangreicher ist der Bereich negativer Eigenschaftszuschreibungen. Manchmal ist schon der Tiername allein eine Beschimpfung (“Esel”, “Ochse”, “Ziege”, …), in anderen Fällen wird er durch einen Zusatz spezifiziert (“Angsthase”, “Blödhammel”, “Giftkröte”, …). Phantasievolle komplexe Redensarten bauen diese Ansätze genussvoll aus, so dass sich jemand “benimmt wie ein Elefant im Porzellanladen”, “guckt wie eine Kuh, wenn’s donnert” oder “wie eine Ratte das sinkende Schiff verlässt”. Für die vorliegende Untersuchung ist besonders interessant, dass viele der von Tiernamen abgeleiteten Bewertungen von Menschen geschlechtsspezifisch sind. Dies ist leicht einzusehen, wenn die Tiernamen selbst geschlechtsspezifisch sind; so werden “Gans”, “Huhn”, “Katze” und “Kuh” ausschließlich zur Beschimpfung von Frauen verwendet. Umgekehrt sind jedoch “Hahn”, “Hengst” und “Stier” keine eindeutig negativen Bewertungen, sondern durch unterschwellige sexuelle Konnotationen eher ein wenn auch zwielichtiges Lob (vor allem das Ausdruckspaar “Hengst” vs. “Stute” taucht öfters in Kontaktanzeigen auf). Aber auch unabhängig vom Geschlecht einzelner Tiere (das der Laie oft gar nicht erkennt, man denke etwa an den Igel) werden einige Tierarten mit einem bestimmten Geschlecht assoziiert, weil sie Eigenschaften aufweisen, die diesem zugeschrieben werden. So gelten Gazellen und Antilopen als besonders anmutig und daher als weiblich, Adler und Löwen hingegen als besonders mutig und daher als männlich. Diese Verknüpfungen haben oft wenig mit zoologischen Tatsachen zu tun, zum Beispiel jagen bei Löwen in der Regel die Weibchen eines Rudels gemeinsam und erst nach dem Erlegen der Beute taucht das Männchen auf. Ob eine Tiereigenschaft als positiv gilt, ist darüber hinaus epochenspezifisch - das Epitheton “kuhäugig”, das Homer in seinen Epen der Göttin Hera zuspricht, wird von heutigen Mädchen vermutlich nicht als Lob aufgefasst. In Redensarten und Sprichwörtern zu Schweinen fällt die außerordentliche Zwiespältigkeit der Bewertungen auf, die vom “Glücksschwein” bis zur “Drecksau” reichen (vgl. Dannenberg 1990: 197ff).Wie in anderen Fällen, etwa dem “dummen Esel”, sind die Beschimpfungen sachlich falsch. Das wohlige Suhlen im Schlamm (vgl. Abschnitt 3.2.1) dient der Kühlung und Hautpflege, das Fressen der eigenen Ferkel tritt nur bei beengten Verhältnissen in Ställen oder Gattern auf, und das in Abschnitt 2 skizzierte “zärtliche” Werben der Keiler widerlegt auch die Redensart “Männer sind Schweine” (wie denn überhaupt Tiere kaum Handlungen begehen, die wir bei Menschen “tierisch” oder “viehisch” nennen). 3.1 Skizzierung der ausgewählten Bücher Im Folgenden wird ein kleiner Corpus von drei zeitgenössischen Bilderbüchern analysiert, in denen jeweils ein erheblicher Teil der Aussagen durch die zahlreichen Bilder übermittelt wird. Dagmar Schmauks 290 Gloria von Jaxtberg erzählt die Geschichte der Hausschwein-Sau Gloria, die unter ihren missgünstigen Verwandten leidet und sich in Träume von schönen Prinzen flüchtet. Als der Metzger sie abholt, glaubt sie naiverweise, nun würde sie endlich auf das nahegelegene Schloss geholt. Zum Glück hat sich der Wildschwein-Keiler Rodrigo schon lange in sie verliebt, rettet sie in letzter Minute vor dem Schlachten und nimmt sie mit in den Wald. Die Fortsetzung Rosa beschreibt die Abenteuer ihrer Kinder, in denen die Geschlechtsstereotype gründlich durcheinander gewirbelt werden (siehe Abschnitt 3.3). Die Heldin von Das quiek-fidele Borstentier ist eine Sau, die ihrer Bäuerin entkommt und eine Menge rasanter Abenteuer besteht, bevor sie mit einem Fallschirm in den Bäumen landet. Auch hier eilt ein starker Keiler zur Hilfe und gründet mit der Sau eine Familie im Wald. In Rosalie und Trüffel finden das Hausschwein-Mädchen Rosalie und der junge Keiler Trüffel erst nach vielen “Irrungen, Wirrungen” zueinander, denn ihre jeweiligen Freundinnen und Freunde sind gegen ihre Freundschaft und haben mit ihnen ganz andere Pläne. Aber allen Umerziehungsversuchen zum Trotz gibt es ein Happy-End. Als typographische Besonderheit dieses Buchs kann man es in zwei Richtungen lesen. Bei einem Deckblatt beginnt die Geschichte von Rosalie, beim anderen die von Trüffel, und beide Schweine und ihre Geschichten treffen sich auf der mittleren Doppelseite. 3.2 Rassen- und Geschlechtsstereotype In diesem Abschnitt wird der ausgewählte Corpus auf Stereotype hin überprüft. Da es sich um Bilderbücher handelt, werden diese nicht nur durch textuelle Beschreibungen, sondern auch durch bildliche Darstellungen übermittelt. Zitiert wird hierbei nicht wie üblich nach Autorennamen, sondern nach den griffigeren Buchtiteln, die zudem mit den Namen der Heldinnen zusammenfallen. Eine Ausnahme ist die namenlose Sau, auf die mit dem Kurztitel “Borstentier” verwiesen wird. Seitenzahlen fehlen zwar meist, die zitierten Stellen sind in den recht kurzen Texten aber leicht zu finden. 3.2.1 Aussehen und Verhalten Die ausführlichsten Beschreibungen des Liebespaares finden sich in Gloria von Jaxtberg als dem Buch mit dem höchsten Textanteil. Auf der titelgleichen Kassette werden die auftretenden Schweine zwar noch detailreicher beschrieben, dieser Tonträger bleibt hier aber ausgeklammert, da Beziehungen zwischen Text und Bild im Vordergrund stehen. Gloria wird gleich im ersten Absatz als “das schönste Schwein der Berge” eingeführt, denn sie ist nicht nur rosig, lieblich und zart, sondern hat als besonderes Kennzeichen auch noch goldene Locken. Eine ganzseitige Abbildung zeigt, wie Gloria - dem antiken Narziss gleich - ihre eigene Schönheit in einem Tümpel erkennt. Auch das Alte Testament mit der Geschichte von Susanna im Bade klingt an, denn der Keiler Rodrigo verliebt sich in Gloria, als sie “voller Grazie” in einem Schlammloch liegt und in die Sonne blinzelt (siehe Abbildung 2; aus Menschensicht ist das “anmutige Suhlen” ein witziger Widerspruch, denn genüssliches Wälzen im Matsch entspricht unseren Vorstellungen von holder Anmut doch recht wenig). Das Verhalten Glorias ist ebenfalls stereotyp weiblich. Ihre Zukunftspläne sind von Kitschromanen geprägt, denn sie träumt von einem Prinzen, der eines Tages kommen und sie auf sein Schloss mitnehmen wird, so dass sie nie mehr die gehässigen Spöttereien von Cousin Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 291 Abb. 2: Gloria im Bade (Gloria von Jaxtberg) Gerhard und seinen Gefolgsleuten anhören muss. Als statt eines Prinzen dann der Keiler Rodrigo auftaucht, um sie aus den Händen des Metzgers zu retten, folgt sie ihm “leichtfüßig” in den Wald. Das letzte Bild zeigt Gloria, die sich im Winterwald an Rodrigos wärmendes Fell schmiegt (siehe Abbildung 3). Rodrigo ist aber auch ein Prachtkeiler, denn er hatte “ein langes, borstiges, braunes Fell”, große Ohren, eine markante Schnauze und “prächtige, blitzende Hauer”. Seinen “Freibeuternamen” hatte er sich zu Recht zugelegt (eigentlich hieß er Rudi), denn er “streifte allein durch die Wälder und tat, was er wollte”. Als er seine Herzensdame in Lebensgefahr sieht, “fletschte [er] die Zähne, scharrte mit den Klauen und grunzte erregt”. Dann wühlt er sich “wie ein Schneepflug” durch die Verwehungen, stößt einen “furchtbaren Grunzer” aus und springt durch das geschlossene Fenster des Schuppens, in dem der Metzger schon das Messer wetzt. “Mit seinem mächtigen Schädel rannte er dem Mann in den Bauch” und rettete Gloria. Bis in bildliche Details finden sich im Borstentier dieselben Stereotype, nur dass die Sau viel draller und “erwachsener” gezeichnet ist als die zarte und schutzbedürftige Gloria. Die Sau putzt sich mit ausladendem Hut, Rüschenkleid und Stöckelschuhen als “feine Dame” auf (siehe Abbildung 4), die nun zwar “vornehm ihren Rock rafft” und auf die Café-Terrasse passt, dort aber wenig damenhaft ganze Schüsseln voller Sahne und Eis leer schleckt. Als sie nach vielen Abenteuern von einem Keiler gerettet wird, ist dieser ebenso stark und mutig wie Rodrigo, ein echter “Ihr-zur-Hilfe-Eiler” (62). Auch er verliebt sich auf den ersten Blick in das rosige Hausschwein, das seine damenhafte Kleidung wieder abgelegt, also die Menschenwelt hinter sich gelassen hat. Die Sau nimmt seinen Heiratsantrag sowie die Blumen mit züchtig niedergeschlagenen Augen an (siehe Abbildung 5), und auf der letzten Doppelseite schmiegt sie sich genau wie Gloria an ihren Keiler, umtobt von ihrer “Frischlings-Ferkelschar” (64f). Rosalie zeigt schon durch ihren “sprechenden” Namen, wie sehr sie dem Stereotyp des rosaroten Hausschweins entspricht. Wie Gloria träumt sie von der großen Liebe, und zwar am Dagmar Schmauks 292 Abb. 3: Das Happy-End von Gloria und Rodrigo (Gloria von Jaxtberg) Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 293 Abb. 4: Die Hausschwein-Sau als Dame (Borstentier 33) Abb. 5: Das Happy-End von Sau und Keiler (Borstentier 63) liebsten unter einem blühenden Apfelbaum. Als sie den jungen Keiler Trüffel dort zum ersten Mal trifft, errötet sie zart und haucht ihren Namen. In allen drei Büchern verkörpern also die Hausschwein-Säue sehr gezielt ein traditionelles Stereotyp von (bürgerlicher) Weiblichkeit, denn sie sind verträumt, nicht sehr lebenstüchtig und warten sehnsüchtig auf einen Mann, der sie auf Klauen tragen und vor den Gefahren der Welt beschützen wird. Gloria und die Sau finden Liebespartner, die genau diesem Wunsch entsprechen, während Rosalies Freund Trüffel eine deutliche Aufweichung des Geschlechtsstereotyps zeigt (vgl. Abschnitt 3.3). In witziger Weise spiegeln die analysierten Schweine-Geschichten also die (immer noch bestehenden) Kräfteverhältnisse von Mann und Frau und ihre sozialen Rollen. So wird mit feiner Ironie erzählt, dass Rodrigo immer dann zu wichtigen “Kontrollgängen durch den Wald” aufbricht, wenn Gloria “ihre Kopfschmerzen” hat oder seine schlappen Söhne ihn allzu sehr nerven. Allerdings hat sogar der draufgängerische Rodrigo eine sensible Stelle, nämlich die Liebe zu seiner einzigen Tochter, die er “Rosa” nennt, weil er sie für “zart wie ein Buschwindröschen” hält (was nicht den Tatsachen entspricht, siehe Abschnitt 3.3). Wenn man die Aussagen von Text und Bild summarisch überblickt, scheinen den Schweinen elementare Formen und Farben zu entsprechen. Die Säue sind rund, drall, glatt und rosig, die Keiler kantig, muskulös, borstig und dunkel. Diese Dichotomie betrifft sowohl die Gesamterscheinung als auch Details. So haben alle Keiler durch stilisierte Borsten eine zackige Kontur und ihre bedrohlich spitzen Hauer heben sich - sogar beim sanften Trüffel, siehe Abschnitt 3.3 - deutlich vom dunklen Fell ab. Diese konstante Assoziation von “Wildheit” mit spitzen Formen und “Zahmheit” mit runden Formen ist ein Sonderfall eines gestaltpsychologisches Gesetzes, das Wolfgang Köhler in den 1920er Jahren empirisch bewies. Er stellte Versuchspersonen die Aufgabe, abstrakte Formen den Ausdrücken “Maluma” und “Takete” zuzuordnen. Alle wählten sprachunabhängig “Maluma” für runde und “Takete” Dagmar Schmauks 294 Abb. 6: Die Wilden kommen! (Postkarte mit einem Motiv aus Marundes Landleben) für spitze Formen, was belegt, dass wir auch Phoneme als “rund” vs. “spitz” empfinden und folglich anhand transmodaler Ähnlichkeiten zwischen Klängen und Formen argumentieren. In der Realität liegen zwischen den beiden Polen übrigens zahlreiche Zwischenstufen, etwa das “Schwalbenbäuchige Mangalitza-Wollschwein” mit dunklen Borsten, aber rundem Körperbau durch seine dicke Speckschicht. 3.2.2 Lebensräume Ganz ähnlich wie Aussehen und Verhalten der auftretenden Schweine bieten auch ihre beschriebenen Lebensumstände zahlreiche Anspielungen auf die Menschenwelt. Die zugrundeliegenden Rassenstereotype werden sehr präzise durch einen Comic von Marunde charakterisiert, in dem eine in der Abenddämmerung sich nähernde Wildschweinrotte von einem sich suhlenden Hausschwein als “Indianer” bezeichnet wird (Abbildung 6). Die Mimik des Hausschweins spiegelt Angst vor diesem “Überfall”. Insofern man überhaupt Tieren entsprechende Bedürfnisse zuspricht, haben Hausschweine wie alle Nutztiere gegenüber den entsprechenden Wildformen sowohl Vorteile als auch Nachteile (sich in die Obhut eines Stärkeren begeben ist immer ambivalent! ). Sie leben in einem warmen Stall, der sie vor Kälte und Regen schützt, werden gefüttert und gehegt, bezahlen dieses “sorglose” Leben aber mit dem Verlust an Freiheit und zuletzt mit dem Tod. Selbst Schweine, die nicht zum Schlachten gehalten werden, sind deswegen noch keine “Glücksschweine”, denn manche haben kein artgerechtes Leben - vor allem Minischweine, die in Wohnungen gehalten werden. Wildschweine hingegen können zwar frei den Wald durchstreifen (wobei menschliche Eingriffe ihren Lebensraum immer weiter verkleinern), sind aber ständig durch Hunger, Krankheiten, Verkehrsunfälle und Jäger gefährdet. Ganz ähnliche Beziehungen wie bei dieser Gegenüberstellung von Tieren vor und nach der Domestikation findet man bei den entsprechenden menschlichen Lebensformen. Nomaden folgen natürlichen Rhythmen, ziehen etwa mit den Jahreszeiten zu immer neuen Weiden für ihre Herden, sind aber ständig durch wilde Tiere, Krankheiten und Naturkatastrophen (Dürren, Buschbrände usw.) bedroht. Umgekehrt bringt das Sesshaftwerden nicht nur vielfältigere kulturelle Möglichkeiten, sondern auch komplementäre Zwänge mit sich. In den Büchern folgen die Hausschwein-Säue aus unterschiedlichen Gründen ihrem Keiler in seinen wil- Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 295 den Wald. Gloria entkommt der Bedrohung durch den Metzger, und die Sau findet nach einer aufreibenden Flucht vor den Menschen eine ruhigere Lebensphase mit Mann und Kindern (Borstentier 64f). Beide überschreiten also die Grenze zwischen “Natur” und “Kultur” in umgekehrter Richtung zur Domestikation und entkommen so der ambivalenten Kontrolle durch den Menschen. An Stelle seines Schutzes, der mit Unfreiheit und zuletzt mit Schlachtung erkauft wird, tritt das Leben im Wald, dessen Wildheit durch den geliebten Partner gemildert wird, der dort sein Zuhause hat. Denkbar wären natürlich auch umgekehrte Rettungsgeschichten, in denen eine Hausschwein-Sau einem von Jägern in die Enge getriebenen Keiler begegnet und ihm in ihrem Stall Unterschlupf bietet. 2 Diese Variante hat nur leider kein typisches Happy-End, da der Keiler entweder in seinen Wald zurückkehren oder freiwillig in Gefangenschaft bleiben müsste (was auch ungewöhnlich “tolerante” Bauern voraussetzen würde). Im ersten Fall verlöre er seine Partnerin, im zweiten seine Freiheit. Einerseits ist also das Wildschwein ein Inbegriff urwüchsiger Kraft, die durch Verweichlichung verlorengegangen ist, andererseits wird ihm das Hausschwein als veredelte höhere Entwicklungsstufe gegenübergestellt. Die zweite Ansicht wird in Glorias Geschichte ihrem Cousin Gerhard in den Rüssel gelegt, der mit seiner kompromisslosen Rassenlehre den ganzen Stall und vor allem die goldgelockte Gloria terrorisiert: “[Das] deutsche Edelschwein ist blond und seine Borsten sind kurz und ordentlich und ohne Schnickschnack. Alles andere ist minderwertig, ja, es ist geradezu wildschweinartig abartig! ”. Dass Gloria ihrem Retter Rodrigo in den Wald folgt, kann Gerhard allerdings nicht mehr als “Rassenschande” anprangern, denn zu diesem Zeitpunkt hat er bereits das vorbestimmte Lebensziel eines deutschen Edelschweins erreicht - er ist zu Wurst geworden. Diese ambivalente Bewertung der Wildform ist nicht “schweinespezifisch”, sondern ein Hinweis auf unser gebrochenes Verhältnis zu “Natur” schlechthin. Besonders deutlich wird dies in den Gattungsnamen “Unkraut” und “Ungeziefer”, deren Vorsilbe “un-“ die entsprechenden Lebewesen außerhalb von Kultur ansiedelt. Aber obwohl diese Namen rein negativ scheinen, werden ihre Träger doch grundsätzlich zwiespältig beurteilt. Einerseits bekämpft man sie verbissen, damit sie nicht überhand nehmen und “Kultur” vernichten, andererseits nötigt uns die unbeugsame Vitalität von Wildkräutern wie der Brennessel und von tierischen Überlebenskünstlern wie Kakerlaken (Pieper 1998) und Ratten (Platen 1999) doch erheblichen Respekt ab. Die zwischen Bewunderung und Resignation schillernde Redensart “Unkraut verdirbt nicht” drückt diesen Doppelaspekt sprachlich aus, und sein bildliches Pendant ist das Photo eines Löwenzahntriebs, der eine Asphaltdecke sprengt (vgl. Schmauks 1997: 134). Im Bereich menschlicher Kultur übernimmt der “edle Wilde” diese Rolle als doppeldeutige Projektionsfläche. Er ist einerseits näher am Ursprung und noch nicht durch die “unnatürlichen” Zwänge der Zivilisation verbogen und verdorben, andererseits jedoch nur ein exotisches Schauobjekt und keineswegs ein gleichberechtigter Partner. Wenn diese Dichotomie mit Geschlechtsstereotypen verknüpft wird, ist es häufig die Frau, die “Natur” verkörpert, und der Mann, der die “Kultur” vertritt. Entsprechend dieser Theorie ist die Frau ursprünglicher, aber auch irrational und somit gefährlich, so dass der bereits höher entwickelte Mann zu ihrer “Domestizierung” aufgerufen ist. Es wird aber auch umgekehrt argumentiert, dass der Mann seinen (steinzeitlichen) Trieben stärker ausgeliefert ist und darum der sozialen Bändigung durch die Frau bedarf. In beiden Fällen ist die Charakterisierung der Geschlechter holzschnittartig. Dagmar Schmauks 296 Aus kultursemiotischer Sicht geht es in den Büchern also auch um die komplexen Beziehungen zwischen Natur und Kultur, repräsentiert durch Wildvs. Hausschwein. Lotman (1990) zufolge hat jede Kultur die Tendenz, sich immer mehr Gegenstandsbereiche “einzuverleiben”. Dies erfolgt auf der Objektebene mit ihren ökonomischen Zwängen durch die Urbarmachung von Landschaften und die Domestizierung von Lebewesen (vgl. Abschnitt 2), auf der Zeichenebene durch die Klassifizierung und Benennung der so “angeeigneten” Objekte. Das Wildschwein eignet sich besonders gut als Repräsentant des Außerkulturellen, denn es ist selbst gefährlich und lebt im Wald, der bis in die Neuzeit hinein ein Ort des Schreckens war (was viele mitteleuropäische Märchen belegen, siehe Schmauks 2005). Unsere heutigen Wälder zählen allerdings kaum noch zum Unerschlossenen bzw. Vorkulturellen, sondern sind bis in die letzten Ecken mit Wanderwegen und Rastplätzen erschlossen. Folglich haben sie ihre Funktion als Orte von Abenteuer und Bewährung längst an “nachkulturelle” Flächen abgetreten, nämlich an die von Militär und Industrie hinterlassenen Brachflächen (vgl. Schäfer 2001 und Schmauks 2005: Abschnitt 7). Ein eigenständiges und hier nur als Querverweis anführbares Thema ist die Umkehrung von Geschlechtsstereotypen im Bild (etwa die Darstellung von Männern als Frauen in der Karikatur; Riszovannij und Schmauks 1999). Wenn ein Karikaturist einen Politiker oder einen anderen prominenten Mann als Frau darstellt, will er ihm damit bestimmte Eigenschaften wie “weichlich” oder “verführerisch” zuschreiben, wobei die Absicht von milder Verspottung bis zu beißender Verhöhnung reicht. Ähnlich lassen sich die Kräfteverhältnisse zwischen Parteien oder Staaten darstellen, indem man ihre männlichen und weiblichen Symbolfiguren in entsprechenden Paarsituationen wie Verliebtheit, Hochzeit, Ehekrach oder Scheidung zeigt. 3.3 Überschreitungen der Rassen- und Geschlechtsgrenzen Die in Abschnitt 3.2 beschriebenen sehr plakativen Geschlechtsstereotype werden jedoch von den ausgewählten Bilderbüchern nicht unkritisch übernommen (dann wären sie langweilig), sondern in kreativer Weise überschritten und spielerisch gebrochen. Besonders deutlich wird dies bei den sechs Kindern von Gloria und Rodrigo. Die fünf (namenlosen! ) Jungen sind schon vom Aussehen her Muttersöhnchen bis in die Borstenspitzen, denn sie sind rosarot und glatt und haben goldene Locken wie Gloria. Ferner sind sie zum Kummer ihres Vaters verzärtelt und wehleidig und erweisen sich bei den von ihm durchgeführten Wettkämpfen als langsame Läufer, klägliche Springer und unfähige Schnüffler. Das einzige Mädchen hingegen heißt zwar Rosa und scheint daher ins Stereotyp zu passen, ist aber ganz Papas Tochter, denn sie ist borstig mit dunklen Flecken, neugierig, draufgängerisch und selbstständig (siehe Abbildung 7). Konsequenterweise ist sie es, die im Alleingang ihre nicht sehr hellen Brüder aus den Krallen des Wolfes und seiner Frau rettet, nachdem die vom Luxus träumenden Jungen auf die Tarnung der Wolfshöhle als Schweineschloss hereingefallen sind (“Probewohnen kostenlos! ”, lockte ein Schild vor dem Eingang). In der Geschichte von Rosalie und Trüffel ist zwar Rosalie ein “typisches Mädchen”, ihr Freund Trüffel hingegen ist in keiner Weise ein wilder Keiler, sondern ein deutlicher “Softie”. Er träumt viel, und zwar nicht wie sein Vater vom Aufstieg des 1. FC Wildschwein, sondern ganz unmännlich vom großen Glück. Bei der ersten Begegnung mit Rosalie bebt er vor Schüchternheit und läuft danach gleich zu seinen Freunden Bürste und Carlo, um diese an seinem Glück teilhaben zu lassen. Die beiden jedoch sind entsetzt über sein gefühlsmäßiges Engagement und starten ein zeitraubendes Erziehungsprogramm mit Hanteltraining und Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 297 Abb. 7: Ganz der Vater (Rosa). Crash-Kurs im Aktienhandel, das aus Trüffel ein “richtiges Schwein” machen soll, nämlich einen echten Kerl, der durch “Erfolg, Geld, Macht” alle Frauen beeindruckt. Trüffel versagt kläglich, besinnt sich auf seine eigenen Wünsche und findet zu Rosalie zurück. Auf dem letzten Bild (siehe Abbildung 8) legt er zärtlich eine Vorderklaue auf Rosalies Rüssel. Sicher nicht zufällig ist es ein Apfelbaum, unter dem die Liebenden sich erstmals begegnen und später wiederfinden. In der Genesis werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, weil sie Früchte von dem einzigen verbotenen Baum gegessen hatten. Auf vielen Gemälden der christlichen Tradition wird dieser Baum als Apfelbaum dargestellt, so dass der Apfel zum Zeichen der post-paradiesischen Trennungen wurde, nämlich sowohl der Trennung zwischen den Geschlechtern (Adam und Eva als Stellvertreter aller Männer und Frauen) als auch der zwischen Menschen und Tieren (deren paradiesisches Miteinander durch den Sündenfall beendet wurde). Für Trüffel und Rosalie hingegen - als Mann und Frau, als Wildschwein und Hausschwein - wird “ihr” Apfelbaum auch zum Ort der Versöhnung. Ein sehr einprägsames graphisches Symbol dieser Versöhnung ist die ineinandergekuschelte Position von Trüffel und Rosalie beim Happy-End, die genau dem chinesischen Yin-Yang-Symbol entspricht (siehe Abbildung 8). Hierbei werden die zugeordneten klassischen Dichotomien in spielerischer Weise verändert. Zum einen wird die chinesische Farbsymbolik (Yin = männlich = weiß / Yang = weiblich = schwarz) umgekehrt, denn der dunkle borstige Trüffel schmiegt sich an die helle zarte Rosalie. Zum anderen spielt die Dichotomie bezüglich der relativen Lage (Yin = Himmel = oben / Yang = Erde = unten) keine Rolle mehr, denn da man das Buch von beiden Deckblättern aus lesen kann, hat die den beiden Dagmar Schmauks 298 Abb. 8: Das Happy End von Rosalie und Trüffel (Rosalie und Trüffel) Teilgeschichten gemeinsame mittlere Doppelseite beide Richtungen, so dass einmal Rosalie, einmal Trüffel “oben” liegt (dieses Oben gilt nur für die Seite in üblicher Leseposition, denn bezüglich der Objektebene ist die Mittelseite ohnehin eine Draufsicht, bei der es kein Oben und Unten gibt). 4. Fazit Der erste plakative Eindruck, dass Keiler stark und mutig, Säue hingegen zart und schutzbedürftig sind, gilt in den analysierten Büchern nur für die ältere Generation. Bei jüngeren Schweinen zeigt sich eine ähnliche Aufweichung der Geschlechtsrollen wie bei den Menschen der Industrienationen seit den 1960er Jahren. So ist Rosa ein kluges, selbstbewusstes und tapferes Schweinemädchen, während der junge Keiler Trüffel viele weibliche Züge aufweist. Erhalten bleibt jedoch das bekannte Grundmuster “gemischter” Beziehungen: Sie bestehen immer zwischen einem Keiler und einer Sau, nie umgekehrt zwischen einer Bache und einem Eber. Bei einer Veranstaltung des Deutschen Schweinemuseums im April 2004 wurden mir von den anwesenden Fachleuten die sachlichen Gründe für diese Verteilung genannt. • Für Wildschweine gilt: - Keiler schweifen als Einzelgänger herum und decken dabei auch zugängliche rauschige Säue, wobei sie beträchtliche Hindernisse überwinden, etwa Zäune überspringen, - Bachen hingegen bleiben in ihrer matriarchalisch strukturierten Rotte und suchen nicht von sich aus nach Sexualpartnern. • Für Hausschweine gilt: - Säue werden auch heute noch manchmal im Freien gehalten und können dann (auch) von Keilern gedeckt werden, - Eber hingegen, vor allem Deckeber in Besamungsstationen, werden als wertvolle Zuchttiere in der Regel im Stall gehalten. Hinzu kommt, dass Säue durch die Domestikation keine festen Brunstzeiten mehr haben, sondern häufiger rauschig werden (“polyöstrisch”). Für herumstreifende Keiler sind sie also unter besonderen Bedingungen paarungswillige Partnerinnen außerhalb der Schwarzwild- Brunstzeiten. Die Domestikation von Schweinen hat also den witzigen Nebeneffekt, dass in seltenen Fällen die Tiere im Hinblick auf ihr Sexualverhalten davon profitieren. Die Möglichkeit der Verpaarung von Keiler und Sau ermöglicht nämlich den Männchen der Wildform häufigere Sexualkontakte und zugleich den Weibchen der domestizierten Form “exotischere” Sexualkontakte (im Hinblick auf diese Feststellung kann auch Abbildung 6 noch einmal neu betrachtet werden! ). Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 299 Im Hinblick auf die Ausgangsfrage ist also festzustellen, dass unter derzeitigen Bedingungen industrieller Tierzucht Bachen und Eber einander nie treffen und folglich auch kein Paarmuster für (Bilder)Bücher liefern können. Um diese Lücke zu schließen, findet sich im Anhang als optionale Lektüre die Erzählung “Der Deckeber und die schöne Bache”. Anmerkungen * Der Titel ist die Variation eines Reimes aus dem Buch Das quiek-fidele Borstentier (Lobe und Oopgenorth 2000: 63, siehe Abbildung 5). 1 Ich danke Dr. Gunther Nitzsche, dem Vorsitzenden des Fördervereins Deutsches Schweinemuseum e.V. Ruhlsdorf, für wertvolle Anmerkungen und Ergänzungen zu einer Vorversion dieses Artikels. 2 Der Hinweis auf diese Variante stammt von meiner Schwester Petra Graitl. Danke, Petra! Literatur Dannenberg, Hans-Dieter (1990): Schwein haben. Historisches und Histörchen vom Schwein. Jena: Fischer. Franke, Werner (1991): Luise - Karriere einer Wildsau. Bergisch Gladbach: Lübbe. Hennig, Rolf (1998): Schwarzwild: Biologie, Verhalten, Hege und Jagd. München: BLV. Herfurtner, Rudolf und Reinhard Michl (2000): Gloria von Jaxtberg. Stuttgart: Thienemanns. Herfurtner, Rudolf und Reinhard Michl (2001): Rosa. Hamburg: Oetinger. Lobe, Mira und Winfried Opgenoorth (2000): Das quiek-fidele Borstentier. Innsbruck: Obelisk. Lotman, Jurij M. (1990): “Über die Semiosphäre”. Zeitschrift für Semiotik 12: 287-305. Möllers, Florian (2003): Wildschweine. Stuttgart: Franckh-Kosmos. Pieper, Werner (ed.) (1998): Die Deutsche Kakerlake. Ein Kakerlaken Kompendium. Löhrbach: MedienXperimente. Plarre, Werner (1999): “Die Rückzüchtung eines mittelalterlichen Weideschweins im Museumsdorf Düppel, Berlin”. In: Erzsébet Jerem und Ildikó Poroszlai (eds.): Archaeology of the Bronze and Iron Age. Budapest: Archaeolingua: 367-376. Platen, Heide (1999): Das Rattenbuch. Vom wahren Wesen unseres allgegenwärtigen Nachbarn. München: Goldmann. Reider, Katja und Jutta Bücker (2004): Trüffel und Rosalie. Eine Geschichte vom Glück. / Rosalie und Trüffel. Eine Geschichte von der Liebe. München: Hanser. Riszovannij, Mihály und Dagmar Schmauks (1999): “Geschlechtswechsel in der Karikatur”. Zeitschrift für Semiotik 21: 387-405. Schäfer, Burkhard (2001): Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Schmauks, Dagmar (1997): “Pflanzen als Zeichen”. Zeitschrift für Semiotik 19: 135-149. Schmauks, Dagmar (2005): “Semiotische Aspekte von Glücksräumen im Märchen”. In: Swantje Ehlers (ed.): Märchenglück - Glücksentwürfe im Märchen. Hohengehren: Schneider-Verlag, S. 54-65. Streblow, Lothar (1987): Borstel, der Frischling vom Eichwald. Bindlach: Loewe. Anhang Der Deckeber und die schöne Bache Deckeber Fridolin, ein rotes Duroc-Schwein mit dunklen Flecken, hatte niemals eine Sau gesehen außer seiner Mutter. Nachts träumte er manchmal von ihrem warmen Körper und dem feuchten Rüssel, mit dem sie ihn und seine Geschwister liebevoll putzte. Als mehrfach preisgekrönter Eber aus bestem Stall musste er dreimal wöchentlich zur Samengewinnung auf ein Phantom springen - eine künstliche Sau ohne Ohren, Augen, Rüssel und Ringelschwanz. Nicht sehr romantisch. Aber die Besamungsstation lag am Rande einer Stadt und eines Abends trat die junge Bache Susi aus dem Wald heraus, so dass Fridolin sie riechen konnte. Aufgeregt grunzend strich er am Zaun entlang, und die Bache kam Dagmar Schmauks 300 neugierig näher und antwortete. Sie erzählte vom Wald und ihrer Rotte, von wohligen Schlammbädern und gefährlichen Jägern, und er von gutem Futter, von Dienst nach Vorschrift und quälender Langeweile. Von diesem Tag an sahen sich die beiden jeden Abend und plauderten bis in die Nacht hinein. An einem nebligen Tag im späten Oktober war alles anders, denn Susi war in der Rausche. Sie roch so wunderbar, dass Fridolin die Sehnsucht packte und er nach einem Weg suchte, zu ihr zu gelangen. Aber der Zaun war hoch, sein Gehege kahl und sein Futtertrog an Boden angeschraubt. Unruhig wartete Susi jenseits des Gatters und feuerte ihn zu immer neuen Versuchen an. Nach vielem Probieren stellte Fridolin fest, dass sich ein Streugutcontainer ruckweise verschieben ließ. Er plagte sich die halbe Nacht, um ihn bis zum Gatter zu verrücken. Endlich war es geschafft, und mit einem triumphierenden Quieken konnte er über diesen Zwischenstopp in zwei hohen Sätzen in die Freiheit springen. Sie immer wieder umkreisend bewunderte Fridolin die wunderbaren langen Borsten der Bache, und sie seine kurzen roten Haare. Gerade als der Mond unterging und es im Osten langsam hell wurde, verschwanden zwei verliebte Schweine Rüssel an Rüssel im Wald, wo sie selig verschollen blieben. Die Besamungsfachleute glaubten an einen raffinierten Schweinediebstahl, und die Jäger wundern sich seit Jahren, dass in ihrem Revier zwischen vielen gestreiften Frischlingen immer wieder rostrote mit dunklen Flecken zu sehen sind - so schnell und schlau, dass sie noch nie einen erlegt haben.