Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
273-4
Lesen in der Mediengesellschaft
121
2004
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod273-40319
Review Article Lesen in der Mediengesellschaft Ernest W.B. Hess-Lüttich Zuerst kommt das Sprechen, dann kommt das Lesen, dann kommt alles Elektronische - ohne Lesen auch kein Internet. Elke Heidenreich (Kursbuch 2001) Die Sorge um das Buch im Umfeld neuer konkurrierender Medien ist präsenter als je zuvor. Andererseits ist die für das Lesen aufgewendete Freizeit über Jahrzehnte stabil geblieben und die Buchproduktion sogar angestiegen. Lesen stellt nach wie vor die Basis für alle weiteren Mediennutzungen dar. Dies ist der Ausgangspunkt einer umfassenden Bestandsaufnahme zum Thema Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. 1 Alle Sozialisationsprozesse finden in einem komplexen medialen Umfeld statt und so wie für das klassische Printmedium eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Normvorstellung der Lesekompetenz anzusetzen ist, gilt das auch für die Mediengesellschaft (Medienkompetenz). Zu betrachten ist also die Relation von Lese- und Medienkompetenz. Die Frage stellt sich, welche Funktionen dem Lesen heute realistischerweise zugeschrieben werden können. Diese Frage wird in drei großen Kapiteln verfolgt: Lesen, Sozialisation, Mediengesellschaft. Einschlägigen Erhebungen von Lesefähigkeit und Leseinteressen liegt auf der Textseite die Unterscheidung von Fiction und Non-Fiction zugrunde, auf der Rezeptionsseite entspricht dies der Unterscheidung von Unterhaltungs- und Informationsfunktion. Bei der Informationsfunktion werden vor allem Aspekte wie Wissenserwerb, Bewertung, Begründung und Handlungskompetenzen behandelt; bei der Unterhaltungsfunktion sollen vor allem Aspekte der Spannung, Freude, Traurigkeit, Entlastung thematisiert werden. Wie dieses Unterhaltungserleben aber genau zu rekonstruieren ist, bleibt bislang eine Forschungslücke. Bei der Rezeption der meisten längeren literarischen Texte verbinden oder überlappen sich die bekannten Erscheinungsformen emotionaler Zustände. Denn ‘Unterhaltung’ ist mehr als ‘Spannung erleben’ etc., der Lesegenuss anspruchsvoller Literatur kann z.B. auch darin begründet liegen, daß formale Eigenschaften eines Textes erkannt werden. Bei der Unterhaltung durch Medien gehen die Meinungen indessen auseinander: einerseits wird vor ihrem schädlichen Einfluß gewarnt (Gewaltdarstellungen etc.), andererseits werden die positiven Funktionen von Unterhaltung (wie Rückgewinnung personaler Ressourcen durch Alltagsentlastung, soziale Orientierung, Problembewältigung, Kompetenzerwerb etc.) hervorgehoben. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 320 Bei der Informationsfunktion werden nach sozioökonomischen Variabeln unterschiedliche Formen der Informationsverarbeitung und des Wissenserwerbs angenommen. Bücher im Bereich der Informationstexte sind zumeist Fachbücher, Schulbücher, Sachbücher (die z.T., wie die Ratgeberliteratur, Übergänge zur Unterhaltungsliteratur markieren können). Ursula Christmann und Norbert Groeben teilen in ihren Beiträgen Sach- und Informationstexte nach ihren übergeordneten Funktionen in drei Gruppen ein: didaktische Texte, die der Wissensvermittlung dienen, persuasive Texte, die Bewertungen von Personen oder Sachverhalten enthalten und damit Einfluß auf die Einstellung der Leser nehmen, instruktive Texte, in denen konkrete Fertigkeiten vermittelt werden (Freizeit-, Hobby-, Reiseliteratur). Die Leseforschung hat in den letzten Jahren eine Fülle von Strategien zur Optimierung der Informationsaufnahme entwickelt. In der Praxis hat sich das Training von Einzelstrategien jedoch als weniger wirksam für die Verbesserung der Lese- und Lernleistung erwiesen als die Vermittlung einer Strategienkombination zur optimalen Ausschöpfung des Informationsgehalts von Texten: selektives (statt lineares) Lesen, Textschwierigkeiten feststellen, bekannte Informationen identifizieren, gezielte Informationssuche, wiederholtes Lesen unklarer Textteile, Lesestil an den Text und die Leseziele anpassen, Schlußfolgerung ziehen usw. Intrinsisch motiviertes Lesen hat nachweislich einen erheblichen Einfluß auf die Lern-, Behaltens-, Rekognitions- und Verstehensleistung von Texten. Ein hohes Interesse führt zu einer weit besseren kognitiven Verarbeitung von Textinhalten. Als Basis für das Interessenkonstrukt kann das Motiv der Neugier angesehen werden, also des Bestrebens, “das darauf abzielt, Informationen über Sachverhalte, die neu, unklar usw. sind, zu gewinnen und damit Zustände der subjektiven Unsicherheit oder Ungewissheit zu reduzieren” (S. 76). Es steht für ein Bedürfnis nach Kontrolle. Es wird angenommen, dass kognitive Kontrolle eine zentrale Rolle bei der Bewältigung von Lebensproblemen spielt. Durch Informationslesen erworbenes Wissen trägt zum Ausloten des eigenen Handlungsspielraums bei und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Kompetenz. Unterhaltung und Information finden auf individueller Ebene statt, während mögliche Folgefunktionen des Lesens auf personaler und sozialer Ebene stattfinden. Bei der Unterhaltung sind das (auf personaler Ebene) Folgefunktionen wie primäre Phantasieentwicklung, Stärkung von Empathie, Moralbewußtsein und lebensthematischer Identität, sowie die Anerkennung von Alterität. Die Entwicklung von ästhetischer Sensibilität und sprachlicher Differenziertheit sowie die Reflexion über reale versus mögliche Welten kommen sowohl bei fiktionalen als auch bei non-fiktionalen Texten zum Tragen. Durch Informationstexte sollen auf personaler Ebene die (politische) Meinungsbildung und die kognitive Orientierung oder Wissensvertiefung gefördert werden. Auf sozialer Ebene sind die mittelbaren Folgen des Lesens bei literarischen Texten die Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung von kulturellem Gedächtnis und bei non-fiktionalen Texten die Kenntnis bzw. das Verständnis von gesellschaftlichen Strukturen und sozialem Wandel. Im Zusammenhang mit literarischen Texten wird die Entwicklung von ästhetischer Sensibilität als Entwicklung von Formbewußtsein verstanden, denn der Modus in dem ein Kunstwerk wahrgenommen werden sollte, ist die Form. Ohne die Kenntnis der Bauweise eines Textes bliebe die Dimension des Ästhetischen verborgen. Daher ist die Einbeziehung ästhetischer Praxis im Unterricht zwingend notwendig, um eine vertiefte Wahrnehmung von Literatur zu erreichen. Mit der Entwicklung von sprachlicher Differenziertheit wird die Fähigkeit bezeichnet, mit Sprache mündlich und schriftlich umzugehen, sie situationsangemessen und partnerbezogen zu benutzen und zudem die Sprache anderer bewerten zu können. Sprachliche Differenziertheit ist für alle Bereiche der Kommunikation von großer Lesen in der Mediengesellschaft 321 Bedeutung. Auch das Bewußtsein der Unterschiedlichkeit von mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch, von alltäglicher und literarischer Sprache gehört zur Entwicklung von sprachlicher Differenziertheit. Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, das in ihr vorhandene Wissen an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses sind überzeitliche, häufig mythische Ereignisse und Erzählungen, die zur Bildung von Gemeinschaft beitragen. Die Zeichen- und Symbolvorräte des kulturellen Gedächtnisses tragen zur dauerhaften Erhaltung von Kultur und Gesellschaft bei. Alle möglichen Textsorten und literarischen Gattungen können die Funktion der Weitergabe des kulturellen Gedächtnis erfüllen. Leser nehmen das durch Literatur vermittelte kulturelle Wissen meist unbewußt in ihr Gedächtnis auf. Sozialer Wandel lässt sich definieren als Veränderung in der Struktur eines sozialen Systems, die sich auf mehreren Ebenen zeigt: Makro-Ebene (Sozialstruktur und Kultur), Meso-Ebene (Instanzen) und Mikro-Ebene (Personen). Eine zentrale Tendenz des gegenwärtigen sozialen Wandels in der westlichen Gesellschaft ist die Entwicklung neuer Medien (und damit die Expansion des Mediensystems). - Im zweiten Teil werden die verschiedenen Sozialisationsinstanzen im Hinblick auf das Lesen thematisiert, also vor allem Familie, Schule, peer group. Ihnen kommt - in je differenzierter Weise - gemeinsam eine ganz zentrale Bedeutung für die Lesesozialisation zu. Die Familie als Instanz auf der gesellschaftlichen Meso-Ebene hat hier eine Scharnierfunktion zwischen der sozialen und der individuellen Kultur. Das familiale Leseklima wird wesentlich von fünf voneinander unabhängigen Faktoren geprägt: gemeinsame Lesesituationen in der Familie, Besuche von Buchhandlungen und Bibliotheken, Gespräche zur prä- und paraliterarischen Kommunikation, Leseverhalten der Eltern und deren Nutzung elektronischer Medien. Unterschiede im Leseverhalten von Kindern aus unterschiedlichen Sozialschichten gehen im wesentlichen auf Merkmale des buchbezogenen und allgemeinen sprachlichen Kommunikationsverhalten in den Familien zurück. Die P ISA -Studien in Deutschland haben gezeigt, daß ein hoher Anteil der Variabilität von Leseleistungen Jugendlicher durch die Sozialschichtzugehörigkeit ihrer Familien erklärt werden kann. Die formelle Sozialisationsinstanz Schule muß diesen Anteil zu verringern suchen (was in Deutschland lt. jüngsten P ISA -Studien noch nicht gelingt). Der Literaturunterricht verfolgt das Ziel der Leseförderung, die zur Literatur hinführen, mit Literaturgeschichte, kanonischen Werken und literarischen Gattungen vertraut machen soll. Skeptiker sehen im Hinblick auf weiterführende Schulen insofern Probleme im schulischen Umgang mit Literatur, als sie aus ihr Prüfungswissen macht und der Literaturunterricht zum Abbruch der Lesekarriere beitragen kann. Kritisiert werden u.a. die Unterrichtsmethoden und die Textauswahl. Texte mit hohem Unterhaltungswert fehlen im Lehrplan, und in den kanonisierten Texten können Schüler oft keinen Bezug zu ihrem Leben finden. Außerdem wird das klassische Unterrichtsgespräch als didaktisch unbefriedigende Form der Anschlußkommunikation bewertet. Obwohl die informelle Sozialisationsinstanz peer group die prägende Instanz der (Selbst-) Sozialisation im Bereich der Mediennutzung insgesamt und damit auch für das Lesen darstellt, ist sie von der Forschung bislang völlig vernachlässigt worden. Freiwillige individuelle Lektüregewohnheiten sind häufig von dem Bedürfnis nach sozialer Partizipation getragen. Durch privates Lesen entsprechender Texte wird der Zugang zu sozialen Gruppen gesucht und realisiert. Die Lesesituationen selbst sind aber i.d.R. nicht sozial, die Lektüre vollzieht sich überwiegend allein. Erst die Anschlußkommunikation findet häufig in der peer group statt. Deshalb übt sie einen erheblichen Einfluß auf die Lesemotivation des einzelnen aus und damit indirekt auch auf die Ausbildung von Lesehaltungen und Lesekompetenzen. - Ernest W.B. Hess-Lüttich 322 Der dritte Teil ist dem Lesen im Kontext der modernen Mediengesellschaft gewidmet, wobei dieser Begriff bislang kaum präzise bestimmt werden konnte, da der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte sich nicht mehr auf einen zentralen Ursprung zurückführen ließ, wie das noch beim Terminus ‘Industriegesellschaft’ der Fall war. Er figuriert daher hier eher als rhetorische Zielsetzung zur Bezeichnung der heute alle Lebensbereiche betreffenden massenmedialen Grundstruktur sozialen Umgangs. Indizien dafür sind einerseits die quantitative Zunahme von Medienangeboten, andererseits der qualitative Bedeutungszuwachs von Mediennutzung im Alltag und bei Prozessen gesellschaftlicher Willensbildung. Ein Problem der Mediengesellschaft wird dabei in der sog. ‘digitalen Spaltung’ gesehen, also der Entwicklung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der Medien die Verbreitung von Informationen bzw. Wissen und damit die Chancenverteilung bestimmen. Zwei weitere Kapitel untersuchen hemmende und fördernde Einflüsse des medialen Umfelds auf die Entwicklung von Lesekompetenz, also des Fernsehens vor allem (die Rolle des Computers wird weitgehend außer acht gelassen). Die Befunde sind zwiespältig. Im Vorschulalter können Kinder von der Rezeption spezieller Kindersendungen des sog. Educational Television (z.B. Sesamstraße) profitieren, insoweit sie auf die Förderung kognitiver, emotionaler oder sozialer Fähigkeiten ausgerichtet sind. Ein aktives Familienklima und die vermehrte Rezeption von Informationssendungen geht einher mit besseren Leseleistungen in den Bereichen Wortschatz, Worterkennung und Textverständnis. Weiterhin kann das Fernsehen dazu beitragen, das Interesse an bestimmten Lesestoffen zu wecken. Die positiven Effekte fallen stärker aus, wenn sich an die Fernsehrezeption die Kommunikation mit Erwachsenen anschließt. Insgesamt jedoch zeigen die “Befunde zum Zusammenhang zwischen Höhe des Fernsehkonsums und der Lesekompetenz, daß es letztlich nicht sinnvoll ist, entweder von einem förderlichen oder einem hemmenden Einfluss des medialen Umfelds auf die Entwicklung der Lesekompetenz auszugehen” (S. 431). “Lesen als Schlüsselqualifikation? ”, fragt zum Abschluß der Herausgeber Norbert Groeben und zieht das Fazit, daß dieses Konzept sich für die Bewertung von Lesekompetenz und Lesesozialisation kaum eigne, weil keine Übertragung von der Schlüsselqualifikation auf andere Kompetenzen möglich sei. Vielmehr sei die Interrelation zwischen Lese- und Medienkompetenz durch Überlappungszonen gekennzeichnet, z.B. das Wissen über narrative Strukturen und Genres, ein Wissen freilich, das sowohl im Rahmen der Leseals auch der Medienkompetenz erworben werden könne. - Insgesamt bietet der (von gewissen Redundanzen nicht ganz freie) Band einen guten (und bibliographisch reichhaltig dokumentierten) Einblick in die Themenbereiche Lesen, Sozialisation und Medien und deren Zusammenhänge. Er macht aber auch auf erhebliche Lücken in der Forschung aufmerksam, etwa im Hinblick auf die eingeschränkte Datenlage beim Zusammenhang zwischen Lesen und peer group. Den Autoren gelingt jedoch überzeugend, die gesellschaftliche Realität des Sozialisationsprozesses als Ko-Konstruktion der beteiligten Individuen in Relation zu den entsprechenden überindividuellen Instanzen zu beschreiben. Joachim Fritsche etwa macht in seinem Beitrag über die Schule deutlich, wie wichtig es ist, junge Menschen zum Lesen zu motivieren, und wie entscheidend speziell der Literaturunterricht die zukünftige Leseeinstellung beeinflussen kann. Also, folgen wir dem Fernseh-Aufruf von Elke Heidenreich? Mehr Lesen! Anmerkung 1 Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (eds.) 2004: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick, Weinheim / München: Juventa, 468 S., ISBN 3-7799-1355-0