Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
273-4
Gehhart und Horst Kächele (eds): Medizinische Servonen, Psychosoziale, anthropologische und ethische Aspekte prothetischer Medien in der Medizin. Stuttgart und New York: Schattauer 2000, 120 S., ISBN 3-7945-2079-3
121
2004
Dagmar Schmauks
kod273-40323
Reviews Gehhart Allert und Horst Kächele (eds.): Medizinische Servonen. Psychosoziale, anthropologische und ethische Aspekte prothetischer Medien in der Medizin. Stuttgart und New York: Schattauer 2000, 120 S., ISBN 3-7945-2079-3. In der Literatur über das Internet, den Cyberspace und andere neue Medien tauchen immer wieder Cyborgs (cybernetic organisms) auf: Mischwesen aus Mensch und Maschine, die weniger sterblich sind als Wesen aus Fleisch. Solche Zukunftsvisionen lösen sehr unterschiedliche Reaktionen von Euphorie bis Entsetzen aus. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass längst Millionen von Menschen nur darum einigermaßen erträglich oder überhaupt noch leben, weil sie künstliche Körperteile haben oder regelmäßig mit Maschinen verbunden werden, die verlorengegangene Funktionen ersetzen. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes führen den Ausdruck “Servonen” als Erweiterung von “Werkzeug” ein und konzentrieren sich auf medizinische Servonen. Für diese gilt in besonderem Maße, was Freud in seinem Aufsatz “Das Unbehagen in der Kultur” ausführt: weil eine unserer existentiellen Grunderfahrungen das Erleben der Verletzlichkeit des eigenen Leibes sowie seines unaufhaltsamen Alterns ist, besteht eines der zentralen Ziele der Kulturarbeit darin, sich durch Erfindungen von dieser ständigen Bedrohtheit möglichst unabhängig zu machen. Medizinische Servonen leisten eine Art von “alltäglicher Cyborgisierung”. Sie greifen in die Funktionen des Körpers ein, indem sie einzelne davon überwachen (Blutzuckermessung), regulieren (Herzschrittmacher), ersetzen (Kunstherz) oder ausschalten (Verhütungsmittel). Zu den ältesten Hilfsmitteln zählen Schienen zur Ruhigstellung von Knochenbrüchen und Krücken, später kamen Brille und Hörrohr hinzu. Prothesen hingegen sind fest mit dem Körper verbunden. Während kosmetische Prothesen den jeweiligen Körperteil nur optisch ersetzen (Glasauge), übernehmen Funktionsprothesen auch seine Aufgaben (künstliche Hand). Letztere werden immer zahlreicher, so gehören Zahn- und Hüftgelenksprothesen in den Industrienationen schon zur “Standardausrüstung” alter Menschen. Servonen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Komplexität (handbetriebener vs. intelligenter Rollstuhl), den Umfang ihres Einflussbereiches (Hörhilfe vs. Heimkommunikationssystem) und den Grad ihrer Verbundenheit mit dem Körper (innere und äußere, ständige oder zeitweilige Servonen). Die Komplexität der verfügbaren Lösungen nimmt weiterhin zu; so könnte man Simulatoren, mit denen verschiedene Rollstuhlmodelle getestet und optimal an ihren Fahrer angepasst werden, bereits als “Servonen zweiter Stufe” bezeichnen. Wie die Herausgeber im Vorwort betonen, sollen weniger die technischen, sondern vertieft die psychosozialen, anthropologischen und ethischen Aspekte von Servonen diskutiert werden. “Explizit soll damit der an den Rändern der Hightech-Medizin besonders virulente Konflikt zwischen technisch Machbarem, ethisch Verantwortbarem und subjektiv Gewolltem aufgegriffen werden”. Die Artikel sind auch für medizinische Laien gut lesbar und überaus informativ, weil zu jedem Schwerpunktthema viele Rahmeninformationen geboten werden, die man zur Einschätzung der Probleme benötigt - also ein kurzer Überblick über die Entstehung der Krankheitsbilder, die Geschichte ihrer Diagnose und Therapie sowie eine Abwägung der Aussichten der verschiedenen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews 324 Behandlungen. Weiterführend sind auch Vergleiche von Servonen und Transplantaten. Während etwa künstliche Gelenke bereits konkurrenzfähig mit ihrem biologischen Vorbild sind, gilt dies für Kunstherzen nicht, und auch die Dialyse erzielt schlechtere Ergebnisse als eine Nierentransplantation. Als weiterer Vorteil der Darstellung kommen immer wieder Betroffene selbst zu Wort (Rollstuhlfahrer, Dialysepatienten), die sehr offen von ihren eigenen Erfahrungen berichten. Die praktischen Hinweise sind konkret bis in technische Details, etwa wenn es um Kriterien für die Auswahl zwischen verschiedenen Sitzkissen für Rollstühle geht. Die gelungene Zusammenstellung der Artikel macht insgesamt deutlich, wie komplex die verschiedenen Entwicklungsstränge miteinander verzahnt sind. Der Bedarf an Servonen wächst ständig, denn heute überleben durch Fortschritte in der Behandlung auch Schwerstbehinderte, sind jedoch ständig auf Servonen angewiesen. Ergebnisse aus Werkstoffherstellung, Mikroelektronik und Künstlicher Intelligenz werden kombiniert, um die Servonen optimal an ihre Benutzer anzupassen. Das Vorhandensein solcher Servonen wiederum muss bei der Stadtplanung berücksichtigt werden, damit etwa auch Rollstuhlfahrer ungehinderten Zugang zu öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln haben. Semiotisch besonders interessant sind die psychischen Aspekte von Servonen, die sich je nach Servonentyp ganz unterschiedlich stellen. Gerade im Falle von Krankheit und Unfall wird aus dem Leib - als der selbstverständlichen Grundlage der Existenz - der Körper als Gegenstand distanzierter Betrachtung, wobei die eigene Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit nicht mehr ausgeblendet werden kann. Servonen, die Para- und Tetraplegikern eine unabhängige Bewegung ermöglichen, steigern deren Lebensqualität erheblich und werden durch den Einsatz von Computern ständig verbessert. Bei benutzerangepassten Rollstühlen kann der Fahrer die Geschwindigkeit, Beschleunigung und Richtung mit den jeweils vorhandenen motorischen Mitteln kontrollieren, wobei die Palette von herkömmlichen Antriebsmitteln (Hand, Arm, Fuß, Bein) über stimmliche Befehle bis zum Ansteuern mittels Zungen- oder Augenbewegungen reicht. “Intelligente Rollstühle” haben verschiedene Fahrweisen gespeichert (schnell, vorsichtig, parken usw.) und erkennen die Absicht ihres Benutzers. Servonen für Kinder müssen besondere Anforderungen erfüllen. Denn da der Umgang mit Objekten sowie ausreichende Raumerfahrungen für eine optimale Entwicklung unverzichtbar sind, sollten behinderten Kindern Rollstühle, einfache Robotor zur Objektmanipulation usw. möglichst früh zur Verfügung stehen. Die Entwicklung künstlicher Organe ist unter anderem eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Nachfrage nach Spenderorganen das Angebot bei weitem übersteigt. Als Vorteil für den Patienten entfallen bei ihnen die Schuldgefühle, die eine Transplantation für den Organempfänger oft mit sich bringt. Künstliche Organe erfüllen ihre Aufgabe umso effizienter, je besser sie ins Körperschema integriert werden, wobei kognitive und emotionale Verarbeitungsstrategien eng miteinander verflochten sind. Da das Herz das am höchsten emotional besetzte Organ ist, werden an ihm die je spezifischen Probleme der Ersatzmöglichkeiten am deutlichsten. Im negativen Fall bleibt das Kunstherz ein “Fremdkörper” im wörtlichen Sinn und der Patient fühlt sich ausgeliefert an eine Maschine. Im günstigen Fall vermag der Patient das Kunstherz als “Lebensretter” und seine Genesung als “Wiedergeburt” zu sehen. Eine Überschussreaktion ist demgegenüber die narzisstische Illusion, dass der Einbau einer “unverwüstlichen Kraftquelle” den Patienten selbst unverletzlich und damit unsterblich macht. Unabhängig von diesen emotionalen Problemen ist das Kunstherz derzeit noch medizinisch unbefriedigend und sehr teuer. Auch andere Servonen des Herzens belegen, wie ausschlaggebend psychische Faktoren sind. Der Herzschrittmacher, der vor zu niedrigen Schlagfrequenzen schützt, ist heute klein, leicht und langlebig und passt seine Frequenz so gut an die jeweilige Tätigkeit an, dass er die Lebensqualität kaum mindert. Der Defibrillator hingegen, der vor zu hohen Frequenzen und vor Kammerflimmern schützt, wird wegen seiner unvorhersehbaren schmerzhaften Entladungen als sehr belastend erlebt. Der Einsatz künstlicher Gelenke ist bereits ein Routineeingriff, wobei Hüft- und Kniegelenke am häufigsten ersetzt werden. Da die Grundkrankheiten selten lebensbedrohlich sind, ist eine Reviews 325 optimale Vorbereitung auf die Operation möglich und ihre Ergebnisse sind meist gut. Nur wenn die Abnutzung eines Gelenks sehr stark mit “Verbrauchtsein” assoziiert wird, kann das Kunstgelenk als Fremdkörper empfunden und seine Akzeptanz erschwert werden. Zu den Servonen der Diabetesbehandlung zählen Geräte zum Blutzuckermessen und Verabreichen von Insulin sowie - als umfangreichste Behandlung - die Dialyse. Es wird deutlich, dass eine Dialysepflicht die Lebensqualität auf Dauer erheblich mindert, weil sie sehr zeitaufwendig ist, nur an entsprechenden Einrichtungen durchgeführt werden kann und eine hohe Disziplin erfordert (Trinkmengenbeschränkung usw.). Die vielfältigen Servonen des Geschlechts sollen die verschiedenen Aspekte der Sexualität ersetzen, unterstützen oder erweitern, manchmal aber auch einschränken. So können Aphrodisiaka und Dessous den Beziehungsaspekt fördern, Dildos und Sexpuppen hingegen einen Partner (partiell) ersetzen. Verhütungsmittel, künstliche Befruchtung usw. greifen in den Reproduktionsaspekt ein, und die Szenarien des Cybersex bedienen vor allem den narzisstischen Aspekt. Bei einer Zusammenschau aller heutigen Möglichkeiten wird deutlich, dass die Entwicklung von Servonen längst über die Wiederherstellung verlorengegangener Funktionen hinausgegangen ist. Ihr letztliches Ziel ist die größtmögliche Steigerung aller Körperfunktionen und der Ersatz aller organischen “Verschleißteile” durch Servonen, so dass man sich quasi-göttlichen Merkmalen wie Allmacht und Unsterblichkeit annähert. Manches ist schon technisch machbar, etwa die analoge Manipulation von Geräten in weit entfernten oder gefährlichen Umgebungen (“Telerobotik”). Auch beim Behindertensport werden bereits Servonen eingesetzt, die hinsichtlich ganz bestimmter Aufgaben das natürliche Modell zu übertreffen versuchen. So trat bereits bei den Paralympics 1992 in Barcelona ein russischer Hammerwerfer an, dessen Beinprothese kein Kniescharnier besitzt und darum die Drehung im Wurfring verbessert. Andere einschlägige Visionen und Prognosen kreisen um • die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeiten (künstliche Sinnesorgane, etwa für Infrarot), • die Erweiterung von Erlebnismöglichkeiten (virtuelle Realität, Cyberspace), • die unbegrenzte Telekommunikation, etwa durch einen implantierten Chip, • das direktes “Anzapfen” externer Wissensspeicher, • die direkte Verbindung mehrerer Gehirne und • Medikamente zur Verbesserung des Gedächtnisses und anderer mentaler Funktionen. Die Kritik gegenüber solchen Szenarien, an der es natürlich nicht fehlt, konzentriert sich vor allem auf folgende Einwände: • Wegen begrenzter Ressourcen (Geld, Kapazität der Einrichtungen) können niemals alle Menschen in den Genuss neuester Medizintechnologie kommen, und jede Gesellschaft muss abwägen, ob sie erhebliche Vorteile für nur wenige mit einer weiteren Einschränkung aller öffentlich finanzierten Bereiche bezahlen will. • Zweifel an der gerechten Verteilung von Servonen werden geschürt, wenn Prominente überzufällig häufig sofort Zugang zu neuesten Lösungen bekommen. • Künstliche Herzen und andere Kunstorgane sind nur am kranken Menschen selbst testbar, und es ist jeweils abzuwägen, inwieweit dies deren Lebenszeit verkürzt oder die Lebensqualität vermindert. • In die körperliche Erscheinung greifen heute schon Sportstudios, Hersteller von Diätprodukten und Schönheitschirurgie massiv ein und versprechen eine Annäherung an gängige Schönheitsideale. Dieser Zwang zur Normalität wird umso stärker auf die Psyche übergreifen, je mehr maßgeschneiderte Psychodrogen es gibt. • Die grundlegendsten Bedenken sind existentieller Art: Inwieweit verändert die Illusion von umfassender Machbarkeit unser Verhältnis zum eigenen Körper und zum Körper des anderen? Werden Verdrängungstendenzen noch weiter zunehmen, so dass Krankheit und Tod noch stärker als heute zum undenkbaren Tabu werden? Dagmar Schmauks (TU Berlin)
