eJournals Kodikas/Code 27/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
273-4

Nilgün Yüce & Peter Plöger (eds.): Die Vielfalt der Wechselwirkungen. Eine transdisziplinäre Exkursion im Umfeld der Evolutionären Kulturökologie, Freiburg/Brsg.: Karl Alber 2003, 333 S., ISBN 3-495-48084-6

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2004
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod273-40347
Reviews 347 Nilgün Yüce & Peter Plöger (eds.): Die Vielfalt der Wechselwirkungen. Eine transdisziplinäre Exkursion im Umfeld der Evolutionären Kulturökologie, Freiburg/ Brsg.: Karl Alber 2003, 333 S., ISBN 3-495-48084-6 Aus Anlaß des 60. Geburtstages von Peter Finke, der begründet hat, was er Evolutionäre Kulturökologie nennt, ist ein Sammelband erschienen, der 13 Beiträge von namhaften Physikern, Biologen, Wissenschaftstheoretikern, Sprach-, Wirtschafts- und Staatswissenschaftlern, Philosophen und Künstlern versammelt, die alle im engeren oder weiteren Umfeld der Evolutionären Kulturökologie entstanden sind. Der ökosemiotisch interessierte Leser muß sich also auf ganz unterschiedliche und höchst heterogene Themengebiete gefaßt machen. Peter Finke spricht in diesem Zusammenhang in seiner langen (fast 90-seitigen) “Erwiderung auf alle Beiträge” zu Recht von “einer Wildnis”: Vor uns erstreckt sich eine Wildnis. Viele mögen das nicht, denn ihnen ist eine Wildnis zu wild. Zugegeben: Es gibt die verwirrende, abstossende Wildnis. Doch diese ist anders: Sie ist eine schöne Wildnis. Sie enthält überraschende An- und Aussichten, ungewöhnliche Wegverläufe, verborgene Entdeckungen (S. 237). Damit sich der Leser beim Durchstreifen dieser ‘Wildnis’ nicht verläuft, legen die Herausgeber einen Pfad an, indem sie die Beiträge so anordnen, daß sie von der Natur über die Sprache zur Kultur hinführen. Der erste Teilabschnitt dieser “transdisziplinären Exkursion” (so der Untertitel des Bandes) erkundet die Natur, auf daß der Mensch von ihr lernen könne: “Sie ist die Grundlage der Kultur, erhält und nährt sie wie ein Baum die Misteln auf seinen Ästen” (S. 9). Die zweite Etappe führt in das Gebiet der Sprache, die zwischen der Natur und Kultur steht. Sie sei ein “strukturell intermediäres System” (S. 10), das seit je zwischen Natur und Kultur vermittelt habe. Dank der Brückenfunktion der Sprache treten die anderen beiden Bereiche in Wechselwirkung zueinander. Aus einer anderen Perspektive könnte man auch formulieren: Sprache bildet das Scharnier, um das sich Natur und Kultur drehen. Die letzte Wegstrecke ist der Kultur gewidmet. Hier kommen so unterschiedliche Bereiche wie Staat, Wirtschaft, Kunst und Medien ins Blickfeld. Der Weg der Exkursion spiegelt die Spannung wieder, in der die Evolutionäre Kulturökologie selber steht. Sie wird beschrieben als neuer integrativer Ansatz, als transdisziplinäres Forschungssegment, das die Entstehung und Entwicklung, Funktion und Kritik kultureller Systeme wie Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur untersucht und dabei traditionelle Disziplingrenzen unbekümmert überschreitet. Das Neue daran ist weniger der transdisziplinäre Ansatz - diesen Anspruch erhebt heute manches Projekt -, wichtiger und wesentlich ist die neue Perspektive, die sie auf bekannte Phänomene wirft, und die (gesellschafts)kritische Haltung, mit der sie ihrem Gegenstandsbereich gegenübertritt. Wissenschaftliche Entwicklung war und ist darauf ausgerichtet, in immer spezialisierteren Bereichen immer mehr Wissen zu generieren mit immer genaueren Methoden. Die Wissenschaft will dieses Wissen den Menschen verfügbar machen, damit sie die natürlichen Kräfte zur Erleichterung ihrer Tagesmühen nützen und die materiellen Ressourcen zu ihrem Wohle und Vergnügen besser ausschöpfen können. Dabei läuft sie aber zugleich Gefahr, durch eine immer extensivere, intensivere und beschleunigtere Technik die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zu gefährden. Die Evolutionäre Kulturökologie fordert daher ein Umlenken durch Umdenken. Der Perspektivenwechsel könne dabei von zwei Ausgangspunkten her gedacht und vollzogen werden. Erstens müsse man sich bewußt sein, daß das Umdenken nicht in den Mauern der traditionellen Disziplinen geschehen könne. Die traditionelle Sicht auf die wissenschaftlichen Gegenstände müsse vielmehr grundlegend geändert werden. Dies könne z.B. durch eine Perspektive geschehen, die einen Sachverhalt quer über die traditionellen Disziplinengrenzen hinweg betrachtet und so vielleicht nicht unmittelbar neues Spezialwissen erschließe, sondern die Wechselwirkungen des in den einzelnen Disziplinen bereits bestehenden Wissens über den Sachverhalt erkunde. Verschiedene Wissensbereiche würden auf diese Weise miteinander verbunden und ver- Reviews 348 glichen, gegeneinander abgewogen und austariert. Nur so bestehe nach den Vertretern der Evolutionären Kulturökologie die Möglichkeit, das Wissen verschiedener Fächer und Disziplinen in ein ‘ökologisches’ Verhältnis zu bringen und nutzbar zu machen. Mit dieser neuen Ökologie des Wissens resp. der Kulturen werde nicht einfach bestehendes Wissen neu sortiert und aufbereitet, vielmehr entstehe qualitativ neues Wissen, an dem sich der Mensch in seinem Verhalten und in seiner Haltung praktisch und ethisch orientieren könne. Verfügungswissen werde so mit Orientierungswissen wieder in ein ‘ökologisches’ Gleichgewicht gebracht. In diesem Sinne fordert Hans- Peter Dürr in seinem Beitrag “Was heißt wissenschaftliches Querdenken? ” eine neue Haltung oder Einstellung des Forschers zu seinem Gegenstand, ohne sich den Blick durch die Scheuklappen seiner Fachtradition einengen zu lassen. Von einem anderen Ansatzpunkt her fordern die Kulturökologen, daß der Mensch eine neue Position innerhalb des Systems der Wissenschaften einnehmen solle. Die Wissenschaft müsse ihre anthropozentrische Haltung überwinden und ein stärker ausgeprägtes Bewußtsein dafür entwickeln, daß der Mensch nur ein Teil der Natur sei. Die Evolution der Natur habe sich über sechs Milliarden Jahre hinweg entwickelt und so ihren Fortbestand garantiert. Der Mensch solle sich und seine kulturellen Errungenschaften an diesem natürlichen Entwicklungsprozeß der Evolution messen und orientieren. Mit dieser Perspektive erkenne er nämlich, daß nicht nur das kulturelle System der Wissenschaften auf Abwege geraten sei, sondern auch andere gesellschaftliche Systeme. Die Wirtschaft z.B. sei nach wie vor praktisch ausschließlich auf Produktion und Konsumtion ausgerichtet und vernachlässige die innerhalb einer funktionierenden Evolution dritte notwendige Komponente: die Reduktion. Erst sehr allmählich entstehe in der Wirtschaft ein Bewußtsein dafür, daß alles, was einmal produziert, d.h. von einem natürlichen in ein künstliches Produkt überführt wurde, auch wieder in einen natürlichen Zustand zurückgeführt werden müsse und daß dies mit Anstrengungen, Kosten und Energie verbunden sei. Ein zentraler Begriff, der im Hintergrund von all diesen Überlegungen steht, ist derjenige der Nachhaltigkeit. Christiane Busch-Lüty, politische und ökologische Ökonomin an der Universität München, untersucht den Begriff in einem die “transdisziplinäre Exkursion” einführenden Kapitel über die “Nachhaltigkeit als integratives Lebensprinzip” (S. 15-37) und bezieht sich darin auf Finkes Definition (S. 16): Nachhaltigkeit ist das Kennzeichen einer Kulturweise, die auch die Interessen der Nachgeborenen zu berücksichtigen versucht; ein kultureller Begriff also. Wenn wir unsere Kulturellen Ökosysteme, vor allem das des Wirtschaftens, auf seiner Grundlage zu reformieren versuchen, dann orientieren wir uns aber am Vorbild intakter Natürlicher Ökosysteme. Sie sind das Musterbeispiel nachhaltig organisierter Fließgleichgewichte des Produzierens, Konsumierens und Reduzierens, und viel spricht dafür, dass wir gerade das Reduzieren in den komplexen psychischen und sozialen Ökosystemen unserer kulturellen Sphären bislang nicht in den Griff bekommen haben [...]. Mit diesem Zitat ist ein Ziel der Evolutionären Kulturökologie bezeichnet: sie will das Bewußtsein der Menschen dafür wecken, daß sowohl in der Natur als auch in der Kultur ökologische Gesetzmäßigkeiten am Werke sind. Evolutionäre Kulturökologie impliziert mithin eine ethische Postulatorik. Sie will den Menschen verändern, damit er sich wieder besser in die Natur integriere und sich nicht mehr als ein von ihr losgelöstes, autonomes oder gar gottähnliches Subjekt betrachte und verhalte - nach dem Motto “Der Mensch mache sich die Welt untertan”, wie Bibel und Kreationisten oder ‘intelligent design’-Propheten verkünden. Der Band nimmt den Leser auf eine Exkursion mit, die durch eine (nicht in allen Winkeln gänzlich unbekannte) Wildnis des Wissenschaftsdschungels führt. Vielmehr trifft der Leser hier auf mehr und weniger bekannte und aktuelle wissenschaftliche Positionen, die ihm vertraut vorkommen mögen, manche ihm auch kaum wirklich neue Einsichten vermitteln. Darüber hinaus können, wie das in Sammelwerken zuweilen vorkommen soll, nicht alle Kapitel in gleicher Weise überzeugen. Das bedeutet aber nicht, dass die Anliegen und Forderungen der Evolutionären Kulturökologie nicht berechtigt wären und inso- Reviews 349 fern zu befürworten und zu unterstützen sind. Im Gegenteil: Je mehr Menschen sich für eine Erneuerung der Wissenschaften in der von der Evolutionären Kulturökologie skizzierten Richtung einsetzen (ob unter diesem Etikett oder anderen, vielleicht auch semiotischen, wie der Rezensent es demnächst mit etwas anderen Zielen und Akzenten versuchen wird), desto eher wird es gelingen, die mancherorts in allzu engen Fachgrenzen verkrusteten Strukturen oder auf allzu ausgetretenen mainstream-Pfaden weitergeschobenen Projekte oder durch Evaluationszwänge korrumpierten Ansätze in traditionellen Wissenschaftsbezirken, wie sie hier nur zart angedeutet werden können, zu überwinden. In diesem Sinne kann der vorliegende Sammelband durchaus eine anregende Lektüre sein. Literaturhinweis Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.) 2006: Eco-Semiotics. Umwelt- und Entwicklungskommunikation, Tübingen/ Basel: Francke Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern)