eJournals Kodikas/Code 28/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2005
281-2

Einleitung

61
2005
Achim Eschbach
Mark Halawa
kod281-20003
Einleitung Sematologie kennzeichnet für Karl Bühler (1879-1963) spätestens seit seiner Sprachtheorie (Bühler, 1934) dasjenige semiotische Forschungsprogramm, das er im Zuge seiner fortschreitenden Tieferlegung der theoretischen Fundamente der Psychologie erreichen wollte. Hatte Bühler sich in seiner Krise der Psychologie (Bühler, 1927) noch um den Beweis bemüht, daß die im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts konkurrierenden psychologischen Ansätze der Erlebnispsychologie, des Behaviorismus sowie der geisteswissenschaftlichen Psychologie ein vereinigendes Moment im Phänomen der Sprache finden können, was Bühler eindrucksvoll und prägnant in seiner dreigliedrigen Axiomatik der Krise der Psychologie niedergelegt hat (cf. Bühler, 1927: 50 f.), setzt er sich in seiner Sprachtheorie bereits eine Ausarbeitung der drei Bücher über die Sprache zum Ziel. Verifiziert hält Bühler die These von den drei Sprachfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell, “wenn alle drei Bücher über die Sprache, die das Organon-Modell verlangt, geschrieben sind” (Bühler, 1934: 33). Wir haben bereits 1987 in einem Beitrag für die Zeitschrift Conceptus (cf. Eschbach/ Willenberg, 1987) darauf aufmerksam gemacht, daß dies nicht als Bühlers abschließende Meinung angesehen darf, denn kurz bevor Karl Bühler von den Nazis in die Emigration getrieben wurde, plante er eine allgemeine Sematologie oder Lehre von den Zeichen im Sinne einer Logik der Geisteswissenschaften, die er im TS 90 als “die logische Heimat der Sprachtheorie” bezeichnet. Wörtlich heißt es in diesem Text weiterhin: “Meinen Vorschlag kennen Sie: Man vergleiche die Sprache mit anderen Darstellungsgeräten. Wären wir soweit und könnten eine allgemeine Zeichenlehre, eine ausgewachsene Sematologie vorlegen, so wäre unser Beitrag geleistet. Eine allgemeine Sematologie - das ist es, was zustande gebracht werden muß und hier werden von allen Seiten die heute noch getrennten Beiträge einmünden” (Bühler, TS 90: 4; Hervorhebungen im Original). Im Sinne dieser Zielsetzung haben wir uns bei der Textauswahl für den vorliegenden Band an solchen bislang unpublizierten Arbeiten aus der Zeit der Emigration orientiert, die dazu geeignet erscheinen, einen nachhaltigen Eindruck des Denkweges zu vermitteln, den Karl Bühler ab ca. 1940 vorgenommen hatte. Wir haben die Texte weitestgehend in dem Zustand belassen, wie sie uns im Nachlaß vorliegen. Lediglich bei den englischsprachigen Texten war eine stärkere Textedition erforderlich, die Herr Adam Christian von Wald dankenswerterweise erledigt hat. Der autobiographische Text “Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933” verlangte eine ausführlichere Auseinandersetzung, als sie in dieser Einleitung möglich ist. Karl Bühlers Essayfragment muß im Zusammenhang der rund 250 weiteren Beiträge gesehen werden, die das Preiskomitee an der Harvard University schließlich erreicht haben. Bereits im Septemberheft der Zeitschrift Character and Personality von 1941 haben Allport, Bruner und K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Achim Eschbach und Mark Halawa 4 Jandorf eine erste summarische Beschreibung der Essaybeiträge geliefert. Einen vollständigen Überblick über sämtliche Preisessays bieten Harry Liebersohn und Dorothee Schneider (2001) in ihrem Guide to a Manuscript Collection at Houghton Library, Harvard University. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn sich weitere Wissenschaftler wie Detlef Garz mit der Würdigung und Auswertung dieser ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Sammlung befassen würden, damit nicht nur wenige separat publizierte Wettbewerbsbeiträge wie diejenigen von Karl Löwith (1986), Käthe Vordtriege (1999) und Eva Wysbar (2000) dem Vergessen entrissen werden. Was die Sekundärtexte zu Karl Bühler in diesem Band betrifft, so fußt ihre Auswahl auf dem von uns vertretenen Standpunkt, dass es sich bei ihnen durchweg um Beiträge handelt, die das Bühler’sche Werk in nach wie vor gewinnbringender Weise fruchtbar machen. Selbstverständlich wird dabei auch der ein oder andere Gedanke Bühlers kritisch in Augenschein genommen, was sich besonders gut bei Vittorio Benussis Ausführungen zu den gestalttheoretischen Beiträgen Bühlers nachzeichnen lässt. Gerold Ungeheuer unternimmt den Versuch, das von Bühler ins Spiel gebrachte Steuerungsprinzip im sprachlichen Kontakt miteinander als fundamentalen Bestandteil von Kommunikationsprozessen herauszuarbeiten. Anders als in vielen anderen Abhandlungen zu Bühlers Sprachtheorie, beruft sich Ungeheuer hier primär auf die von Bühler in seiner Krise der Psychologie eingeführte Dreieraxiomatik, die den “Ursprung der sprachlichen Semantizität”, wie Ungeheuer ausführt, an das Prinzip der Gemeinschaft, der Steuerung sowie die Einführung symbolischer Zeichen knüpft. In Bezug auf die 1934 publizierte Sprachtheorie stellt Ungeheuer ferner fest, daß sie sich nur im Zusammenhang zu besagter Axiomatik in der Krise von 1927 nachvollziehen lasse. Mit Dieter Wunderlich, Kevin Mulligan und Josef Krug konzentrieren sich gleich drei Autoren eingehend auf die Bühler’sche Sprachtheorie. Während Wunderlich die Grundprinzipien des Bühler’schen Sprachansatzes herauszuarbeiten versucht, bemüht sich Mulligan darum, Bühlers sprachanalytisches Denken mit dem Ludwig Wittgensteins zu vergleichen. Josef Krug schließlich analysiert und vergleicht die von Bühler entwickelte Dreiteilung der Sprachfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell mit dem von Alexius Meinong in die sprachwissenschaftliche Diskussion eingebrachten Begriffspaar Ausdruck und Bedeutung. Mit Jens Loenhoff beschäftigt sich ein Autor mit einem der Werke Bühlers, dem vergleichsweise geringe Beachtung geschenkt wurde - und das, obwohl es neben der Sprachtheorie, die sich primär dem Darstellungsaspekt zuwendet, um das zweite große Buch handelt, das als Konsequenz aus dem Postulat der drei Aspekte der Sprache zu verstehen ist. Die Rede ist von der Ausdruckstheorie, die, 1933 veröffentlicht, den Reflexionen zum menschlichen Ausdruckvermögen historisch anhand einer Würdigung und Kritik von Ausdruckstheoretikern wie Darwin, Bell oder Piderit nachgeht. Loenhoff betrachtet in seinem Beitrag nun die nichtsprachlichen Facetten des sozialen Miteinanders unter sematologischen (sprich: zeichentheoretischen) Gesichtspunkten. Albert Welleks Beitrag stellt, obgleich bereits 1959 publiziert, noch heute eine der klarsten und fruchtbarsten Einführungen zu Bühlers Krise der Psychologie dar. Aus heutiger Sicht interessant erscheint zudem Welleks Überzeugung, wonach sich aus seiner damaligen Sicht die aktuelle psychologische Forschung noch immer in einer Art “Methodenkrise” befinde, aus der seiner Auffassung nach gerade Bühlers kritische Reflexionen in der Krise einen Ausweg bereiten könnten. Bei Vittorio Benussis Ausführungen zu Bühlers 1913 erschienener Arbeit Die Gestaltwahrnehmungen handelt es sich um eine anerkennende und kritische Rezension zugleich. Einleitung 5 Fiorenza Toccafondi hingegen bemüht sich um einen Vergleich des Bühler’schen Werkes mit dem Denken seines Schülers Karl R. Popper. Ähnlich wie es Jens Loenhoff tut, befassen sich Achim Eschbach und Gabi Willenberg mit einem Thema, dem bis heute in der Bühlerforschung nur wenig Beachtung geschenkt wurde, nämlich Karl Bühlers Verdienste um die Aphasieforschung. Eschbach und Willenberg weisen dabei unter anderem anhand von autobiographischem Material aus dem Bühler- Nachlaß nach, daß Bühler während des Ersten Weltkrieges einerseits aktiv an Studien zum Aphasiephänomen teilnahm, er andererseits auch nach seinem Wechsel von der Medizin (Bühler war ausgebildeter Mediziner) in die Psychologie nie das Interesse an medizinischen Problemen und Fragestellungen verlor, sondern stets den Dialog mit seinen medizinischen Kollegen gesucht hat. Schließlich kommen mit Ilse Bürmann und Leonie Herwartz-Emden zwei Autorinnen zu Wort, die sich nicht direkt mit Karl Bühler, dafür aber mit seiner Frau Charlotte auseinandersetzen. Im Rahmen des vorliegenden Bandes erscheint dieser Beitrag besonders aus zwei Gründen interessant: Zum einen handelte es sich bei Charlotte Bühler um eine Wissenschaftlerin, deren Werk - im Vergleich zu dem ihres Mannes - innerhalb der Psychologie (hierin vor allem in der Entwicklungspsychologie) noch heute eine breitere Rezeption erfährt. Zum anderen gewähren uns Bürmann und Herwartz-Emden einen Blick hinter die Kulissen des Ehepaares Bühler. Unter anderem berichten sie etwa über die Rolle Charlottes bei der Befreiung Karl Bühlers aus der Gestapo-Haft nach dem Anschluß Österreichs an das deutsche Nazi-Regime 1938. Literaturverzeichnis Allport, G.W.; Bruner, J.S. and Jandorf, E.M.: “Personality Under Social Catastrophe: Ninety Life-Histories of the Nazi Revolution.” In: Character and Personality 10 (1941-42), 1-22. Bühler, Karl: Die Krise der Psychologie. Jena: Fischer, 1927. Bühler, Karl: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer, 1934. Bühler, Karl: “Das synsemantische Umfeld.” Bühler-Editions-Projekt. Eschbach, Achim und Willenberg, Gabi: “Karl Bühlers neue Philosophie der Psychologie.” In: Conceptus 21 (1987), 103-114. Liebersohn, Harry und Schneider, Dorothee: “My Life in Germany Before and After January 1933”: A Guide to a Manuscript Collection at Houghton Library, Harvard University. In: Transactions of the American Philosophical Society, 91: 33 (2001). Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Mit einer Vorbemerkung von Reinhard Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith. Stuttgart: Metzler, 1986. Vordtriede, Käthe: “Es gibt Zeiten, in denen man welkt.” Lengwil: Libelle, 1999. Wysbar, Eva: “Hinaus aus Deutschland, irgendwohin.” Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Lengwil: Libelle, 2000. Essen, im März 2006 Achim Eschbach und Mark Halawa