eJournals Kodikas/Code 28/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2005
281-2

Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933

61
2005
Karl Bühler
kod281-20007
* Bei diesem Text liegt eine Ankündigung eines Preisausschreibens, die als Preisrichter Gordon W. Allport, Sidney B. Fay und Edward Y. Hartshorne nennt, und zur Einsendung eines Aufsatzes mit folgendem Titel bis zum 1. April 1940 aufruft: “Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933”. Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 * Karl Bühler Ich bin geboren in der Nähe von Heidelberg in Deutschland und jetzt 60 Jahre alt. Mein Leben spielte sich bis 1922 in Deutschland und dann durch 16 Jahre bis 1938 in Wien in Oesterreich ab. Was ich hier niederschreibe, sind Lebenserinnerungen, in denen sich das nationale Geschehen von 1914 bis 1938 spiegelt; ich versuche darin selbst darüber klar zu werden, wie einer unter den Vielen die Dinge, die über uns hereinbrachen, miterlebt hat. I. Der Weltkrieg 1914-1918. Am Entscheidungstage (31. Juli 1914) verließ ich nach dem Abendessen meine Wohnung in Schwabing (München, Georgenstraße 13) und ging die Ludwigstraße entlang auf die Feldherrnhalle zu und auf diesem Gang hörte ich das Ausrufen der Kriegserklärung durch Zeitungsträger, die das letzte Extrablatt verkauften. Extrablätter alle paar Stunden, das war damals vor dem Radio der Nachrichtendienst. Was ich erzählen und beschreiben will, ist der Eindruck, den das Ereignis auf mich machte. Jeder in Deutschland sah ihm entgegen durch Tage und Wochen, man war in dieser oder jener emotionalen Einstellung zum Krieg darauf vorbereitet und hatte das Schreckliche innerlich als kommendes Faktum übernommen, es war kein Blitzschlag aus heiterem Himmel, keine Überraschung. Und doch! Daß das Befürchtete in diesem Augenblick zu einem Definitivum geworden war, bedingte den Einschnitt. Viele haben Derartiges in anderen Dingen z.B. am Sterbensbett eines nächstverwandten Menschen erfahren. Mit dem Kriegsausbruch aber war es in vielen Punkten doch nicht dasselbe, sondern anders. Kriegszustand mit Frankreich! Wenn ich so genau als möglich angeben soll, wie mir es war, so sind einige Notizen am gleichen Abend meine Quelle. Es schoß etwas durch den Körper des Gehenden, seine Knie waren weich für einige Sekunden und dann war er automatisch in rascher Bewegung, im Trab, ohne von anderen angesteckt zu sein; erst später sah ich viele Straßengänger in derselben hastigen Bewegung. Das Ziel des Ganges war nicht verändert, ich kam auf den Platz vor dem Rathaus, las das Extrablatt und ging in eines der Caféhäuser dort am Platz. Und heute noch, wo ich das niederschreibe nach 21 Jahren kann ich ähnlich wie Eidetiker gleichgültige Einzelheiten innerlich wiederholen: den kleinen, runden, weißen Marmortisch, an dem ich Platz nahm und genau, wo er stand im Saal, den K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Karl Bühler 8 Ausdruck im Gesicht der Kellnerin (ein nichtssagendes Lächeln) u.s.w. Aber was innerlich in mir eingetreten war, das steht nur ganz unvollkommen in den Notizen am gleichen Abend. Darin kommt nur vor, daß das ‘Sie’ in der Anrede fremder Personen plötzlich unangebracht erschien, vielleicht hab ich sogar ‘Du’ gesagt ohne es zu wissen in den ersten Minuten. Es ist weiter notiert, das drängende ‘wenn ich jetzt nur vor meiner Klasse stände! ’ Kein Wort, was ich hätte sagen wollen. Doch ich will nicht weiter zitieren; ich war und blieb allein an diesem Abend, ging nach zwei Glas hellem Münchener Bier, das man aus hohen Bechergläsern dort trank, nach Hause. Alle Details sind vergessen, der eigentliche Charakter der Erinnerung bricht im Cafehaus selbst ab. Der psychologische Sinn oder Lebenssinn meiner inneren Reaktion auf die Nachricht des Kriegsausbruchs, den ich jetzt niederschreibe, ist Deutung aus dem Verhalten in den nächsten Tagen. Am frühen Morgen des 4. Kriegstages stand ich 35-jährig mit vielen andern als Freiwilliger auf dem zugewiesenen Platz, ich wurde für den Infanteriedienst ausgebildet; vier Wochen lang. Und das war alles selbstverständlich, der Entschluß zur Meldung und alles drum und dran ist völlig vergessen. Keine Rede von einer schlaflosen Nacht oder sonstigen Aufregungen in diesen Tagen, es ging alles im Charakter der täglichen Lebensroutine oder höchstens, wie man eine Ferienreise antritt, es war Semesterschluß und ich weiß nicht mehr, was ich für die Ferien vorhatte. Wir marschierten, wurden gedrillt, es waren viele Akademiker dabei, das alles steht nur fetzenhaft in der Erinnerung und ist in den Gefühlston von Augustsommern und Singen und lustigem Campleben getaucht. Warum bei allen dieselbe Unbekümmertheit und Selbstverständlichkeit? Ich nehme an, daß am gleichen Tag 90% der deutschen Bevölkerung die gleiche innere Umstellung wie ich durchgemacht hatten, aber nur für mich will ich versuchen, sie in nachträglicher Integration einigermaßen zu umreißen. An jenem Abend des 31. Juli muß wohl in dem psychologischen System, von dem ich spreche, etwas vorgefallen sein, was als Analogon zu den einfacheren und klareren emmergency-Reaktionen der Lebewesen zu bezeichnen ist. Ein Organismus erfährt mitten in einer Tätigkeit plötzlich heftigen Schmerz, es ist wie ein SOS Ruf des verletzten Körperteils und der Organismus tut, was der Augenblick erfordert. Wir hörten die Kriegserklärung und taten auch, was die Lage erforderte; d.h. die Individualinteressen des Alltags waren plötzlich nicht mehr, was das Leben bestimmte, sondern es […]. Aus dem Felde liegen Tagebuchnotizen und Briefe vor, auf die ich mich in den folgenden Schilderungen stützen konnte; ich war ungefähr 1 1/ 2 Jahre an der Westfront und später einmal für Kurzzeit in Mazedonien und diente im Ganzen vier Jahre und vier Monate bis Weihnachten 1918. Von 1916 bis 1918 war ich in München, Chefarzt der Kraftfahrer- Abteilung in München, deren Entmobilisierung ich bis Weihnachten 1918 leitete. 1. Oktober 1918 an der Westfront; ich war in wechselnden Stellungen als Arzt zuerst in einem Reservelazarett in Cambrai, leitete ein isoliertes Lazarett für Typhus Kranke (typhoid fever), war Chefarzt der ärzlichen Wachabteilung am Bahnhofsknotenpunkt in Cambrai, einige Wochen detachiert an die belgische Front zur Hilfe nach den schrecklichen Verlusten vor Jpern und Dixmuiden und dann Regimentsarzt eines bayrischen Pionierregiments (engineer corps), das der obersten Heeresleitung im Westen unmittelbar unterstellt war und auf der ganzen Strecke von Westende im Norden bis in die Gegend von … stets dort eingesetzt wurde, wo die augenblickliche Lage es erforderte. Durch diese ständigen Verschiebungen kamen wir in Berührung mit anderen Truppenteilen aus allen Gauen Deutschlands und ich erhielt ein ziemlich detailreiches Bild von dem Geist der Truppen. Über medizinische Dinge will ich nicht viel sagen: Wir waren in diesen ersten Kriegsjahren vorzüglich mit allem versehen und der ärztliche Dienst war der Lage nach voll- Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 9 kommen gewachsen. Ich habe es z.B. mit meinen Augen gesehen, daß die Typhusgefahr, welche nicht gering war am Anfang und immerhin eine erhebliche Anzahl von Tausenden von Patienten in die Lazarette lieferte, im Laufe der relativ ruhigen Monate an der Front (um die Jahreswende von 18/ 19) so gut wie vollständig beseitigt wurde. Das Gleiche gilt von der Amoeben-Dysenterie und den wenigen aus dem Osten kommenden Cholera-Fällen; ich hatte in meinem Be reich zehntausende von Soldaten im Feld und später in der Heimat gegen Cholera und Typhus zu impfen. Relativ machtlos war man als Bahnhofsarzt, der verantwortlich war für die Verladung der aus dem Feldlazarett abtransportierten Schwerverwundeten in die Lazarettzüge. Nichts als Nachblutungen kontrollieren, verschobene Verbände erneuern, Fiebernde und Sterbende herausnehmen - eine Tätigkeit, die mehr auf die Nerven ging als die Tätigkeit später unmittelbar an der Front. Im Norden war die Zahl der Kopfschüsse erschrekkend; wir hatten auch bei schlechten Aussichten auf den Befehl des leitenden Chirurgen zu trepanieren und waren durch einige Wochen mindestens 18 Stunden im Tage im Zeuge, um der Flut von Verwundeten Herr zu werden. Über alles Lob erhaben war das Verhalten dieser Jungen, die in ganzen Regimenten von Freiwilligen (Studenten, Kaufleute) aus dem Eisenbahnwagen weg eingesetzt wurden und dann oft nach wenigen Stunden lagen; sie konnten sich nicht tief eingraben, weil das Grundwasser in diesem Flachland zu hoch stand und hatten neben ihrer Kriegsbegeisterung nicht die geringste Felderfahrung. Sehen, wie sie schließlich wegstarben nach ihren Kopfschüssen und einiges zu ihrem Troste tun (z.B. einen letzten Brief für sie an Eltern schreiben) war der allzuhäufige Abschluß in diesem Feldlazarett vor Dixmuiden. Meine Pioniere waren aus Niederbayern, Messerstecher und Raufbolde daheim und auch manchmal im Ruhequartier, aber äußerst zuverläßige Kameraden, die nie einen Verwundeten vor dem Stacheldraht hilflos sterben ließen und wenn es auch noch so gefährlich war, ihn nachts hereinzuholen. Der alte Friedhof Suchez, durch den unser Graben ging, und die Lorettohöhe war eine Hölle, in die wir mehrmals zur Hilfe geschickt wurden. Meine Tätigkeit war gewöhnlich hinter der Front in irgend einem der halbzerschossenen Dörfer. Von dem Grabendienst, der dann und wann auf mich fiel, weiß ich kaum mehr, als daß es schrecklich langweilig war: die langen Nächte besonders ohne Beleuchtung in einem Unterstand mit stets denselben paar Offizieren, solche 16 und mehr Stunden aufgezwungener Ruhe waren schlimmer als der Tag. Erst viel später wurde es besser, als man elektrische Beleuchtung hatte und Bücher durch die Feldpost bekam zum Lesen. Zwei oder drei Dinge nun stehen Karl Bühler 10 lebhafter in meinem Gedächtnis; eine Verschüttung in einem von den Pionieren gegrabenen Stollen, es dauerte nach dem Artilleriefeuer der Franzosen (dem der erwartete Infanterieangriff glücklicherweise nicht folgte) immerhin etwa drei Stunden, bis die eigenen Leute uns vier ausbuddelten und eine Panik an einem Samstag Nachmittag in einer Kirche in Lille, wo ein Konzert für die dienstfreien Soldaten gegeben wurde, während die Engländer gegen alles Gewohnheitsrecht einige Granaten schickten. Die Kirche gesteckt voll und viel Etappenleute ohne Feuererfahrung darunter - ich konnte am eigenen Leib verspüren, wie die Unruhe ansteckt, es ist dann schließlich die Kirche doch ohne ernsten Unfall geräumt worden. Das dritte war die Explosion eines deutschen Munitionsdepots mitten in der dichtbevölkerten und dicht mit Einquartierung belegten Stadt Lille. Ganze Häuserblocks eingestürzt, in manchen Straßen die Fronten der Häuser aufgerissen, Tausende von Toten und Verwundeten, es mußte helfen, wer konnte. Das Leben hinter der Front in den acht- oder sogar 14-tägigen Ruhepausen unserer Truppe war idyllisch in Frankreich. Es war eine Freude zu sehen, wie sich der Landsturm mit den zurückgebliebenen Franzosen eingerichtet hatte, wie sie Essen austauschten u. sich mehr mit Gebärden als mit Sprache verständigten. Einmal zur Erntezeit 1915 sah ich sogar russische Kriegsgefangene, die neben dem Weibervolk der Franzosen unter der Anleitung deutscher Landstürmer arbeiteten. Diese tri-linguistischen Gruppen zu studieren, wäre interessant gewesen, wenn es für den Beobachter länger gedauert hätte. Ich habe es nie versäumt, in der Etappe durch den Maire verkünden zu lassen, daß ein Arzt da ist und Hilfe für die Bevölkerung bereit steht. Das wurde von den meisten benützt und einmal hab ich in der Nacht ein Franzosenbaby zur Welt gebracht, wo die Hebamme sich nicht zu helfen wußte. Ich kenne in der ganzen Welt keine feinfühligere Landbevölkerung als die in Nordfrankreich. März 1916 wurde ich von der Universität München angefordert, weil in meinem Fach niemand mehr war, der für die Frauen und kriegsuntüchtig gewordenen Männer unter den Studenten Vorlesungen halten konnte. Vormittags versorgte ich von nun an medizinisch meine Kraftfahr-Abteilung und nachmittags war ich Professor; es kam dann bald noch die Untersuchung und Behandlung von rekonvaleszenten Soldaten mit verheilten Kopfschüssen hinzu. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Kopfstation sind von Isserlin und seinen Schülern veröffentlicht, ich habe ein weniges mitgeholfen. Tauglichkeitsprüfungen an Rekruten für den Kraftfahrdienst waren, bevor ich nach München zurück kam, eingerichtet; ich habe den Betrieb übernommen und fortgeführt. Das Unternehmen war nicht großzügig genug, um faßbare praktische Ergebnisse zu zeitigen. Die Heeresverwaltung glaubte nicht an die Nützlichkeit der Psychologie und so geschah im Ganzen sehr viel weniger in Deutschland auf diesem Gebiet als anderwärts besonders in Amerika. Es war bei den Kraftfahrern unter den gegebenen Umständen nicht viel zu leisten; denn ich hab es selbst erlebt und mitgemacht, daß bei dem Mannschaftsmangel der letzten Kriegsjahre der Kraftfahrtruppe nur solche zugewiesen wurden, die für andere Waffengattungen untauglich waren. ‘Kriegstauglich für Kraftfahrer’ hieß nach den ausdrücklichen Instruktionen, daß der Mann z.B. eine leichte Tuberkulose durchgemacht hatte oder zu schwächlich war oder einen (sogar zwei) Klumpfüße hatte, also nicht marschieren konnte u.s.w. Wir erhielten in steigendem Maß Mannschaften in negativer Auslese und die mußten schlechthin alle fahren lernen. Es war auch danach. Nimmt man den Mangel an Gummibereifung mit all den unzulänglichen Ersatzversuchen (Stahlfedern u.dgl. an Lastwagen und Personenwagen anstelle von soliden Gummireifen oder Pneumatics), dann versteht man, daß und warum das deutsche Kraftfahrwesen dem seiner Gegner mehr und mehr unterlegen war. Praktisch dringender war die Flieger- Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 11 auslese und ich ging mit einem jüngeren Kollegen mit viel großem Elan an sie, als die Fliegerschule in Schleissheim bestürzt über den großen Prozentsatz von Unfällen zu uns kam. Die Aufgabe war neu, wir setzten mit sehr geringen Hilfsmitteln ein, doch als wir selbst lernend mit unserer Einrichtung soweit waren, daß nunmehr wirkliche Erfolge greifbar wurden, war es Sommer 1918 geworden und der Krieg für Deutschland verloren. Den ersten Bericht aus dem Großen Hauptquartier nach dem großen Frühjahrsangriff der Deutschen an der Westfront hörte ich auf einem Hügel bei Nesküp in Mazedonien. Dort war ein großer Mast für den Radioempfang errichtet und etwa 18 deutsche Professoren waren unter der Leitung von Offizieren aus einem Hauptquartier im Osten dort zur Besichtigung, als die Nachricht eintraf. Wir hatten einen Studenten- und Offizierskurs hinter der Front in Prilep hinter uns und waren auf der Rückreise in Nesküp. Dieser Vortragskurs von etwa drei Wochen war eine schöne Einrichtung. Man zog etwa 300 Studenten und Offiziere zusammen und gab ihnen anstelle eines Heimaturlaubs die Gelegenheit, in Ruhe Vorlesungen zu hören. Deutsche Professoren aus den verschiedensten Gebieten, z.B. der Physiker Nernst, der Biologe Hertwig, Historiker wie Finke, Literarhistoriker Ackerbaums, Techniker u.s.w. waren in der Gruppe, ich brachte ausgewählte Kapitel aus der Psychologie. Wir alle sagten, daß wir noch nie eine so geradezu andächtig lauschende Gruppe von Zuhörern erlebt hatten als diese geistig aufzufrischenden Studenten. Für uns Dozenten war es eine Orientreise, wir sahen den Ochridasee und andere Wunder des Ostens und hatten unter sachverständiger Führung in den Autos des Oberkommandos Gelegenheit, die Lage der Front dort und die technischen Arbeiten auf dem damals unerhört langen Etappenweg kennenzulernen: Wunder der Technik im Straßen-, Brücken-, Seilbahnbau oft von einfachen Soldaten erdacht und ausgeführt. Und jetzt auf der Rückreise in Nesküp der erste Kriegsbericht vom Westen; der lang vorbereitete Angriff begonnen. Er entsprach nicht den Erwartungen; die mitgeteilte Zahl von 30.000 Gefangenen täuschte die sachverständigen Offiziere keineswegs, ich sah zum ersten Mal besorgte Gesichter. Soll ich beschreiben, wie sich dieselbe Besorgnis und die wachsende Enttäuschung in München im täglichen Dienst in der Truppe und in der Bevölkerung ausbreitete? Es wäre falsch zu sagen, daß es rasch ging. Wir hatten vieles ertragen und hofften weiter. Es war der arge Rüben-Winter hinter uns, der harte Winter auch ohne Kohlen zum Heizen und der Frühling brachte die Hoffnung auf frisches Gemüse - wenigstens, wenn nicht, mehr Fleisch oder gar Butter. Mein erstes Kind, im Frühjahr 1917 geboren, hatte nach schwierigen Bemühungen ihre Milch regelmäßig erhalten und mit uns ihren ersten Winter gut überstanden, 1 Liter täglich, auch sie wurde frühzeitig mit Rüben gefüttert und hatte nur im Frühjahr 1918 ihren Spinat und bald auch gelbe Rüben. Ich habe den Einfluß der schlechten Ernährung auf den Gesundheitszustand und die Morale der deutschen Bevölkerung genau verfolgt und wage zu sagen, daß eine ganze Reihe von guten Wirkungen den schlechten nahezu die Waage gehalten hat. Es waren keine Fettbäuche mehr zu sehen, das Straßenbild der Münchener Bevölkerung war gründlich verändert und zwar im guten Sinn. Ein Umblick unter Bekannten stellt leicht und mit Sicherheit fest, daß die Mehrzahl gesünder war und sich wohler fühlte als früher. Das gleiche sagen alle praktischen Ärzte. So war es in München, einer großen Stadt (500.000 oder mehr) und die ärmeren Bevölkerungsschichten machten keine Ausnahme von dieser Regel; es gab keine Arbeitslosen und alle Kriegsfrauen, deren Männer draußen oder gefallen waren, hatten hinreichende Geldversorgung. Man fürchtete damals, der Hunger werde sich unheilvoll an den heranwachsenden Kindern auswirken, und es ist wahr, daß ihre blassen Gesichter uns alle mit Besorgnis erfüllten. Aber es ist ebenso wahr, daß in wenigen Jahren nach dem Kriege die Folgen kaum noch zu sehen waren und Karl Bühler 12 daß heute die damals jungen Kinder in kaum irgendeinem Punkt gesundheitlich schlechter dran sind, als ältere oder jüngere Generationen, mit denen sie verglichen werden können. Beobachtungen an den Gefängniswärtern Das Untersuchungsgefängnis, in dem ich war, unterstand dem Polizeipräsidenten von Wien und hatte einen Major als Direktor. Der war geblieben unter dem neuen Regime und ebenso das Personal, die Gefängniswärter. Einige ausgetauscht und durch neue ersetzt natürlich, aber im Ganzen keine großen Änderungen; das konnte man selbst erfahren und außerdem hatte ich den besten Gewährsmann dafür, Herrn Dr. Weiser, in meiner eigenen Zelle. Wie war die Haltung dieses Personals? Eine durch direkte Beobachtungen klar zu beantwortende Frage. Vorausgegangen war in der ersten Woche nach dem Einmarsch ein Versuch, der scheiterte. Die Nazis hatten SS-Leute in alle Gefängnisse geschickt und denen die volle Macht übergeben; darauf waren gehäufte Selbstmorde der Gefangenen vorgekommen und die Maßregel wurde zurückgezogen. Jetzt, als ich dort erschien, war auch noch eine Gruppe von SS-Leuten im Gefängnis, aber sie griff nicht mehr in den täglichen Dienst der Wärter ein. Der einzelne Gefangene blieb also den alten Wärtern überlassen und kam mit SS nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten in Berührung. Davon später mehr. Dies alte Wärterpersonal war durchaus menschenfreundlich; ich habe in den 6 1/ 2 Wochen nicht einen einzigen Fall von Rohheit oder körperlicher Mißhandlung eines Gefangenen gesehen. Natürlich, es war ein Gefängnis und die Behandlung jetzt eine Fortsetzung dessen, was solche Männer jahrelang mit den früheren Insassen gewöhnt waren. Die früheren waren Rechtsbrecher aus der Hefe der ganzen Bevölkerung; wenn die jetzigen, die aus der Elite Wiens stammten, ungefähr ebenso wie jene andere Klasse herumkommandiert wurden, so empfanden sie es persönlich hart. Aber das lag in der Natur der Dinge. Im Ganzen machte sich die Wohlerzogenheit und geistige Überlegenheit der Gefangenen im Verhalten der Wärter geltend. Psychologisch interessant sind nur die Ausnahmen von dieser Regel. Es gab auch unangestellte Wärter und einen oder zwei unter den alten, die sich rasch auf den neuen Wind eingedreht hatten und sich hervortuen wollten. Kleine Anzeichen von Sadismus würde man das nennen, wenn solch einer die kleine Gruppe meiner Zellengenossen am Morgen in Hast aus dem Waschraum trieb, bevor sich der letzte gewaschen hatte oder einem langsam essenden alten Mann das Eßgeschirr wegriß, bevor er seine Linsen ausgelöffelt hatte. Nebensächliche Dinge, natürlich. Aber sie deuten den Punkt an, wo die raffinierte Technik der Nazis im Großen angriff und erstaunliche Wirkungen erzielte. Ich meine die Auslese. […] Der Schock und seine Folgen Hitlers Taktik ist der Blitzschlag. Als er Oesterreich nahm, war alles peinlich genau auf Tod und Lähmung des Feindes vorbereitet. Ich weiß nicht, wieviele den physischen Tod erlitten, ich weiß nicht, wieviele nach Dachau ins Konzentrationslager kamen; auch das bedeutete eine Art von Tod. Dagegen kann ich eine Angabe machen über die Zahl derer, denen eine Schock-Lähmung zugedacht war, es waren in den ersten Wochen schon zwischen 30.000 und 60.000, d.i. ½ bis 1% der Bevölkerung. Der unschuldige Ausdruck dafür ist Schutzhaft; man Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 13 wird in ‘Schutzhaft’ genommen, es bleibt offen, ob das Individuum oder die Gemeinschaft vor dem Individuum beschützt werden soll. Die Angabe 30-60.000 ist eine Schätzung, die […]. Die Zwischenzeit Die Zwischenzeit zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg zerfällt für mich in drei ungleiche Teile: A. 4 Jahre in Dresden (Jan 19 - Sept 22) B. 16 Jahre in Wien (Herbst 22 - März 38) C. Das Schock-Erlebnis (März 38 Januar 39) Seit Februar 39 bin ich in America.