eJournals Kodikas/Code 28/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2005
281-2

Der Zeichenbegriff

61
2005
Karl Bühler
kod281-20015
Der Zeichenbegriff Karl Bühler Irgendwo am Anfang oder im Fortgang seines Unternehmens muß sich der Sprachtheoretiker um die rein logische Angelegenheit einer Analyse und Definition des Zeichenbegriffes bemühen, sonst läuft er Gefahr, in ein Dickicht von Mißverständnissen und Scheinproblemen zu geraten. Wir haben die Sphäre, in der sich unser Denken bewegt und umsieht durch freie Wahl festgelegt und werden auch hier jeder Versuchung, darüber hinauszugreifen, widerstehen. Noch einmal: der empirische Sprachforscher findet sich und was er untersuchen will zusammen in der Welt vor; wenn er Augen und Ohren auftut, so begegnet er sinnlich Wahrnehmbarem, das den Anspruch erhebt, nach seiner Zeichennatur betrachtet und wissenschaftlich bestimmt zu werden, weil es als Zeichen von den Produzenten in die Welt gesetzt und von den (“Verbrauchern” ist man versucht zu schreiben) Empfängern als Zeichen entgegengenommen wird. Was in diesem Anspruch beschlossen liegt, ist die einfache und einzige Frage, die wir stellen. Das hervorgehobene “weil” deutet noch einmal die frei gewählten Grenzen und den Rahmen des ganzen Unternehmens an. Das Umgehen mit Zeichen wird als Faktum vorausgesetzt; die Praxis der Zeichensetzung und der Zeichenhinnahme steht uns fest, bevor wir als Theoretiker zu reflektieren beginnen. Und wenn wir es tun, so richtet sich das ganze Bemühen darauf, den schlichten Sinn dieses Umgehens mit Zeichen logisch exakt zu bestimmen. Man sollte die Tragweite einer derart gestellten Aufgabe von Anfang an richtig einschätzen. Die sinngemäße Erledigung, die treffende und befriedigende Antwort, welche wir suchen, kann und darf nicht beginnen wie das Johannes-Evangelium mit irgend einem der auf unserem Gebiete denkbaren “Im Anfang war …” Wenn wir nur wüßten, was am Anfang war! Vielleicht der […], vielleicht hat Fichte recht und mit ihm Cassirer und es war die schöpferische Funktion (Energeia) der Zeichensetzung und Goethes Faust sollte zu deutsch schreiben “Im Anfang war die Tat”. Aber selbst wenn wir dies wüßten oder mit ganzer Inbrunst zu glauben bereit sind, so darf diese Antwort nicht in unseren Kontext geraten. Dieser Kontext sagt: Zeichenhaftes war in der Welt gefunden und aufgegriffen. Wer als Logiker darüber zu reflektieren beginnt, was das heißt, darf nicht als Erkenntnistheoretiker antworten. Hätte er das Glück, einen Inblick zu gewinnen, was und wie es “im Anfang” war, so muß er diese Erkenntnis vorläufig zurückstellen, einfach deshalb, weil seine Offenbarung in dem gegebenen Kontexte unverstanden bleiben müßte. Und das gilt nicht nur für jede positiv beglückende, sondern auch für jede negative Offenbarung; z.B. für diejenige, welche uns das “Zeichensein” von vornherein als Lug und Trug verkünden wollte. Das gibt es auch; es gab im Zuge des im Mittelalter erwachenden Nominalismus solch erste radikale Bilderstürmer und sie sind heute wieder auf der Bildfläche erschienen. Wir haben allen Offenbarungen gemeinsam vorerst nichts als die eine Bitte vorzutragen, man soll, bevor der Schleier endgültig K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Karl Bühler 16 weggezogen wird, dem naiven Auge gestatten, in Ruhe das zu bestimmen, was es vor jeder Enthüllung zu sehen vermeint. Man darf, man sollte auf keinem Gebiete die anspruchslose Priorität der reinen, d.h. erkenntnistheoretisch und ontologisch neutralen oder unwissenden “Phänomenologie” bestreiten. Außer dem Zeichenhaften gibt es noch vieles andere in der Welt, was mit vergleichbaren Ansprüchen auftritt als ein so uns so Gesetztes und Hingenommenes wissenschaftlich bestimmt zu werden. Wir suchen nach bewährtem Rezept ein genus proximum und die differentia specifica des Zeichenbegriffes und müssen uns zu diesem Zwecke mit einigem Vergleichbaren beschäftigen. Ein Logiker von heute weiß, daß er von sich aus den um die Erforschung von derartigem bemühten Einzelwissenschaften nicht eindeutig vorschreiben kann, zu welcher “Begriffspyramide” sie gelangen müssen und ist darauf gefaßt, im Schoße der Einzelwissenschaften mehr als ein einziges wissenschaftlich fruchtbares genus proximum zu finden. Wenn ein Chemiker den Diamanten als reinen Kohlenstoff, ein Mineraloge als Kristall und ein Juwelier als Edelstein (mit den und den Schmuckeigenschaften) bestimmt, so sind das für die formal logische Betrachtung zunächst einmal drei verschiedene und gleichberechtigte Klassifikationen, über deren sachbegründetes Verhältnis zueinander nicht er (der Logiker), sondern der naturwissenschaftliche Warum-Forscher weiter nachzudenken hat. Wir vermögen auf unserem Gebiete ein wissenschaftlich fruchtbares genus proximum, wir vermögen einen logisch einwandfreien Oberbegriff zu dem, was die nächstbeteiligten Einzelwissenschaften mit dem Namen ‘Zeichen’ treffen und fixieren wollen, namhaft zu machen. Wenn andere einen zweiten und dritten daneben stellen können, so wird es zuguterletzt die Aufgabe des geisteswissenschaftlichen Warum-Forschers sein, darüber nachzudenken, ob und wie die mehreren, einzelwissenschaftlich gleich fruchtbaren Oberbegriffe sachlich zusammenhängen und begründet sein mögen. Doch das ist und bleibt, soweit ich sehen kann, vorerst eine rein akademische Vorsicht, weil auf dem Gebiete der Sematologie noch keinerlei Wettbewerb von mehreren Oberbegriffen hervorgetreten ist. § … Die Stellvertretung als genus proximum des Zeichenbegriffes 1.) Die Scholastiker, welche einige Grundfragen der Sematologie scharfsinnig zu formulieren und zu beantworten verstanden, sagen kurz und bündig: aliquid stat pro aliquo, das sinnlich Wahrnehmbare an der Sprache steht für etwas anderes als was es selbst ist, es fungiert als Stellvertreter. Wilhelm von Ockham schreibt mit Vorliebe auch “supponere” dafür. 1 Wer sich umsieht, findet allerhand Modi der Stellvertretung in der Welt; die Sprachzeichen gehören zu mehreren von ihnen. Was ist das, eine Stellvertretung? Es läßt sich erstens überall, wo wir von Stellvertretung sprechen, eine Ordnung (ordo rerum) angeben, in welcher die beiden Konstituenten, der Vertreter und das Vertretene, den selben Platz einnehmen. Sie sind im Rahmen dieser Ordnung als platzidentisch zu bezeichnen. Und es gibt zweitens zu jedem Modus der Stellvertretung eine Art des wahrnehmbaren Geschehens, eine Art von Prozessen, in denen hic et nunc der konkrete Akt der Stellvertretung erfolgt. Wir wollen an einer Serie von Beispielen jeweils beides, die ideelle ordo rerum (und in ihr die Platzidentität der Konstituenten) und den realen Erfüllungsprozeß des Stellvertretens angeben. Dann erst Der Zeichenbegriff 17 soll die Aufgabe, das begrifflich allgemeine Schema der Stellvertretung schlechthin zu fixieren, weiter verfolgt werden. Anmerkung 1 Supponere pro aliquo gebraucht Ockham, wie dies nach Thurots Nachweis mindestens schon seit dem Jahre 1200 üblich war, in intransitivem Sinne gleichbedeutend mit stare pro aliquo. M. Baumgartner in Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. II 10 S. 602.