eJournals Kodikas/Code 28/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2005
281-2

Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler

61
2005
Gerold Ungeheuer
kod281-20041
* Der Aufsatz ist die ausgearbeitete und erweiterte Version eines Vortrags, der im September 1965 unter dem Titel “Aspectos cibernéticos en la teoria linguistica de Bühler” im “Centro de cálculo electrónico” der “Universidad autónoma de Mexico” in Mexico City gehalten wurde. Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler * Gerold Ungeheuer I Karl Bühler war einer der Psychologen, die sich in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sehr intensiv mit sprachlichen Problemen beschäftigt haben. Sein Werk, vielen Linguisten unbekannt oder nur in Bruchstücken vertraut, ist, so scheint es mir, für die moderne Sprachwissenschaft aktuell geblieben. Freilich werden Bühlers Gedanken aus unterschiedlichen Gründen nicht in allen linguistischen Schulen Interesse finden. Um so wichtiger erscheint es daher, die Diskussion über seine sprachtheoretischen Überlegungen wieder in Gang zu bringen. Gewöhnlich erinnert man sich, wenn K. Bühler genannt wird, an sein Hauptwerk Sprachtheorie 1 und vergißt dabei, daß dieses Werk nicht schlechthin die Summe seiner wissenschaftlichen Arbeit darstellt, sondern zum Verständnis der darin dargelegten Gedankengänge frühere Veröffentlichungen Bühlers herangezogen werden müssen. Man mag dabei an die lange Reihe seiner sprachwissenschaftlichen Aufsätze denken, doch sind diese weniger entscheidend als das 1927 erschienene Buch Die Krise der Psychologie. 2 Dort findet man jene grundlegenden Ansätze, die Bühler zu einem der bedeutendsten Theoretiker nicht eigentlich der ‘Sprache’, sondern eher der sprachlichen Kommunikation machen. Mag manches darin von neueren Ergebnissen der Psychologie und Linguistik überholt sein, die Einsichten und theoretischen Entwürfe, die bleiben, sind bedeutsam genug, ihm diesen Platz zu sichern. Diejenige Konzeption Bühlers, die wohl am weitesten bekannt geworden ist, findet man als “Axiom A” unter dem Titel “Das Organonmodell der Sprache” in seinem Hauptwerk Sprachtheorie. Dort ist sie allerdings nicht zum erstenmal veröffentlicht; Vorstufen der endgültigen Formulierung sind in viel früher liegenden Publikationen enthalten. In diesem, sehr häufig mißverstandenen “Organonmodell” stellt Bühler in bündiger (auch graphischer) Form dar, wie die sprachlichen Schallsignale durch eine dreifache Funktion zum Zeichen erhoben werden. Auf die Zeichentheorie Bühlers soll hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist jedoch die Erkenntnis, daß dieses bekannteste Stück seiner Denkergebnisse einerseits nur verstanden werden kann, wenn man die Ausführungen seiner Krise der Psychologie hinzunimmt, und andererseits wenigstens als ergänzungsbedürftig angesehen werden muß. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Gerold Ungeheuer 42 Besonders die im Zeichenmodell enthaltene Hauptfunktion der “Darstellung von Gegenständen und Sachverhalten” bedarf nicht nur der näheren Erörterung, sondern muß auch von den Ansätzen her modifiziert werden, die Bühler selbst in seinem früheren Buch entworfen hat. 3 Den sprachlichen Fakten angemessen erscheint auch heute noch die in der Sprachtheorie vorgelegte Theorie des Verweisens, der sprachlichen Deixis. Aber auch sie ist nur eine Konsequenz der in der Krise angelegten Voraussetzungen. Dort, wo Bühler am Beispiel des sprachlichen Phänomens die damalige Problematik der europäischen Psychologie abhandelte, hat er die sozialpsychologischen Bedingungen gelegt, die auf sein ganzes späteres Denken eingewirkt haben, und von denen her seine zentralen Ideen erst in seinem Sinne gedeutet werden können. Sie gründen sich auf den Entwurf einer Theorie der sprachlichen Kommunikation, die in ihrer Konzeption viele moderne Überlegungen vorweggenommen hat. Mit diesem Teil des Bühlerschen Werkes beschäftigt sich dieser Aufsatz. Sein darin entworfenes Modell wird ‘kybernetisch’ genannt, da es bestimmte Eigenschaften besitzt, die heute allgemein kybernetischen Systemen zugesprochen werden. Daß dies auch den Ideen Bühlers entspricht, entnimmt man den Ausführungen in seinem letzten Buch, 4 wo der Terminus selbst gebraucht wird. Man kann hierüber auch die kurzen Bemerkungen Rohrachers nachlesen, die er als Geleitwort der dritten Auflage der Krise vorangestellt hat. II Es sei hier kurz skizziert, was im folgenden unter Kybernetik verstanden wird, und damit auch festgelegt, welche Erscheinungen kybernetisch genannt werden können. Die Kybernetik kann als diejenige wissenschaftliche Disziplin bestimmt werden, welche die dynamischen Systeme erforscht, in denen als konstitutive Elemente Prozesse der Selbstregulierung enthalten sind. Diese Definition ist enger als die zahlreichen neueren Vorschläge, in denen die Kybernetik als Systemwissenschaft schlechthin oder auch als allgemeine Kommunikationswissenschaft beschrieben wird, ganz zu schweigen von jenen extremen Entwürfen, in denen die Kybernetik als umgreifende moderne Wissenschaft konzipiert ist, die bis in die Philosophie hineinreicht. Diese Definitionsversuche sind sämtlich zu extensiv und zu unbestimmt, als daß sie von einem wohlumgrenzten Sachbereich her eine Wissenschaft begründen könnten. Die vorgelegte Definition hingegen ist spezifisch und nennt die wesentlichen Merkmale des Forschungsgegenstandes; die Spezifität zielt außerdem auf diejenigen Eigenschaften, die auch in den ersten kybernetischen Arbeiten Ausgangsbasis zur Entwicklung einer neuen Disziplin gewesen sind. Die vorgeschlagene Bestimmung bedarf einiger Erläuterungen: (1) Die Formulierung ‘dynamische Systeme’ soll auf Zusammenhänge und Verknüpfungen von Prozessen hinweisen; prozessuale Gebilde dieser Art sind von solchen zu unterscheiden, deren Relationen nicht den Charakter von Abläufen oder Vorgängen haben (sondern z.B. den von Zuständen). (2) Über die Natur der ‘dynamischen Systeme’ werden keine Einschränkungen gemacht. Sie können z.B. durch physikalische, psychische, oder soziale Prozesse realisiert sein, oder auch durch komplexe Verbindungen dieser. (3) Die Kybernetik muß es als eine ihrer Hauptaufgaben betrachten, die allgemeinen Struktureigenschaften solcher Systeme, soweit sie unabhängig von ihrem Realisie- Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 43 rungsmodus sind, zu untersuchen. Die hierzu notwendigen Verfahren der Abstraktion und Formalisierung müssen jedoch immer die strukturellen Merkmale des Dynamischen und des Auto-Regulativen der Systeme als zentrale Momente beibehalten, damit eine Re-Interpretation nicht sachlich irrelevante Ergebnisse liefert. (4) Der Terminus ‘Selbstregulierung’ steht für eine ganze Klasse von retroaktiven Prozessen, unter denen gewöhnlich Steuerung und Regelung hervorgehoben werden. Wenn auch das Moment der Retroaktivität für die Kybernetik zentral ist, so müssen doch auch einfache Steuerungen und Regelungen ohne Rückwirkung im System als defektive Autoreflektierungen in die Untersuchung einbezogen werden. (5) Da im folgenden kybernetische Aspekte der sprachlichen Kommunikation erörtert werden sollen, sei noch darauf hingewiesen, daß die Gegenstandsbereiche von Kybernetik und Kommunikationswissenschaft zwar nicht identisch sind, sich aber doch überschneiden. Es wäre eine unzulässige Verallgemeinerung, wollte man die beiden Disziplinen in der einen oder anderen Weise in das Verhältnis der Subsumtion bringen. III Das besondere Problem, das hier mit Bühlerschen Gedankengängen analysiert werden soll, ist das des URSPRUNGS DER SPEZIFISCH SPRACHLICHEN SEMANTIZITÄT. 5 Dabei soll der historische Aspekt der Fragestellung als sekundär betrachtet werden: die Frage, aus welchen Verhaltensweisen in der phylogenetischen Entwicklung des Menschengeschlechts sich schließlich die Sprache entwickelt habe (eine Frage, mit der primär das Problem verknüpft ist, ob sie so sinnvoll überhaupt gestellt werden kann), ist nicht Thema dieser Untersuchung. Der Terminus ‘Ursprung’ in der Formulierung des Problems ist vielmehr zu verstehen in einem systematischen Sinne als jener Komplex menschlicher Verhaltensweisen, aus dem (1) die sprachlichen Erscheinungen in einer Theorie der sprachlichen Kommunikation begrifflich ableitbar sind, (2) dessen Strukturmerkmale in jedem konkreten Akt sprachlicher Kommunikation konstitutiv enthalten sind, und (3) der beobachtbar ist als Reduktionsform sprachlicher Kommunikation. Obgleich bei Bühler eine Unterscheidung nach historischer und systematischer Betrachtungsweise nicht durchgeführt wird, ist aus seinen Ausführungen doch deutlich herauszulesen, daß der systematische Aspekt des Problems auch in seinen Überlegungen dominiert. 6 Jener, der sprachlichen Aktivität menschlicher Individuen zugrunde liegende Verhaltenskomplex ist also kein früher phylogenetischer Zustand, der als Übergangsstadium in die volle Entfaltung der menschlichen Sprache geführt hat und heute als endgültig überwunden und vergangen oder, wenn noch im Repertoire menschlicher Aktivitäten auffindbar, außerhalb sprachlicher Bereiche liegend aufzufassen ist, sondern ein konstitutives Element des vollen sprachlichen Vollzugs, ja dessen elementare Basis. Das Spezifische der sprachlichen Semantizität wird nach der Zeichentheorie Bühlers, in nuce repräsentiert durch das Organon-Modell, als “Darstellungsfunktion” beschrieben, in der sich eben die menschliche Sprache von sprachartigen Kommunikationsmitteln etwa der Tiere unterscheidet. Die Frage nach der sprachlichen Semantizität ist also die nach der Konstitution sprachlicher Zeichen, wobei ‘Zeichen’ allgemein sich auf alle sinnbezogenen sprachlichen Einheiten bezieht (auf Wörter ebenso wie auf Sätze). Es wird sich herausstellen, daß diese Konstitution wesentlich kommunikativer Art ist, was natürlich nicht ausschließt, daß Sprache Gerold Ungeheuer 44 noch in anderen Funktionen verwendet werden kann. Das hier gestellte Problem ist nicht identisch mit der Frage nach den Formen, in denen Sprache in das Leben des Individuums und der Gesellschaft als unreduzierbare Wirklichkeit eingefügt ist. IV Auf S. 50/ 51 seiner Krise faßt Bühler in drei “Axiomen” die Beschreibung jener Grundsituation menschlichen Verhaltens zusammen, die oben mit Bühler “Ursprung der spezifisch sprachlichen Semantizität” genannt wurde. Sie lauten: I. Wo immer ein echtes Gemeinschaftsleben besteht, muß es eine gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder geben. Wo die Richtpunkte der Steuerung nicht in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation gegeben sind, müssen sie durch einen Kontakt höherer Ordnung, durch spezifisch semantische Einrichtungen vermittelt werden. Dies ist der Quellpunkt der Semantik bei Tier und Mensch. II. Soll der Eigenbedarf und die Eigenstimmung der an einem Gemeinschaftsakt beteiligten Individuen bei der gegenseitigen Steuerung zur Geltung gelangen, so müssen sie zur Kundgabe und Kundnahme gelangen. Dies eröffnet das Gebiet der Semantik dem Aspekt der Erlebnispsychologie und fordert ihn. Ich füge nun gleich das dritte Axiom hinzu: III. Durch Zuordnung der Ausdruckszeichen zu den Gegenständen und Sachverhalten gewinnen sie eine neue Sinndimension. Damit eine unabsehbare Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit als Kommunikationsmittel. Das eine durch das andere. Die Grundsituation ist entworfen im ersten Axiom. Der erste Teil nennt die sozialen und soziopsychischen Voraussetzungen, die im zweiten Teil auf diejenigen Merkmale eingeschränkt werden, die für das ‘Ursprungsproblem’ relevant sind. Paraphrasierend und die wichtigsten Elemente heraushebend lassen sich die beiden Teile des I. Axioms folgendermaßen explizieren: (a) Vorausgesetzt wird, daß menschliche Individuen in GEMEINSCHAFT leben. Menschliches Gemeinschaftsleben besteht aber in den allgemeinen Hauptzügen darin, daß sich die GEMEINSCHAFTSMITGLIEDER SINNVOLL BENEHMEN, d.h., ihr Verhalten hat nicht irregulären, sondern regulären Charakter, der sich aus Gebundenheit an oder Gerichtetheit auf soziale, gemeinschaftliche Zwecke herleitet (zweckgebundenes Verhalten im Sinne von Tolman). 7 Dieser Tatbestand setzt eine GEGENSEITIGE STEUERUNG des Verhaltens der Gemeinschaftsmitglieder voraus. (b) Die SOZIALEN STEUERUNGEN sind von sehr verschiedener Art. In jedem Falle aber funktionieren sie so, daß die Einflußnahme eines Individuums auf das andere nicht einfach nur abhängt von seiner Willkür. Sollen nämlich die aus den Steuerungen resultierenden Verhaltensweisen sinnvoll im oben beschriebenen Sinne sein, müssen sie sich an gesetzten RICHTPUNKTEN, die für die Gemeinschaft oder Teilgruppen gültig sind, orientieren. Nach der Natur dieser Richtpunkte lassen sich die sozialen Steuerungen klassifizieren. Für das vorliegende Problem ist nun derjenige komplexe Verhaltensablauf einer Gruppe von Individuen fundamental, für welche die Richtpunkte der Steuerung aus der GEMEINSAMEN WAHRNEHMUNGSSITUATION entnommen werden müssen. ‘Gemeinsame Wahrnehmungssituation’ meint die Tatsache, daß allen beteiligten Individuen derselbe Weltaus- Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 45 schnitt in der Wahrnehmung zugänglich ist, worin enthalten ist, daß alle beteiligten Individuen sich gegenseitig wahrnehmen. Bühler stellt die These auf, daß in einer solchen Verhaltenssituation so etwas wie Sprache als Mittel der gegenseitigen Steuerung nicht notwendig ist: die Steuerungskontakte sind ‘niederer Art’, die jedoch in ihrer Struktur schon die Anlagen zu höheren sprachlich-semantischen Kontakten enthalten. Solche müssen dann entwickelt werden, wenn soziale Steuerungen die gemeinsame Wahrnehmungssituation transzendieren. Wie dies aus der Kontaktsituation in gemeinsamer Wahrnehmung geschehen kann, ist gerade das Problem, das aufgeworfen wird. Das System sozialer Steuerungen in gemeinsamer Wahrnehmungssituation, in dem die Richtpunkte aus dieser entnommen werden müssen, ist der fundamentale Verhaltenskomplex des ‘Ursprungs’, der oben allgemein eingeführt wurde. V Als erstes Hauptmerkmal des Bühlerschen Entwurfs muß der sozial-psychologische Ansatz, der genau beschrieben und konsequent durchgehalten wird, hervorgehoben werden. Wesentliche Eigenschaft des menschlichen Individuums ist es, Glied einer Gemeinschaft zu sein; die mit ihr verknüpften sozialen Wechselwirkungen sind aus einer rein individualpsychologischen Betrachtungsweise nicht ableitbar. Die sozialen Interaktionen sind es aber, aus denen sich Sprache entwickelt. Sie kann aus dem Verhaltensstatus isolierter Individuen nicht als durch Prozesse der Verfeinerung, der Vermittlung oder Generalisierung entstanden vorgestellt werden. Diese soziologische Fundierung wird von Bühler in ausdrücklichem Gegensatz zu dem individualpsychologischen Unternehmen Wundts gesehen, der versucht hatte, das Phänomen der Sprache auf menschliche Ausdruckshandlungen (Erlebnispsychologie! ) zurückzuführen. Individualpsychologisches findet man auch bei Jespersen (1922), der in seinem Buch Language, Its Nature, Development and Origin schreibt (zitiert nach 12. Auflage, 1964): “We get the first approach to language proper when communicativenes takes precedence of exclamativeness, when sounds are uttered in order to ‘tell’ fellow-creatures something, …” (437), und “Language, then, began with half-musical unanalyzed expressions for individual beings and solitary events.” (441). Andererseits gibt es einige wichtige Veröffentlichungen aus jenen Jahrzehnten, in denen Bühler an seiner Theorie arbeitete, die gleichfalls vom Menschen als dem ens sociale ihren Ausgang nehmen oder den soziologischen Aspekt mindestens erwähnen. Entgegen voreiligen Vermutungen sind die Publikation von De Saussure und Bloomfield nicht besonders ergiebig, obgleich sowohl im Cours de linguistique générale als auch in Language einige Abschnitte der sprachlichen Kommunikation als zwischenmenschlicher Beziehung gewidmet sind. Die Analyse des “circuit de la parole” 8 wird bei de Saussure nur soweit vorangetrieben, wie es zum Aufweis der langue als “partie sociale du langage”, als “fait social” im Sinne Durkheims, 9 notwendig ist. Bloomfield versucht in seinem Buch Language die sprachliche Kooperation zweier Individuen nach dem “stimulus-response”- Schema des frühen Behaviorismus zu zergliedern. Die Geschichte von Jack and Jill 10 dient ihm als Beispiel, aus dessen Analyse er vor allem seine Definition der Bedeutung herleitet: “We have defined meaning of a linguistic form as the situation in which the speaker utters it and the response it calls forth in the hearer.” (Lang., 139). Beide Autoren setzen also die Sprache in ihrer vollen Entfaltung voraus, analysieren sie unter bestimmten Leitgedanken, wobei allerdings der soziale Charakter des Phänomens als Gerold Ungeheuer 46 wesentliche Eigenschaft hervortritt. Bühler hingegen beginnt mit der Deskription von gewissen sozialen, vorsprachlichen, aber kommunikativen Verhaltensstrukturen und macht einsichtig, welche zusätzlichen Komponenten hinzukommen müssen, um Sprache entstehen zu lassen. Nur kurz kommt Bloomfield in die Nähe dieses Gedankenganges; so etwa in den Bemerkungen (28), die auf die soziale Funktion der Sprache eingehen und in dem Satze gipfeln: “The individuals in a human society co-operate by means of sound-waves.” Näher kommen einige andere, heute weniger bekannte Autoren an die Ideen Bühlers heran, ohne daß sie freilich ihre Erkenntnisse in ähnlicher Schärfe wie Bühler ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt hätten. So heißt es bei Dittrich (1913): 11 “Ist es doch nach alledem für uns von vornherein klar: die Minimalbedingung sprachlichen Geschehens, das Vorhandensein einer Zweiheit von Individuen, eines Sprechenden und eines Angesprochenen, hat den Ausgangspunkt aller und jeder sprachpsychologischen Erörterung zu bilden.” Der Gebrauch, den Dittrich allerdings von dieser Maxime macht, bleibt weit hinter der Gedankenarbeit Bühlers zurück. Im Einleitungskapitel zu seinem Buche freilich zeigt er in Zitaten, die bis zu Humboldt zurückgehen, wie im 19. Jahrhundert der Einfluß der sozialen Bedingungen auf die Sprachentwicklung gesehen wurde. Zwei Wissenschaftler, deren Intentionen sich auf ähnliche Zusammenhänge richteten, müssen jedoch besonders hervorgehoben werden. An erster Stelle ist hinzuweisen auf G.H. Mead, dessen Hauptwerk Mind, Self and Society im selben Jahr erschien wie Bühlers Sprachtheorie. 12 In ihm wird ein System von Gedanken vorgelegt, dessen wissenschaftliches Gewicht mindestens - wenn man überhaupt einen Vergleich wagen soll - an die Bedeutung der Bühlerschen Veröffentlichungen heranreicht, ja sie wohl an Geschlossenheit und Analysationstiefe übersteigt. Wie aus dem Mangel an Zitaten hervorgeht, hatten Bühler und Mead offensichtlich keine Kenntnis voneinander. Es ist daher besonders interessant zu sehen, wie beide an vielen Stellen zu nahezu denselben Ergebnissen gekommen sind. Im übrigen scheint Mead innerhalb der Sprachwissenschaft mit Bühler dasselbe Schicksal des vollständigen oder teilweise Unbekanntseins zu teilen. Neben Mead ist unter den amerikanischen Philosophen J. Dewey als einer derjenigen zu nennen, die sich ausführlicher mit kommunikationssoziologischen Problemen in Hinblick auf die natürlichen Sprachen auseinandergesetzt haben. 13 Ein weniger bekanntes Buch des Soziologen Markey mit dem Titel The Symbolic Process and Its Integration in Children (1928) enthält aus einer ontogenetischen Analyse des Erlernens von Sprache Ergebnisse, die den Bühlerschen Ansatz bestätigen. Markey kennt allerdings zu Zeit der Veröffentlichung seines Buches von Bühler nur dessen Werk Die geistige Entwicklung des Kindes. VI Was Bühler von allen seinen Vorgängern und Zeitgenossen, die mit ihm das sprachliche Phänomen als Entwicklungsprodukt sozialer Kooperation ansehen, unterscheidet, ist die klare und bestimmte begriffliche Durchgliederung seines Entwurfes. Dies ergibt sich besonders deutlich aus einer schärferen Analyse des ersten der drei zitierten Axiome von Bühler. Anlaß zu dem Krise-Buch war für Bühler das Zusammentreffen des amerikanischen Behaviorismus mit der in Europa geübten Psychologie, die überwiegend geisteswissenschaftlichen Charakter hatte. Der Eindruck des neuen Gedankenguts auf Bühler war groß. Grob gesprochen war das methodologische Ergebnis, das er in der Krise vorlegte, dies; man Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 47 verwende die behavioristische Betrachtungsweise so weit als irgend möglich; wenn es die Sache erfordert, gehe man ebenso rigoros zu anderen Methoden über. Die eine wichtige Konsequenz aus dieser Forderung bestand für ihn darin, zwischen animalischen und menschlichen Verhaltensweisen keinen sprunghaften, sondern einen kontinuierlichen, allmählichen Übergang (nicht historisch gesehen, sondern deskriptiv) anzuerkennen. Was er, indem er die Problematik der damaligen Psychologie an dem ihm am besten bekannten Phänomen der Sprache abhandelte, besonders herausstellte, war die Tatsache, daß sowohl tierisches wie menschliches Verhalten sich zweckgebunden in Gemeinschaftsverbänden abspielt, und daß solcherart sinnvolles Sozialbenehmen nur möglich war durch interindividuelle Steuerung, die durch etablierte Kommunikationssysteme gewährleistet werden. Es gibt nun menschliche Kooperationen, in denen die Teilhandlungen der einzelnen Individuen durch Kommunikationsprozesse (Signale) koordiniert werden, die - wie es im animalischen Bereich immer der Fall ist - der wesentlichen sprachlichen Eigenschaft, nämlich der zuvor beschriebenen spezifischen Semantizität entbehren, oder prinzipiell entbehren können. Dies sind jene im ersten Axiom genannten sozialen Verhaltensabläufe, bei denen die Richtpunkte der gemeinsamen Wahrnehmungssituation entnommen werden. Von dieser Kategorie menschlicher Gemeinschaftshandlungen geht Bühler aus und versucht hieraus das höhere kommunikative Kontaktsystem der menschlichen Sprache abzuleiten. Dabei kommt es ihm nicht so sehr darauf an zu zeigen, aus welchen menschlichen Vermögen heraus eine solche Entwicklung zu verstehen ist, als vielmehr klarzulegen, welche Modifikationen an dem dort funktionierenden Kommunikationsapparat eingeführt werden müssen, damit das resultierende, höhere Kontaktsystem dieselben Eigenschaften besitzt wie die menschliche Sprache (womit er zugleich eine Ausgangsbasis zur Beantwortung der ersten Frage gewinnt). Beispiele für kooperative Verhaltensweisen in gemeinsamer Wahrnehmungssituation sind leicht zu finden. Das Enthaltensein der Richtpunkte der Steuerung in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation demonstriert Bühler mit folgenden Worten: “Ein Chauffeur, vor dem ein Passant mit Scheuklappen, aber erkennbarer Marschrichtung die Strasse kreuzt, umsteuert einseitig das bewegte Hindernis; hier fehlt die rückwirkende Orientierung des Benehmens auf den Passanten. Chauffeure gegenseitig im Kontakt oder mit aufmerksamen und gewandten Passanten beim Ausweichen - hier besteht eine wechselseitige Steuerung, und hier wird die Situation regelmäßig dann gefahrvoll, wenn eine Zielmißdeutung oder eine unvorhersehbare Zieländerung eines Partners eintritt. Der handreichende Lehrling und der Meister am Gemeinschaftswerk oder die chirurgischen Assistenten und der Operateur - das Hand-in Hand-gehen der Tätigkeiten wird hier erreicht durch eine Steuerung auf das Sachziel im gemeinsamen Wahrnehmungsfeld.” (Krise, 40). Man kann aus eigener Erfahrung unbegrenzt weitere Beispiele anfügen, wobei diejenigen arbeitsteiliger Gemeinschaftshandlungen, wie sie bereits in der Tierwelt praktiziert werden, besonders eindrucksvoll sind. Zwei Momente sind es, die Bühler an solchen sozialen Kooperationen hervorhebt: einmal denjenigen Aspekt, der hier der kybernetische genannt werden soll, und zum anderen die Tatsache, daß die eingesetzten kommunikativen Mittel nicht sprachlicher Art sind oder es prinzipiell nicht zu sein brauchen. Um den kybernetischen Aspekt deutlich herauszuarbeiten, kann man den komplexen Handlungsablauf folgendermaßen beschreiben. Die kooperierenden Individuen agieren auf einer Szene, die allen überschaubar ist, so daß sie sich auch selbst gegenseitig wahrnehmen können. Das Ziel ihrer gemeinsamen Anstrengung ist ihnen vorgegeben, ihnen auch typisch als Ergebnis ihrer Aktionen wahrnehmbar. Jeder Akteur handelt zwar - im ungestörten Falle - auf dieses Ziel hin, aber nicht mit der Tabelle in der Hand, die ihm seinen individuellen Gerold Ungeheuer 48 Handlungsablauf in minimalen Teilaktionen genau vorschreibt, sondern im ständigen Kontakt mit seinen Handlungspartnern. Um das Gemeinschaftsziel zu erreichen ist zweierlei notwendig: eine gegenseitige Steuerung der Individuen und das Vorhandensein von Orientierungspunkten. Gegenseitige Steuerung wird auf zweierlei Weise bewirkt: entweder durch Beobachtung der handelnden Partner und darauf eingestellte Kooperation, oder durch Sendung und Empfangen von Signalen und Zeichen, die aufmerksam machen, hinweisen, und Handlung im Partner auslösen. Im ersten Falle geben die beobachteten Aktionen der Partner Richtpunkte ab, nach denen das eigene Handeln orientiert wird; im zweiten Falle werden die Elemente des verwendeten Kommunikationssystems (Signale, Zeichen) in ihrer Steuerfunktion aus dem Handlungsganzen und der gegebenen räumlichen Situation verstanden, wobei wesentliche Strukturmerkmale der Koaktion und feste Raumbeziehungen als Richtpunkte dienen. Das beschriebene koaktive Handlungsgefüge zeigt deutlich kybernetische Züge. Es ist ein System von agierenden Individuen und nicht nur eine Menge von einander isoliert handelnder Einzelner; es gibt ein Gemeinschaftsziel und nicht eine Menge von Individualzielen; 14 wesentlich für den Gesamtablauf sind die Rückwirkungen individueller Teilhandlungen auf diese selbst über die Reaktionen der Partner. Da die Strukturmerkmale dieses Modells sozialen Verhaltens in der Sprachtheorie Bühlers eine bedeutende Rolle spielen, erscheint es berechtigt, in diesem Ansatz die kybernetischen Grundlagen seiner Konzeption zu sehen. Die weitere Behauptung, daß die in den beschriebenen, kybernetischen Handlungsgefüge zur Steuerung etablierten Kommunikationsmittel grundsätzlich der sprachlichen Semantizität nicht bedürfen, lässt sich auf mehrfache Weise verifizieren. Zunächst erscheint es in einer Art Gedankenexperiment plausibel, daß die notwendigen Kommunikationsformen Kontakte sehr einfacher Art sein können. Wie kompliziert man sich auch eine Gemeinschaftshandlung der genannten Kategorie vorstellt, man wird darin keine Situation finden können, die mehr als zwei Signalklassen erfordert: Signale als Marken zur Identifikation konkreter Gegenstände oder Sachverhalte (Namen), und Signale des Verweisens (deiktische Zeichen), die raum- und handlungsgebunden interpretiert werden. In beiden Signalklassen ist nichts von dem zu finden, was gewöhnlich als sprachliche Bedeutung oder sprachlicher Inhalt bezeichnet wird. Hinzu kommt als weiterer Verifikationsschritt die analysierende Beobachtung von animalischen Kommunikationsformen, die, wie erläutert, für Bühler in diesem Punkte relevant sind (ein Standpunkt übrigens, der heute von vielen Forschern geteilt wird). Kommunikative Kontakte bei Tieren dienen immer kooperativen Handlungen der beschriebenen Art und ermangeln per se der spezifisch sprachlichen Semantizität. Für den weiteren Gang der Überlegungen sind sie jedoch deswegen wichtig, weil an ihnen positiv besonders deutlich beschrieben werden kann, welche Eigenschaften diese Kommunikationssysteme besitzen. Die Beschreibung der “tierischen Semantik” (Bühler) gibt einen Vergleichsmaßstab, an dem die Entwicklungskomponenten, die zur menschlichen Semantik führen, analysiert werden können. Die Gemeinschaftshandlungen, die im Säuglings- und frühen Kindesalter etwa zwischen Mutter und Kind beobachtbar sind, geben zusätzliches Beweismaterial für die Richtigkeit der Behauptung. Die an dieses Entwicklungsstadium gebundenen Kommunikationsformen lassen sich typisch in die beiden Aktionen des Benennens und Verweisens einordnen. Ganz allgemein ist natürlich die sprachliche Ontogenese für das vorliegende Problem von besonderer Bedeutung. Die besten Belege für die Richtigkeit der aufgestellten Behauptung liefert jedoch der alltägliche Gebrauch der sprachlichen Kommunikationsmittel selbst. Hält man sich streng an Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 49 die Definition des Sprachbegriffs, so kann ein sprachlicher Kommunikationsakt erst dann als realisiert angesehen werden, wenn - in der Terminologie des Organon-Modells ausgedrückt - die Zeichenfunktion der Darstellung voll entfaltet beteiligt ist, d.h., wenn er durchgehend getragen wird von jener spezifisch sprachlichen Semantizität, die auf einer Vermittlung des Mitgeteilten durch sprachliche Bedeutungen (oder sprachliche Inhalte) beruht. Diese volle Verwirklichung sprachlicher Kommunikation, die impliziert, daß das Mitgeteilte allein aus dem Ganzen der Rede ohne Situationshilfen verstanden werden kann, ist jedoch, überblickt man die Vielfalt zwischenmenschlicher Kommunikationsformen sehr selten: man findet sie vielleicht in wissenschaftlichen Ausführungen oder Werken der Dichtkunst. Der übliche und weitaus häufigere Gebrauch sprachlicher Mittel findet, gemessen an dieser Vollsprache, in kommunikativen Reduktionsformen statt, die immer Reduktionen in Richtung auf jene zwischenmenschliche Kontakte sind, die wie oben beschrieben in gemeinsamer Wahrnehmungssituation vorkommen. Das Gemeinschaftsleben bietet zwischen den Extremen, nämlich zwischen der höheren Kommunikation voll entfalteter Sprache und der niederen Kontaktkommunikation direkter Steuerung vermittels Indikation und Markierung, einen kaum übersehbaren Reichtum solcher Reduktionsstufen und Rudimente rein sprachlichen Verkehrs. Das Vorkommen von sprachlichen oder sprachartigen Signalen (Sprachformen) allein darf den Beobachter nicht davon überzeugen, daß in allen Situationen Sprache im eigentlichen Sinne als Mittel der Kommunikation eingesetzt wird. Die Sprachsignale funktionieren hier, in ihrer sprachlichen Bedeutung abgeschwächt oder völlig entleert, als einfache Kontaktmittel. Es würde im Rahmen dieses Aufsatzes zu weit führen, die Merkmale solcher Klassen von Kommunikationsformen näher zu beschreiben. Anstatt dessen sei Mauthner zitiert, der in seiner Kritik der Sprache, 15 seinem Stil entsprechend in sehr pointierte Form, auf diesen Sachverhalt hinweist: “Die menschliche Sprache auf ihrer tiefsten Stufe ist deiktisch. “Geben Sie mir Leberwurst! ” Der Stumme zeigt mit den Fingern auf die Leberwurst mit dem gleichen Erfolg. Der Hund schnappt nach der Leberwurst mit noch schnellerem Erfolg. Die Sprache auf ihrer höchsten Stufe ist Kunstmittel. Goethe setzt Wort an Wort, wie Rafael Farbe an Farbe. Die Sprache im geselligen Verkehr nähert sich wie im Wirtshaus, im Handel, im Krieg und im Liebeskampf der Leberwursteinfachheit. Sie nähert sich in der feinsten Salonkonversation hervorragender, geschätzter Leute dem Kunstwerk. In der Mitte liegt Geschnatter, das tausend Millionen Menschen täglich stundenlang vollführen. …” VII Es muß nun gezeigt werden, wie Bühler die sprachliche Semantizität aus den in kybernetischer Funktion eingesetzten kommunikativen Kontakten bei Gemeinschaftshandlungen in gemeinsamer Wahrnehmungssituation herleitet. Zuvor sei jedoch hervorgehoben, daß er sich diese niederen Kontakte ebenso wie die spezifisch sprachliche Kommunikation aus der Notwendigkeit sozialer Steuerungen, aus ihren verschiedenen adaptiven Ausprägungen und aus ihrer Verknüpfung mit den Leistungen unserer Wahrnehmungssysteme entstanden denkt. Es ist erstaunlich, wie weit er zur Fundierung seiner Gedankengänge in dem Versuch vorstößt, mit kybernetischen Kategorien wie Steuerung, Regelung, Kontakttiefe, Stabilität sozialpsychologische Probleme zu lösen. Hier ist Bühler von einer Modernität der Ideen, die Gerold Ungeheuer 50 von keinem seiner Zeitgenossen in Europa übertroffen wurde. Auf eine Darstellung dieser allgemeineren Erkenntnisse muß jedoch verzichtet werden. Im folgenden sei die Entwicklungslinie nachgezeichnet, wie sie Bühler zur Lösung des sprachlichen Ursprungsproblems konzipiert hat. Zur besseren Übersicht sind die einzelnen Entwicklungsphasen durchnummeriert. (1) Die soziale Situation, von der ausgegangen werden soll, ist schon beschrieben worden. Ein Zitat aus der Krise möge sie noch einmal fixieren: “Sehen wir nicht die Handlungen von Menschen und Tieren in ungezählten Modifikationen wortlos und gestenlos ineinander greifen? Gewiß, nämlich in gemeinsamer Wahrnehmungssituation. Und das ist der Grundfall, von dem wir ausgehen müssen.” (39). Das kybernetische System der gegenseitigen Steuerung enthält in diesem Falle die beiden Momente der “Einstellung der Individuen aufeinander” und des “gegenseitigen Verstehens der Tätigkeit des anderen”. Die Einstellung ermöglicht den zur Steuerung notwendigen Kontakt und ist somit Bedingung eines Kommunikationssystems elementarer Art. Das Verstehen der Tätigkeiten des anderen setzt die Richtpunkte, an denen sich die Steuerungen orientieren. Kooperative Handlungen dieses Typus findet man im tierischen Bereich ebenso wie im menschlichen. Die in ihr ausgebildete Form der Kommunikation ist elementar insofern, als sie konstituiert ist durch ein Minimum an semantischen Einrichtungen. Da es hier nicht auf eine Definition der Semantizität ankommt, kann unter Annahme bestimmter Voraussetzungen auch gesagt werden, daß dieser Grundfall sozialen Verhaltens ohne zeichenhafte oder signalartige Kontaktmittel funktioniert. (2) Eine Verbesserung der Kommunikationsmittel wird dann notwendig, wenn sich der Horizont der Gemeinschaftshandlung so ausweitet, daß den Beteiligten jeweils nur noch Abschnitte des Schauplatzes der Aktion wahrnehmbar sind. Bei sozial höher organisierten Tieren wie den Ameisen oder Bienen lassen sich die Steuerungskontakte, die eine Kooperation auf Distanz notwendig machen, gut studieren. Ein Beispiel, auf das Bühler immer wieder eingeht, ist die Benachrichtigung eines Bienenschwarms durch einen Schwarmgenossen über den Ort eines Honiglagers und die Art des dort vorhandenen Honigs. Ohne daß auf Details eingegangen werde, spielt sich der Vorgang etwa folgendermaßen ab. Die einschwärmende Biene bringt vom Fundort eine Probe des Honigs mit; sie führt dann eine Art Tanz auf, dessen Symmetrie im Zusammenhang mit dem Stand der Sonne den Schwarmgenossen die Position des Fundorts angibt. An diesem Beispiel kann man eine zweifache Funktion des kommunikativen Kontaktes unterscheiden: einmal eine Markierung zur Identifikation des Honigs und zum anderen einen Hinweis vermittels des Tanzes. Die Kommunikationsmittel, die dabei verwendet werden, tragen die charakteristischen Merkmale, die alle Formen animalischer Kommunikation auszeichnen und die auch für viele zwischenmenschliche Kontakte charakteristisch sind. Man betrachte zunächst die Duftmarkierung des fernen Honiglagers vermittels der mitgebrachten Probe. Unerläßlich für die Identifikation ist offensichtlich eine Handlung, die der Wahrnehmung aller beteiligten Individuen den Stoff zugänglich macht, auf den der gesamte Handlungsablauf zielt; dies geschieht durch eine Stoffprobe. In dem Bienenbeispiel ist damit verknüpft eine weitere Eigenschaft, die in anderen Fällen auch unabhängig von der ersten auftreten kann: das zur Markierung verwendete Zeichen kann abgelöst von dem Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 51 markierten Gegenstand seine Identifikationsfunktion nicht erfüllen. Am Beispiel eines Tieres, das mit Exkrementen die Grenzen seines Herrschaftsbereichs markiert, läßt sich diese spezielle Gebundenheit der Identifikationszeichen unabhängig von der zuerst genannten leicht demonstrieren. Diese beiden Eigenschaften seien in Anlehnung an die Terminologie von Bühler mit den Termini ‘Stoffgebundenheit’ und ‘Gegenstandsgebundenheit’ bezeichnet. Daß Kommunikationskontakte dieser Struktur auch im menschlichen Verkehr vorkommen, ist in Beispielen nicht schwer zu belegen. Bühler selbst nennt zur Verdeutlichung das Exempel des Rötelstrichs der Räuber Ali Babas (Krise, 53), der als gegenstandsgebundenes Lokalzeichen funktioniert; und der Flecken Kleiderstoff, den man im Kaufhaus vorzeigt, um mehrere Meter derselben Ware zu erstehen, ist sicherlich eine stoffgebundene Identifikation. Was nun den Bienentanz angeht, der dem Schwarm die Richtung und häufig auch die Distanz mitteilt, in der der Fundort zu finden ist, so liegt in diesem Kontaktmittel eine sehr feste Verknüpfung mit der physischen Situation. Die Bewegungen, welche die Biene als Tanz vorführt, zielen allein ab auf eine Orientierung beim Geschäft des Honigsammelns; sie können ihren Zweck nur erfüllen, wenn die anderen Bienen eine Reihe von Umweltfaktoren, die sie wahrnehmen (Sonnenstand, Windrichtung, usw.), in den kommunikativen Steuerungsprozeß einbauen. Unabhängig von diesen äußeren Voraussetzungen ist der Bienentanz ein sozial und kommunikativ sinnloser Vorgang. In den beschriebenen Kommunikationsformen werden die Zeichen, wie Bühler es nennt, symphysisch verwendet; erst das symphysische Umfeld legt die Grundlage zu ihrer Interpretation. (3) Die nächsthöhere Entwicklungsphase kann man mit Bühler im empraktischen oder sympraktischen Gebrauch der Kommunikationszeichen sehen. Sie gehört schon nahezu ganz dem menschlichen Bereich an; im animalischen Kontakt finden sich nur Rudimente empraktischer Zeichenverwendung. Das empraktische Umfeld, aus dem in dieser Kommunikationsklasse sich die Deutung der Zeichen ergibt, ist mit dem Handlungszusammenhang gegeben; der Handlungsraum mit seinen Gegenständen, Prozessen und Relationen ist auf die Zeicheninterpretation ohne Einfluß. Ein einfaches, immer wieder genanntes Beispiel beschreibt Bühler folgendermaßen: 16 “Wenn z.B. ein phonetisch als Grunzen zu bezeichnendes Geräusch mit Sicherheit als Morgengruß ‘verstanden’ wird, so ist das nur auf Rechnung der unzweideutigen Situation zu schreiben.” Der Gast, der im Kaffeehaus “einen Schwarzen” verlangt und der Passagier, der in der Straßenbahn “geradeaus” oder “umsteigen” fährt, sind weitere Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Bühler hat sich bei der Analyse dieser Kommunikationsformen mit dem Gegenargument auseinandergesetzt, hierbei handele es sich lediglich um elliptische Redeweisen, wie sie auch beim Gebrauch von Sprache in ihrer vollen Funktion verwendet werden. Es würde zu weit führen, die gegensätzlichen Positionen in Einzelheiten zu erörtern. Doch seien die wichtigsten Überlegungen Bühlers angeführt. Die elliptische Rede erhält ihre Deutung aus einem synsemantischen Umfeld (Kontext; was später zu erläutern ist) nicht aus einem sympraktischen. Für die hierhergehörenden Kommunikationsformen ist es außerdem ohne Belang, ob sprachliche Signale oder andere den Steuerungskontakt herbeiführen oder nicht. Werden Sprachreste verwendet, so geschieht dies unter Verlust, zumindest aber unter Herabminderung jener wesentlichen Eigenschaft vollentfalteter Sprache, die als spezifische Semantizität bezeichnet wurde. Die Anschaulich- Gerold Ungeheuer 52 keit der Beispiele bestätigt nur das häufige Vorkommen von Sprachrudimenten in dieser Form. Grundsätzlich brauchen jedoch die empraktisch zu deutenden Steuerungssignale nicht reduzierte Sprachzeichen zu sein. Welcher Art aber sie immer auch sind, sie gehen nicht über die beiden Funktionen des Benennens und Verweisens, wie schon erläutert wurde, hinaus. Sie unterscheiden sich jedoch von dem rein symphysischen Zeichengebrauch dadurch, daß sie in den beiden Funktionen weder an den Stoff, dessen Identifikation sie herbeiführen, noch an den Gegenstand, auf den sie verweisen, gekettet sind, und da sie empraktisch verstanden werden, entfällt auch das Gebundensein an Merkmale des umgebenden Raumes. Es muß noch gefragt werden, welche Modifikation des Grundfalles der sprach- und gestenlosen Kooperation die Erfindung empraktisch funktionierender Kommunikationsmittel notwendig macht. Wie man den Beispielen entnehmen kann, handeln die Individuen in den beschriebenen Szenen nicht mehr in voller Übereinstimmung mit den Definitionsmerkmalen des Grundfalles. Dabei können verschiedene Defekte in Erscheinung treten: (a) Die Einstellung der Individuen aufeinander kann durch entgegenwirkende psychophysische Faktoren (Müdigkeit, Unachtsamkeit, mangelnde Konzentration, usw.) gestört sein. In diesen Fällen muß das aus der Kooperation ausbrechende Individuum vermittels Aufmerksamkeit heischende Signale auf seine Rolle in der Gemeinschaftshandlung hingewiesen werden. (b) Wenn das Ziel der Kooperation aus der wahrgenommenen Umfeldsituation nicht zwingend gegeben ist oder zu Beginn mehrere Handlungsabläufe, die von der Entscheidung eines oder mehrerer der Beteiligten abhängen, möglich sind, muß das Aktionsziel gesetzt werden. Dies kann entweder durch eine Benennung (Äußerung des Zielnamens) oder durch Hinweis vermittels sprachlicher Rudimente oder Gesten geschehen. Hierher gehören die Beispiele des Gastes im Kaffeehaus und des Passagiers in der Straßenbahn; aber auch die berühmte Geschichte Bloomfields von Jack und Jill gehört zu dieser Kategorie. Das von Jill produzierte Geräusch fixiert das Ziel und setzt zugleich die Gemeinschaftshandlung in Gang, die im übrigen (einschließlich bezeugter Dankbarkeit) sprachlos ablaufen kann. Diese Analyse führt im übrigen zu dem Schluß, daß aus derartigen Beispielen nur wenig über die Struktur voll ausgebildeter Sprachereignisse ableitbar ist. (c) Bei komplexen Gemeinschaftshandlungen kommt es sehr häufig vor, daß die beteiligten Akteure, obgleich potentiell der gemeinsame Wahrnehmungshorizont gewährleistet ist, dennoch in Phasen der Aktion nur Ausschnitte des Schauplatzes und nicht zu jeder Zeit alle Partner perzipieren. Gründe für solche Situationen gibt es in großer Zahl. Einer der wichtigsten dürfte darin bestehen, daß eine Teilhandlung des gesamten Geschehens die völlige Aufmerksamkeit eines Individuums verlangt, zugleich aber auch die Assistenz eines anderen Individuums erforderlich ist, dessen Aktionen gesteuert werden müssen, da ihm das Arbeitsfeld des ersten nicht überschaubar ist, wie es z.B. im Operationssaal jeden Tag geschieht. Auch hier werden Kommunikationskontakte notwendig, die über das im Grundfall funktionierende Steuerungssystem hinausgehen. (d) Es kann auch der Fall sein, daß zwar allen Beteiligten das Ziel, auf das sie hinarbeiten bekannt ist, nicht allen jedoch jede der erforderlichen Teilhandlungen verständlich ist. Jede Gemeinschaftshandlung von Lehrer und Lernendem ist ein Beispiel für diese Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 53 Konstellation. Wenn der Lehrling dem Meister den Meißel statt des Hammers reicht, muß der Meister entweder mit dem Finger auf den Hammer hinweisen oder den Namen des gewünschten Werkzeugs nennen. (e) Als letzte Modifikation des Grundfalles, die zur Erfindung höherer Kommunikationsmittel führen kann, sei die Erkenntnis eines oder mehrerer Individuen genannt, daß bestimmte Gemeinschaftshandlungen vereinfacht werden können oder schneller ablaufen, wenn von dem elementaren Kommunikationssystem des Grundfalles abgegangen wird. Hier liegt die Modifikation allerdings nicht in der Struktur jener Elementarkooperation, sondern im Auftreten individueller Initiativen, die bisher nicht ausdrücklich in Rechnung gestellt wurde. (4) Die letzte Phase, die zu analysieren ist, wird gekennzeichnet durch die Erscheinungen der Sprache in ihrer voll entfalteten Funktion. Es sei zunächst dargelegt, welche Entwicklungsschritte notwendig sind von den zuvor beschriebenen Kommunikationssystemen bis in diesen voll-sprachlichen Bereich, und wie dabei die spezifisch sprachliche Semantizität zur Ausbildung kommt. Die in den ersten der drei zitierten Axiome Bühlers vorgetragene Behauptung war die, daß Gemeinschaftshandlungen, die den gemeinsamen Wahrnehmungshorizont der beteiligten Individuen transzendieren, Kommunikationsmittel von der Art der Sprache mit Notwendigkeit herbeiführen. Kooperationen, die auf solchen Fernkontakten und Fernsteuerungen beruhen, sind erforderlich, wenn gesellschaftliches Handeln möglich sein soll. Aber auch dann, wenn im Gespräch zwei Partner sich gegenseitig wahrnehmen, können in Bezug auf die zu erzielende Kooperation die Bedingungen des Grundfalles und seiner Modifikationen außer Kraft gesetzt werden, dann nämlich, wenn es sich um eine kooperative Verständigung über einen außerhalb der gemeinsamen Wahrnehmungssituation liegenden Sachverhalt handelt. Beide Formen des Hinausgehens über den gemeinsamen wahrnehmbaren Handlungsschauplatz erfordern Kommunikationsprozesse, in denen die verwendeten Zeichen weder symphysisch noch sympraktisch, sondern allein SYNSEMANTISCH interpretiert werden. Die sprachlichen Zeichen lassen sich auf dieser höchsten Stufe in Bezug auf den Grundfall und seine Modifikationen zunächst negativ bestimmen. Sie sind charakterisiert durch Entstofflichung und Ablösbarkeit vom indizierten Gegenstand; sie sind in ihrer Zeichenfunktion frei von Verkettungen mit dem realen Weltausschnitt, in dem die Individuen sich ihrer bedienen; das, was sie bedeuten (“darstellen” in der Terminologie Bühlers), ist unabhängig von dem Handlungsgefüge verstehbar, in welchem sie als Steuerungsmittel inkorporiert sind. Nichtsdestoweniger bedürfen auch die Sprachzeichen (Wörter) in Erfüllung ihres kommunikativen Zweckes einer wechselseitigen Erhellung und Verdeutlichung: das synsemantische Umfeld konkretisiert und präzisiert das Gemeinte, die Bedeutung, den Inhalt, den Sinn. Dieses Moment der funktionellen Abhängigkeit der Kommunikationsmittel von einem wie auch immer zu definierenden Umfeld haben alle zwischenmenschlichen Kommunikationsformen (und wohl auch die animalischen), die bisher betrachtet worden sind, gemeinsam. Es taucht die Frage auf, ob es nicht die Transformation dieser Zeichen-Umfeld-Beziehung auf einer immer höheren Stufe ist, welche schließlich zur sprachlichen Semantizität führt. Reduziert man den Handlungsablauf des Grundfalles auf eine Kooperation zweier Individuen, so kann die gemeinsame Wahrnehmungssituation, in der die Richtpunkte der Gerold Ungeheuer 54 gegenseitigen Verhaltenssteuerung enthalten sind, wie schon erläutert, in zweifacher Weise transzendiert werden: entweder sind den Partnern nur getrennte Wahrnehmungsräume zugänglich, so daß sie in keinem perzeptiven Kontakt stehen, oder aber die Orientierungspunkte sind Teil einer Situation, die sich außerhalb des Wahrnehmungsbereichs beider befindet. Beide Konstellationen sprengen die Bedingungen des Grundfalles und weiten ihn zu einer Aktion aus, die höhere kommunikative Kontakte notwendig macht. In ihnen ist der Wahrnehmungsraum der beteiligten Individuen, auch wenn er allen gemeinsam ist, nicht mehr identisch mit dem Handlungsraum, auf den sich die Kommunikationsprozesse beziehen. Im Hinblick auf die Funktion sprachlicher Zeichen kann man auf die Frage, welcher Art denn nun diese höheren Kontakte sind, die im Falle einer so extremen Differenz von Wahrnehmungs- und Handlungsraum die Steuerung übernehmen, folgendermaßen antworten: wenn eben der Handlungsraum nicht zugleich Perzeptionsraum ist, dann muß er kommunikativ im Bewußtsein und in der Vorstellung der Kommunikationspartner entworfen werden. Das bedeutet z.B., daß der kommunikativ dominierende Partner die Vorstellungen des anderen mit sprachlichen Mitteln so beeinflußt, d.h. steuert, daß die Szene der gemeinsamen Aktion ihm als PHANTASMA, um einen Begriff Bühlers zu gebrauchen, gegenwärtig wird. Der Begriff des Phantasma wurde von Bühler, in einem engeren Zusammenhang als freilich hier, eingeführt, um mit einem Wort den Bereich “der ausgewachsenen Erinnerung und konstruktiven Phantasie” unabhängig von den theoretischen Konnotationen, die mit den Termini Bewußtsein, Vorstellung, u.derg. immer verknüpft sind, benennen zu können. Er ist an dieser Stelle geeignet, einen Sachverhalt zu fixieren, der bei Bühler nur in wenigen Sätzen behandelt wird. Die höheren, rein sprachlichen Kontakte bauen also den Handlungsraum, in dem Kooperation sich abspielt, als Phantasma auf, und in diesem, nicht in einem der direkten Wahrnehmung unterliegenden Umfeld sind die Richtpunkte der Steuerung enthalten und finden die Akte der Verweisungen statt. Es ist dies eine verallgemeinerte “Deixis am Phantasma”, die Bühler für einen speziellen sprachtheoretischen Zusammenhang eingeführt hat. In ihr enthüllt sich die Sprache als ein “mediales Gerät”, das am Phantasma Welt vermittelt. Soll die Fixierung des Handlungsraums als Phantasma gelingen, müssen an die sprachlichen Kommunikationsmittel bestimmte Anforderungen gestellt werden. Unter ihnen ist die wichtigste die, daß das vermittelte Phantasma eindeutig bestimmt ist in den für die Kooperation wesentlichen Aspekten. In diesem Geschäft der Fixierung üben die sprachlichen Zeichen durch wechselseitige Spezifikation in einem verallgemeinerten Sinne die Funktion der Markierung, der Indikation aus, wie dies im engeren Sinne durch Namen geschieht. Die Verweisungen, die am Phantasma vollzogen werden, korrespondieren der Anaphora im syntaktischen Aufbau der vermittelnden Rede. Die Gemeinschaftshandlungen, die mit rein sprachlichen Steuerungen verwirklicht werden, besitzen im allgemeinen kaum noch die Merkmale praktischer Tätigkeiten. Nichtsdestoweniger sind es Kooperationen; sie treten in der Hauptsache als geistig-seelische Auseinandersetzungen in Erscheinung, die auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind. Die Gemeinschaftshandlung, in der Kommunikation als Vehikel der Steuerung eingesetzt ist, wird ‘Kommunikationshandlung’. Dies setzt voraus, daß die kooperierenden Individuen selbst in ihren Fähigkeiten so ausgebildet sind, daß sie den Status sprachlicher Kommunikation erreichen können. Das bringt nun, am Ende dieser Betrachtung, einen individualpsychologischen Gesichtspunkt ins Spiel, ohne den die Analyse des Problems nicht auskommen Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 55 kann, der aber deswegen so lange zurückgehalten wurde, weil er, bei dem heutigen Stand der Diskussion, leicht die Bedeutung der sozial-psychologischen Voraussetzungen vergessen läßt. Es bedürfte noch langer Erörterungen, um von dem erreichten Punkte dieser Darstellung aus in das Reich der geläufigen linguistischen Kategorien vorzustoßen. Satz und Wort, Stamm und Affix, gesprochene Rede und geschriebener Text, Wortarten und andere grammatische Begriffe bleiben in ihrer Beziehung zu den beschriebenen Sachverhalten noch im Dunkel. Sie liegen jedoch außerhalb des Themas dieses Aufsatzes und vieles kann über sie in der Sprachtheorie Bühlers selbst nachgelesen werden. Eine letzte Bemerkung sei angefügt. In ihrer Geschichte haben sich die Menschen zu immer größeren gesellschaftlichen Verbänden zusammengeschlossen. Die im sozialen Leben zu realisierenden Gemeinschaftshandlungen sind in ihrer Zahl unabsehbar und zeigen alle Abschattierungen zwischen den vier geschilderten Modellsituationen. Im Hinblick auf die notwendigen Kommunikationskontakte können zur Schaffung der Kontaktmittel grundsätzlich zwei Wege beschritten werden. Entweder gibt es für jeden Fall ein System spezifischer Mittel oder es gibt ein universelles Kommunikationssystem, das für alle, jedenfalls aber für die weitaus meisten Situationen, tauglich ist. Die zweite Lösung ist offenbar ökonomischer als die erste, und sie ist in allen Gruppen menschlicher Individuen als Sprache verwirklicht worden. Die Universalität ihrer Verwendbarkeit, welche die natürlichen Sprachen auszeichnet, führte jedoch zu ganz bestimmten Strukturmerkmalen, unter denen an erster Stelle die Unterscheidung zwischen Wort und Satz, genauer zwischen Rede und Wort zu nennen ist. Innerhalb der dargestellten Theorie bezieht sich Rede immer auf ein spezifisches Phantasma. Ob das im Phantasma vermittelte als konkret außerhalb der Individuen existierend oder als nur denkbar oder phantasierbar vorgestellt wird, muß, wenn die Rede allein aus sprachlichen Mitteln schöpfen will, als vermitteltes Bestimmungsstück im Phantasma enthalten sein. Ein isolierter Satz ist nur dann ein sprachliches Ereignis, wenn das durch ihn vermittelte Phantasma aus sich selbst heraus verständlich ist; dasselbe gilt für Phrasen, d.h. Wortfügungen, die im üblichen Definitionssystem der Grammatiken nicht Sätze genannt werden. Die Inhalte oder Bedeutungen der einzelnen Wörter jedoch, aus denen Rede aufgebaut wird, sind aktuelle vor-sprachliche Ereignisse nur als Elemente der Rede. Isoliert gebraucht, können sie nur symphysisch oder empraktisch verstanden werden. Welche Inhalte ihnen als im strengen Sinne lexikalische Einheiten zuzuordnen sind, hängt in einem gewissen Maße von einer Definitionsentscheidung ab; diese Freiheit der Bestimmung wird eingeschränkt durch negative Abgrenzungen, wie sie de Saussure vorgeschlagen hat. Die Bemerkungen des vorhergehenden Abschnitts können natürlich nichts weiter als Andeutungen sein. Sie gehen zum Teil über das hinaus, was Bühler zu diesem Gegenstande gesagt hat. Aus den kybernetischen Grundlagen seiner Sprachtheorie heraus können sie jedoch mit bemerkenswerter Konsequenz abgeleitet werden. VIII Die sprachtheoretischen Gedankengänge Bühlers zeichnen sich durch einen konsequent durchgehaltenen, auf soziologische und sozialpsychologische Fakten beruhenden Ansatz aus. Dieses Fundament wird dargestellt als kybernetisches System, das allen Kommunikationskategorien als Wirkungsschema zugrunde liegt. Insofern kann in ihm unter einem systematischen Gesichtspunkt der Ursprung der spezifisch sprachlichen Semantizität gesucht werden. Gerold Ungeheuer 56 Neben diesem sozialen oder sozialpsychischen Fundament muß jedoch für die Entwicklung der Sprachen noch ein individualpsychischer angenommen werden, der in diesem Aufsatz wenig erläutert wurde. Denn nur solche Individuen sind zu höheren Kontakten der Sprache fähig, die eine bestimmte Konstitution auszeichnet. Stellt man diese in Rechnung, so muß man es mit allen Modi ihrer Aktualisierung tun. Für die Sprachtheorie ist von besonderer Bedeutung die Tatsache, daß es bereits im Bereiche des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, aus dem kognitive Züge nicht verbannt werden können, in großer Mannigfaltigkeit Prozesse gibt, die den Charakter des Bedeutens tragen. 17 Von diesen Tatbeständen auszugehen, ist jede ernstzunehmende allgemeine Zeichen- Theorie gezwungen. Bei Bühler werden sie eher implizit als explizit berücksichtigt; sie sind jedoch in ihrer Wirksamkeit in jenem Grundfall der Gemeinschaftshandlung enthalten, in dem allein Wahrnehmungskontakte eine Rolle spielen. Selbst in seinem berühmten Prinzip der abstraktiven Relevanz zeigt sich die nachhaltige Wirkung der perzeptiven Grundlagen. Es möge nocheinmal darauf hingewiesen werden, daß es in den vorhergehenden Betrachtungen nicht darum ging, die Kommunikation als Hauptfunktion der Sprache nachzuweisen. Was Sprache für den Menschen als Einzelnen oder in Gemeinschaft mit anderen sein kann, was Kultur und Zivilisation, Weltanschauung und Weltbild der Sprache verdankt, bleibt unberührt von den gewonnenen Erkenntnissen. Doch gilt sicherlich dies eine, daß eine Sprache nur deswegen mehr als Kommunikationsmittel sein kann, weil sie als solches eine Ausbildung erreicht hat, durch die sie zu dieser Übersteigerung fähig wird. In der sprachwissenschaftlichen Literatur lassen sich zwei Topoi nachweisen, in denen sprachliche Kommunikation beschrieben wird. Der eine, der auch in der Umgangssprache üblich ist, ist der Topos des Transports. Nach ihm sind die verbreitetsten Formulierungen gebildet: ‘Mitteilung’, ‘Übertragung, Übermittlung einer Nachricht’, ‘Gedankenaustausch’, ‘Übertragung von Bedeutungen’, u.dgl. Der zweite ist der Topos der Steuerung, der seltener wirksam ist. Unter seiner Prägkraft stehen Äußerungen der folgenden Art: ‘Sprache als Einflußnahme eines Geistes auf den anderen’, ‘Sprache als Suggestion’ (z.B. Hellpach, 18 Bühler). Mauthner, der schon einmal zitiert wurde, stehe hier am Schluß mit einem zweiten Zitat, das zeigt, daß auch er unter dem Einfluß des Steuerungstopos steht: Der Zweck der Sprache ist also Beeinflussung, Willens- oder Gedankenlesen, mit einem Modewort: Suggestion. Die Wirkung der Sprache auf den anderen ist verschieden; der Zweck wird nicht immer erreicht. Unterwerfung unter die Suggestion oder Auflehnung kann die Folge sein. Diese Wirkung kann ebensogut durch Handlungen als wieder durch Sprache ausgedrückt werden. (Kritik der Sprache, II, 461). Die vorliegenden Betrachtungen suggerieren, daß der Topos der Steuerung sachliche Argumente auf seiner Seite hat. BONN Anmerkungen 1 Karl Bühler, Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache (Jena, 1934; 2. Aufl., Stuttgart, 1965). 2 Karl Bühler, Die Krise der Psychologie (Jena, 1927; 3. Aufl., Stuttgart, 1965). 3 In der Sprachtheorie werden zwar diese früheren Ansätze auch angeführt (so schon im Vorwort), jedoch nicht in voller Ausführlichkeit und nicht mit dem Nachdruck, der ihrer systematischen Position entspricht. In der Fülle linguistischer Erörterungen können sie leicht als unwesentliche Betrachtungspunkte erscheinen. Im Vorwort zur Sprachtheorie verweist Bühler allerdings mehrfach auf die in der Krise angelegten Konzeptionen. Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler 57 4 Karl Bühler, Das Gestaltprinzip im Leben der Menschen und der Tiere (Bern-Stuttgart, 1960). 5 Zur Terminologie in dieser Formulierung des Problems siehe z.B. den Satz: “Wir folgen einem aus intimer Kenntnis der Dinge oft ausgesprochenen aber niemals methodisch restlos fruktifizierten Satz, wenn wir den Ursprung der Semantik (Unterstr. v. m.) nicht beim Individuum, sondern bei der Gemeinschaft suchen.” (Krisis, 1965, 38). 6 Siehe hierzu die folgenden Ausführungen in der Sprachtheorie: “Es gibt im Anwendungsbereich der menschlichen Sprachzeichen einen Befreiungsschritt, der vielleicht einmal im Werdegang der Menschensprache zu den entscheidensten gehörte. Wir vermögen ihn zwar nicht historisch zu rekonstruieren, wozu so gut wie jeder Anhalt in der Linguistik von heute fehlt, können ihn aber systematisch bestimmen (Unterstr. v. m.) als die Befreiung, soweit sie geht und möglich geworden ist, von den Situationshilfen; es ist der Übergang vom wesentlich empraktischen Sprechen zu weitgehend synsemantisch selbständigen (selbstversorgten) Sprachprodukten.” (Sprachtheorie, 1965, 366-67). 7 Der von Bühler verwendete Begriff “Benehmen” ist die Übersetzung des englischen ‘behavior’; heute ist es im Deutschen wohl üblicher, hierfür die Termini ‘Verhalten’ oder ‘Verhaltensweise’ zu verwenden (die auch bei Bühler vorkommen). 1932 erschien von E.C. Tolman das Buch Purposive Behavior in Animals and Man, das, wie er in der Sprachtheorie ausführt, mit den wichtigsten Überlegungen seiner Krise übereinstimmt. In der Krise selbst werden als frühe Behavioristen Lloyd Morgan und H.S. Jennings genannt, besonders aber scheint Bühler das Buch Animal Intelligence von Thorndike angeregt zu haben. In ironischer Form wird in der Sprachtheorie gegen den Extremismus des rigorosen Behaviorismus eines Watson und Stetson polemisiert; Watsons bekanntes Werk Behaviorism war zum erstenmal 1924 erschienen. 8 Cours, 27ff. 9 Die Konzeptionen des Soziologen Durkheim haben De Saussure nachhaltig beeinflusst; siehe hierzu E. Coseriu, Sincronia, diacronia e historia (Montevideo, 1958), 19-46. 10 “Jill is hungry. She sees an apple in a tree. She makes a noise with her larynx, tongue, and lips. Jack vaults the fence, climbs the tree, takes the apple, brings it to Jill, and places it in her hand. Jill eats the apple.” (Language, 22). 11 O. Dittrich, Die Probleme der Sprachpsychologie (Leipzig, 1913), 25. 12 G.H. Mead, Mind, Self and Society (Chicago, 1934). Unter seinen zahlreichen Aufsätzen sei besonders der folgende genannt: “A Behavioristic Account of the Significant Symbol”, J. Philos., 19 (1922), 157-163. 13 Es erübrigt sich hier, die Werke Deweys anzuführen, in denen er über Sprache und Kommunikation handelt. Ein Aufsatz sei jedoch genannt, da er als Reaktion auf den oben zitierten Artikel von Mead anzusehen ist: J. Dewey, “Knowledge and Speech Reaction”, J. Philos., 19 (1922), 561-570. 14 Die Differenz zwischen Gemeinschafts- und Individualziel müßte an dieser Stelle, wenn es um eine vorwiegend soziologische oder sozialpsychologische Problematik ginge, näher erläutert werden. Bei Gemeinschaftshandlungen vom Typus des Wettstreits scheinen nur Individualziele, aber kein Gemeinschaftsziel vorhanden zu sein. Diese Überlegung geht jedoch zu ausschließlich von den beteiligten Individuen aus. Aufs Ganze gesehen ist das Gemeinschaftsziel des Wettstreits dann erreicht, wenn der Sieger feststeht, und jeder der Wettstreitteilnehmer arbeitet auf dieses Ziel hin. Das individuelle Interesse jedes der Streitenden, den Sieg zu erringen, muß als eine besondere Klasse von Orientierungen aufgefaßt werden. 15 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, I (Stuttgart, 1901), 47. 16 K. Bühler, “Über das Sprachverständnis vom Standpunkt der Normalpsychologie aus”, Ber. über den III. Kongr. f. exper. Psychol. in Frankfurt 1908 (Leipzig, 1909), 94-130, bes. 104. 17 Aus der Literatur zu diesem Problemkreis sei genannt: A. Gurwitsch, Théorie du champ de la conscience (Desclée de Brouwer, 1957). 18 W. Hellpach, Sozialpsychologie (3. Aufl., Stuttgart, 1951).