Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2005
281-2
Karl Bühlers Grundprinzipien der Sprachtheorie
61
2005
Dieter Wunderlich
kod281-20059
* Aus Anlaß der Neuauflage von KARL BÜHLER: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von FRIEDRICH KAINZ, Stuttgart, Gustav Fischer Verlag 1965, XXXIV, 434 Seiten. 54,- DM. - Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch. - Einige der hier geäußerten Überlegungen wurden mit KLAUS BAUMGÄRTNER (Stuttgart) und HELMUT SCHNELLE (Berlin) erörtert, denen ich herzlich danke. Karl Bühlers Grundprinzipien der Sprachtheorie * Dieter Wunderlich Kaum eine sprachwissenschaftliche Publikation von Rang erscheint, in der nicht K ARL B ÜHLER erwähnt wird: wenigstens in diesem Sinne ist sein Werk heute bereits klassisch. Am bekanntesten ist B ÜHLERS “Organonmodell der Sprache” geworden; seine anderen sprachtheoretischen Prinzipien und Entwürfe sind dagegen oft vergessen. Zu unrecht: zwar mag die linguistische und psychologische Forschung inzwischen einige Details überholt haben, B ÜHLERS Darlegung der grundlegenden Prinzipien, der “regulativen Forschungsideen, welche die … sprachwissenschaftlichen Induktionen leiten” (S. 12), ist heute wie damals instruktiv und kaum eleganter denkbar. Vor allem hat B ÜHLER gezeigt, daß jede Sprachbeschreibung immer zugleich den beobachteten Fakten wie auch allgemeinen Annahmen über die menschliche Sprache Rechnung tragen muß; sie muß empirisch und theoretisch orientiert sein, sie muß induktiv und deduktiv vorgehen. Damals war das kein selbstverständliches Postulat: die Sprachwissenschaftler arbeiteten meistens ohne jedes genauer begründete methodologische Konzept, entweder spekulierten sie auf vager psychologischer Basis oder sie klassifizierten rein taxonomisch. Als sich der empiristische Behaviorismus in den USA gerade erst zu entwickeln begann, formulierte Bühler schon Gedanken, die geeignet waren, ihn eher zu überwinden. Er forderte eine allgemeine Sematologie, von der aus der soziale und zeichenhafte Charakter der sprachlichen Gebilde deutlich zu machen war. Seine Grundprinzipien oder “Axiome”, wie er sie nannte, betreffen ganz allgemein Struktur und Funktion der sprachlichen Kommunikationen, die sich unter den Mitgliedern menschlicher Gemeinschaften abspielen. Mit diesen Axiomen müssen alle ins einzelne gehende Erklärungen menschlicher Sprache im Einklang stehen. In diesem Sinne nennt B ÜHLER seine Axiomatik deduktiv. Freilich sollen die Grundsätze nicht aus der Luft gegriffen oder nur einfach aufgerafft werden. B ÜHLER beruft sich in seinem Vorgehen auf R USSELL und H ILBERT , auf die Axiomatiker in der Mathematik und mathematischen Logik, wenn er sagt, der Theoretiker habe seine Grundsätze “aus dem Bestände der erfolgreichen Sprachforschung … durch Reduktion zu gewinnen” (S. 20). Die Bezeichnung “Axiom” und der Hinweis auf die Mathematik erscheinen heute etwas unangemessen. Jedenfalls wäre die Aufstellung eines axiomatischen Systems in der Linguistik verfrüht, solange nicht das Inventar an strukturellen Beziehungen und Mecha- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter Wunderlich 60 nismen und an sog. substantiellen Universalien, die den Grammatiken zugrundeliegen, näher bekannt ist. B ÜHLER selbst strebt auch nirgends Formalisierung an, auf deren Boden erst strenge Axiomatik sinnvoll und nützlich sein könnte, er präsentiert die “Axiome” in lockerer verbaler und anschaulicher Form. B ÜHLERS Bücher und Abhandlungen sind Musterbeispiele einer überall begrifflich klaren und lebendigen wissenschaftlichen Prosa. K ARL B ÜHLER (1879-1963) war linguistischer Außenseiter. Er hatte zunächst Medizin und anschließend Psychologie studiert und kam 1906 zur Würzburger Psychologenschule um O SWALD K ÜLPE . In jene Jahre fallen seine Auseinandersetzungen mit W UNDT , gegen dessen Assoziationismus und Psychologismus er sich wandte (1907 und 1908 im A RCHIV FÜR P SYCHOLOGIE ). Später, nach 1922, hatte Bühler seine fruchtbarsten Jahre als Lehrer in Wien, bis er 1938 über Oslo in die USA emigrieren mußte. Dort blieb er auch nach dem Krieg, ohne jedoch eine ihm angemessene Lehrposition zu finden. Enttäuscht von der vorherrschenden behavioristischen Psychologie trat er wissenschaftlich nicht mehr hervor. Seine Frau, C HARLOTTE B ÜHLER , konnte allerdings in Los Angeles eine sehr erfolgreiche psychologische und therapeutische Beratungspraxis betreiben, er selbst lehrte dort noch vorübergehend klinische Psychologie. Neben Problemen der Denk-, Wahrnehmungs- und Entwicklungspsychologie galt Bühlers Interesse von Anfang an auch sprachtheoretischen Fragen, zuerst mehr entwicklungsgeschichtlichen Themen (Aphasie, Kindersprache, Tiersprache), später der allgemeinen Axiomatik der Sprachtheorie. Seine erste größere Arbeit war die “Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes” 1 , in der bereits - in Auseinandersetzung mit H USSERL - das Organonmodell und die aus ihm abgeleiteten drei Sprachfunktionen konzipiert wurden. “Dreifach ist die Leistung der menschlichen Sprache: Kundgabe, Auslösung und Darstellung”, lautet der erste Satz des genannten Aufsatzes. Seitdem äußerte sich Bühler mehrfach, auf Kongressen, in Abhandlungen und Rezensionen. Intensiviert wurden seine Bemühungen im engen Kontakt mit T RUBETZKOY , der als Slavist in Wien wirkte und der Bühler auch mit dem Cercle Linguistique de Prague zusammenbrachte. Trubetzkoys wichtigste Entdeckungen 2 fielen eben in die Zeit, als auch Bühler seine fruchtbaren Modellvorstellungen entwickelte, die dann zusammengefaßt und vorläufig abgeschlossen wurden in der 1934 erschienenen “Sprachtheorie”. Vorangegangen war “Die Krise der Psychologie” 3 , die den für Bühler bestehenden Zusammenhang von psychologischen und kommunikationstheoretischen Fragestellungen besonders deutlich macht. In ihr werden Probleme der Erlebnis-, Ausdrucks- und Verhaltenspsychologie an Hand der Zeichenhaftigkeit und der sozial begründeten Semantizität der Sprache erörtert 4 . Bühlers “Axiomatik der Sprachwissenschaften” umfaßt 4 Grundprinzipien 5 : 1. Sprache ist ein mehrseitig verwendbares Kommunikationsgerät; das wird gezeigt im Organonmodell (Schema der Sprachfunktionen). 2. Sprache ist ein System von Zeichen. Die Zeichen sind durch das Prinzip der abstraktiven Relevanz definierbar (Schlüsselsatz von der Zeichennatur der Sprache). 3. Sprache ist unter vier Aspekten zu betrachten; diese werden zusammengefaßt im Vierfelderschema von Handlung - Akt - Werk - Gebilde (Sprechhandlung und Sprachgebilde). 4. Sprache ist der Struktur nach ein System, das aus zwei einander zugeordneten Klassen von Gebilden besteht, mit anderen Worten: Sprache ist ein Symbol-Feld-System; dieses Prinzip wird von Bühler auch “das Dogma von Lexikon und Syntax” genannt (Strukturmodell der Sprache). Grundprinzipien der Sprachtheorie 61 1. Das Organonmodell der Sprache Die Sprachzeichen dienen als “Werkzeug”: einer teilt dem anderen etwas mit über “die Dinge”. In jedem Sprechereignis kommen also drei Elemente zusammen: Sprecher, Angesprochener (oder Hörer) und die Gegenstände oder Sachverhalte, über die gesprochen wird. Sie werden durch ein viertes Element, das ist eine Folge von Zeichen, miteinander in Beziehung gesetzt. Mithin haben diese Zeichen (entsprechend den drei Relaten) auch drei Hauptfunktionen: - sie sind Symptom, indem sie Gefühle, Meinungen, Absichten usw. des Sprechers ausdrücken (kundgeben); - sie sind Signal, indem sie an den Hörer appellieren (bestimmte Verhaltensweisen des Hörers auslösen oder steuern); - sie sind Symbol, indem sie die Gegenstände oder Sachverhalts darstellen. Diese Funktionen kommen normalerweise miteinander vor; also eine Schimpfrede ist nicht nur emotioneller Ausdruck (wenn dieser auch dominiert), sondern nennt auch etwas und appelliert an den Hörer, etwa sich zu bessern; und ein Befehl ist nicht nur Appell, sondern drückt auch eine Absicht des Sprechers aus und gibt an, was vom Hörer verlangt wird. Ausdruck und Auslösung kommen auch bei Tieren vor. Die wesentliche Leistung der menschlichen Sprache ist die Darstellung oder Repräsentation von Gegenständen, Sachverhalten usw., die nicht notwendig im Wahrnehmungsraum präsent sind. Das Verdienst Bühlers ist, nachdrücklich auf die wechselseitige Bezogenheit von Zeichengeber und Zeichenempfänger hingewiesen zu haben und damit auch den Boden für die spätere informationstheoretische und kybernetische Betrachtung des Kommunikationsprozesses bereitet zu haben. “Der Ursprung der Semantik [ist] nicht beim Individuum, sondern bei der Gemeinschaft zu suchen.” 6 Unabhängig von Bühler und praktisch gleichzeitig mit ihm entwickelte A. G ARDINER 7 ein Zeichenmodell, das dieselben Grundelemente enthält, allerdings zusätzlich die inneren Vorstellungen, Erlebnisse usw. von den äußeren Gegenständen, Sachverhalten, usw. differenziert. (Diese sind aber nicht unabhängig voneinander: die internen und nichtsprachlichen kognitiven Gegebenheiten sind im wesentlichen nur komplexe Derivate der Erfahrungen von außen, und sie existieren kaum isoliert von einer Sprache, d.h. sie können nur in dem Maße organisiert und erinnert werden, wie eine Sprache zur Verfügung steht, sie zu explizieren. Genau dies ist eine der z.B. von F RIEDRICH K AINZ hervorgehobenen monologischen Funktionen der Sprache. 8 ) Gardiner greift darin, daß er innere und äußere Gegebenheiten voneinander trennt, auf das Zeichenmodell von O GDEN und R ICHARDS 9 zurück. Es enthielt die zum Dreieck angeordneten Elemente Symbol (Zeichen), Thought or Reference (Gedanke) und Referent (äußerer Gegenstand); seine entscheidende Schwäche war, den Hörer zu vernachlässigen und damit die soziale und dialogische Funktion der Sprache zu ignorieren. Eine Korrektur am Organonmodell deutet F RIEDRICH K AINZ in seinem Vorwort zur Neuauflage der “Sprachtheorie” an 10 : 1. Kainz sieht die Darstellung nicht als eine Funktion der Sprache unter anderen, sondern als ihr konstitutives Wesensmoment. 2. Er ist der Auffassung, daß sich die Sprachzeichen nicht direkt auf Wirklichkeit beziehen, sondern nur auf Bilder, die sich die Sprecher von ihr machen. Dieter Wunderlich 62 3. Er will neben die drei Elementarfunktionen eine vierte, nämlich die Frage, stellen. Er nennt die vier Funktionen kurz I-Funktionen: interjektiv (auf die Erlebnisse des Sprechers bezogen), imperativ (das Verhalten des Hörers steuernd), informativ-indikativ (den Sachverhalt darstellend), interrogativ (“auf Sprecher, Hörer und Sachverhalte gleicherweise bezogene Frage”). Bühler würde wohl nur den ersten Einwand gelten lassen. Er begegnet ihm dadurch, daß er von der “Dominanz der Darstellungsfunktion” spricht, was bedeutet, daß sie praktisch in jeder sprachlichen Äußerung irreduzibel enthalten ist, etwa in dem Sinn, daß jede Äußerung als Satz in einem logischen Aussagesystem repräsentiert werden könnte. Aber in der Aussagenlogik gibt es keine Sprecher und Hörer, und “Satz” steht dort auf einer ganz anderen Abstraktheitsstufe als “Äußerung”. Wenn daher ein bestimmter Sprecher in einer bestimmten Situation ein logisches Theorem äußert, etwa “Wenn jeder A ein B und wenn dieser C ein A ist, so ist dieser C ein B”, dann hat dieser Satz zunächst nur die Merkmale einer Äußerung, insbesondere hat er die Funktion, dem Hörer einen logischen Zusammenhang darzustellen (ohne daß dieser ihn auch akzeptieren muß). Er gibt aber auch etwas kund, nämlich - wenn er in dieser Form geäußert wird - daß der Sprecher seinen Inhalt akzeptiert. Er mag sogar ein Verhalten steuern, etwa wenn dem Hörer das ausgesprochene Theorem neu war und er es jetzt zur Grundlage seiner logischen Schlußweisen macht. Man sollte gut unterscheiden zwischen der darstellenden Funktion einer konkreten Äußerung und der im logischen Sinne repräsentierenden Funktion, die eine Äußerung dann bekommen kann, wenn man von ihr alle konkreten situativen Umstände, insbesondere die Personen des Sprechers und Hörers, abstrahiert. Bühlers sprachliche Funktionen sind eher Funktionen von Äußerungen in der parole. Erst nach hinlänglicher Abstraktion erhält man aus Äußerungen die Sätze auf der Ebene der langue. In der langue kommen möglicherweise Sätze vor, die tatsächlich gar nichts kundgeben, sondern nur darstellen. An einem kleinen Beispiel kann man sich leicht klarmachen, daß Äußerungen ganz andere Funktionen haben können, als die zugrundeliegenden im logischen Sinne genommenen Sätze. Der Satz “Entweder du kommst oder du kommst nicht” ist logisch gesehen eine Tautologie. Da aber in den meisten Situationen das Aussprechen von Tautologien wenig Sinn hat, kann eine entsprechende Äußerung je nach Fall (Betonung, Kontext usw.) auch andere Bedeutungen haben: 1. das Urteil einer Indifferenz kundgeben; 2. zur Entscheidung auffordern; 3. zur Beantwortung einer Alternativfrage auffordern. Der zweite Einwand von K AINZ ist nicht falsch; nur macht er es sich zu leicht. Er vergißt, daß eine Verständigung nur über innere Bilder aussichtslos wäre. Man muß schon konzedieren, daß in gleicher äußerer Umgebung irgendwie ähnliche Bilder zustandekommen; und daß das tatsächlich so ist, dafür sorgt meines Erachtens die ständige Rückkopplung zwischen den Bildern und den Erfahrungen und Erfolgen, die man mit ihnen macht: sie bewirkt sogar weitgehende Standardisierung der Wahrnehmungen innerhalb einer Gemeinschaft. “Die Konstruktion einer fensterlosen Monade ist groß und imponierend; es bleibt nur die Frage, ob in der ganzen Geschichte des abendländischen Denkens ein Monadologe ohne das Wunder der prästabilierten Harmonie je wieder auf den Plan der Soziabilität herausgetreten ist.” 11 Die Problematik der Deixis und der Demonstrativa ist mit der Bühlerschen Auffassung sicher einfacher zu bewältigen (und Bühler kennt ja auch eine Deixis am Phantasma, an inneren Bildern sozusagen, während gemäß Kainz jede Deixis am Phantasma erfolgen müßte). Grundprinzipien der Sprachtheorie 63 Der dritte Einwand bringt die illustrative Deutlichkeit im Bühlerschen Modell zum Verschwinden (den drei Relaten sollten genau drei Funktionen korrespondieren), womit das Modell im Grunde überflüssig wäre. Die Frage ist bei Bühler - und mir scheint das konsequent gedacht - eine Unterkategorie des Appells; sie ist ein Appell, der eine verbale Response verlangt. Übrigens läßt sich ein Fragesatz leicht durch einen Imperativsatz paraphrasieren bzw. dominieren (“Wohin gehst du? ” “Beantworte mir bitte, wohin du gehst! ”), während das Umgekehrte Schwierigkeiten zu bereiten scheint, wenn die Entschiedenheit des Imperativs gewahrt werden soll (“Schließe das Fenster! ” “Schließt du das Fenster? ” oder “Würdest du das Fenster schließen? ”). Bei dieser Gelegenheit muß aber vor der Annahme gewarnt werden, die Funktion einer Äußerung sei mit dem grammatischen Modus des Satzes identisch. Man kann jede Frage und jeden Imperativ auch in Aussagesätzen formulieren (“Ich frage dich, wohin du gehst” und “Ich verlange von dir, das Fenster zu schließen” oder “Du sollst das Fenster schließen”.) Das Organonmodell wurde auch sonst häufig mißverstanden, indem z.B. die drei sprachlichen Funktionen auf “Denkdimensionen” oder “seelische Grundphänomene” reduziert wurden. Damit war wieder eine monologische Ausgangssituation geschaffen, und man konnte dann die drei sprachlichen Funktionen mit der Trinität von Fühlen, Wollen, Erkennen identifizieren. Der Nachweis weiterer “Denkdimensionen” brachte das derart fehlgedeutete Organonmodell leicht zu Fall 12 . Für bedeutender halte ich eine Erweiterung des Organonmodells, die in dieser Form meines Wissens von R OMAN J AKOBSON stammt 13 . Jakobson sieht bei der verbalen Kommunikation sechs Faktoren wirksam: “The ADDRESSER sends a MESSAGE to the ADDRESSEE. To be operative the message requires a CONTEXT referred to (>referent< in another, somewhat ambiguous, nomenclature), seizable by the addressee, and either verbal or capable of being verbalized; a CODE fully, or at least partially, common to the addresser and addressee (or in other words, to the encoder and decoder of the message); and, finally, a CONTACT, a physical channel and psychological connection between the addresser and the addressee, enabling both of them to enter and stay in communication.” 14 Dementsprechend unterscheidet Jakobson auch sechs sprachliche Funktionen: emotive (oder expressive; sprecherbezogen), conative (hörerbezogen), referential (oder denotative, cognitive; kontextbezogen), phatic 15 (kanalbezogen), metalingual (oder glossing; kodebezogen), poetic (auf Form und Anordnung der Nachricht bezogen). Gegenüber B ÜHLER wird damit präzisiert, 1. daß zwischen Sprecher und Hörer ein sie verbindender Zeichenkanal oder Kontakt konstituiert werden muß, 2. daß die verwendeten Zeichen aus einem von mehreren möglichen Systemen (Kodes) ausgewählt werden müssen, und daß es unter den Zeichen solche gibt, die sich auf andere Zeichen desselben Systems oder auf Zeichen anderer Systeme beziehen (durch Relationen der Äquivalenz, Synonymität, Antonymität usw.), und 3. daß die ausgewählten Zeichen (die die Bedeutung konstituieren) noch auf verschiedene Arten kombiniert werden können. J AKOBSON illustriert die poetische Funktion, die auf der Anordnung innerhalb der Zeichensequenz beruht, durch folgenden kleinen Dialog: “‘Why do you always say Joan and Margery, yet never Margery and Joan? Do you prefer Joan to her twin sister? ’ - ‘Not at all, it just sounds smoother.’” 16 Die Phänomene “Stil” und “Poetizität” der Sprache hat B ÜHLER wahrscheinlich bewußt ausgeklammert. Die beiden anderen neuen Funktionen (den Bezug auf Zeichenkanal und Dieter Wunderlich 64 -kode) hat er gewiß übersehen. Der Grund ist wohl, daß der Kanal und ebenso der Kode von einer Anzahl außersprachlicher Faktoren signalisiert werden können und deshalb meistens als stillschweigend gegeben anzusehen sind. Im allgemeinen ist nämlich dem Hörer schon vor Kommunikationsbeginn bekannt, in welcher Sprache er sich verständigen, welche Rolle oder Einstellung er bei der Kommunikation annehmen wird, welcher Kanaltyp in Frage kommt: ob es sich um einen Roman oder Zeitungsartikel handelt, um einen Vortrag, eine Gedichtrezitation oder um die Diskussion mit einem Kollegen. Dieselben Momente werden trotzdem oft auch verbal vermittelt, besonders wenn innerhalb einer Situation auf einen anderen Kanal umgeschaltet werden soll, durch Wendungen der Art “stelle dir vor” (Beginn der Fiktion), “hiermit stelle ich zur Diskussion” (Beginn des Dialogs), “mir ist gestern folgendes passiert” (Beginn der Erzählung), “ich verlange folgendes von dir” (Beginn des Appells). Um sinnvoll eine Linguistik der Texte zu begründen, wird man vermutlich von solchen pragmatischen Faktoren der Einstellung zu einem Text und der Herstellung einer geeigneten Einstellung ausgehen müssen. Doch sind das Probleme, die den Linguisten eben erst als Probleme bewußt werden. 2. Das Prinzip der abstraktiven Relevanz 17 Mit welcher Berechtigung, fragt Bühler, können Symbol, Symptom, Signal zum Oberbegriff Zeichen zusammengefaßt werden? Was ist das Charakteristikum eines Zeichens? Es ist ein konkretes Etwas, das ein anderes Etwas (das selbst zwar konkret sein kann - man denke an die Eigennamen, die konkrete Einzeldinge benennen - aber nicht muß) in bestimmten Situationen ersetzt oder vertritt. Dies Konkrete, das etwas anderes vertritt, fungiert freilich nicht in der Gesamtheit seiner sinnlich wahrnehmbaren Materialeigenschaften als Zeichen. Diakritisch wirksam, d.h. für Bedeutungsunterscheidungen relevant, sind immer nur wenige (zumindest nur abzählbar viele) diskrete Merkmale einer sinnlich wahrgenommenen Mannigfaltigkeit. Nur wenn sich solche Erkennungsmale von einem verstehenden Wesen auch abstrahieren lassen, kann es sich um Zeichen handeln; und um festzustellen, ob etwas Zeichen ist, braucht man schon ein “psychophysisches System” nach Art des Menschen. Die abstraktive Relevanz ist also für die Zeichenhaftigkeit von Gebilden konstitutiv; und umgekehrt besteht die Relevanz nur in bezug auf menschliche Wesen. Bühler erläutert das Prinzip am Unterschied von Phonetik und Phonologie: aus der kontinuierlichen Mannigfaltigkeit von Klängen und Geräuschen, die der menschliche Stimmapparat zu erzeugen imstande ist (und die die Phonetik studiert), werden nur etwa 40 bedeutungsrelevante Merkmale, die Phoneme, ausgeprägt (die von der Phonologie untersucht werden). Alles andere ist für das Verständnis ohne Belang, es dient allenfalls sekundär als Anzeichen für Geschlecht, Alter usw. der redenden Person; diese Anzeichen sind individuell verschieden, und sie sind nur selten frei aus einem Repertoire gewählt. 3. Das Vierfelderschema Man kann nicht schlechthin von “Sprache” sprechen. Man muß jeweils präzisieren, ob man damit etwas energetisch-dynamisches oder etwas statisches, ein einzelnes Ereignis (oder eine Menge solcher Ereignisse) oder eine im Menschen angelegte Fähigkeit meint. H UMBOLDT hob den ersten Gegensatz durch das Begriffspaar energeia-ergon hervor, DE S AUSSURE den Grundprinzipien der Sprachtheorie 65 zweiten Gegensatz durch die Begriffe parole-langue (-langage). Beide Gesichtspunkte werden von Bühler zu einem Begriffsschema verschmolzen, das eine Überkreuzung der Oppositionen erkennen lassen soll: Handlung Akt Werk Gebilde 1. Sprechhandlung und -akt sind auf das Hervorbringen von Sprache bezogen. Sprachwerk und -gebilde sind auf das Produkt von Sprechen bezogen. 2. Sprechhandlung und Sprachwerk sind Begriffe niederer (individuumbezogener), Sprechakt und Sprachgebilde sind Begriffe höherer (gesellschaftbezogener) Abstraktionsstufe. Problematisch ist es, für den (von H USSERL übernommenen) Begriff des sinnverleihenden Akts als Träger irgendein transzendentales Ich anzunehmen (S. 67). Man kann freilich unter Akt auch die Kompetenz im Sinne C HOMSKYS verstehen, also die dem Sprecher eigenen operationellen Verfahren, solche Formen von Sprache hervorzubringen und zu verstehen, die durch die lange gesellschaftliche Praxis standardisiert, mit anderen Worten: grammatikalisch sind. Bei der obigen Unterscheidung von Äußerung und Satz war mit Äußerung etwas in einer konkreten Sprechhandlung Hervorgebrachtes gemeint, mit Satz ein Teil eines Sprachgebildes. Die Sprechhandlung umfaßt für Bühler nicht bloß die Performanz oder Aktualisierung von Sprache im engern Sinn. Zu einer vollständigen Klassifizierung der Sprechhandlungen gehört auch eine Bestimmung der jeweiligen Umfelder (d.h. der “Kontexte”). Bühler unterscheidet hier zwischen sympraktischen, symphysischen und synsemantischen Umfeldern (S. 154ff). Die ersten sind durch eine Situation gegeben. Sie machen es möglich, daß einzeln geäußerte Wörter oder Satzteile wie “geradeaus” (beim Lösen einer Buskarte), “ein Helles” (in der Gastwirtschaft) voll verstanden werden können - eben weil die Äußerungen nur Teil einer Gesamtsituation sind. Die zweiten sind solche Gegenstände, denen ihre Namen oder bestimmte Beziehungen, die für sie gelten (Namen des Herstellers, Grabinschriften usw.) direkt oder mittelbar (z.B. über Wegweiser) angeheftet sind. Synsemantisch schließlich sind erstens alle verbalen Kontexte, und zweitens auch die begleitenden Zeichen anderer Art, wie Bilder, Mimik und Gesten, Musik usw. 4. Das Zweiklassensystem Ein Flaggenkode hat nichts, was der Syntax einer Sprache entspricht: jede festgesetzte Aufeinanderfolge von Flaggen signalisiert eine globale Nachricht, und diese ist im Kodebuch (also dem Lexikon) verzeichnet, aber die einzelnen Flaggen signalisieren selbst nichts; eine Zusammensetzung von einfachen zu komplexeren Nachrichten gibt es also nicht. Von solchen einklassigen Kodes unterscheidet Bühler die Sprache: sie enthält erstens eine Anzahl Lexikoneinheiten, also Symbole, die jedes für sich etwas bezeichnen, und z.B. in sympraktischen Umgebungen auch in isolierter Form erfolgreich verwendet werden können, und zweitens die Möglichkeit, diese Einheiten schrittweise zu Satzteilen oder Sätzen zu kombinieren, damit neue Nachrichten zustandekommen. Von den Axiomen Bühlers ist dieses, daß Dieter Wunderlich 66 eine Sprache derart immer mit Inventar und Synthese arbeitet, mit Wörtern und Sätzen, mit lexikalischen Bedeutungen und Beziehungsbedeutungen, mit anderen Worten: daß die menschlichen Sprachen Feldsysteme sind, vielleicht am wenigsten neu. Wichtiger aber und vor Bühler kaum so deutlich gemacht ist die Überlegung, daß nur die zweiklassigen Systeme die Möglichkeit unbegrenzter Produktivität bieten: nämlich “mit einem beschränkten Schatz von Konventionen und dementsprechend von Sprachgebilden unbeschränkt Mannigfaltiges hinreichend differenziert und exakt zur Darstellung [zu] bringen” (S. 76). Eine Anhäufung immer neuer und isolierter Einzelzuordnungen würde sehr schnell die Kapazität des menschlichen Gedächtnisses sprengen. “Die Sprache aber hat das Problem dieser Erweiterungen mit einigem, was wir in ihr finden, gelöst und im entscheidenden Punkte kurz herausgesagt umgangen, d.h. aus der Welt geschafft. Denn wir alle können nicht darum praktisch ins Unabsehbare Neues und immer wieder Neues intersubjektiv verständlich sprachlich zur Darstellung bringen, weil wir und die anderen Akrobaten der Mnemotechnik wären, sondern weil dies bei einem Feldsystem vom Typus der Sprache gar nicht verlangt wird. Wir können auch Zahlen ins Unbegrenzte mit nur zehn Elementarzeichen und einer sehr einfachen, konventionell festgelegten >Syntax< symbolisieren.” (S. 77) Eine präzise Darstellung dieser Produktivität der Sprache ist erst innerhalb der generativen Grammatik gelungen, nachdem man über einen genauen Begriff des effektiv Berechenbaren oder rekursiv Aufzählbaren verfügen konnte, der in den 30er und 40er Jahren ausgearbeitet wurde. Außer der strukturellen Gliederung der Sprachen in Lexikon und Syntax ist noch eine weitere Schichtung hervorzuheben, die “double articulation” im Sinne M ARTINETS 18 : jede Sprache verfügt über eine phonemische und eine morphemische Ebene. Bühler gibt nirgends einen Hinweis darauf, ob die vier aufgezählten “axiomatischen Leitsätze” seiner Meinung nach ein vollständiges “Axiomensystem” bilden; jedenfalls sind bei ihm die genannten vier Axiome notwendige und unentbehrliche; es kann aber weitere geben. Nach dem einleitend Gesagten ist die Aufstellung eines linguistischen Axiomensystems im strengen Sinne heute sowohl verfrüht wie auch nicht wünschenswert (nicht wünschenswert, weil gar nicht abzusehen ist, welche Relationen für eine möglichst umfassende Sprachbeschreibung im einzelnen benötigt werden) - deshalb erübrigt sich die Frage nach der Vollständigkeit des Axiomensystems. Dennoch liegt der Gedanke nahe, weitere allgemeine Merkmale zu suchen, die im Prinzip allen Sprachen zukommen. E RWIN K OSCHMIEDER , der in vielem auf der Grundlage Bühlers fortfährt, schlug vor, das Bühlersche System durch ein Axiom der Dreidimensionalität zu ergänzen 19 : jede Sprache verfügt über 1. eine logische Dimension der Nennung (in den Eigennamen und Allgemeinnamen), 2. eine ontologische Dimension der Verzeitung (indem das Genannte in Beziehung gesetzt wird zu Raum und Zeit; erst dadurch entsteht das, was man Sachverhalt nennt), 3. eine psychologische Dimension der Leistungsdirektive (sie umfaßt die möglichen noetischen Akte, die sich auf die Sachverhalte beziehen - wie Freude, Ärger, Unbehagen, Wunsch, Mitteilung, Frage, Befehl, Verbot, Behauptung, Verneinung; Koschmieders noetische Akte lassen sich ohne Schwierigkeit zusammenfassen zu den drei Bühlerschen Kategorien Ausdruck, Appell und Darstellung). Im folgenden werden noch zwei weitere Prinzipien aufgeführt, die Bühler nicht ausdrücklich “Axiome” genannt hat, die aber ähnlich allgemein gelten sollen. Grundprinzipien der Sprachtheorie 67 Die Zweifelderlehre Zunächst vielleicht aus sprachgenetischen Überlegungen, später dann in der systematischen Untersuchung von Sprechhandlungen unterscheidet Bühler zwei Klassen von Konstruktions- oder Verständnishilfen in der Sprache, um den Einzelzeichen die von Fall zu Fall gewünschte “Bedeutungserfüllung und Bedeutungspräzision” (S. 80) zu geben: es sind dies das Zeigfeld und das Symbolfeld, oder der situationelle und der sprachliche Kontext. Erst innerhalb eines solchen Feldes entfalten die Zeichen ihren Feldwert und wird erst eine brauchbare Darstellung möglich. Völlig zu Recht setzt Bühler dabei an den Anfang seiner Untersuchung die referenzsemantischen Probleme der Deixis. Diese Abschnitte gehören zu den wichtigsten und heute noch gültigen Kapiteln seines Buches. Sie enthalten Überlegungen, die selten vorher angestellt wurden (Bühler konnte sich nur auf eine - im wesentlichen jedoch historisch ausgerichtete - Arbeit von K ARL B RUGMANN 20 stützen) und auch seitdem kaum Fortsetzung gefunden haben (zu nennen sind nur die Arbeiten des Kieler Romanisten K LAUS H EGER 21 ). Der Grund dürfte in folgendem zu suchen sein. In der Logik macht es große Schwierigkeiten, Sätze wie “ich habe Hunger” darzustellen, deren Wahrheitswert nicht ein für allemal feststeht, sondern davon abhängt, wer einen solchen Satz äußert und zu welcher Zeit. Man hat deswegen derartige Sätze entweder überhaupt nicht betrachtet, oder man hat versucht, sie auf Sätze mit festem Wahrheitswert zurückzuführen. (“Ich habe Hunger” enthält eine personale Deixis. Ganz vom selben Typ sind Sätze mit lokaler oder temporaler Deixis: “da ist das Buch”; “gestern hat es geregnet”.) Erst in jüngster Zeit hat man versucht, Äußerungen mit deiktischen Elementen (oder indexical expressions, mit einem Terminus von P EIRCE ) durch geordnete Paare aus Satz und außerverbalem Kontext zu repräsentieren, wobei die Kontexte in angemessener Weise beschrieben werden müssen (z.B. “derjenige, der den Satz äußert”, “derjenige, der angesprochen wird” usw.) 22 . Zurück zu Bühlers Behandlung der Deixis. Drei Modi des Zeigens sind bei ihm möglich (sie stammen genetisch alle vom ersten ab): die demonstratio ad oculos (durch Demonstrativa, Personalia usw. oder durch direkt hinweisende Gesten wird auf etwas verwiesen, das im gemeinsamen Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer anwesend ist), die Deixis am Phantasma (die Orientierung erfolgt nicht mehr ad oculos, sondern durch Vermittlung des Gedächtnisses, im Raum der Erinnerungen oder der konstruktiven Phantasie - jede Erzählung, jede Fiktion bedient sich deiktischer Wörter, die nicht in einem konkreten äußeren, sondern in einem aufgrund von Erfahrung möglichen inneren Raum operieren) und die Anaphora (sie verknüpft Zeig- und Symbolfeld, indem sie an Vorerwähntes anknüpft, d.h. auf sprachlichen Kontext hinweist). Jedes Zeigen bedarf eines Fixpunktes, von dem aus es erfolgt, bzw. auf den es sich bezieht, d.h. Zeigen ist eine zweistellige Relation. Dieser Fixpunkt, oder die origo (der Ursprung) des jeweiligen Zeigfeldes wird vom Sprecher beim jeweiligen Sprechereignis entweder neu markiert oder indirekt gesetzt durch die Tatsache, daß er an einem Ort und zu einer Zeit etwas äußert (die hier-jetzt-ich-origo). Das Koordinatensystem des Hörers ist ein anderes als das des Sprechers (deswegen bezeichnen ich, du auch nur die wechselnden Sprecher-Hörer-Rollen der Gesprächspartner, und sind nicht Namen) - aber jeder Sprecher beherrscht diesen Koordinaten- oder origo-Wechsel im Gespräch mit Leichtigkeit (nur Kinder haben zuerst Schwierigkeiten). Aus der Tatsache, daß jede Deixis eine zweistellige Relation ist, ergibt sich eine wichtige Folgerung für die theoretische Behandlung (die Bühler so noch nicht zieht): beide Relate, Dieter Wunderlich 68 sowohl die origo, wie das, worauf verwiesen wird, müssen als geordnetes Paar zusammengenannt werden. So ist ich als Relation <Sprecher, Sprecher>, du als Relation <Sprecher, Angesprochener>, wir als Relation <Sprecher, Sprecher und weitere Personen> usw. zu beschreiben. Entsprechend die lokalen Adverbien hier, dort usw., die Zeitadverbien jetzt, neulich, demnächst usw. - während bei hierher, dorthin zur zweistelligen Deixis noch der bewegte Ort, bei seitdem noch die ablaufende Zeit als drittes Relat dazukommt. (neulich meint ein Zeitintervall, das eine gewisse Zeitspanne vor der Äußerung liegt, seitdem meint aber die gesamte Zeitdauer zwischen einem genannten Ereignis, das vergangen ist, und der Zeit der Äußerung.) Speziell für die zeitliche Positionierung haben die Sprachen neben Zeitadverbien und -konjunktionen noch das System der Tempora entwickelt. Auch sie gehören zum Zeigfeld und lassen sich relational beschreiben, z.B. das normale Präteritum als spezielle Vorgängerrelation zwischen der Zeit, während der sich der ausgesagte Sachverhalt ereignet hat, und der Zeit des Sprechereignisses 23 . Das Doppelfiltermodell Bühler hatte für dogmatisch verfochtene wissenschaftliche Ansichten immer nur wenig Verständnis. Er lehnte W UNDTS Psychologismus als eine Spielart des Naturalismus ab, aber ebenso die Auffassungen der orthodoxen Gestaltpsychologie (besonders der Berliner Schule). Trotzdem betonte er zeitlebens einige der mehr liberalen Grundsätze der Gestaltpsychologie; er verlangte nur, ihnen eine begründete Form zu geben. Aus solchen Überlegungen entsprang sein Organonmodell der Sprache, das das Sprechereignis als Ganzheit zu verstehen suchte. Bühler stand darum gleichzeitig auch im Gegensatz zum Behaviorismus. Er betonte, daß man das Kommunikationsmodell nicht auf Sprecheraktionen und Hörerreaktionen einschränken darf, vielmehr als integralen Bestandteil die kognitive Natur des Zeichens gelten lassen muß: auf Zeichen wird nicht nur äußerlich oder durch Produktion anderer Zeichen reagiert, Zeichen werden verstanden. Man muß “aus all dem, was man an Verhaltensweisen der Tiere und der Menschen mit den Sinnen wahrnehmen kann, die ›sinnvollen‹ auswählen, an denen allein das Interesse des Psychologen haftet” 24 . Deswegen kommen als Detektoren auch nur verstehende Wesen infrage, keine mehr oder minder mechanisch registrierenden Verfahren. Hier soll noch ein letztes Konzept Bühlers erwähnt werden, in dem seine gestaltpsychologische Grundeinstellung augenscheinlich wird: Bühler meint, daß sich dem Ehrenfelskriterium der Übersummativität bei Gestaltwahrnehmungen (E HRENFELS 1890, “Das Ganze ist mehr als die Addition seiner Teile”) ein weiteres, das der Untersummativität der Bedeutungsgefüge zur Seite stellen läßt, und daß sie gemeinsam fruchtbar werden können in einer semantischen Untersuchung des Kompositums und der Metapher 25 . Er formuliert das in dem Modellgedanken vom Doppelfilter oder der wechselseitigen Selektion (S. 348, S. 350). In beiden Fällen - im Kompositum und in der Metapher - kommen je zwei Komponenten zusammen, die im Gefüge einander modifizieren: einerseits fügen sie dem Partner Bedeutungen zu, andererseits löschen sie welche aus. Im Salonlöwen wird zum Salon die Sphäre des Löwen addiert, jedoch einige Eigenschaften des Wüstenbewohners, etwa seine Blutgier, werden “abgedeckt” bzw. subtrahiert. Diese Erklärung ist sicher in mancher Hinsicht problematisch, wenn sie nicht nur vage den Verstehensprozeß, sondern tatsächlich grammatisch-semantische Prozesse meint. Ohne Zweifel können sich die Komponenten einer Metapher, eines Kompositums, einer syntaktischen Verbindung wechselseitig beeinflussen, d.h. die beobachtbaren Kontextaktivitäten Grundprinzipien der Sprachtheorie 69 gehen selten nur von einer Seite aus, meistens von beiden. Die beschriebene Untersummativität ist aber ebensogut als Bildung einer Durchschnittsmenge oder eines tertium comparationis anzusehen; das Vorliegen einer Übersummativität bleibt bloße Behauptung: werden tatsächlich zum Salon neue Merkmale des Löwen addiert, die nicht schon potentielle Merkmale des Salons sind, wenn doch gleichzeitig alle nicht angemessenen Eigenschaften des Löwen “abgedeckt” werden? Man wird im Gegensatz zu dieser ganzheitlichen Auffassung von Bedeutungen (wenn man sie nicht syntaktisch begründen, d.h. Komposita auf zugrundeliegende Sätze zurückführen will 26 ) doch wahrscheinlich sehen müssen, wie weit man mit einer kombinatorischen Semantik kommt (bei der die Bedeutung von Gefügen aus der Bedeutung ihrer Elemente hergeleitet wird). Ob und wieweit sie sich durchsetzen wird, wo ihre Grenzen sind, ist heute nicht zu beantworten. Anmerkungen 1 INDOGERMANISCHES JAHRBUCH 6 (1918) S. 1-20. 2 TRUBETZKOY, Zur allgemeinen Theorie der phonologischen Vokalsysteme, TRAVAUX DU CERCLE LINGUISTIQUE DE PRAGUE 1 (1929) S. 39-67. 3 Jena 1927. 4 Zum Problem der Semantizität siehe z.B. GEROLD UNGEHEUER, Die kybernetische Grundlage der Sprachtheorie von Karl Bühler. In: TO HONOR ROMAN JAKOBSON. ESSAYS ON THE OCCASION OF HIS SEVENTIETH BIRTHDAY. The Hague, Paris 1967. S. 2067-2086 (in diesem Band). 5 In Klammern stehen die Termini aus dem gleichnamigen Aufsatz in den KANTSTUDIEN 38 (1933) S. 19-90. 6 KARL BÜHLER, Die Krise der Psychologie, Jena 1927, S. 38. 7 A. GARDINER, The theory of speech and language, Oxford 1932. 8 FRIEDRICH KAINZ, Psychologie der Sprache, Band I. Stuttgart 3 1962, S. 185ff. 9 C.K. OGDEN, I.A. RICHARDS, The Meaning of Meaning. London 1923. 10 Ebenso in Band 5, 1 seiner Psychologie der Sprache, Stuttgart 1965, z.B. S. 3 - unter Berufung auf G. RÉVÉSZ. Im 1. Band seines Werkes (1. Aufl. 1941) hatte KAINZ noch BÜHLERS Dreigliederung gutgeheißen. 11 KARL BÜHLER, Das Strukturmodell der Sprache. TRAVAUX DU CERCLE LINGUISTIQUE DE PRAGUE 6 (1936) S. 3-12, S. 4. - BÜHLER diskutiert diese Fragen auch im Zusammenhang mit MILL und HUSSERL in Sprachtheorie, S. 225ff. - Hinsichtlich des Streits zwischen der transzendentalen und der naturalistischen Auffassung des Kommunikationsprozesses verweise ich auch auf die Darlegung von ADAM SCHAFF, Einführung in die Semantik, Berlin 1966, S. 118-126. 12 So ist das Vorgehen von MORITZ REGULA, Grundlegung und Grundprobleme der Syntax, Heidelberg 1951, S. 20-23. 13 ROMAN JAKOBSON, Linguistics and Poetics. In: STYLE IN LANGUAGE, ed. THOMAS A. SEBEOK, MIT- Press 1960, Paperback Edition 1966, S. 350-377. Diese Erweiterung wurde wiederaufgenommen von THOMAS A. SEBEOK, The informational model of language: analog and digital coding in animal and human communication. In: NATURAL LANGUAGE AND THE COMPUTER, ed. PAUL L. GARVIN. New York 1963, S. 47-64. 14 s. Anm. 14, S. 353. 15 Dieser Terminus stammt von B. MALINOWSKl, The problem of meaning in primitive languages. In: C.K. OGDEN, I.A. RICHARDS, The Meaning of Meaning. New York, London 9 1953. S. 296-336. 16 s. Anm. 14, S. 356/ 357. 17 BÜHLER hat das Prinzip, angeregt durch TRUBETZKOY, zuerst in dem Aufsatz Phonetik und Phonologie, TRAVAUX DU CERCLE LINGUISTIQUE DE PRAGUE 4 (1931), S. 22-53, entwickelt. 18 ANDRE MARTINET, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, Stuttgart 1963, S. 21ff. 19 ERWIN KOSCHMIEDER, Die noetischen Grundlagen der Syntax. In: BEITRÄGE ZUR ALLGEMEINEN SYNTAX, Heidelberg 1965, S. 70-89. 20 KARL BRUGMANN: Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen (= ABH. DER SÄCHS. GES. DER WISS. 22, Bd. 6), Leipzig 1904. Dieter Wunderlich 70 21 KLAUS HEGER, Die Bezeichnung temporal-deiktischer Begriffskategorien im französischen und spanischen Konjugationssystem. (= BEIHEFT 104 der ZS. ROM. PHIL.) Tübingen 1963; Personale Deixis und grammatische Person. ZS. ROM. PHIL. 81 (1965) S. 76-97; Temporale Deixis und Vorgangsqualität (“Aspekt” und “Aktionsart”) ZS. ROM. PHIL. 83 (1967) S. 512-582. 22 YEHOSHUA BAR-HILLEL, Indexical Expressions. MIND 63 (1954) S. 359-379. RICHARD MONTAGUE, Pragmatics and Intensional logic. SOUTHERN CALIFORNIA LOGIC COLLOQUIUM, 6. Jan. 1967. 23 Dieser Ansatz liegt bereits einem Aufsatz von KLAUS BAUMGÄRTNER und mir über die Semantik des Tempussystems im Deutschen zugrunde, der demnächst in der Zs WIRKENDES WORT erscheinen soll. Er wurde inzwischen noch weitergeführt. - Von dieser relationalen Auffassung her ergibt sich auch die wesentliche Kritik an den Arbeiten HEGERS, s. Anm. 22, denen ich sonst in vielem zustimme, der aber mit semantischen Oppositionen arbeitet der Art: Sprecher/ Nicht-Sprecher; Nichtsprecher unterteilt in: Angesprochener/ Nicht- Angesprochener, usw. Damit lassen sich aber speziell im Personalsystem solche Ausdrücke wie wir zunächst nicht darstellen, wir = <Sprecher, (Sprecher und Angesprochener) oder (Sprecher und Angesprochener und andere Personen) oder (Sprecher und andere Personen, nicht der Angesprochene)>. Hierauf hat auch schon HENRY VERNAY hingewiesen, La système logique comme cadre d’une étude comparative de deux structures, LA LINGUISTIQUE 1967, Heft 1, S. 39-62. 24 KARL BÜHLER: Die Krise der Psychologie. Jena 1927, S. 46. 25 Einen Versuch zur Anwendung der beiden Kriterien macht HANS JÜRGEN HERINGER für Funktionsverbgefüge, in seinem Buch, Die Opposition von “kommen” und “bringen” als Funktionsverben. Untersuchungen zur grammatischen Wertigkeit und Aktionsart, Düsseldorf 1968, S. 51. 26 So geht zum Beispiel WOLFGANG MOTSCH vor: Aufgaben und Form der Analyse von Komposita mit zweinominalen Elementen. In: ed. M. BIERWISCH, K.E. HEIDOLPH, Recent developments in Linguistics, The Hague, Paris (demnächst).
