eJournals Kodikas/Code 28/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2005
281-2

Die Gestaltungswahrnehmungen

61
2005
Vittorio Benussi
kod281-20129
Die Gestaltwahrnehmungen Bemerkungen zu den gleichnamigen Untersuchungen K. B ÜHLERS , Bd. I. Vittorio Benussi I. Nach einigen Erwägungen allgemeinen Charakters zur Theorie des Gestalterfassens 1 wird von Bühler Lipps Theorie der Kräfteeinfühlung besonders und eingehender besprochen. Einerseits mit dem Hinweis auf die mechanischen Unmöglichkeiten, zu denen Lipps Auffassung notgedrungen führt, andererseits durch Vorführung einiger Beispiele, aus denen der zu große Erklärungswert der Lippschen Theorie, den schon Schumann hervorgehoben hatte, neuerdings herausgearbeitet wird; beides an der Hand sog. geometrisch-optischer Täuschungen. Bekanntlich scheinen in der gegebenen Umgebung a 1 a 2 b 1 b 2 einer scheinbaren, zu der von m 1 m 2 n 1 n 2 entgegengesetzten Krümmung verlagert zu sein. Nach den Gesetzen der Mechanik müßte hingegen zwischen a 1 a 2 und m 1 m 2 , zwischen b 1 b 2 und n 1 n 2 eine Ausgleichung stattfinden, denn “wo in aller Welt sollen wir im Bereich des mechanischen Geschehens erfahren haben, daß ein gerader Stab, von einer Kraft getroffen, die im Sinne der Durchbiegung einwirkt, sich kraft seiner Elastizität entgegengesetzt durchbiegt”? Zum zweiten Punkte hebt B. gleichfalls richtig folgendes Beispiel hervor: sekundäre Kräfte können nach L IPPS die primären nicht überwinden, wirken also sekundäre Kräfte einerseits auf eine Vertikale, welche infolge ihres Streckungsbestrebens länger erscheint, andererseits auf eine ihr objektiv gleiche Horizontale, welche sich einfühlungsmäßig zusammenzuziehen scheint und daher an Ausdehnung für den Beobachter einbüßen soll, so muß noch immer die Vertikale länger erscheinen als die Horizontale. Ergänzt man nun die Horizontale zu einer Müller-Lyerschen Figur des von mir sog. a-Typus (Nebenlinien nach außen gerichtet) die Vertikale aber umgekehrt zu einem e- Typus, dann erscheint diese kürzer als jene: die sekundären Kräfte haben also die primären überwunden; - außer man bezeichnet u.d.U. die Nebenlinien als die Träger der primären Kräfte, was eben wie die ganze Lippsche Deutung, willkürlich wäre. Es sei mir gestattet, auf einige eigene vor Jahren mitgeteilte, B. offenbar unbekannte Beispiele hinzuweisen, die gleichfalls gegen die Lippsche Auffassungsweise sprechen: 1. “Stellen die Nebenlinien etwa der e- und der a-Figur Kräfte, die nach einwärts bzw. auswärts streben, dar, so kann die Helligkeit dieser Nebenlinien für die Wirkung der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Vittorio Benussi 130 entsprechenden … Kraft … Vorstellungen keine Bedeutung haben; denn für die Assoziation (genauer “Einfühlung”) müßte die durch die Nebenlinien gegebene Gestalt, nicht aber deren Farbe maßgebend sein. Die Täuschung müßte daher bei zu- oder abnehmender Helligkeit konstant bleiben.” “Dies tritt aber nicht ein.” (“Zur Psychol. des Gestalterfassens” [1904] S. 218, 404 u. bes. 446.) 2. “Aus gleichen Täuschungswerten verschiedener e-Figuren (d.s. solche, bei denen die Mittellinie fehlt) müßte man im Sinne der Lippschen Theorie auf assoziierte Vorstellungen von gleichstarken Kräften zurückschließen. Setzt man nun dem Einfluß gleichstark wirkender Kräfte eine konstante Hauptlinie (d.i. diejenige, die die zwei Scheitelpunkte verbindet) aus, so müßte man auch hier wieder das gleiche Resultat erzielen. Ergeben eine graue und eine weiße e-Figur denselben Täuschungswert, so dürfte man bei e-Figuren, für graue Nebenlinien mit weißer Hauptlinie und für weiße Nebenlinien mit weißer Hauptlinie berechtigterweise denselben Täuschungswert erwarten. Dies trifft aber nicht zu. Die zuzweit angeführte Figur ergibt vielmehr einen viel größeren Wert als die zuerst genannte” (ebd. S. 351ff. u. 446). Der Grund, weshalb es sich so verhält, liegt, wie ich gezeigt habe darin, daß durch gegebene Helligkeitsverschiedenheiten einzelne Gestaltkomponenten für sich erfaßt waren, d.h. darin, daß an Stelle einer einheitlichen Auffassung (G-Reaktion) eine analysierende, oder wie B. sagt, isolierende tritt. So wie in den von B. angeführten Beispielen die Dehnbarkeit der Lippschen Theorie zu einer Umkehrung in der Verteilung primärer und sekundärer Kräfte ihre Zuflucht ergreifen kann, so kann sie im gegenwärtigen Falle darauf appellieren, daß das Isolierte leichter als das Minderbeachtete zu Einfühlungen in Kräfte führen könnte; die prinzipielle Rolle, die das Gestalterfassen spielt, wäre aber hierdurch nicht beseitigt oder als untatsächlich erwiesen, da zwischen diesem Momente und dem Hervortreten von Täuschungen eine eindeutige nicht nach Bedürfnis umzukehrende Beziehung besteht. Die Beachtung dieses Momentes, nämlich der Gestaltauffassung führt nun mit sich, daß ein weiteres von B. vorgeführtes Beispiel nicht für alle Leser seiner interessanten Ausführungen gleich zwingend erscheinen dürfte. Er stellt nebeneinander zwei Müller-Lyersche Figuren des e-Typus (die eine mit vertikal, die andere mit horizontal liegender Hauptlinie) und zwei entsprechend zusammengestellte Figuren mit nach auswärts gerichteten Schenkeln (a-Typus) und meint, die zwei Vertikalen scheinen größer zu sein als die zwei entsprechenden Horizontalen. Für mich gilt bei ungezwungener Beobachtung (d.h. ohne isolierende Absicht) nur die zweite Ungleichung, d.h. die Vertikale der a-Figur scheint mir länger zu sein als die der ihr gleichen Figur mit horizontaler Hauptlinie. Dagegen ist die vertikale Hauptlinie der einen e-Figur scheinbar kleiner als die ihr gleiche horizontal liegende. Der Grund wird durch Selbstbeobachtung ohne weiteres klar: Sobald ich solche Figuren nebeneinander betrachte, gewinnt für mich die Horizontale an Auffälligkeit, sie isoliert sich, wenn auch wenig, aus dem gebotenen Komplex. Die hierdurch gegebene Verminderung der Einheitlichkeit sämtlicher Linien in der unmittelbaren Anschauung (es wird dabei bloß gewusst 2 , daß die gebotenen Linien eine bestimmte Gestalt ergeben) läßt die scheinbare Verkürzung der Horizontalen durch die schrägen weniger stark zur Geltung kommen. Die Gestaltwahrnehmungen 131 II. Die Ausführungen des nächsten § (S. 46ff.) sind der Widerlegung der Position E. Machs, wonach das Wiedererkennen einer Gestalt durch Gleichheit der Raumempfindungen, “welche die physiologisch-optische Ähnlichkeit der Gestalten charakterisieren”, auf “Gleichheit der Richtungen” zurückgeführt wird. B. weist mit Recht auf den später zu untersuchenden Proportionseindruck und den damit zusammenhängenden Eindruck der Schlankheit (an Vierecken) hin, welcher sich ohne jede Auffassung von Richtungsverhältnissen einstellt und ein sicheres Erkennen kleinster Proportionsverschiedenheiten vermittelt. Ferner zeigt es sich, daß, während es kaum möglich ist, die Parallelitätsverhältnisse an einem Komplex verschieden gerichteter Linien gleichzeitig zu erfassen (z.B. bei zwei nebeneinanderliegenden kongruenten Dreiecken), sich der Eindruck der Gestaltgleichheit (oder Ähnlichkeit) nichtsdestoweniger beim ersten Blick einstellt. Desgleichen ist ein Richtungsvergleich bei sukzessiver Darbietung so gut wie ausgeschlossen, trotzdem aber möglich, auf diesem Wege mit großer Präzision Gestaltähnlichkeiten oder- Verschiedenheiten zu erfassen. Schließlich ergibt sich aus der Erkennung von Gestaltähnlichkeiten bei Figuren mit gekrümmten Konturen zum Überfluß, daß der Richtungsvergleich (begründet auf die Auffassung der Parallelität homologer Seiten) hierbei keine Rolle spielen kann. Nach Exposition des Planes seiner folgenden Untersuchungen, die sich mit der Analyse des Geradheits-, Krümmungs- und Proportionseindrucks in erster Linie zu beschäftigen haben werden, bespricht B. den Unterschied, dem gegebene Gebilde im Hinblick auf ihre ästhetische Wirksamkeit ausgesetzt sind, je nachdem sie durch “isolierende Beobachtung” erfaßt werden oder nicht, und stützt diese meinerseits wohl nicht zu bezweifelnde Behauptung auf die Tatsache, daß geometrisch-optische Täuschungen schwinden, “wenn exakt isolierend beobachtet wird”, während “ein gedankenloses, verlorenes Darüberhinwegblicken für ihre Entstehung günstig” ist. Ich vermisse hier einen Hinweis auf meine Untersuchungen “Zur Psychologie des Gestalterfassens” (in Unters. zur Gegenstandstheorie und Psychol., herausg. von A. Meinong, Leipzig 1904, Nr. 5), wo ich m.W. wohl als erster den experimentellen Beweis erbracht habe, daß die einheitliche Auffassung zu einem Täuschungsmaximum, die analysierende zu einem Täuschungsminimum führt; daß beide Verhaltungsweisen übbar sind und daß alle Momente, in erster Linie verschieden auffällige Farben, die eine einheitliche Auffassung erleichtern, täuschungsfördernd wirken und umgekehrt. Im allgemeinen aber habe ich bereits gegen Heymans und Auerbach, deren Ausführungen B. ins Auge zu fassen scheint, dort selbst hervorgehoben, daß nicht die “Gedankenlosigkeit”, und jetzt kann ich hinzufügen “die Verlorenheit des Blickes”, sondern die hierdurch erleichterte Gestaltauffassung die Täuschung erhöht oder deutlicher hervortreten läßt: deswegen, weil unter solchen Umständen die für das Gestalterfassen günstigeren Verhältnisse einer beiläufigen Auffälligkeitsgleichheit der Gestaltkomponenten erreicht, bzw. bedingt wird. III. In den Ausführungen des nächsten § berührt nun B. die Beziehungen zwischen Gestaltungsprozessen und geometrisch-optischen Täuschungen und kann diese letztere Bezeichnung entgegen der Meinung H. Ebbinghaus’ nicht unzutreffend finden. Auch hier entbehre ich einen Literaturhinweis und zwar auf meine Arbeit “Experimentelles über Vorstellungsinadäquatheit, I: “Das Erfassen gestaltmehrdeutiger Komplexe” (in Zeitschr. f. Psychol. 42, Vittorio Benussi 132 S. 22ff., 1906). Es heißt daselbst (S. 25, A. 1): “Weder der Zusatz ‚geometrisch’ noch der weitere Zusatz ‘optisch’ (besagt) etwas für die gegebene Sachlage Charakteristisches, sofern mit dem ersten nur eine Gruppe von besonders leicht untersuchbaren Fällen von Vorstellungsinadäquatheit bezeichnet werden kann, der zweite aber der Tatsache keine Rechnung zu tragen vermag, daß jene Anomalien, die beim Gestalterfassen auf Grund optischer Eindrücke anzutreffen sind, auch dann hervortreten, wenn gegebene Gestalten auf Grund von akustischen oder haptischen Eindrücken erfaßt werden und sich das Subjekt, was seine Gestaltreaktion anlangt, bei den verschiedenen Sachlagen gleich verhält.” Damals schwebten mir namentlich die Versuche Robertsons (“Geom.-opt. Illusions in Touch” [Psychol. Rev. 9, 549ff.] vor, heute kann ich auf Untersuchungen von Koffka und von mir aus dem Gebiete der Zeitauffassung (vgl. meine Psychol. der Zeitauffassung S. 130ff., 441,470, 479 usw. und 163ff.: “Zeitmittenbest. bei optischer Zeitbegrenzung”) sowie auf die von mir festgestellten kinemato-haptischen Erscheinungen (vgl. Arch. f. d. ges. Psychol. 29, S. 385) hinweisen. Ob Ebbinghaus durch meine Ausführungen zu seiner Betrachtungsweise bestimmt wurde, weiß ich nicht; die Abneigung aber, die auch er gegen die herkömmliche Bezeichnung spürte, scheint mir sachlich durchaus begründet zu sein. Doch ist die Angelegenheit von nebensächlicher Bedeutung. Im folgenden weist B. auf die Erklärungstragweite hin, die den Bestimmungen über Proportionserlebnisse in Sachen der Streckenkontrasttäuschungen zukommen dürfte, worin ich ihm ohne weiteres zustimme, und wendet sich nunmehr abschließend einer Erwägung des Prinzipes zu, wonach die Träger vieler geometrisch-optischer Täuschungen in der “unscharfen Abstraktion und der Verwechslung der eigentlich gemeinten mit anderen Momenten an den räumlichen Komplexen” zu suchen wären, und nimmt gegen die “Evidenz der subjektiven Verschiedenheitsurteile” Stellung. “Denn ein Verschiedenheitsbewußtsein kann tatsächlich durch andere Momente oder durch Stücke eines Komplexes verursacht werden als die, auf die es der Erlebende im Urteil bezieht. Das scheint mir bewiesen zu sein durch zahlreiche Fälle aus den Proportionsversuchen.” “Die Tatsache dieser Verschiebbarkeit eines Reaktionserlebnisses von den kausierenden Momenten auf andere, scheint mir für die Erklärung sehr vieler Irrtümer und Fehlschlüsse, die uns beim Denken unterlaufen, von Wichtigkeit zu sein.” “Dagegen dürfte die Untersuchung dieses generellen Irrtumprinzipes bei den optischen Täuschungen weit überschätzt worden sein.” In einer Anmerkung zu diesem letzteren Satze wird hervorgehoben, daß ich (Arch. f. d. ges. Psychol. 9) “die Möglichkeit einer Substitution derjenigen Eindrücke, die zu vergleichen sind, durch solche, die nicht zu vergleichen sind”, ausdrücklich anerkannt und erörtert habe. Ich glaube etwas mehr getan zu haben: auf S. 408ff. meiner von B. angeführten Abhandlung wird “zur weiteren Rechtfertigung dafür, daß sich das Vergleichen u.U. auch gegen unseren Willen nach den auffälligeren statt nach den wirklich zu vergleichenden Merkmalen richtet” ein Versuch über Lokalisationsvergleichungen mitgeteilt, aus dem sich ergibt, daß unter Umständen Raumverhältnisse nach den mitgegebenen Zeitverhältnissen beurteilt werden. In meiner zweiten Abhandlung “Zur experimentellen Analyse des Zeitvergleichs” (dasselbe Archiv 13, S. 71ff., 1908) habe ich nun zur experimentellen Begründung obigen Satzes, (also nicht bloß zur Begründung seiner rein theoretisch erfaßten Wahrscheinlichkeit), auch einen Versuch mitgeteilt, der auch sonst einige Bedeutung für sich beanspruchen und einer genauen Weiterführung würdig sein dürfte, nämlich einen Versuch über die Rolle, die der Auffälligkeit bezüglich der Determination einer Aussage innerhalb des Gegensatzes von “Ähnlichkeit und Verschiedenheit”, zukommt. Außerdem habe ich in der ersten Abhandlung (Arch. f. d. ges. Psychol. 9, S. 375f.) zu zeigen versucht, daß der auch von B. angegriffene Die Gestaltwahrnehmungen 133 Satz nur für die “Gegenstände” gilt, während wir den Vorstellungen dieser Gegenstände nicht ansehen können, daß sie zum Entstehen eines Verschiedenheitsbewußtseins beigetragen haben. Was die ins Auge gefaßte Sachlage anlangt, so meinte ich: “es findet hier statt einer Bestimmung der Verschiedenheitsvorstellung durch die zu vergleichenden Eindrücke, umgekehrt eine … Anpassung von Eindrücken … zu einer Verschiedenheitsvorstellung … statt”; “die Vergleichsaussage kann unter Voraussetzung, daß die uneigentlichen Vergleichsgegenstände auffälliger seien als die eigentlichen, durch jene statt durch diese bestimmt werden, - bezogen wird sie aber vom Subjekte immer auf das vermeintlich Verglichene” (S. 379). Bezüglich der Beziehungen zwischen Gestaltvorstellungen oder allgemein auch Beziehungen und deren Grundlage hatte ich (Zeitschr. f. Psychol 29, S. 387, 1902) bemerkt: “Manche Schwierigkeit unserer Gedankenarbeit wäre uns erspart, wenn eine solche Beziehung wie zwischen Inferioren und Superius” (gemeint ist die Verschiedenheit, die mit Notwendigkeit zwischen dem Verschiedenen besteht) “auch zwischen den Vorstellungen derselben bestünde”. Weitergeführt in experimenteller Hinsicht habe ich diese Gedanken in meiner “Psychologie der Zeitauffassung” mit dem besonderen Hinweise darauf, daß wir nur auf diese Weise uns die Tatsache erklären können dürften, daß Verschiedenheitseindrücke entstehen, ohne daß uns die Richtung der Verschiedenheit klar wäre. 3 Aus alledem geht hoffentlich hervor, daß mein Verlangen nach einer ausdrücklicheren Berücksichtigung durch B. und zwar namentlich nicht bloß bezüglich der Gedanken über eine Möglichkeit sondern bezüglich der Versuche über eine Tatsächlichkeit ein berechtigter ist. Da unsere Arbeitsweise; eine maximalverwandte und unsere theoretische Auffassung größtenteils erfreulichst übereinstimmend ist, wird man wohl meinen Bemerkungen keinen anderen Anlaß zuschreiben wollen als das Bestreben nach sachlicher, richtigstellender Ergänzung. - Eine solche möchte ich auch bezüglich des letzten Absatzes von § 6 nicht unterlassen haben, indem ich meinem Befremden darüber Ausdruck gebe, daß in Sachen “gegen die Empfindungstheorien” nur v. Kries angeführt wird. Klar dargestellt und auf unterscheidende Momente zurückgeführt wurde meines Wissens das Für und Wider in Sachen empfindungsmäßiger Auffassung von Täuschungen, näher von optischen Täuschungen zuerst in meiner Arbeit “Zur Psychologie des Gestalterfassens” (§ 17: Sinnes- und Produktionsvorstellung; Sinnes- und Produktionstäuschung 4 [1904]). Diese dürfte B. entgangen sein. IV. Im zweiten Hauptabschnitt seines Werkes werden nun von B. die geraden und die gekrümmten Linien, sofern sie Gestaltkomponenten sind, nach ihrer spezifischen gegenständlichen (phänomenologischen) Eigenart und nach der Entstehungsart der ihnen zugeordneten Eindrücke untersucht. In diesem Zusammenhange wird zunächst richtig darauf hingewiesen, daß die Dicke einer Krummen für den Eindruck des Gekrümmten nicht belanglos ist. Desgleichen, fügt B. hinzu, ist auch der Längeneindruck “von der Liniendicke merkbar abhängig, das zeigt sich bei gewissen optischen Täuschungen” (S. 66). Hier wäre m.E. ein Hinweis darauf am Platze gewesen, daß beim “täuschenden” Längeneindruck die Liniendicke oder genauer die Differenz der Dicke einzelner Gestaltkomponenten nur mittelbar in Betracht kommt, indem hierdurch eine “isolierende” Betrachtungsweise erleichtert oder erschwert wird. Die mittelbare Wirkung dieses Faktors dürfte aus meinen Versuchen an der Müller-Lyerschen Täuschung wohl als erwiesen zu betrachten sein. Darauf, nämlich auf die Bedeutung der Liniendicke Vittorio Benussi 134 kurzweg, hat als erster m.W. Auerbach (“Erklärung der Brentanoschen optischen Täuschung” in der Zeitschr. f. Psychol. 7, S. 152ff.) hingewiesen. In meinen Untersuchungen “Zur Psychologie des Gestalterfassens” S. 424ff. habe ich versucht, die Bedingungen darzulegen, unter welchen dieses von mir als mittelbar betrachtetes Moment zur Geltung kommt. Die Analyse des Linieneindrucks führt B. ferner zur Anerkennung von drei variablen Momenten; die Krümmung (mit dem Grenzwerte Geradheit), die Größe und die Richtung. Der Geradheitseindruck läßt sich nicht auf den Eindruck der Richtungsgleichheit der Teilstrecken zurückführen. Statt Richtung würde ich wohl lieber Lage sagen. - Es folgen nun Bestimmungen der Geradheitsschwellen mit Zuhilfenahme eines sinnreichen Konstrukstionsverfahrens nach Weitgenböck (S. 72). Die Geradheit ist gegenüber der Richtung (Lage) das psychisch Primäre (S. 78). Was B. in Sachen der Entstehung von Aussagen über Geradheit gegen Helmholtz’ Auffassung beibringt, scheint mir einwandfrei zu sein. Was die Beteiligung von Augenbewegungen als Grundlage des Geradheitseindruckes anlangt, schiene mir von Bedeutung, Nachbilder zu Hilfe zu nehmen, in der Weise, in der sie E. Becher bei seinen Untersuchungen über umkehrbare Zeichnungen mit Erfolg benützt hat, oder in der von Zimmer eingehaltenen Art (vgl. Becher “Über umkehrbare Zeichnungen”, Arch. f. d. ges. Psych. 16, S. 397ff. [1910]; Zimmer “Die Ursachen der Inversion usw.” in der Zeitschr. f. Psychol Abt. II, 47, S. 106ff.). Doch stehen mir keine eigenen Beobachtungen in dieser Angelegenheit zur Verfügung. Auch gelegentlich der Besprechung des Anteiles von Augenbewegungen am Zustandekommen des Geradheitseindruckes weist B. auf Täuschungen hin, aus denen sich ergeben soll, daß Augenbewegungen teils günstig teils ungünstig die Auffassung der Geradheit beeinflussen können. Bei den Täuschungen des Poggendorffschen Typus 5 sind es m.E. nicht die Blickbewegungen, die zu inadäquaten Auffassungen führen, sondern das Beachten von Linien, die neben den in Wirklichkeit geradlinig verbundenen sichtbar sind; je nachdem man die objektiv in einer Gerade liegenden Teile in der Auffassung isoliert, also von einer lebendigen anschaulichen Auffassung jener Gestalt absieht, die durch sämtliche gebotenen Linien gebildet wird, oder nicht, tritt die Scheinverlagerung zurück oder hervor. Darin ist m.E. der Grund auch dieser Täuschungen zu suchen. Außerdem kommt aber auch ein zweiter Faktor in Betracht, nämlich die Berücksichtigung der Lage einer Nebenlinie. Die untere Begrenzungslinie a eines Sektors scheint m.E. deswegen nicht in der Verlängerung von a 1 zu liegen, weil man beim Erfassen des Komplexes von dem Eindruck beherrscht wird, daß a tiefer liegt als a 1 , welcher Nebeneindruck auch noch durch die auffällige Zusammengehörigkeit von a mit b verstärkt wird. Es sind hier uneigentliche Vergleichsmomente im Spiele, welche die Aussage beeinflussen, wiewohl diese Aussage nicht ihnen selbst gilt und sich für uns als durch dieselben unbeeinflußt und unberührt darstellt. In dieser Angelegenheit muß ich noch auf Übereinstimmungen hinweisen, die sich auf meine Bemerkungen (Zeitschr. f. Psychol. 34, S. 310ff., 1903) zu Blix’ Arbeit (Skandinav. Arch. f. Physiol. 13, S. 193ff., 1902) beziehen. Es liegt also auch hier eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen mir und Bühler vor, welche um so erwünschter erscheint als B. offenbar meine eben angeführten Bemerkungen nicht gekannt hat. Nun gibt es noch weitere, durch unvoreingenommene Betrachtung und Analyse der Tatsachen bedingte Berührungspunkte zwischen B. und mir. Es handelt sich diesbezüglich in erster Linie um eine Erscheinung, die ich 1912 im Arch. f. d. ges. Psychol. veröffentlicht habe. 6 Die Gestaltwahrnehmungen 135 Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, ob die Scheinveränderungen etwa der Mittellinie einer Müller-Lyerschen Figur zu Scheinbewegungen (S) der Scheitelpunkte Anlaß geben, wenn man durch stroboskopisch (nunmehr auch kinematographisch) vorgeführte, geeignete Vorlagen, die eine Müller-Lyersche Figur, nämlich die mit den Nebenlinien nach innen gewendet, in ihr Gegenteil, Nebenlinien nach außen gewendet, scheinbar kontinuierlich überführt. So beschaffene S-Scheinbewegungen treten in der Tat ein. Dabei zeigt sich, und das ist für die Theorie besonders wichtig 7 , daß diese Scheinbewegungen (S) durch die Scheinveränderungen der Mittellinienlänge schwinden, sobald man den gebotenen Linienkomplex so auffaßt, daß die sich scheinbewegende Schenkel als selbständige Gegenstände oder Erscheinungen erfaßt werden; - wodurch eben gezeigt wird, daß das Empfindungsmaterial den Eindruck des Abstandes zwischen den zwei Scheitelpunkten nicht eindeutig bestimmt. Auf S. 53 der hier in Rede stehenden Abhandlung (“Stroboskopische Scheinbewegungen und geometrisch-optische Gestalttäuschungen” [Arch. f. d. ges. Psychol. 24, S. 31ff.]) habe ich nun weiter die Tatsache konstatiert, “daß die Auffassung der Gestalt, die bei Berührung der Schenkel mit dem Mittelpunkt entsteht (es handelt sich hier um eine Variante der Müller- Lyerschen Figur, bei welcher zwei Winkelschenkel aus zwei Punkten herauszuwachsen, eine Gerade in deren Mittelpunkt treffen und wieder zu je einem Punkte sich zusammenzuziehen scheinen), eine Zeit erfordert, die größer ist als jene, während welcher die Schenkel mit dem Mittelpunkte “in Wirklichkeit” vereinigt sind … da ich an anderer Stelle über ‘Gestaltzeiten’ ausführlich zu berichten haben werde, begnüge ich mich hier mit diesem kurzen Hinweise” (gemeint ist hier eine vor zwei Jahren begonnene experimentelle Untersuchung über das ‘Ansteigen der Gestaltvorstellung’, die demnächst zur Veröffentlichung gelangen wird). 8 Über ähnliche Erscheinungen berichtet nun auch B. Die Übereinstimmung in sachlicher Beziehung ist um so bedeutender, als B. von meinen Feststellungen keine Kenntnis hatte. 9 Er berichtet über folgende Beobachtung: Zeichnet man auf ein Blatt Papier die Strahlenbündel einer Heringschen Figur, legt man es hinter ein zweites Blatt, auf dem die zwei Parallelen gezeichnet sind, und hinter dieses ein undurchsichtiges Papier, so kann man, wenn man das Ganze gegen das Licht hält, abwechselnd die ganze Heringsche Figur (wenn man das undurchsichtige Blatt wegnimmt) oder nur die zwei Parallelen sehen. Mit diesem Wechsel geht ein Sichkrümmen der Parallelen Hand in Hand. Ist der Wechsel zu rasch, so kommt es vor, daß diese sonst periodisch und daher mit dem Scheine der Bewegung auftretende Schein-Krümmung ausbleibt. Daraus die Folgerung, daß die Auffassung der Gesamtgestalt eine gewisse Trägheit besitze (S. 95ff., besonders S. 98): Die Täuschungsmotive brauchen eine meßbare Zeit, um wirksam zu werden (S. 99). Wie man sieht, stimmen diese Beobachtungen und Folgerungen mit meinen in der berührten Arbeit angeführten überein. Wären B. meine Arbeiten nicht entgangen, so hätte er jedoch vielleicht selbst konstatieren können, daß das Schwinden der Täuschung unter den von ihm angegebenen Umständen einen anderen Grund hat: Ist der Wechsel (Erscheinen und Schwinden der Strahlenbündel) ein rascher, so gewinnt das Ganze einen subjektiv kontinuierlichen Charakter und die zitternden Strahlenbündel verlieren für den Beobachter an Auffälligkeit. Hierdurch isolieren sich aber die Parallelen aus dem Strahlenbündelkomplex: eine solche Isolierung, also eine nicht einheitliche Auffassung der Parallelen mit ihren “Täuschungsmotiven” hat die Reduzierung oder gar den Ausfall der Täuschung selbst zur Folge (vgl. meine “Psychologie des Gestalterfassens”: Ergebnisse S. 430ff.). Belehrend ist in dieser Hinsicht auch eine von B. nicht mitgeteilte Wiederholung des B.schen Versuches bei Umkehrung der Reihenfolge der Vittorio Benussi 136 zwei Figurenblätter. Sobald die Parallelen im durchfallendem Lichte und somit relativ heller als die Strahlenbündel gesehen werden, tritt infolge der hierdurch begünstigten Auffälligkeit der Täuschungsmotive die Scheinkrümmung weit deutlicher hervor. Es gilt eben, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, der Satz: Alle Momente, die im Sinne einer Auffälligkeitserhöhung der Täuschungsmotive wirken, wirken, was ja im Grunde selbstverständlich ist, täuschungsfördernd und umgekehrt; jedoch nur so lange, als hierdurch die Einheitlichkeit der Auffassung nicht gestört oder gehemmt wird. So kann durch geeignete Versuchsbedingungen und entsprechende künstlich erzielte Auffälligkeitsverteilung die Richtung einer gegebenen anfänglichen Täuschung umgekehrt werden (man vgl. meine Arbeit: “Experimentelles über Vorstellungsinadäquatheit, II: Gestaltmehrdeutigkeit und Inadäquatheitsumkehrung” in der Zeitschr. f. Psychol. 45, S. 188ff., 1907). Die Verkennung dieser Beziehungen hat bereits zu handgreiflichen Deutungsfehlern geführt; ich erwähne nur Lehmanns Zurückführungsversuch der verschobenen Schachbrettfigur auf Irradiationswirkung (im Arch. f. d. ges. Physiol. 103, S. 81ff.) und beschränke mich hier bezüglich dessen restloser Widerlegung (auf experimenteller Grundlage) auf den Hinweis auf folgende Arbeiten: Benussi-Liel, “Die verschobene Schachbrettfigur” (in Unters. z. Gegenstth. u. Psychol., herausg. von A. Meinong, Leipzig 1904, Nr. VI), meine Besprechung der Lehmannschen Arbeit in der Zeitschr. f. Psychol. 4, S. 201ff., und meine Untersuchungen über “Stroboskopische Scheinbew. und geom.-opt. Gestalttäuschungen” (Arch. f. d. ges. Psychol. 14, S. 39f., 1912). Nebenbei ist in diesem Zusammenhange noch auf eine andere Tatsache hinzuweisen, ich meine das Verhalten der sog. geom.-opt. Täuschungen gegenüber der momentanen, tachistoskopischen Darbietung. Im allgemeinen treten die Veränderungen der scheinbaren Länge an einer Müller-Lyerschen Figur unabhängig von deren Expositionsdauer hervor (Einthoven in Pflügers Arch. f. d. ges. Physlol. 71, S. 34ff.). Diese Beziehung scheint mir darauf hinzuweisen, daß die Entstehung der Täuschung nur dann eine sog. Trägheit aufweist, wenn das erfassende Subjekt durch eine eigene psychische Arbeitsleistung die Bedingungen erst schaffen muß, welche zu einer Täuschung Anlaß geben, nämlich die Vereinheitlichung mehrerer Erscheinungen (hier Linien) zu einer einzigen neuen Gestalterscheinung. Durch die simultane tachistoskopische Darbietung aller Komponenten wird keine einzige von ihnen in ihrer Auffälligkeit begünstigt oder benachteiligt; der Vorgang der einheitlichen Auffassung kann sich daher unter sehr günstigen Bedingungen u.U. am Nacheindruck entfalten. Es sind also nicht die Täuschungsmotive die eine gewisse Trägheit besitzen; diese Trägheit betrifft vielmehr eine bestimmte Art der Auffassung der “Täuschungsmotive” mit den übrigen Bestandstücken; diese Auffassungsart ist die “Vereinheitlichung”. Nun ist in Sachen geom.-opt. Täuschungen abschließend noch auf einen Punkt hinzuweisen: B. wendet sich gegen die Zurückführung der Heringschen Täuschung auf die Überschätzung spitzer Winkel und meint, es müsse sich um eine sehr “verborgene” Schätzung handeln, wenn die Selbstbeobachtung davon nichts zu entdecken vermag. Nun, so naiv ist jedoch die Überschätzungsauffassung nicht; wohl ist aber die Bezeichnung “Überschätzung” irreführend. Es handelt sich beim Erfassen eines spitzen Winkels nicht darum, daß man ihm innerhalb eines Winkelgrößenkontinuums eine Stelle zuweise, ihn also darin einordne und sich dabei eben dahin täusche, daß man ihm eine inadäquat vom Nullpunkt zu weit entfernte Stelle zuweise. Es handelt sich vielmehr darum, daß man die Lage der Winkelschenkel inadäquat erfaßt, und zwar so, als ob der Winkel tatsächlich ein größerer wäre. Man faßt die Winkelschenkel bezüglich ihrer Lage anders auf als sie sind, wie man etwa eine graue Farbe auf rotem Grunde eben als grünlich “sieht”. Dazu braucht keine Schätzung, auch Die Gestaltwahrnehmungen 137 keine noch so verborgene postuliert zu werden. Faßt man den Terminus Schätzung so auf wie eben angedeutet, dann sehe ich nicht ein, was gegen die Zurückführung der Heringschen Täuschung auf diese Art von Überschätzung einzuwenden ist. Daß nun eine Verlagerung der Winkelschenkel durch die Auffassung der Winkelgestalt für uns tatsächlich eintritt, kann nicht bezweifelt werden: versucht man zu einem Winkelschenkel eine Parallele zu ziehen oder eine bewegliche Linie etwa in 1 cm Abstand parallel einzustellen, indem man keiner der Winkelseiten einen in der Beachtung isolierenden Vorzug zuteil werden läßt, so überzeugt man sich sehr leicht davon, daß die zwei scheinbaren Parallelen gegen den Scheitelpunkt hin konvergieren. V. Im Abschnitte II, § 5 und 6 beschäftigt sich B. mit der Unterschiedsschwelle für Krümmungsgrade und untersucht, auf welche Weise Krümmungseindrücke entstehen und mit Zuhilfenahme welcher inneren Hilfskonstruktionen Kreisbögen auf ihre Krümmungsgrade hin miteinander verglichen werden. Dabei wird die Tatsache konstatiert, daß Sehnen gleicher Länge bei verschiedener Bogenhöhe ungleich lang erscheinen: Bei größerer Bogenhöhe erscheint die Sehne relativ kürzer. Jener Bogen wird als der schwächer gekrümmte erfaßt, dessen Sehne länger erscheint. Maßgebend ist also hier “die Proportion von Bogenhöhe und Sehnenlänge”, “die außer den Winkeln beim Vergleichen wirksam wird” (S. 105, 113). Dieses (indirekte) Kriterium des Verhältnis-(Proportions-)Eindruckes ist jedoch von B. erschlossen. Die Vp. glaubt immer, sich nur nach der Sehnenlänge zu richten. Im allgemeinen wird die Bogenkrümmung nach der Höhe und den Sehnenwinkeln “erfasst”. Doch versichern einzelne Vpn., daß “sie derartige (gedankliche) Konstruktionen nie ausführen”. “Einzelne Kurvenstücke (erfahren) eine isolierte Beachtung” (S. 107). “Dieses Verfahren dürfte einfach auf eine Sehnenkonstruktion an kleineren Teilen der Kurve hinauslaufen” (S. 108). Da nun die Versuche über die Bestimmung der Schwellenwerte beim Krümmungsvergleiche im Hinblick auf die Beziehung zwischen der Größe dieser Schwellenwerte und Sehnenbogenwinkel nicht eindeutig ausgefallen sind, so erscheint noch zweifelhaft, ob das oben berührte Proportionsmoment oder die Sehnenkonstruktion in erster Linie den Krümmungseindruck bestimmt, sobald (möchte ich hinzufügen) zwei Krümmungen miteinander zu vergleichen sind, - denn die obigen Bestimmungen betreffen in erster Linie wohl nur den Vergleich von Krümmungsgraden nicht aber die Eindrücke der Krümmung selbst. Was nun den Krümmungseindruck anlangt, bemerkt B.: “wenn jemand erklärt: … er (der Krümmungseindruck) ist eine neue (absolute) Qualität, so vermag ich ihm dagegen nichts einzuwenden” (S. 116). Ich auch nicht: gegenständlich ist der Eindruck der Kurve ebenso unableitbar wie der des Intervalles gegenüber den Tönen. Im nächsten § bespricht B. eine ästhetische Anwendung der Krümmungsanalyse. Warum gefällt eine Sinus-, warum mißfällt eine Pseudosinuskurve (S. 121ff.)? Gegen die Auffassung Lipps, wonach jede Störung in der natürlich (bzw. gefordert) erscheinenden ‘Bewegungs’- Fortsetzung ein Mißfallen bedingen soll, weist B. mit Recht auf Beispiele hin, für welche dieses “Gesetz” offenkundig nicht gilt. “Die Mißfälligkeit der Pseudosinuskurve und die Knicke, die immer entstehen, wenn zwei entgegengesetzt gekrümmte Kreisbogen zusammengefügt werden, erklären sich … aus den Sehnenkonstruktionen … die wir … bei der Krümmungsauffassung verwenden. Es kommt zu dem Eindruck, als ob der Bogen erst rascher der Sehne sich abwende und dann wieder stärker sich ihr zubiege” (S. 123). Das ist zweifellos Vittorio Benussi 138 richtig, kann aber m.E. die Mißfälligkeit wohl nicht erklären. Die Krümmungszunahme bei Sehnenkonstruktion scheint mir doch mit der “Überschätzung” spitzer Winkel zusammenzuhängen; wenn auch freilich nicht in der Weise, wie B. die Überschätzung auffaßt, sondern in der oben präzisierten Form, wonach eine Scheinverlagerung der Schenkel in der erfaßten Winkelgestalt zum Vorscheine gelangt. Nach meiner Erfahrung würde ich zu der Vermutung neigen, die Pseudosinuskurve erwecke deswegen einen zunächst unbefriedigenden und hierdurch mißfälligen Eindruck, weil sie in uns das Bewußtsein einer gestörten Einheitlichkeit erweckt. Wir isolieren einerseits die oberen und die unteren Halbkreise zu je einer Gruppe (dazu verleitet uns sicher die berührte Knickung); da wir aber andererseits eine kontinuierliche Linie erfassen, entsteht in uns der Eindruck von etwas Ungereimten, indem wir zugleich zu einer einheitlichen Auffassung und zu einer Isolierung zweier Gruppen gedrängt werden. In dieser Richtung scheint mir die Erklärung der Mißfälligkeit gesucht werden zu müssen. In dieser Richtung wären auch mit Erfolg ästhetische Versuche anzustellen. Eine Stütze finde ich für die eben angedeutete Erklärung darin, daß für mich die Mißfälligkeit der Pseudosinuskurve zurücktritt, sobald man für obere und untere Halbkreisreihe verschiedene Farben verwendet, oder einen minimalen Zwischenraum an den “Übergangsstellen” freiläßt. VI. Hiermit sind wir zu dem wichtigsten Teil der B.schen Untersuchungen angelangt: zum Proportionseindruck und Proportionsvergleich. Eingeleitet werden die Bestimmungen hierüber durch Erwägungen über die Natur und die Entstehung des Größeneindruckes. In diesem Zusammenhange wird zunächst darauf hingewiesen, daß wir auf eine sehr unvollkommene Weise krumme Linien hinsichtlich ihrer Größe miteinander vergleichen können und hieraus richtig gefolgert, daß es sich doch nicht so verhalten würde, wenn der Größeneindruck “überhaupt auf einem Summationseffekt” auf der “Menge der gereizten Netzhautelemente” beruhen würde (128). Immerhin ist aber zu berücksichtigen, daß “Größeneindrücke auch an anderen Ordnungsreihen zu gewinnen wären, wenn wir das nur ‘gelernt’ hätten.” Hierauf wird die Helmholtzsche Position der Deckung der Netzhautbilder als Substrat jedes Raumvergleiches erwähnt und gegen dieselbe Stellung genommen: die Vergleichung von nebeneinander tachistoskopisch gebotenen Linien läßt ja die Realisierung einer Deckung gar nicht zu. Was nun den Größeneindruck anlangt, so ist auch die konstitutive Beteiligung der Objektentfernung zu berücksichtigen: man weiß, wie schwer es ist, das Größenverhältnis von verschieden entfernten Objekten genau zu erfassen. Das Moment des Entfernungsfaktors ist nun für das Verständnis von Größentäuschungen von besonderer Bedeutung. B. führt das Behauptete an der Hand einer Müller-Lyerschen Täuschungsfigur näher aus: “Zur Erklärung der Müller-Lyerschen Täuschung braucht weder angenommen zu werden, daß die primären Ortswerte der Streckenpunkte … eine Verschiebung erfahren haben müssen, noch daß wir eigentlich die Strecken gar nicht verschieden groß ‘empfinden’, sondern nur einer Urteilstäuschung unterliegen. Wir haben allen Grund, jene Lokalzeichen den gereizten Netzhautstellen eindeutig … zugeordnet zu denken und können trotzdem der Tatsache gerecht werden, daß die Verschiedenheit anschaulich an den unmittelbaren Größeneindrücken haftet.” Ein einfacher Versuch zeigt, daß die Linien selbst (einer M.-L.-Figur) es Die Gestaltwahrnehmungen 139 sind, die die bekannten (Schein-)Veränderungen erleiden (132). Zeichnet man auf der einen Seite eines Papierblattes eine in der Mitte geteilte Linie, auf der anderen Seite die schrägen Linien eines M.-L.schen Musters, so daß im durchfallendem Lichte eine M.-L.-Figur gesehen werden kann, dann kann man die Tatsache beobachten, daß die zwei Linienteile ihre Größe verändern (sich zu dehnen und sich zu verkürzen scheinen) sobald die im durchfallenden Lichte allein sichtbaren Schrägen auftauchen. So richtig wenn auch einseitig diese Beobachtung ist, so wenig vermag ich zwischen ihr und dem, was B. durch sie nachweisen will, eine Verbindung herzustellen. Die auch von B. angeführte Beobachtung 10 besagt ja nur, daß zwei objektiv gleiche Gerade verschieden erscheinen, sobald die Täuschungsmotive erfaßt werden. Daß aber eben diese zwei Linien es sind, die verändert erscheinen, das wird nicht erst durch den berührten Versuch gezeigt. Nur wenn ich an meine Theorie (1904) bezüglich der Entstehung dieser Täuschung denke, wird mir ein Zusammenhang zwischen dem von B. angeführten Versuche und seiner Ablehnung der Empfindungs-, sowie der Urteilstheorie der g.-o.-Täuschungen klar. Da B. jedoch diese Theorie nicht anführt, muß ich selbst auf sie neuerdings kurz hinweisen. Vorausgeschickt seien einige Worte über die von B. angeführte Beobachtung selbst. Läßt man die schrägen Linien in gewissen zeitlichen Abständen erscheinen und verschwinden, so kann sich dreifaches ereignen: erstens ein, auch von B. angegebenes, Sichdehnen und -Zusammenziehen der zwei Linien, zweitens ein Hin- und Herrücken des Mittelpunktes, drittens ein bloßes Hinzuerfassen der erschienenen Schrägen ohne jede Veränderung der einzelnen Linienhälften. 11 Ich habe diese Scheinbewegungserscheinungen in meiner 1912 erschienenen Arbeit über stroboskopische Scheinbewegungen und geom.-opt. Gestalttäuschungen beschrieben und deren theoretische Bedeutung zu präzisieren versucht. Ich glaubte dort im Anschluß an meine früheren Ausführungen auf die Rolle hinweisen zu müssen, die der einheitlichen Gestaltauffassung für die Entstehung von scheinbaren Größenveränderungen zukommt, denn sobald die eben in Erinnerung gerufene dreifache 12 Erscheinung trotz eines konstanten Sinnesmaterials hervorzurufen ist, ist auch erwiesen, daß alle Sinnesmomente, Lokalzeichen inbegriffen, für diese Erscheinungen belanglos sein müssen. Nun beweist aber der B.sche Versuch durchaus nicht, daß die Lokalzeichen der Endpunkte einer Linie unverändert bleiben, wenn sich diese bezüglich ihrer Größe (scheinbar) verändert. Es ist denkbar, daß für die Qualität eines Lokalzeichens das Gegebensein von ihn sozusagen umgebenden Lokalzeichen von Belang sei. Beweisend für die Indifferenz der “Lokalzeichen” ist meines Erachtens nur die von mir konstatierte Beziehung zwischen Täuschung und Auffassungsart. Noch vor kurzem mußte ich einräumen 13 , daß der Hinweis auf die Abhängigkeit zwischen Gestaltauffassung und Täuschung wohl die Hauptbedingung für die Entstehung dieser letzteren trifft, eine Erklärung derselben jedoch noch lange nicht darzustellen vermag. Gegenwärtig würde ich im Anschluß an die Tatsache, daß die Auffälligkeits-Zu- oder Abnahme einer Verschiedenheit äquivalent ist mit einer Verschiedenheitsvergrößerung oder -Verkleinerung, vermuten 14 , daß die Müller-Lyersche Täuschung bei nach einwärts gerichteten Schenkeln auf eine Herabsetzung, bei nach auswärts gerichteten Schenkeln auf eine Erhöhung der Auffälligkeit der Hauptlinie durch die Umgebung zurückzuführen wäre. Nur auf diese Weise geht man der Unzulänglichkeit jeder sinnesphysiologisch begründeten Erklärung, sowie jeder anderen als Hypothese einer Urteilstäuschung sich bezeichnenden Auffassung aus dem Wege. Ich glaube in den einschlägigen Ausführungen W. Wirths (Die exper. Analyse der Bewußtseinsphänomene) eine ähnliche Auffassung vorzufinden, die um so erwünschter erscheint, als ja Wirth von ganz anderen theoretischen Voraussetzungen Vittorio Benussi 140 ausgeht. Zugunsten der oben dargestellten Auffassung sprechen alle Beziehungen, die zwischen Täuschungsgröße und äußere Variationen der Figur (Farbe, Größe usw.) von mir und anderen bei vorschriftsloser Auffassung konstatiert werden konnten, auf das deutlichste; nicht zuletzt die Tatsache, daß bei minimaler Auffälligkeit der Scheitelpunktdistanzen, wenn also die Verbindungslinie, die verkürzt oder verlängert erscheint, ausbleibt, die Figur mit einwärts gerichteten Schenkeln ein Maximum, die mit nach auswärts gerichteten aber ein Minimum an scheinbarer Größenveränderung aufweist (vgl. “Zur Psychologie des Gestalterfassens” S. 362ff., Leipzig 1904). Es kann sein, daß ich die Ausführungen B.s, auf die sich das eben Erwähnte bezieht, mifsverstanden habe; - verhält es sich so, dann wird das von diesem Forscher Gemeinte möglicherweise durch das, was ich an unberücksichtigt gebliebenen Erfahrungen eben in Erinnerung gebracht habe, ergänzt und gestützt. Das, was ich eben dargestellt habe, dürfte im übrigen kaum auf Widerspruch seitens B.s stoßen, da er selbst im Größeneindruck etwas von reinen sinnesphysiologischen Momenten Unabhängiges, nämlich ein Gestaltmoment erblickt (S. 133). Genauer müßte man freilich statt Größeneindruck der “Gegenstand ‘Größe’ als Gestalt” und statt Gestaltmoment “Vorstellung außersinnlicher Provenienz” oder “produzierte Vorstellung” sagen. Doch braucht hier auf derlei Details, welche erst im Hinblick auf die von B. nicht streng eingehaltene Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand Sinn und Bedeutung beanspruchen können, nicht eingegangen zu werden. Somit sind wir zu dem eigentlichen Proportionsversuche angelangt. VII. Der Eindruck, “in dem wir die Größe des Quotienten anschaulich erfassen”, nennt B. den Proportionseindruck. Dieser ist “dasjenige, was uns befähigt, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Gleichung a: b = c: d anschaulich Aufschluß zu gewinnen” (S. 135 A. 1). Zu dieser Bestimmung hätte ich nur eine schließlich mehr unwesentliche Bemerkung zu machen: die Erfahrung scheint mir das Bewußtsein eines Quotienten durchaus nicht zu bieten, ebensowenig das Bewußtsein einer Division oder sonst einer mit der Quotientengewinnung beim Rechnen in Analogie zu setzenden geistigen Operation. Ich würde daher den Proportionseindruck lieber lediglich im Hinblick auf das Verschiedenheitsbewußtsein charakterisieren, wobei natürlich mit A. Meinong “Verschiedenheit” genau zu unterscheiden ist von “Unterschied”, d.i. Differenz. Um nun dem Proportionseindruck eine gewisse Exklusivität oder Vorherrschaft gegenüber eventuellen Differenzeindrücken zu sichern, wählt B. statt drei, vier Eindrücke (genauer Gegenstände) und geht somit nicht von der Aufgabe aus, zu einem a und einem c sei ein b zu finden oder herzustellen, welches die Mitte zwischen jenen darstellt, sondern verlangt, daß ein d bestimmt wird, welches sich zu einem c so verhält wie zu einem a ein b. Es muß hier jedoch gleich bemerkt werden, daß diese Vierheit, sofern ich aus meiner Erfahrung schließen darf, in Wirklichkeit subjektiv in eine Zweiheit umgewandelt wird. Sobald ein sog. Proportionsvergleich sich so vollzieht, daß eine Verschiedenheit oder Gleichheit der Raumgestalten unmittelbar zum Bewußtsein gelangt, so ist wohl die Grundlage für den Gedanken geboten, die zwei “als Gestalten” für gleich erklärten Gebilde verdanken diese ihre Gleichheit einer Proportionsgleichheit, die Proportionen selbst werden aber dabei nicht verglichen, d.h. es werden nicht die zwei Seitenpaare oder auch nur eines davon in bezug auf das Größenverhältnis beachtet und im Hinblick auf dieses Größenverhältnis nunmehr intellektuell mit Die Gestaltwahrnehmungen 141 dem am zweiten Rechteck gewonnenen Verhältniseindruck in Beziehung gesetzt. Sobald die qualitative Eigenart der Gestalt des gebotenen Liniengebildes zur Geltung kommt, liegt ein Fall vor, der m.E. von der subjektiven Seite her, also abgesehen von der Natur der Gegenstände, demjenigen entspricht, der gegeben ist, wenn etwa zwei Helligkeiten oder zwei Strecken kurzweg miteinander verglichen werden sollen. (B. selbst bemerkt auf S. 155, daß die Verschiedenheiten der Schlankheit ebenso sicher erfaßt werden, wie die der Schwere.) Da nun die Verschiedenheit der Gestalten leichter aufgefaßt werden können mag, als die von Strecken, ist die Tatsache, daß die Schwelle für eine Linienproportion kleiner ausfallen kann als die für zwei Linien wohl wichtig, aber durchaus nicht befremdend. (Auf S. 153 formuliert B. das Ergebnis zweier Vpn. in dem Satze: die Schwellenwerte sind beim Rechteckvergleich kleiner als beim Streckenvergleich). Auch Einheitlichkeitsgrade können bezüglich ihrer Verschiedenheit auffälliger sein als Zeitdistanzen, so daß dort, wo sie im Bewußtsein prävalieren, wie etwa bei absolut genommen kleinen Zeiten, die (Zeitvergleichs-)Schwelle sinkt (vgl. meine “Psych. der Zeitauffassung”, Heidelberg 1913, S. 99-172). Die Vierheit der Gegenstände ist also mit etwas Vorsicht zu behandeln, denn sie ist gegenständlich nur insofern vorhanden, als sie die Grundlage jener Gestaltgegenstände abgibt, die zu vergleichen sind. Subjektiv ist sie nur insofern da, als ohne die diesen vier Bestandstücken zugeordneten Eindrücke auch nicht die zwei Gestaltvorstellungen entstehen könnten. Sobald aber die vergleichende Absicht, bzw. Arbeit nicht daran anknüpft, sondern nur die Vorstellungen der zwei Gestalten benutzt, ist die Vierheit irrelevant und ein eigentlicher direkter Proportionseindruck doch nicht vorhanden. Die Selbstbeobachtung sagt mir ganz deutlich, daß, wenn ich eine Proportion erfasse, ich dies mit Zuhilfenahme eines Beziehungsgedankens tue, der zu einem Ergebnisse führt, woran nichts Anschauliches, Bildmäßiges zu entdecken ist, während ein anschauliches Bild immer vorliegt, dem Subjekte vorschwebt, wenn die räumliche Gestalt erfaßt wird, die auf eine objektive, und eben als solche gegebene, Proportion beruht; diese Proportion selbst aber wird nur aus jenem Bilde erschlossen oder mit ihm auf Grund früherer Erfahrungen assoziiert. Ein solcher Beziehungsgedanke kann vollständig klar sein, er trifft aber nichts Anschauliches und ist in diesem Sinne als unanschaulich zu bezeichnen. B.s Bestreben die Einmischung von Differenzauffassungen fernzuhalten, hat m.E. nicht auch eine Begünstigung der Verhältnis- oder Proportionsauffassung in ihrer direkten Entfaltung zur Folge gehabt. Das was seine Versuchsanordnung erreicht, ist die Erweckung von Aussagen, die im Hinblick auf die Beurteilung von Proportionen gut verwendbar sind, die aber nicht aus der Auffassung der Proportion selbst, sondern vielmehr aus der Auffassung von räumlichen Gestalten entstanden sind, deren Variation in konstanter gesetzmäßiger Beziehung zur Proportion steht; die Aussagen gestatten immer einen Schluß auf Proportionen; das Vorhandensein solcher und deren Beziehungen zueinander sind aber nicht aus dem Bewußtsein, Proportionen (Verhältnisse) miteinander zu vergleichen, gewonnen. Dies schiene mir nur auf die Art realisierbar, daß man für den Einzelversuch etwa vier Strecken benutzt, a, b, c und d, die die Bedingung a: b = c: d erfüllen, jedoch einzeln hintereinander gezeigt werden, damit a und b einerseits, c und d andererseits nicht leicht zu einem neuen Gegenstande zusammengefaßt werden können. Sorgt man nicht für die gestaltliche Selbständigkeit der einzelnen Glieder, so wird die Grundlage der geforderten Vergleichung eine mehrdeutige, indem sowohl Beziehungsals auch Gestalteindrücke in nicht kontrollierbarer Vermengung der Aussage zugrunde gelegt Vittorio Benussi 142 werden können. (Über die prinzipielle Bedeutung der Eindeutigkeit der Vergleichsgrundlage sind meine Ausführungen in “Psychologie der Zeitauffassung” S. 59ff. zu vergleichen.) Die subjektive Reduktion der vier Proportionsglieder zu zwei Gestaltgegenständen wird nun auch dadurch erleichtert, daß B. Aussagen über Grade der Schlankheit und Plumpheit (S. 141) und nicht über Beziehungen zwischen Verhältnissen verlangt. Schlankheit und Plumpheit sind aber subjektiv gar nicht an das Erfassen einer Beziehung gebunden, sie sind Eigenschaften von räumlichen Gestalten, die eben dann zum Bewußtsein kommen, wenn diese Gestalten erfaßt werden: Die anschauliche Erfassung einer Gestalt setzt gar nicht eine klare gedankliche Auffassung der Beziehungen ihrer Bestandstücke voraus. Die Gestalt als Gegenstand ist wohl ohne jene Beziehungen unmöglich, die Vorstellung der Gestalt ist aber gar nicht an den Gedanken an Beziehungen gebunden. Verlangt man also Aussagen über Schlankheitsgrade, so kann man Aufschlüsse nur über den Vergleich von solchen erwarten. Daß jede Aussage über Schlankheit einen Schluß auf die Proportion gestattet, berechtigt aber nicht, ein Proportionsbewußtsein als Grundlage solcher Aussagen anzusehen und diese daher für Aussagen über Proportionen zu halten. VIII. Dies vorausgesetzt, sollen im folgenden die durchaus interessanten Bemerkungen über die inneren Hilfen, die sich einzelne Vpn., um mit Erfolg die gestellte Aufgabe zu lösen, zurechtlegen, erwähnt werden. Für die Sache selbst ist ja irrelevant, ob sie für die Auffassung von Proportionen oder von Eigenarten räumlicher Gebilde (Gestalten) in Betracht kommen. Wie B. selbst bemerkt, handelt es sich um die Feststellung dessen, “was in unseren Vergleichungen als Äquivalent für ein Meß- und Rechenverfahren auftritt” (S. 156). “Der Versuch einer Abschätzung irgendwelcher Strecken nach Zentimetern kam nie vor.” Das gesuchte Äquivalent ist “eine sukzessive Beachtung zweier Längen, die einen ‘Verhältniseindruck’ oder eine ‚Verhältniseinstellung’ zur Folge hat” (157). Zu dem typischen Verfahren zur Gewinnung eines solchen Eindruckes “gehört nun, daß erst eine vertikale und dann eine horizontale Seite des Rechteckes Beachtung findet” (158). Oft gleitet der Blick “an zwei parallelen Seiten gleichzeitig entlang” (159). Da man hierbei den Abstand der Parallelen sowie ihre Länge erfaßt, so genügt dies zur Gewinnung eines bestimmten Schlankheitseindruckes. Andere Beziehungen wie etwa die, daß die “Winkel rechte und einander gleich, daß je zwei gegenüberliegende Seiten einander gleich sind” kommen nie besonders zur Geltung. Eine senkrechte und eine horizontale Gerade genügen zur Gewinnung des verlangten Eindruckes. Die zwei anderen Linien sind auch in einigen Versuchsreihen weggelassen worden. Die Beachtung zweier Geraden ist immer erforderlich. Dies geschieht so, “daß (die) eine von ihnen wie selbstverständlich hingenommen wird, während (die) andere als (die) zu bestimmende erscheint” (160). “Nicht durch Aufeinanderlegen wird die eine Seite mit der anderen gemessen, aber es bleibt in der Auffassung die funktionelle Verschiedenheit. Es ist nicht möglich gewesen, hier weiter vorzudringen” (160). 15 “In der Vp. entsteht ein Eindruck. Sie weiß recht gut, wann er da ist und wann er fehlt.” Die Hauptbedingung scheint nun darin zu liegen, daß “ein individueller Schlankheitseindruck gebildet und verwertet wird” (161). Der Eindruck nun, der durch den ‘Hauptreiz’ hervorgerufen wurde, wird dem Vergleichsreiz entgegengebracht “und geht in die (Vergleichsreiz-)Auffassung ein” (163). “Bemerkenswert ist für uns, daß das bei unserem Vergleichsvorgang so bleibt, trotz der Verwicklung, die er dem Vergleich einfacher Qualitäten … gegenüber enthält.” Die Gestaltwahrnehmungen 143 Nebenbei muß ich hierzu bemerken, daß ich darin nichts Befremdendes erblicken kann: sobald eine äußere relativ komplizierte Mannigfaltigkeit so erfaßt werden kann, daß das Subjekt den Eindruck eines Gegenstandes erlebt, etwa, wie ich für den gegenwärtigen Fall vermute, den eines Verschiedenheits- oder den eines Gestaltgegenstandes, ist subjektiv keine nennenswerte Verwicklung mehr gegeben. Die Einmischung von Nebeneindrücken ist natürlich hier ebenso gegeben wie sonst bei jedem Vergleiche. Was nun die Eindrücke des ‘Plumpen’ und ‚Schlanken’ anlangt, die bei den Versuchen B.s eine Hauptrolle spielen, finden wir folgende Angaben: Meistens ist der Eindruck des Schlanken, genauer die Aussage “schlank”, an dem Eindruck der Länge, den die Horizontale erweckt, gebunden. Bei einer anderen Vp. beruht die Schlankheitsaussage auf dem Eindruck der Kürze der Vertikalen. Der Eindruck, den eine Seite (ein Stück) des Rechteckes allein hervorruft, scheint also die Aussage zu bestimmen. Diese Daten erscheinen mir nicht ganz verläßlich: soweit ich aus eigener Erfahrung reden kann, habe ich den Eindruck, daß das Hervortreten einer Geraden, also der Senkrechten oder Wagerechten, sich wohl als eine Folge, nicht aber als eine Bedingung des Schlankheits-, bzw. Plumpheitseindruckes in unserem Bewußtsein abspiegelt. Sowohl die längere als auch die kürzere Seite, bemerkt nun weiter B., kann im Bewußtsein besonders hervortreten; ein Eindruck des Sichdehnens oder des Zusammenschrumpfens beim Erfassen des zweiten Rechteckes kam nur selten vor (165). Solche Eindrücke würde ich als Vorstufen, als unklar ausgebildete Scheinbewegungseindrücke ansprechen. So wie bei einer bestimmten optimalen zeitlichen Folge in der Exposition zweier Gegenstände, diese (ungenau ausgedrückt) als die Bewegungsphasen eines einzigen erscheinen, so kann sich bei einer von der optimalen eventuell weit entlegenen Folge etwas Verwandtes, eine unvollständige oder “schlechte” Bewegung, wie sich solche Bezeichnungen bei den Vpn. M. Wertheimers (Zeitschr. f. Psychol 61, S. 162ff.) bei Einzeldarbietungen vorfinden, ereignen. Daß der Eindruck des sich Ausbreitens, der nahezu immer beim plötzlichen Erscheinen einer Linie oder Fläche vorliegt, mit den eben berührten Erscheinungen nicht zu vermengen ist, hebt B. mit Recht hervor (166). 16 Seine das Vergleichsergebnis betreffenden Beobachtungen faßt B. auf S. 173 in folgendem Satz zusammen: “Die sukzessive Beachtung zweier Stücke an dem Rechteck, gefolgt von einem Eindruck, der sich nur an eines von ihnen heftet, das ist der reguläre Vorgang der Urteilsbildung”. Gegenüber diesen Bestimmungen, die ich, größtenteils aus eigener Erfahrung, als richtig beschrieben betrachten muß, erhebt sich m.E. nur ein Bedenken: ob nämlich der Eindruck des Schlanken und des Plumpen nicht selbst, als Eigenart einer Raumgestalt 17 , dasjenige sei, was, wie bereits flüchtig erwähnt wurde, das Hervortreten, die subjektive Betonung der “Kürze” oder “Länge” einer Seite, oder der “Größe” oder “Kleinheit” der Ausdehnung nach einer bestimmten Dimension, bedingt. Ist man sicher, da” der Hinweis darauf, bzw. das Bewußtsein davon, daß eine Seite zu kurz oder zu lang ist, die Grundlage des Gestalteindruckes, und nicht vielmehr eine Beschreibung der im erlebten Eindrucke präsentierten Raumgestalt ist? Ich für meinen Teil kann diese Frage durch Selbstbeobachtung nicht sicher entscheiden, muß aber, wie berührt, gestehen, daß die Selbstbeobachtung mir eher für die zweite Auffassung zu sprechen scheint. Mit anderen Worten: zuerst muß eine bestimmte räumliche Gestalt erfaßt werden; ihre Plumpheits- oder Schlankheitsfärbung steht in einer konstanten Beziehung zur Auffälligkeit, zum Sichaufdrängen der Höhe oder Breite; das aber, was als plump oder schlank bezeichnet wird, muß bereits als eine Gestalt erfaßt worden sein. Vittorio Benussi 144 Daß übrigens der Eindruck des langen oder kurzen eher als eine Folgeerscheinung eines bestimmten Gestalteindruckes zu betrachten wäre, als umgekehrt, scheint mir aus der von B. selbst registrierten und nahezu eine Regel darstellenden Beobachtung hervorzugehen, daß eine Vp., die einen Plumpheits- oder einen Schlankheitseindruck bzw. den Eindruck einer erhöhten oder verminderten Schlankheit oder Plumpheit erlebt, jene Seiten am betrachteten Viereck für modifiziert hält, die objektiv unverändert geblieben sind. Wir neigen freilich dazu, irgend etwas, was uns an einem Erlebnis mit relativer Anschaulichkeit auffällt, für die Grundlage eines Erlebnisses hinzunehmen, welches als solches auf keine anschaulich erfaßbaren Gegenstände, zum Beispiel auf Beziehungen, hinweist. Unsere Aufmerksamkeit bleibt ja immer an Dingen haften, die uns auf Grund unserer Bilder zugänglich gemacht werden. Sobald die Selbstbeobachtung nun auf derartiges stößt, wird in uns eine Neigung begründet, die Bedeutung dieser bruchteilmäßigen Beobachtung weit zu überschätzen und das, was nur erst aus dem Eindruck einer Gestalt entnommen werden kann, für die Grundlage der Eigenart dieser Gestalt zu halten. Ginge z.B. die Schlankheit auf Auffälligkeit der Vertikalen zurück, so müßte ein plumpes Viereck, dessen eine Seite, die längere, der Farbe nach die auffälligere wäre, nicht plump, sondern schlank erscheinen. In der Verkennung dieses Sachverhaltes ist eine nicht zu unterschätzende Fehlerquelle enthalten, die tunlichst eingeschränkt werden muß. Die Abhängigkeit zwischen dem Eindruck des Schlanken und dem der Länge einer Seite (bei B. der Horizontalen) scheint mir für die Beziehung zwischen Auffälligkeit einer Distanz und subjektivem Größeneindruck von Bedeutung zu sein; wird an einem gegebenen, liegenden Rechteck die Vertikale soweit verlängert, bis die Gestalt plumper erscheint, dann hält man diesen Eindruck teilweise als durch eine Verkürzung der Horizontalen hervorgerufen, genauer: der Eindruck des Plumpen stützt sich auf einen inneren Nachdruck der Vertikalengröße, die Horizontale tritt im Bewußtsein zurück und man hält sie für verkleinert. Ihre verminderte Auffälligkeit wäre als Äquivalent mit einer Verkürzung zu betrachten. Was nun den eigentlichen Vorgang der Proportionsauffassung anlangt, erlaube ich mir im folgenden zunächst einige eigene Selbstbeobachtungen mitzuteilen. Sie sind aus Versuchen gewonnen, die ich absichtlich vor der Lektüre der einschlägigen Mitteilungen Bühlers (S. 155ff.) zum Zwecke der völlig unbeeinflußten und daher auch sicher unvoreingenommenen Kontrolle angestellt habe. Es war mir dabei nicht um langwierige Schwellenbestimmungen, sondern um die direkte Kenntnisnahme der Vorgänge, die beim Proportionsvergleich auf Grund der Bühlerschen Versuchsanordnung im Spiele sein mögen, zu tun. Ich fasse nun meine Beobachtungen zusammen und bringe sie dann zu den Bestimmungen Bühlers in Beziehung. IX. Wenn ich Gebilde von der Art betrachte und vergleiche, wie sie B. bei seinen Versuchen verwendete, so finde ich, daß ich mich auf zwei ganz verschiedene Weisen verhalten kann. Ich kann von der Betrachtung der Seiten ausgehen, indem ich sie einzeln isoliere und zwei davon durch einen bestimmten, von anderen inneren Ereignissen klar zu unterscheidenden Beziehungsgedanken, also durch einen von jeder neuen Vorstellung freiem Zustande, verbinde; wobei, wie auch B. hervorhebt, der Nachdruck, mit dem die einzelnen Seiten in diesem Beziehungsgedanken vertreten sind, nicht für beide gleich ist, so daß wir ganz naturgemäß sagen können, dieser Beziehungsgedanke treffe a im Hinblick auf b oder Die Gestaltwahrnehmungen 145 umgekehrt. Wenn ich das tue, so befinde ich mich in dem Besitze eines neuen Phänomenes eines neuen Gegenstandes, wiewohl ich keine neue Vorstellung, kein neues Bild in mir vorfinde, der eine ebenso “handgreifliche” Entsprechung außerhalb von mir hätte, wie z.B. die Linienvorstellung die Linie. Dieser neue Gegenstand ist die Verschiedenheit der zwei Linien bezüglich ihrer Größe. Ich erkenne dies daran, daß ich an diese Verschiedenheit nicht mit Zuhilfenahme einer Streckenvorstellung denke, wie ich dies tue und tun muß, sobald ich an Stelle der Verschiedenheit, den Unterschied, die Differenz der zwei Linien erfasse. Der Unterschied teilt immer die Natur des Unterschiedenen, die Verschiedenheit nicht. An den Unterschied zweier Strecken denke ich mit Zuhilfenahme einer Streckenvorstellung, ich treffe diesen Gegenstand, indem ich an eine Strecke denke; wenn ich aber an die Verschiedenheit denke, so ist das Erfassen dieses Gegenstandes vorstellungsfrei. Soweit die eine direkte Beobachtung; ob man nun diese zuzweit genannte Verhaltungsweise im Gegensatz zur ersteren als zu einem Vorstellungserlebnis, ein Akterlebnis nennen will oder nicht, das ist lediglich eine Nebensächlichkeit des Übereinkommens. Was die Verschiedenheit sei, ist im besonderen ebensowenig zu beschreiben, wie es unmöglich ist zu beschreiben, was eine Farbe, eine Farbenvorstellung oder schließlich ein Verschiedenheitsgedanke ist. Zu verwechseln sind aber diese Dinge trotzdem nicht. Neben diesem Verschiedenheitseindruck oder Verschiedenheitsgedanken, welcher mir sozusagen die direktere Weise der Auffassung einer Proportion darzustellen scheint, finde ich in mir, wenn ich geometrische Gebilde auf ihre Proportion hin miteinander in Beziehung zu setzen bestrebt bin, noch eine andere weniger direkte Auffassungsweise. Sie geht von der Vorstellung der Gesamtgestalt aus, also von etwas durchaus Anschaulichem, das mir zunächst ebenso sinnfällig vorzuliegen scheint wie eine Farbe oder ein Ton, und benützt eine besondere Eigenart dieser Gestalt als Symptom, als Kriterium, als Zeichen für etwas anderes, nämlich für die Proportion, die als solche nicht direkt aus dem Anblick der gebotenen Linien erfaßt, sondern aus der Auffassung der Gestalt, die sich aus der räumlichen Ordnung dieser Linien ergibt, erschlossen wird, oder mit der Auffassung dieser Gestalt in assoziativer Verknüpfung auftritt. Versuchen wir nun diese Gestalt zu beschreiben, so sagen wir, daß uns ihre Ausbreitung in der Vertikalen oder Horizontalen besonders auffällt. Die erfaßte Gestalt wird aber nicht als schlank erlebt, nachdem uns etwa eine sozusagen an nichts haftende Länge als absolut groß aufgefallen ist; der Eindruck der Länge ruft nicht den Eindruck des Schlanken hervor, sondern an der vorgestellten schlanken und als schlank vorgestellten Gestalt finden wir ein Prävalieren der Ausbreitung in einer Dimension. Alle Aussagen nun, die solche Prävalenzen hervorheben, besagen m.E. wohl nichts im Hinblick auf die Frage, wie ein Plumpheits- oder ein Schlankheitseindruck entsteht, sondern nur, was an dem erfaßten Gegenstände, den wir als plump oder schlank bezeichnen, in besonderem Maße auffällt. Diese Aussagen beziehen sich also auf die erfaßten Phänomene, aber nicht auf die Art und Weise, wie diese Phänomene erfaßt werden. Verhält man sich nun unwillkürlich so, daß die Qualitäten des Plumpen oder Schlanken in den Vordergrund des Bewußtseins treten, so kann von einem Proportionsvergleich gar nicht die Rede sein, denn Proportionen werden dabei ja gar nicht erfaßt. Beim Anblick des zweiten Rechteckes erlebt man bloß einen zum früheren passenden oder nicht passenden Schlankheits- oder Plumpheitseindruck. Dieser entstammt nicht der Auffassung einer Beziehung der Seiten zueinander, sondern gestattet erst einen Gedanken daran, enthält einen brauchbaren Hinweis auf eine als solche nicht erfaßte Beziehung. Vittorio Benussi 146 Das, was ich nun tue, wenn ich mir vornehme, Rechtecke zu vergleichen, das hängt teilweise von einer Ausgangsdetermination ab: wenn ich mir vornehme, Schlankheitsqualitäten der Gestalt oder Verschiedenheiten der Seiten (Horizontalen und Vertikalen) zu erfassen, so gelingt es mir auch sehr oft, wirklich nur das Eine oder nur das Andere zu leisten. Dabei scheint mir für die Auffassung und Vergleichung von Qualitäten der Schlankheit oder Plumpheit eine willkürliche Aufmerksamkeitsdiffusion in der Erwartungszeit günstig zu sein; dagegen begünstigt eine Art Vordetermination zur Auffassung von Linien, von Bestandstücken im ausgiebigsten Maße, für mich wenigstens, die eigentliche Verschiedenheitsauffassung. Es wäre von Interesse, diese Reaktionen getrennt zu untersuchen und zu schauen, ob die für jede einzelne in möglichst reiner Form erhaltenen Schwellenwerte einander entsprechen. Da der innere Vorgang, der zur Auffassung einer Beziehung führt, klar genug als verschieden von jenen zu erkennen ist, welcher zur Vorstellung einer Gestalt führt, müßte es möglich sein, durch zwei verschiedene Determinationen, durch zwei verschiedene Formen des Vorhabens eine Trennung wie die eben erwähnte durchzuführen. Jedenfalls ließen sich die Daten, die auf Grund der einen Reaktion gewonnen wurden, getrennt von jenen behandeln, die der anderen entstammten, auch wenn man die Reaktionen selbst nicht getrennt untersuchen könnte. Daß die Beachtung der Schlankheitsqualität zu unsichereren Resultaten (S. 174) führe, scheint mir nicht ohne weiteres festzustehen. Mit all dem glaube ich mich wohl nicht im Gegensatze zu B. zu befinden, im Gegenteile scheint mir hierdurch eine Verschiedenheit in den Verhaltungsweisen des Subjektes beim Gewinnen von Proportionsaussagen, die ich bei B. nicht hinreichend scharf herausgearbeitet finde, sich schärfer präzisieren zu lassen, - ich meine die Verschiedenheit zwischen einer echten oder direkten Proportions- oder Verschiedenheitsauffassung und einer unechten oder indirekten Proportionsauffassung, d.h. die direkte Auffassung eines Symptomes für Proportionsgleichheit oder Verschiedenheit also für das Ergebnis eines nicht vollzogenen Proportionsvergleiches. Bei B. scheinen die zwei Gegenstände Gestalt und Beziehung, sowie die Verschiedenheit der ihnen zugeordneten Auffassungsvorgänge nicht hinreichend auseinandergehalten zu werden. (Vgl. S. 178.) X. Daß meine Beobachtungen mit den Hauptbestimmungen B.s durchaus nicht im Gegensatze stehen, ergibt sich aus der Beachtung folgender Feststellungen: Auf S. 174 der Untersuchungen B.s wird von einer “simultanen” Auffassung gesprochen im Gegensatz zum konstruktiven Verfahren bei sukzessiver Beachtung der einzelnen Linien. Besonders wird nun von B. betont, daß sich eine Seite als “zu lang” hervordrängt ohne “bewußten Vergleich”: “die Proportion wird wirksam, bevor die Komponenten einzeln aufgefaßt sind” (175). Will man nur dann von Vergleichung reden, wenn der Beziehungsaussage eine besondere, isolierende Beachtung der Relationsglieder vorangeht, dann liegt freilich in dem Fall, in dem die Aussage auf Grund des Gesamteindrucks des einheitlich erfaßten Komplexes von Linien erfolgt, kein Vergleich vor. Aber nur soweit man diese terminologische Bestimmung einhält. Ebenso wird niemand behaupten wollen, daß eine isolierende Einzelbeachtung der Bestandstücke der Auffassung einer Gestalt vorausgehen müsse. Es genügt, daß die Bestandstücke dem Bewußtsein gegenwärtig sind. Die Gestaltwahrnehmungen 147 Ich vermute, daß überall dort, wo wir eine Beziehung zweier Bestandstücke eines Komplexes sozusagen der Gesamtgestalt entnehmen, sie von dieser “ablesen”, der Fall realisiert ist, von dem behauptet werden kann, daß das Beziehungsbewußtsein (als größer, kleiner usw.) keinem eigentlichen Vergleiche entstamme. (Man vergleiche hierüber den Abschnitt “Vergleichen und Zeitvergleichen” in meiner “Psychologie der Zeitauffassung”, wo auch die Ausführungen A. Brunschwigs über “das Vergleichen und die Relationserkenntnis” berücksichtigt werden.) An Stelle der eigentlichen Vergleichung tritt in einer Art vikariierender Funktion die Auffassung der Gestalt auf: Wer zwei Rechtecke im Hinblick auf ihre Proportion, also das Verhältnis von Höhe und Breite miteinander vergleichen will, wird sehr bald bemerken, daß die Art und Weise, in welcher die Beziehung zwischen Höhe und Breite erfaßt wird, eine auffallend andere ist, als diejenige, in welcher die Beziehung der zwei Proportionen ihrerseits zur Auffassung gelangt: in diesem letzteren Falle allein liegt normalerweise ein Vergleichen vor, wenn auch in der Form, daß das zweite Vergleichungsglied während einer an dem ersten haftenden gedankliche Richtung erfaßt wird, - worauf jenes eigenartige Erfassen des einen Vergleichsgegenstandes “im Hinblick” auf den anderen zurückgehen dürfte. Dieses “Erfassen im Hinblick” kann sich aber in ein wiedererkennendes Verhalten umwandeln: man hat dann beim Anblick des zweiten Viereckes den Eindruck des Passens oder Nichtpassens zum früheren. Sucht man nach dem Grunde dieses Nichtpassens, dann drängt sich die eine oder andere Komponente eben als unpassend auf; sobald man dies tut, verhält man sich, soweit ich sehe, wirklich “vergleichend”; denn diese nicht passende Komponente wird als zu groß oder zu klein bestimmt. Wir können uns auch so ausdrücken: Vom ersten Viereck behalten wir eine Art gedanklichen Proportionsmodells, beim Anblick des zweiten merken wir zunächst, ob es zu diesem Modell, ob es in dieses Gerüst paßt, ob es sich darin einfügt oder nicht. Beim Anblick des an zweiter Stelle gezeigten Gegenstandes kommt es natürlich auch zu einem “Zurückgreifen auf den Hauptreiz” (179), doch nicht immer mit Zuhilfenahme einer Vorstellungsreproduktion. Nur das Resultat der Auffassung des Hauptreizes, der Verhältnis- oder Schlankheitseindruck wird reproduziert. Mit Recht hebt B. hervor, daß “für die Theorie der Proportionswahrnehmung von größter Bedeutung (wäre), wenn sich zweifelssicher ermitteln ließe, ob bei der Auffassung eines Rechteckes wirklich ein Bewußtseinsinhalt entsteht, der sich ohne das Bild reproduzieren läßt.” Aus eigener Erfahrung kann ich das Gegebensein solcher “Bewusstseinsinhalte” als sicher vorgegeben betrachten. Nur würde ich sie, da ihnen jede Anschaulichkeit, jedes Bildmäßige fehlt, nicht “Inhalte”, sondern “Beziehungsgedanken” nennen. Doch glaube ich, daß man auch hier zwischen einem bildmäßigen Schlankheitseindruck und einem bildfreien Beziehungs- (oder Verhältnis- oder Verschiedenheits-)Eindruck unterscheiden muß, wovon nur der erstere in der direkten Auffassung von einer ästhetischen Resonanz - wie auch Vp. Kü. bei B. beobachtete (S. 180) - überhaupt begleitet erscheint. Die von mir vertretene ästhetische Indifferenz der Beziehungen (vgl. Archiv f. d. ges. Psych. 17, S. 91-101) scheint mir auch hier deutlich zur Geltung zu kommen. Ebenso wie die erwähnten Feststellungen spricht nun auch noch folgende Beobachtung für das Gegebensein eines unabhängigen Beziehungseindruckes: die Vp. kann sich zu diesem Beziehungseindruck räumliche Gebilde verschiedener, trotzdem aber passender Dimensionen denken (180). Die Theorie der Vorstellungsproduktion bzw. der Vorstellungen außersinnlicher Provenienz kennt die hier berührten Tatsachen schon lange: es handelt sich um jene Eindrücke, die gegeben sein müssen, damit eine Melodie trotz der Verschiedenheit der Tonart als eine Vittorio Benussi 148 bestimmte erkannt wird, um jene Eindrücke, die uns gestatten, Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen zu finden, die kein einziges Bestandstück gemeinsam haben oder zwei Gestalten als gleich zu erkennen trotz der Verschiedenheit der Größe ihrer Abbildungen (man vergleiche außer Meinong, Zeitschr. f. Psychol. 2, 245ff. u. 21, 81ff., meine Psychol. der Zeitauffassung, S. 229-232). Die Beobachtungen B.s sind eine erfreuliche Bereicherung unseres Wissens über die Angriffsstellen der eben berührten Erscheinungen. Daß weiter der Proportionsvergleich unabhängig von der Qualität des in Proportion Stehenden sei, daß also ebensogut Raumgestalten als auch Strecken oder Zeitdistanzen im Hinblick auf deren Proportion miteinander verglichen werden könnten, ist gleichfalls im Sinne der Theorie der außersinnlichen Vorstellungen selbstverständlich, wie für jede Theorie, welche für den Eintritt von Verhältnis- und Gestalteindrücken zentrale Vorgänge postuliert und die tatsächliche Ordnungsverschiedenheit der Gegenstände erkannt hat. Ich habe als experimentellen Beweis hierfür unter anderen die Übertragung der geom.-opt. Täuschungen auf haptischem Gebiete, sowie die Indifferenz der Rhythmuserlebnisse gegenüber einer akustischen, haptischen oder optischen sinnlichen Vermittlung hervorgehoben, und kann nunmehr auch für die Scheinbewegungen darauf hinweisen, daß sie ebensogut auf Grund optischer wie auch haptischer Eindrücke erlebt werden können (vgl. Arch. f. d. ges. Psych. 30, S. 99ff.). Der Nachweis, daß außersinnliche Eindrücke beim Vergleiche wirklich wirksam sind, ist also nicht erst durch B.s Versuche geliefert worden, wie dies aus der Anmerkung auf S. 215 hervorgehen würde; wohl aber zeigen auch die Versuche dieses Forschers, daß man mit solchen Eindrücken rechnen muß. Die Psychologie des Gestalterfassens, deren experimentelle Anfänge kaum ein Jahrzehnt zurückliegen, hat allen Grund, sich über die nunmehr vorliegende Arbeitsgemeinschaft mit B. zu freuen und mit gespanntem Interesse auf den zweiten Band der “Gestaltwahrnehmungen” zu warten. (Eingegangen am 10. März 1914.) Anmerkungen 1 Ich behalte mir einige Bemerkungen hierüber für eine spätere Gelegenheit, d.h. für eine Besprechung des noch nicht erschienenen II. Bandes von Bühlers Untersuchungen über Gestaltwahrnehmungen vor. Im Augenblick scheint mir angemessener nur die Tatsachen und zwar in womöglich theoriefreier Form in Erwägung zu ziehen. Ist man gewohnt, von Wahrnehmung nur dort zu sprechen, wo es sich um die Auffassung einer Wirklichkeit handelt, so wird man dem Terminus Gestaltvorstellung gegenüber der Bezeichnung Gestaltwahrnehmung den Vorzug geben. Gestalten sind ja unwirkliche, ideale Gegenstände höherer Ordnung; wirklich sind deren Inhalte, d.h. jene Seite des psychischen Erlebnisses, hier einer Vorstellung, von dessen Beschaffenheit es abhängt, ob die gegebene Vorstellung den einen oder anderen Gegenstand präsentiert. Die Darstellung, die Bühler in seinem theoretischen Einleitungskapitel von den Gestaltproblemen gibt, leidet im allgemeinen unter der mangelhaften Auseinanderhaltung von Inhalt und Gegenstand, sowie mangelhafter Kenntnis der dem Problem der Ordnungsverschiedenheit gewidmeten Untersuchungen A. Meinong. Doch betrachte ich vorderhand die theoretische Angelegenheit als die unaktuellere Seite der gegenwärtigen Forschungsrichtung. Wichtig ist in erster Linie die Tatsache, daß nunmehr auch außerhalb der “Grazer Schule” stehende Arbeitskräfte die Bedeutung der Gestaltprobleme eingesehen und ihrerseits durch genaue Untersuchung die Fruchtbarkeit der experimentellen Gestaltanalyse erwiesen haben. 2 Man vergleiche meinen Göttinger Kongreßvortrag (April 1914) über “Versuche zur Bestimmung der Gestaltzeit”. 3 Übereinstimmendes finde ich nunmehr auch in der schönen Arbeit von Moede “Zeitverschiebungen bei kontinuierlichen Reizen” (Psych. Stud., herausg. von W. Wundt, Bd. VIII, S. 327ff. bes. S. 369ff. [1913]). 4 Eine Zusammenfassung der Ergebnisse meiner Arbeiten über das inadäquate Erfassen von Gestalten findet man nunmehr im Archiv f. d. ges. Psychol. 32, S. 396ff. (Gesetze der inadäquaten Gestaltauffassung). Die Gestaltwahrnehmungen 149 5 In allerletzter Zeit hat W. Hasserodt (“Gesichtspunkte zu einer experimentellen Analyse geom.-opt. Täuschungen”, im Archiv f. d. ges. Psychol. 28, S. 336ff. [1913]) versucht, die Poggendorffsche Täuschung aus “gehemmten” Blick- (oder Aufmerksamkeits-)Bewegungen zu erklären. Man vergleiche darüber meine Besprechung in dieser Zeitschrift 69, S. 121f. 6 Vor einigen Monaten ist über dieses Thema eine Untersuchung von Koffka und Kenkel (diese Zeitschrift 67, S. 353-449) unter dem Titel “Beiträge zur Psychologie der Gestalt- und Bewegungserlebnisse” erschienen. Zu der Fußnote 2 auf der S. 356 habe ich zu bemerken, daß das Ms. meiner Arbeit “Stroboskopische Scheinbewegungen und geom.-opt. Täuschungen” dem Herausgeber des Archivs f. d. ges. Psychol. Prof. W. Wirth am 21. April 1912 zugegangen ist. Die tatsächlichen Ergebnisse von K. K. enthalten eine Bestätigung der von mir zuerst beschriebenen Erscheinungen. Bezüglich der theoretischen Divergenz vergleiche man meine Besprechung der Arbeit K. K.s im Archiv f. d. ges. Psychol. 32, S. 50ff. des Lit.-Ber. 7 und ist von seiten K.K. unberücksichtigt geblieben. 8 Vgl. einstweilen meinen Göttinger Kongreßvortrag “Versuche zur Bestimmung der Gestaltzeit” (Bericht über den VI. Kongreß für exp. Psychol., Leipzig Barth, 1914, S. 71f.) 9 Dies hat mir B. auch brieflich mitgeteilt. 10 Sie knüpft an W. Wundts Projektionsmethode zur Darstellung geom.-opt. Täuschungen, an. 11 Diese dreifache Erscheinungsweise ist auch Koffka-Kenkel (a. a. 0.) entgangen. Die Behauptung K.-K.s, die einschlägigen Erscheinungen seien komplizierter als sie mir erschienen (vgl. im übrigen meine bereits erwähnte Besprechung der Untersuchungen dieser Autoren), scheint mir daher nicht gerade mich zu treffen, sondern viel eher die Urheber dieser Bemerkung selbst. 12 In meiner oben angeführten Arbeit werden zunächst die zwei letzten Erscheinungen ins Auge gefaßt. 13 “Stroboskopische Scheinbewegungen und geom.-opt. Gestalttäuschungen” (Arch. f. d. ges. Psychol 24, S. 31ff. [1912]). 14 (Vgl. hierüber meine “Psychologie der Zeitauffassung” in ‚Psychologie in Einzeldarstellungen Bd. 6’, S. 258-264 [Heidelberg 1913]),sowie die im Arch. f. d. ges. Psychol. 17, S. 9ff. (1910) mitgeteilten Versuche über das Vergleichen von Verschiedenheiten, bei denen das von G.E. Müller konstatierte Moment der “Kohärenz” von Eindrücken in seiner Bedeutung für die subjektive Verschiedenheitsgröße unter besonders günstigen Verhältnissen untersucht wird. Es sei hier auch darauf hingewiesen (zu Bühler S. 135-135), daß beim Verschiedenheitsvergleich nahezu immer das Bewußtsein eines “Sich-Verhaltens” gegeben ist; wenn auch als Grundlage, Kontrolle und Stütze hierfür die Nebeneindrücke der “Kohärenz” oder wie ich mich ausdrückte, die “Zusammengehörigkeitseindrücke”, verwertet werden. Dies war bei meinen Versuchen so konstant der Fall, daß ich gar nicht für nötig gehalten habe, die Bezeichnung Verschiedenheitsvergleichung näher zu erläutern. Ich vermute daher, daß jener Zustand, den Bühler als Proportionseindruck bezeichnet, sich (soweit er nicht die Raumgestalt zum Gegenstande hat) mit dem in meinen Versuchen als Verschiedenheitsbewußtsein hingestellten, deckt. Ich erläuterte auch sonst immer die von der Vp. geforderte Leistung mit dem Hinweise auf Strecken, die gleiche Differenzen (Unterschiede) gegenüber solchen, die gleiche Verschiedenheiten (das gleiche Verhältnis) zueinander aufweisen. Im übrigen ist auch der Umstand nicht außer Acht zu lassen, daß dort, wo es sich um Farben (Helligkeiten) handelt, ein Differenz-Eindruck ja überhaupt nicht zu erreichen ist, es wäre denn durch ganz entlegene Vergleichungen mit den Stellen eines räumlich vorgestellten Farbenkontinuums: was von J. Fröbes auch hin und wieder konstatiert wurde. 15 Die Beschreibung stößt also hier auch für B. auf eine letzte Tatsache: die Gewinnung des Verhältniseindruckes oder des Schlankheitseindruckes. Dies ist deswegen hervorzuheben, weil B. sowohl in seinem Einleitungsabschnitt (“Die theoretische Diskussion usw. . . .”) als auch gegenüber den Tatsachenfeststellungen in Sachen des Gestalterfassens als eines eigenartigen Vorganges, die vor ihm von anderer Seite erfolgt sind, den Gesichtspunkt vertritt, das wichtigste sei die Bestimmung und Analyse der Entstehung solcher Vorgänge. (Vgl. auch “Bericht über den V. Kongreß f. Psychol.” Leipzig, Barth. 1912.) 16 In allerletzter Zeit sind diese Scheinbewegungen auch von Koffka und Kenkel erwähnt worden. Sie dürften eine rein physiologische Grundlage haben und sollten an Objekten, die gleichhell aber verschiedenfarbig sind gegenüber dem Grunde, auf dem sie kurzdauernd sichtbar werden, näher untersucht werden. 17 In diesem Zusammenhange ist auf folgende Beobachtung hinzuweisen: beim Vergleichen von Vierecken wurde gerade die Horizontale, die objektiv unverändert blieb, für die normalerweise von Fall zu Fall veränderte Größe gehalten, während die objektiv variierte Vertikale subjektiv als die konstante erschien (169). Die Beobachtung weist unzweideutig darauf hin, daß der Gesamteindruck der Linienkombination, also das einheitliche Gestaltelement im Vordergrund der Beachtung stand.