Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2005
281-2
Karl Bühler über Aphasieforschung
61
2005
Achim Eschbach
Gabi Willenberg
kod281-20169
* Vortrag beim 2. Internationalen Bühler-Symposium in Wien am 27. Mai 1989 (Stadtsenatssaal der Wr. Stadtregierung). Karl Bühler über Aphasieforschung * Achim Eschbach und Gabi Willenberg 0. “Die wenigsten Tierpsychologen von heute haben eine hinreichende Sachkenntnis von dem erstaunlich komplexen Instrument der menschlichen Sprache. Der beste Lehrgang, den man ihnen empfehlen könnte, wäre nicht im Laboratorium der Normalpsychologie, sondern bei den Neurologen und Psychiatern, wäre bei den intimen Kennern der zentralen Sprachdefekte und Sprachstörungen des Menschen zu absolvieren. Ich selbst ging als Mediziner, der ich war, von diesem Gebiete aus; das war noch vor der entscheidenden Wendung, welche die Aphasielehre dem Eingreifen von Forschern wie Head, Gelb und Goldstein, Isserlin, Poetzl u.a. verdankt. Heute ist es eine meiner Hoffnungen, daß es gelingen wird, die Quintessenz der linguistischen Sprachanalyse in wechselseitig fruchtbaren Kontakt zu bringen mit den Ergebnissen aus der Betrachtung jener andersartigen Analyse, jener unbarmherzigen Realauflösung des menschlichen Sprachvermögens, das die Pathologen studieren. Es war einstweilen das Gebot einer methodischen Reinheit des Vorgehens und sonst nichts, was mich veranlaßte, von einer Bezugnahme auf die moderne Aphasielehre in diesem Buche abzusehen. Ähnliche Gründe sprachen gegen den Versuch einer systematischen Ausbeute der Einsichten in den Sprachaufbau, die wir der Kinderforschung verdanken.” (ST: XXVI) Dies lesen wir in der Einleitung zur Sprachtheorie, dem Hauptwerk Karl Bühlers über die Sprache. Wenngleich Karl Bühler die Sprachpathologie auch in keiner anderen Arbeit eigens zum Thema erhoben hat, so finden wir im Bühlerschen Werk doch eine Reihe weiterer Bemerkungen zur Aphasieforschung und allgemeiner zur sprachpathologischen Forschung. Diese Bemerkungen und einige biographische Anhaltspunkte wollen wir heranziehen, um einen bislang nahezu unbeachteten Aspekt von Bühlers Forschertätigkeit aufzuzeigen. Karl Bühler selbst hat - soweit uns dies heute bekannt ist - nur spärliche biographische Aufzeichnungen hinterlassen; wir sind deshalb ebenso wie seine früheren Biographen zunächst einmal auf die Darstellungen seiner Frau Charlotte angewiesen. Danach hat es allen Anschein, als sei das Interesse Karl Bühlers an eher medizinischen Fragen sehr bald nach Abschluß seines Medizin-Studiums von anderen Fragestellungen verdrängt worden. Dies steht nicht nur in Widerspruch zu der Bemerkung Lebzelterns: “Für Karl Bühler ergab sich, schon infolge seiner medizinischen Vorbildung beinahe von selbst ein enges Verhältnis zum K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Achim Eschbach und Gabi Willenberg 170 Psychiatrischen Institut der [Wiener] Universität. Wagner-Jauregg, ganz besonders aber Otto Pötzl und später auch Hans Hoff schätzten Bühler sehr. Sie hatten manche Schüler gemeinsam und hielten vielfach ihre Seminare gemeinsam ab.” Es wird auch durch eine Reihe von Fakten widerlegt, ja man könnte sogar die These vertreten, daß sich das medizinische Interesse wie ein Ariadne-Faden, ein Ausdruck Bühlers, durch sein Forscherleben zieht. Dies mag zunächst befremden, wenn wir uns daran erinnern, daß einer der wesentlichen Kritikpunkte Bühlers an Freud lautet, daß die Psychologie nicht vom kranken, sondern vom gesunden Menschen auszugehen habe - dazu später mehr. I. “Karl Bühlers medizinische Vorbildung.” Ein erster Abschnitt sei dem vornehmlich Biographischen gewidmet: Seine wissenschaftliche Ausbildung begann Karl Bühler im Medizinischen Institut in Freiburg, wo er im Sommer 1903 das medizinische Staatsexamen ablegte und die Approbation erhielt. Detaillierte Informationen über die Studieninhalte entnehmen wir dem Studien- und Sittenzeugnis für Karl Bühler, das im Freiburger Universitätsarchiv erhalten ist: danach hat Bühler seit Beginn seines Studiums die Veranstaltungen des berühmten Physiologen Johannes von Kries besucht, in dessen Institut er am Ende seiner Studienzeit auch die Untersuchungen für seine Staatsarbeit durchgeführt hat. Über letztere berichtet er unter dem Titel “Über den Einfluß tiefer Temperaturen auf die Leitfähigkeit der motorischen Froschnerven” im Archiv für Anatomie und Physiologie, Physiologische Abteilung: Archiv für Physiologie, Jg. 1905, 239-252. Wenig später, im August 1903, dissertierte er, ebenfalls bei von Kries, mit den “Beiträgen zur Umstimmung des Sehorgans”, einer Untersuchung über das Zustandekommen von optischen Empfindungen - beim gesunden Menschen. Nicht durch Briefe, Dokumente oder Berichte Dritter bestätigt, aber durchaus anzunehmen, sind Kontakte Bühlers zu zwei weiteren bedeutenden Physiologen, zu Maximilian von Frey während der Würzburger Zeit (1906-1909) und zu Max Verworn während der darauffolgenden Jahre in Bonn (1909-1913). Von Frey war ein enger Freund des Hauses Külpe, und wir dürfen vermuten, daß Bühler über seinen Lehrer in Kontakt zu diesem Würzburger Gelehrten gekommen ist; der Bonner Physiologe Verworn war Mitherausgeber des “Handwörterbuchs der Naturwissenschaften”, für welches Bühler - vermutlich auf Vermittlung Külpes hin - mehrere Artikel geschrieben hat. Daß Karl Bühler nach Abschluß seines Medizinstudiums kurze Zeit als Arzt praktiziert hat, entnehmen wir einem Lebenslauf, den er anläßlich seiner bevorstehenden Habilitation in Würzburg am 2. März 1907 verfaßt hat. Wir konnten jedoch bisher nicht in Erfahrung bringen, an welchem Ort, für wie lange und - vor allem - in welchem medizinischen Teilgebiet er die ärztliche Praxis ausgeübt hat. Einen Beleg dafür, daß Bühler als Arzt praktiziert hat, haben wir erst aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Seit September 1914 war er als Unterarzt an der Westfront eingesetzt, schon einen Monat später avancierte er zum Oberarzt auf Kriegszeit. Über seine ärztliche Tätigkeit in den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs berichtet er selbst und relativ ausführlich. Der knappen Vortragszeit wegen wollen wir jedoch gleich zu den Jahren 1916-18 springen, die im vorliegenden Zusammenhang wichtiger sind: “März 1916 wurde ich von der Universität München angefordert, weil in meinem Fach niemand mehr war, der für die Frauen und kriegsuntüchtig gewordenen Männer unter den Studenten Vorlesungen halten konnte. Vormittags versorgte (ich) von nun an medizinisch meine Kraftfahr- Karl Bühler über Aphasieforschung 171 Abteilung und nachmittags war ich Professor; es kam dann bald noch die Untersuchung und Behandlung von rekonvaleszenten Soldaten mit verheilten Kopfschüssen hinzu. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Kopfstation sind von Isserlin und seinen Schülern veröffentlicht, ich habe ein weniges mitgeholfen.” Während wir über Bühlers Tätigkeit in der Kraftfahr-Abteilung dank einer Akte des Kriegsarchivs in München gut unterrichtet sind, waren Unterlagen, die detailliertere Angaben über die medizinische Betreuung der hirnverletzten Soldaten, also über Bühlers Zusammenarbeit mit Isserlin, enthielten, auch dort nicht zu ermitteln. Für diese letztgenannte, im vorliegenden Zusammenhang wichtigste Tätigkeit Bühlers während seiner Militärzeit müssen wir also tatsächlich die Ausführungen seines Kollegen Isserlin und dessen Schüler zu Rate ziehen. Das Interesse Bühlers an Fragen der Sprachpathologie dürfte allerdings schon Jahre früher geweckt worden sein. Von Kries, der Freiburger Physiologe, der neben August Weismann als der wichtigste Lehrer Bühlers während seiner Freiburger Studienzeit gelten kann, war einer der Kritiker der Leitungslehre bzw. des Leitungsprinzip, das in der Aphasieforschung eine nicht unbedeutende Rolle spielt (vgl. Pick 1913). Inwieweit Karl Bühler direkt durch von Kries in dieser Frage beeinflußt wurde, ist jedoch nur indirekt zu beantworten. Da uns keinerlei Vorlesungsmitschriften Karl Bühlers vorliegen, müssen wir uns auf die Ausführungen stützen, die von Kries in seinen Schriften macht. Auch Benno Erdmann, bei dem Bühler im Sommersemester 1905 studierte, hat sich nach Pick (1913) zu Fragen der Aphasie und deren Bedeutung für die Psychologie geäußert. Wir können auch hier nur annehmen, daß Bühler diese Ausführungen Erdmanns nicht entgangen sind. Als Bühler im Herbst 1905 zu Külpe nach Würzburg kam, stand die Problematik der Aphasie sicher nicht im Vordergrund der Forschungen der Würzburger Schule. Doch zeigt Pick (1913) auf, daß in verschiedenen früheren Arbeiten der Würzburger Schule die Bedeutung der Aphasieforschung für die Psychologie angesprochen wird. Er verweist beispielsweise auf die herausragende Arbeit von Gätschenberger, eine Würzburger Dissertation aus dem Jahr 1901. Diese Dissertation wird offenbar wegen ihres nicht-experimentellen Charakters in den Bibliographien der Würzburger Schule meist nicht erwähnt, obwohl sie zweifellos nachhaltigen Einfluß auf die späteren Würzburger Arbeiten gehabt hat. II. “Der Einfluß der Würzburger Arbeiten zur Denkpsychologie auf die Aphasieforschung.” Zu einer ersten direkten Begegnung Bühlers mit der Problematik der Sprachpathologie kommt es im Jahr 1908. Das erste große Papier, das Karl Bühler zur Sprachpsychologie verfaßt und auf dem dritten Kongreß für experimentelle Psychologie in Frankfurt unter dem Titel “Über das Sprachverständnis vom Standpunkt der Normalpsychologie aus” vorgetragen hat, ist ein Co-Referat zu einem Papier von Arnold Pick (Prag) mit dem fast gleichlautenden Titel “Über das Sprachverständnis vom Standpunkt der Pathologie aus”. Wie Pick in den einleitenden Bemerkungen zu seinem Vortrage betont, ist sein Vortrag auf Einladung des Vorstandes der ‚Gesellschaft für experimentelle Psychologie’ entstanden. Ganz offensichtlich gab es eine Absprache, wenn nicht zwischen Pick und Bühler selbst, so zumindest zwischen Pick und dem Programmkomitte einerseits und letzterem und Bühler andererseits. Ob es schon vor diesem Kongreß im Jahr 1908 tiefergehende Kontakte zwi- Achim Eschbach und Gabi Willenberg 172 schen Pick und den “Würzburgern” gegeben hat, wissen wir - bislang - nicht. Die fünf Jahre später erschienene Monographie von Pick (1913) jedoch zeigt eine so gründliche Informiertheit über die in Würzburg durchgeführten denkpsychologischen Studien und eine so intensive Auseinandersetzung mit ihren Ergebnissen, daß die Vermutung einer engeren Kooperation naheliegt. Picks Auffassung ist es, daß von der neuen Psychologie, damit meint er die Denkpsychologie, aber auch von anderen Nachbardisziplinen wie z.B. der Sprachwissenschaft, wesentliche Impulse für die nach anfänglichen Erfolgen ins Stocken geratene Aphasieforschung zu erwarten sind. Sein Ziel besteht darin, diese Ergebnisse der Nachbarwissenschaften den Sprachpathologen verfügbar zu machen. Hiermit ist übrigens ein Ziel genannt, das sich - wie wir noch hören werden - auch die später von Otto Pötzl und Karl Bühler in Wien geleitete seminaristische Arbeitsgruppe gesetzt hat. Einige Ansatzpunkte, die die auch heute noch gültige Modernität der Pickschen Auffassung verdeutlichen, möchten wir besonders hervorheben: die Zugrundelegung der gesprochenen anstelle der geschriebenen Sprache und derer Eigenheiten, die Berücksichtigung von Sprecher und Hörer, die Berücksichtigung der Situation bzw. des Kontextes und - neben anderem - insbesondere die Tatsache, daß er den Satz anstelle des Wortes als Sinneinheit des Denkens (und Sprechens) zugrundelegt. Letzteres stützt sich unmittelbar auf die Erkenntnisse Bühlers, wie dieser sie in seiner Habilitationsschrift dargelegt hat. Während es Picks vorrangiges Anliegen ist, die Aphasieforschung durch Heranziehung der Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften zu bereichern, erhofft Bühler - in entgegengesetzter Richtung - eine Bereicherung der Psychologie durch die Aphasieforschung. Hier kommen wir auf einen oben schon angesprochenen Punkt zurück. Wir wissen, daß Bühler Freud - der ja nebenbei bemerkt auch, und zwar zeitlich vor Bühler, über Aphasie geschrieben hat - vorwirft, die Psychologie vom verkehrten Ende, vom kranken Menschen aus zu konstruieren, was zunächst einmal in Widerspruch zu Bühlers Interesse an der Sprachpathologie zu stehen scheint. Bühlers Weg zeichnet sich im Gegensatz zu dem Freuds dadurch aus, daß Bühler zunächst die Erkenntnisse sammelt, die am gesunden Menschen zu gewinnen sind, um auf dieser Basis seine Theorie zu entwickeln. Doch auch bei dieser Vorgehensweise ist die Verwertung pathologischer Tatsachen nicht gänzlich ausgeschlossen. In einem relativ weit fortgeschrittenen Stadium der Theoriebildung läßt Bühler - quasi zur Bestätigung oder Ergänzung seiner Erkenntnisse - es zu, die Pathologie zu Rate zu ziehen. Genau dieses Vorgehen spiegelt sich in zahlreichen Äußerungen zur Aphasieforschung. Dazu einige Beispiele: 1. Gesicherte Ergebnisse der Sprachpathologie zieht er heran, um eine mit normalpsychologischen Mitteln gewonnene Auffassung zu stützen: Der Kontext: Es geht darum, daß bei dem Ausdrückenwollen schwieriger Gedanken oft die Wahl einer Satzform vorausgeht bzw. daß dem Verstehen schwieriger Sätze oft ein Wissen um die grammatische Struktur vorausgeht, wie er selbst es bereits 1907 formuliert hat. “Dazu hat Pick Beobachtungen an Sprachkranken in Fülle gesammelt und in seinem Buche “Die agrammatischen Sprachstörungen” (I. Teil 1913) theoretisch ausgedeutet; das Beobachtete ist also auch psychopathologisch bestätigt und ergänzt worden.” (ST: 254) 2. Er stützt die Widerlegung einer seiner Ansicht nach irrigen Auffassung mithilfe pathologischer Erkenntnisse: Karl Bühler über Aphasieforschung 173 “Schon das genügt, um die generelle Resonanzhypothese der radikalen Motoriker als überspannt und unzulänglich zu erweisen. Völlig kraß aber kommt ihre Insuffizienz an den Tatsachen der zentralen Sprachstörungen zum Vorschein, wo die Beobachtung des Unterschiedes von wesentlich sensorischen und wesentlich motorischen Störungen zu den primitivsten gehört, die man machen kann.” 1 (ST: 270) 3. Er regt Forschungen im Bereich der Sprachpathologie an, um Aufschlüsse über Fragen zu erhalten, die mit den Mitteln der Normalpsychologie nicht zugänglich sind: “Ein Elliptiker hätte den Beweis zu erbringen, daß die empraktisch verwendeten isolierten Nennungen ohne ein irgendwie mitgedachtes (vom Sender und Empfänger mitgedachtes) Satzschema unfähig wären, als eindeutige Verkehrszeichen zu fungieren. Und dieser Beweis wird ihm weder aus dem Bereich der Vorgänge im psychophysischen System gesunder Sprecher noch aus dem Bereich der Vorgänge im psychologischen Systeme von Patienten mit zentralen Sprachstörungen gelingen. Von den letzten aus wäre wohl, wenn’s nötig und lohnend sein sollte, der treffendste Gegenbeweis zu erbringen. Genauer gesagt: es wäre zu beweisen, daß in Fällen, wo die Fähigkeit, grammatisch wohlgebaute Sätze zu bilden, weitgehend gestört ist, die empraktische Verwendung von Nennwörtern nicht in gleichem Ausmaße herabgesetzt sein muß. Es gibt Aphasien und Apraxien, wie man weiß, und die Störungen gehen keineswegs derart parallel, sie kovariieren nicht so gesetzmäßig einfach, wie es die generelle Ellipsenidee voraussetzt.” (ST: 158) Während Bühler den Beweisgang auf dem Gebiet der Sprachpathologie nur skizziert, führt er ihn an einem zweiten Beispiel, der kindlichen Sprachentwicklung, aus. Anstatt aber im einzelnen seine Argumentation wiederzugeben, wollen wir das Augenmerk darauf richten, daß die Aufgaben, die er einerseits der Entwicklungspsychologie und andererseits der Psychopathologie zuschreibt, parallel gehen; beide sollen die Erkenntnisse, die am gesunden, erwachsenen Menschen gewonnen sind, bestätigen bzw. ergänzen. 4. Erwartet Bühler im vorausgehenden Fall von den Sprachpathologen gleichermaßen wie von der Entwicklungspsychologie Aufschlüsse über Fragen, die mit den Mitteln der Normalpsychologie nicht zu erbringen sind, so parallelisiert er im folgenden Beispiel die Funktion der Sprachpathologie mit der der vergleichenden Sprachforschung: Es würde zu weit führen, wollten wir den Kontext des folgenden Zitats ausführlich rekonstruieren; da auch aus dem Zitat allein die Parallelisierung der Funktionen von Sprachpathologie und vergleichender Sprachwissenschaft zu erkennen ist, sei der Zusammenhang nur kurz skizziert: Die Passage bezieht sich auf die Deixis am Phantasma, genauer gesagt auf den dritten Hauptfall (Berg-Mohammed): “Der dritte Hauptfall erweist sich als ein additives Ganzes oder anders ausgedrückt als eine Superposition aus zwei Lokalisierungen, deren eine dem ersten, deren andere dem zweiten Hauptfall begrifflich einzuordnen sind.” (ST: 137) “Wieweit man zu superponieren oder sonstwie zu kombinieren vermag, bleibt vom rein Psychologischen her eine offene Frage. Wir erwarten Aufklärung darüber von den Kennern der Sprachen und den zentralen Sprachstörungen.” (ST: 138) Achim Eschbach und Gabi Willenberg 174 III. “Der Hamburger Sprachtag.” Karl Bühlers Bemühungen, die von der Psychologie herausgearbeiteten Prinzipien der Sprache den Forschern aus anderen mit der Sprache befaßten Disziplinen vorzustellen, beschränkten sich nicht allein auf seine Publikationstätigkeit: Ein erstes Forum, das die Möglichkeit eines interdisziplinären Austausches bieten sollte, war der Hamburger Sprachtag. Zu einem Zeitpunkt, als Karl Bühler das Manuskript für seine Sprachtheorie wenn nicht schon zur Drucklegung beim Verlag eingereicht, so doch sicher in weiten Teilen fertiggestellt hatte, fand 1931 im Rahmen des 12. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ein sogenannter Sprachtag statt. Wir müssen annehmen, daß die Anregung zu diesem im Rahmen eines Psychologenkongresses neuartigen Unternehmen von Karl Bühler selbst ausging, zumal er selbst damals Vorsitzender der Psychologen-Gesellschaft war; hören wir eine Passage aus seiner Ansprache zur Eröffnung des Kongresses: “Ganz neu auf dem Programm ist der Sprachtag. Die menschliche Sprache erschien uns mehr als irgend etwas anderes geeignet, einmal zum Gegenstand einer gemeinschaftlichen Aussprache der Psychologen mit den Vertretern anderer Disziplinen erhoben zu werden. Wird der Kontakt und das Wechselverhältnis, so wie es uns vorschwebt, erreicht zwischen den Sachverständigen der Sprache aus den verschiedenen wissenschaftlichen Heimatgebieten, Linguistik, Medizin, Philosophie, Psychologie, die sich zu unserer Sprachdiskussion treffen, dann dürfen wir uns Erhebliches versprechen von ihr.” (Ansprache des Vorsitzenden, 1932: 5) und er fährt fort: “Heute sind wir [die Psychologen] die Einladenden zu dem Sprachtag im Rahmen unseres Psychologenkongresses und werden außer den engeren Fachgenossen eine Reihe von Gastrednern, Philosophen, Linguisten, Soziologen und die besten Kenner des neubelebten Forschungsgebietes der zentralen Sprachstörungen hören.” (Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile, 1932: 95) Anstatt auf die Vielfalt der erörterten interdisziplinären Aspekte einzugehen, wollen wir an dieser Stelle allein herausarbeiten, welchen Beitrag die Sprachpsychologen von den Sachverständigen der Sprache aus dem Forschungsbereich der Medizin erwarten: In der Einleitung zu seinem eigenen, den Sprachtag eröffnenden Vortrag zeigt Bühler die verschiedenen Aspekte auf, die aus naheliegenden Gründen von den einzelnen wissenschaftlichen Gebieten ins Auge gefaßt werden: “Wenn der Linguist das Lautsystem einer gegebenen Sprache, ihren Wortschatz, ihren Satzbau bestimmt, so sind es Sprachgebilde, wovon die Rede ist. Wenn der Psychologe im Gefüge des sinnvollen Verhaltens des Menschen Sprechereignisse findet, so erfaßt und bestimmt er diese Ereignisse wie anderes, was ihm in derselben Sphäre begegnet, als Handlungen des Menschen, als Handlungen einer besonderen Art oder Klasse. Und wenn der Soziologe unter den Phänomenen und Konstituenten des Gemeinschaftslebens Sprachliches erfaßt und bestimmt, so ist einer der nächstgelegenen Oberbegriffe, unter die er sie bringt, der des Kontakt- und Verkehrsmittels.” (Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile, 1932: 96) Dann geht Bühler auf den uns im vorliegenden Zusammenhang besonders interessierenden Bereich ein: “Ich habe in meiner Aufzählung noch nicht die Sachverständigen aus dem Gebiet der zentralen Sprachstörungen und der Sprachphilosophie genannt. Jene würde ich in unserem Parlamente den Psychologen [also denjenigen, die sich mit dem sinnvollen Verhalten des Menschen, mit seinen Karl Bühler über Aphasieforschung 175 (Sprach-)Handlungen befassen] anreihen und für diese [die Sprachphilosophen] eine Ehrenstellung am Ministertische vorschlagen, so wie es schon Platon in seiner Staatsordnung vorgesehen hatte.” (Das Ganze der Sprachtheorie, ihr Aufbau und ihre Teile, 1932: 97) Wir sehen also zunächst einmal, daß die medizinische Sprachforschung von der Psychologie ganz eng neben die Sprachforschung gestellt wird. Während Bühler in seinem eigenen Vortrag über dies hinaus nicht näher darauf eingeht, welche Bedeutung der medizinischen Sprachforschung im Rahmen einer umfassenden Sprachtheorie zukommt, wird in einem zusammenfassenden Ergebnisprotokoll des “Sprachtags” hervorgehoben, daß die Psychopathologie insbesondere die Möglichkeit bietet, die Gegenstandsbildung in der Sprache zu untersuchen. Man hatte sich folgende Frage gestellt: “2. Wie weit ist die Empirie imstande, etwas von der Beziehung der Sprache zu ihrem Gegenstand zu sagen, oder welche Quellen gibt es, welche Zugänge für den Erfahrungswissenschaftler, sich dem Problem “Sprache und Gegenstandswelt” zu nähern? ” Neben der Möglichkeit von Versuchen mit sinnlosen Silben (die Ach ins Gespräch brachte) sowie der Untersuchung von Taubstummen (die Schole propagierte) kam man überein, daß gerade in dieser Frage von der Psychopathologie Aufschlüsse zu erwarten seien: “Der erwachsene Mensch ist im Kategoriensystem, das durch Sprache und andere Steuerungsmomente gebildet ist, so verfangen, daß er nicht heraus kann und sein Denken darin verharrt, auch wenn das Material, das ihm geboten wird, kein (zumindest primär) sprachlich durchgebildetes ist. Die Entwicklungspsychologie ist der eine und wichtigste Zugang zu diesem Problem. Das Auftreten und die Entfaltung der “Darstellungsfunktion” 1) und die wechselseitige Steuerung können als Beleg und Prüfmaterial für sprachtheoretische Befunde gelten. Die zweite Quelle, die Psychopathologie, kann hier besonders einsetzen und die Präzision der durch die Kinderpsychologie erreichten Resultate durch eine Querschnittsbetrachtung erhöhen (K. Bühler, Ch. Bühler, Cassirer, Goldstein, Strauß).” IV: “Aphasieforschung und Forschung zu anderen Defekten der Sprache im Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien” Ein ständiges Forum für regelmäßigen interdisziplinären Austausch zwischen Medizinern und Psychologen sollte der Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien bilden. Nicht weniger als zwanzig Jahre nachdem Arnold Pick versucht hatte, mit seiner Schrift “Die agrammatischen Sprachstörungen” den Pathologen und Neurologen, die im Bereich der Aphasieforschung tätig sind, die Ergebnisse der Nachbarwissenschaften, insbesondere die Ergebnisse der Psychologie und im noch engeren Sinne diejenigen der Würzburger denkpsychologischen Schule nahezubringen, wurde im Sommersemester 1934 eine seminaristische Arbeitsgemeinschaft zwischen der von Karl Bühler geführten psychologischen Schule und der von Otto Pötzl geführten psychiatrisch-neurologischen oder hirnpathologischen Schule mit dem Namen “Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien” gegründet. Wir wollen im Rahmen dieses Vortrags allein auf die Tätigkeit des Vereins im ersten Jahr seines Bestehens eingehen; der Genauigkeit halber sei jedoch darauf aufmerksam gemacht, daß man sich nicht allein mit sprachpsychologischen bzw. sprachpathologischen Gegenständen befaßte, sondern daß beispielsweise im zweiten Vereinsjahr (SS 1935 und WS 1935/ 36) die Klinik und Pathologie von Thalamus und Hypothalamus zum Achim Eschbach und Gabi Willenberg 176 Thema des Vortragszyklus ausgewählt wurde - übrigens auf Anregung von Karl Bühler (vgl. WmS 1937: 878). Weiter möchten wir anmerken, daß die Zusammenarbeit Karl Bühlers mit den Medizinern der Wiener Universität nicht erst im Jahr 1934 begann. Als der “Verein für angewandte Psychologie und Psychopathologie” gegründet wurde, konnte Karl Bühler bereits auf eine mehrjährige Kooperation mit dem von studentischer Seite organisierten “Akademischen Verein für medizinische Psychologie” zurückblicken. Von jeher, d.h. seit dem Gründungsjahr 1925 hatte Karl Bühler diesen studentischen Verein “in allem und besonders auch durch eigene Vorträge” gefördert (Moszkowicz in WmS 1930: 911). Ein zweites Beispiel für die lange vor der Vereinsgründung erfolgte Zusammenarbeit ist ein Vortrag Karl Bühlers auf der “I. Internationalen Tagung für angewandte Psychopathologie und Psychologie”, die im Sommer 1930 in Wien stattfand und neben anderen von den Wiener Medizinern P. Federn, H. Hartmann, M. Pappenheim und E. Stransky organisiert wurde. (Aus dem sehr knappen Autoreferat des Vortragenden ist leider nur zu entnehmen, daß unter dem Titel “Der Zeichenverkehr beim Menschen und bei den Tieren” über die Bedeutung der Signale im Dienste des Gemeinschaftslebens und über die Symbole bzw. die Darstellungsfunktion als spezifisch menschliches Zeichengerät gesprochen wurde.) Verschiedenenorts, selbst von Charlotte Bühler, die übrigens 1917 in München mit einer sprachbzw. denkpsychologischen Arbeit promoviert hatte, wurde behauptet, daß Karl Bühler seine in Würzburg begonnenen Arbeiten zur Denkpsychologie nicht weitergeführt habe. Es trifft wohl zu, daß Karl Bühler einige der damaligen Würzburger Standpunkte korrigiert hat, daß er aber gänzlich von dem Würzburger Programm der Denkpsychologie abgerückt sei, ist einerseits durch seine eigenen Bemerkungen in der Sprachtheorie zu widerlegen, wo er uns darauf hinweist, daß seine Gedanken um das Phänomen Sprache kreisen, seitdem er wissenschaftlich zu denken vermag; er selbst datiert den Anfang seiner sprachtheoretischen Überlegungen auf das Jahr 1907, das Jahr seiner Habilitation in Würzburg (1934: XXVIII), was auch inhaltlich nachzuweisen ist. Andererseits hat er bis in seine Wiener Zeit immer wieder Dissertationsthemen zu denkpsychologischen Fragen vergeben. Anstatt zu behaupten, daß Bühler die Denkpsychologie aufgegeben habe, vertreten wir daher die an anderer Stelle noch eingehend zu belegende These, daß Bühlers Sprachtheorie eine konsequente Weiterführung des Würzburger Ansatzes ist. Wir können also sagen, daß hier in Wien im Jahr 1934 mit der von Seiten der Klinik vorgeschlagenen Thematik der Aphasie (vgl. WmS 1935: 234) für den ersten Vortragszyklus genau die Idee aufgegriffen wurde, die Pick zwei Jahrzehnte zuvor realisieren wollte. Ein nicht unbedeutender Vorteil für die 1934 gegründete Wiener Forschergruppe allerdings war es, daß Karl Bühler seine Sprachtheorie in der Zwischenzeit erheblich ausgestaltet und schriftlich niedergelegt hatte, so daß sie als Diskussionsbasis genutzt werden konnte. Nachdem wir oben gehört haben, daß Pick sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg um eine Vermittlung der Erkenntnisse der neueren Psychologie an seine Fachkollegen aus der Medizin bemüht hatte, sollten wir annehmen, daß der in Wien neu gegründete Verein bereits auf umfangreiche interdisziplinäre Vorarbeiten zurückblicken konnte. Offenbar war aber der gewünschte Erfolg von Picks Schrift ausgeblieben, denn am 30. April 1934, in der ersten Sitzung, führte Pötzl über die Ziele des neuen Vereins folgendes aus: die Sprachpsychologie und die Pathologie der Sprache hätten sich bis zu diesem Zeitpunkt getrennt voneinander, selbständig entwickelt, nun aber sei es an der Zeit, daß die Vertreter beider Fachkreise zusammenkämen, um ihre Erfahrungen und Ergebnisse einander mitzuteilen. Dazu sollten die Seminarabende Gelegenheit geben. Zweck des Seminars sei es aber auch, gemeinsam zu Karl Bühler über Aphasieforschung 177 studieren. Dabei dürfte sich eine gegenseitige Förderung schon dadurch ergeben, daß einerseits das reiche Material der Klinik den Psychologen zugänglich gemacht wird, andererseits versucht wird, die von den Psychologen ausgearbeiteten Methoden und Ergebnisse an das klinische Material heranzubringen (nach WmS 1935: 234). Leider ist es uns bislang nicht gelungen, die Akten des Vereins für angewandte Psychologie und Psychopathologie zu finden. Um etwas über die Inhalte der einzelnen Arbeitssitzungen zu erfahren, müssen wir daher auf die von Auguste Flach und Karl Theo Dussik in der “Wiener medizinischen Wochenschrift” erstatteten Berichte zurückgreifen. Zweifelsfrei entnehmen können wir aus diesen Berichten, daß es einen regen Austausch zwischen den beide Wissenschaftlergruppen, den Medizinern auf der einen und den Psychologen auf der anderen Seite gegeben hat und daß beide Seiten sehr daran interessiert waren, die vorgestellten Ergebnisse der jeweils anderen Gruppe für ihr eigenes Forschungsgebiet nutzbar zu machen und, soweit dies erforderlich schien, auf ihrem Gebiet zu prüfen. Im Wechsel wurde über pathologische Erscheinungen und über die Ergebnisse der normal-psychologischen Forschung referiert; besonders im zweiten Halbjahr beobachten wir eine Interpretation der von den Klinikern vorgestellten Fälle mit dem Werkzeug der Normalpsychologen, hauptsächlich mit dem Rüstzeug, das Karl Bühler in der Sprachtheorie geliefert hat. Wissenswert wäre es, welche sprach- und denkpsychologischen Erkenntnisse in erster Linie das Interesse der Sprachpathologen fanden. Die - wie schon gesagt - einzigen uns bislang zugänglichen Berichte über die Arbeitssitzungen des “Vereins für angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien” in der Wiener Medizinischen Wochenschrift sind jedoch außerordentlich knapp gehalten; vielfach handelt es sich bei den wiedergegebenen Diskussionsbeiträgen um kurze Kommentare oder Anregungen für mögliche Forschungen, ohne daß dazu näheres ausgeführt würde. Um nicht einen Bericht der Berichte mit weiteren Verkürzungen zu geben, wollen wir hier lediglich mit wenigen Stichwörtern skizzieren, welche der Bühler’schen Erkenntnisse als besonders anregend für die Aphasieforschung erachtet wurden: da ist zunächst die Unterscheidung der verschiedenen Arten des sprachlichen Zeigens: Demonstratio ad oculos, anaphorisches Zeigen und Deixis am Phantasma mit den Unterarten des dramatischen und epischen Zeigens (WmS 1935: 236) zu nennen; dann Bühlers Ausführungen zu den Einwortsätzen, Ellipsen, die erst unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Umfeldes (symphysisch, sympraktisch bzw. synsemantisch) verständlich werden (WmS 1935: 236); die Unterscheidung zwischen dem Klanggesicht und dem phonematischen Signalement der Wörter (WmS 1935: 236); das Prinzip von Lexikon und Syntax (WmS 1935: 942); die Einsicht in die Stellvertreterfunktion der Zeichen (WmS 1935: 942); das Konzept der Bedeutungssphären bei der Wortfindung (WmS 1935: 1000) u.a. V. “Karl Bühlers Zusammenarbeit mit den Wiener Medizinern im Spiegel der Akten der Rockefeller-Foundation.” Trotz eindringlicher Warnungen vor der ungesicherten Authentizität ist in der Vergangenheit ein Text wenigstens drei Mal abgedruckt worden, der mit “Lebenslauf” überschrieben und mit “Heil Hitler! Karl Bühler” unterfertigt ist. Wir haben verschiedentlich zum Ausdruck gebracht, daß u.E. Grund zu der Annahme besteht, mit diesem Text äußerst delikat umzugehen, da er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Karl Bühler selbst verfaßt worden ist. Wir lassen uns vielmehr von der Annahme leiten, daß der äußerst fehlerbehaftete und Achim Eschbach und Gabi Willenberg 178 maschinenschriftlich abgefaßte Text Karl Bühler am Ende seiner Haftzeit zur Unterschrift vorgelegt worden ist, die er jedoch verweigerte. In dem sogenannten Lebenslauf ist die Rede von einem Forschungsprogramm, in dessen Mittelpunkt eine Charakterologie stehen solle, wie sie z.B. in der Militärpsychologie erforderlich geworden ist (cf. Lebenslauf). Wir haben ausführlich und immer wieder darüber nachgedacht und debattiert, ob wir diese Programmatik nicht doch Karl Bühler letztlich zusprechen müssen und vielleicht damit entschuldigen sollen, daß ein Häftling mit opportunistischen Äußerungen das Wohlwollen der Machthaber zu erlangen versucht. U.E. spricht kaum etwas für diese Lesart! Ganz im Gegenteil scheint Karl Bühler in seiner Haftzeit seine menschliche Haltung und seinen Sprachwitz bewahrt zu haben, denn wenn wir schon einräumen, daß dieser sogenannte Lebenslauf auf der Grundlage von Verhörprotokollen zusammengeschrieben worden ist, so kann man es doch nur als bitterste Ironie verstehen, wenn man in unmittelbarem Anschluß an die zuvor erwähnte Forschungsprogrammatik liest: “Das Programm für die Zukunft ist wesentlich gefördert und ausgebaut worden in den Wochen, die ich in Schutzhaft verbrachte” (ibid.). Sigmund Freud, von dem Karl Bühler durch so vieles getrennt war und mit dem er letztlich so vieles teilte, hatte sich bei den Nazischergen in ähnlich artiger Weise bedankt, wie bei Ernest Jones nachzulesen ist: “Den komplizierten Formalitäten, denen sie [die Mitglieder der Familie Freud] sich unterziehen mußten, begegnete Freud mit der ihm eigenen Ironie. Als eine der Bedingungen für ein Ausreisevisum mußte er ein Dokument folgenden Wortlauts unterschreiben: ‚Ich, Professor Freud, bestätige hiermit, daß ich nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich von den deutschen Behörden und im besonderen von der Gestapo mit der meinem wissenschaftlichen Ruf gebührenden Achtung und Rücksicht behandelt wurde, daß ich meiner Tätigkeit ganz meinen Wünschen entsprechend frei nachgehen konnte und nicht den geringsten Grund zu einer Beschwerde habe.’ Als der Nazikommissar das Papier brachte, erhob Freud natürlich keinen Einwand, seine Unterschrift zu erteilen; aber er fragte, ob er einen Satz beifügen dürfe: ‚Ich kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen.’” 2 (Jones, 1984: III: 267f.). Eine völlig andere Perspektive eröffnet sich, wenn ein nun allerdings authentischer Forschungsantrag zu Rate gezogen wird, den Karl Bühler unter dem Titel “A new Viennese research programm in psychology” an die Rockefeller-Foundation gerichtet hat; dieser Forschungsantrag wirft im übrigen auch einiges Licht auf den umfassenden Rahmen der Kooperation Karl Bühlers mit den medizinischen Psychologen der Wiener Universität. Karl Bühler stellt folgende Gesamteinschätzung an den Anfang seines Rockefeller- Antrages: “What psychology especially needs today is collaboration. Not one, but many psychologies exist today: behaviorism, Gestaltpsychology, Psychoanalysis and so on. These differences in the theoretical point of view can be partly attributed to the nature of psychology and partly to its history and, for the time being, cannot be fully overcome. It is, however, uneconomical when the same phenomenon is investigated and ascertained by three or four scientists, each of whom is unaware of the other’s work. They live in different worlds, give the same fact different names. Consequently, their results are at first glance very often not comparable. One who investigates more closely and who knows the various terminologies, realizes with astonishment that not different but the same facts have been investigated.” (Karl Bühler, Vienna, 5th of March 1935) Seinen Beitrag, das Problem der psychologischen Sprachverwirrung, die Krise der Psychologie zu überwinden, sieht er in einer allgemeinen Inventur (general inventary), einem Vergleich der Resultate der verschiedenen psychologischen Schulen, wie er es für die Teilbereiche der Ausdrucks- und Sprachtheorie bereits vorgelegt hatte. Karl Bühler über Aphasieforschung 179 “After thorough discussions with a great many assistants (especially the promissing young scientists in Vienna) I decided to devote the coming years fully to the new plan and to work out the consequences in the whole field of psychology. We have already begun and have been working two semesters in the psychiatry clinic with Professor Poetzl and his assistants on a new investigation of aphasia and schizophrenic phaenomena of speech.” (Karl Bühler, Vienna, 5th of March 1935) Daneben verweist er aber auch auf die Zusammenarbeit im Rahmen eines anderen medizinischen Projektes zur Erforschung der psychologischen Faktoren der nervösen Regulationen (psychological factors of nervous regulations), an dem Professor Durig großes Interesse hat, und das im Übrigen eine Anknüpfung an seine eigenen frühesten medizinischen Forschungen darstellt. Ferner betont er, daß bereits zu den jüngeren Mitgliedern der Wiener psychoanalytischen Schule Kontakte geknüpft worden seien. Über das bereits Aufgezeigte hinaus war für das Projekt eine Kooperation mit den wichtigsten psychologischen Instituten in Europa und Amerika angestrebt. Die Rockefeller Foundation hat den Antrag für dieses umfangreiche Projekt jedoch nur in sehr eingeschränktem Rahmen bewilligt, d.h. im Grunde hat die Stiftung nur einzelne, bereits begonnene Arbeiten weiter gefördert, nicht aber eine Finanzierung des neuen Unternehmens in Aussicht gestellt. Eine eingehende Analyse, aus welchen Motiven die Rockefeller Foundation der Förderung des neuen Projektes nicht positiv gegenüberstand, würde hier jedoch zu weit führen. Kommen wir deshalb zurück auf die Problematik der Aphasieforschung! Zur Beziehung zwischen der Wiener Aphasieforschung in den 30er Jahren und der heutigen Beurteilung von Bühlers Einfluß. Die knappen Berichte über die Arbeiten und Diskussionen im Verein für angewandte Psychologie und Psychopathologie in Wien geben leider keine Anhaltspunkte, ob bzw. welchen Anregungen, die in den Sitzungen des Vereins gewonnen wurden, in eigenständigen Forschungsprojekten nachgegangen worden ist; auch erfahren wir nicht, ob die von Bühler an der Normalsprache abgelesenen Prinzipien von den Kollegen der medizinischen Fakultät auf ihre Brauchbarkeit im Bereich der Sprachpathologie geprüft wurden. Während wir einen Bericht darüber, welche Früchte diese interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft in Wien hervorgebracht hat, vorläufig noch schuldig bleiben müssen, möchten wir abschließend aufzeigen, welche Bedeutung die aktuelle Aphasieforschung den Arbeiten Bühlers beimißt: In einer zusammenfassenden Darstellung über den heutigen Stand der Aphasieforschung erwähnt Angela Friederici, daß vornehmlich durch Pick und in dessen Folge ein Gedanke Bühlers aufgegriffen worden sei, nämlich das Prinzip von Lexikon und Syntax, die Auffassung, daß nicht die isolierten Wörter, sondern die Sätze, Wörter im Satzverband, in Betracht zu ziehen seien, und daß dieser Gedanke gerade heute auch im Rahmen neuerer Grammatiktheorien wieder aktuell ist. Einen Schritt weiter noch geht A.R. Luria, der die Forschungen im Bereich der Neuro- und Psycholinguistik in den 60er und 70er Jahren nachhaltig beeinflußt hat, wenn er als Verdienst Karl Bühlers und der Würzburger Schule nicht nur die Erweiterung des Blickfeldes auf das Satzverständnis, sondern auf das Verständnis ganzer semantischer Texte hervorhebt. “Classical studies were made by Bühler (1908, 1909, 1934) and Bartlett (1932), […] and the work of other representatives of the Würzburg school, carried out in the first decade of this century, is also well known. Achim Eschbach und Gabi Willenberg 180 These studies by members of the Würzburg school, including Bühler, were devoted directly to the analysis of the understanding of complex, abstract sentences and communications, and they established the fact that perception and memorizing of thoughts take place independently of the perception and memorizing of the separate component elements.” (Luria 1976: 178). Während er einige jüngere Untersuchungen anführt, die sich mit der Frage des Verständnisses einzelner Sätze befaßt haben, muß er für die von den “Würzburgern” aufgeworfene und von Karl Bühler in der Sprachtheorie unter den Kapiteln Zeigfeld und Symbolfeld erörterte Fragestellung konstatieren: “the understanding of whole semantic texts and of their general and inner meaning is almost totally unrepresented in the literature.” (Luria 1976: 178). Anmerkungen 1 P. Menzerath & A de Lacerda: Koartikulation, Steuerung und Lauterzeugung. 1933. bes. S. 59. 2 [Jones, Ernest: Sigmund Freud. Leben und Werk. 3 vols. München: dtv 1984.]