Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
283-4
Logik und Freiheit
121
2005
Martin Siefkes
Allen Denkprozessen liegen Zeichen zugrunde, das ist bekannt. Doch wie werden diese Zeichen im Gehirn repräsentiert, in welche Typen gliedern sie sich und wie setzen sie sich zu größerem Bewusstseinsinhalten zusammen? Die Beantwortung dieser Fragen setzt ein semiotisches Modell des Denkens voraus. Lange Zeit wurde für selbstverständlich gehalten, dass die Repräsentation von Zeichen im Gehirn formal-algorithmisch und damit rein symbolisch geschieht; dieses Paradigma ist jedoch in eine Krise geraten. In dieser Arbeit werden Grundüberlegungen für ein alternatives Modell des Denkens vorgestellt, das nicht nur symbolische, sondern auch ikonische und indexikalische Repräsentationsweisen berücksichtigt. Das Modell basiert zugleich auf der Semiotik und auf der Logik von C.S. Peirce: Es verbindet den Zeichen-Dekalog in der Interpretation von Floyd Merrell mit den Existenzgraphen, jenem hochentwickelten und bis heute nicht vollständig erforschten System der graphischen Logik. Damit ist es das erste Modell des Denkens, dem es gelingt, Rationalität (verstanden als logisches Denken) und Kreativität (verstanden als Operation auf "Ähnlichkeit" oder Ikonizität) in systematischen Bezug zu setzen.
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Logik und Freiheit Ein semiotisches Modell des Denkens im Anschluss an C.S. Peirce Martin Siefkes Allen Denkprozessen liegen Zeichen zugrunde, das ist bekannt. Doch wie werden diese Zeichen im Gehirn repräsentiert, in welche Typen gliedern sie sich und wie setzen sie sich zu größeren Bewusstseinsinhalten zusammen? Die Beantwortung dieser Fragen setzt ein semiotisches Modell des Denkens voraus. Lange Zeit wurde für selbstverständlich gehalten, dass die Repräsentation von Zeichen im Gehirn formal-algorithmisch und damit rein symbolisch geschieht; dieses Paradigma ist jedoch in eine Krise geraten. In dieser Arbeit werden Grundüberlegungen für ein alternatives Modell des Denkens vorgestellt, das nicht nur symbolische, sondern auch ikonische und indexikalische Repräsentationsweisen berücksichtigt. Das Modell basiert zugleich auf der Semiotik und auf der Logik von C.S. Peirce: Es verbindet den Zeichen-Dekalog in der Interpretation von Floyd Merrell mit den Existenzgraphen, jenem hochentwickelten und bis heute nicht vollständig erforschten System der graphischen Logik. Damit ist es das erste Modell des Denkens, dem es gelingt, Rationalität (verstanden als logisches Denken) und Kreativität (verstanden als Operation auf „Ähnlichkeit“ oder Ikonizität) in systematischen Bezug zu setzen. 1. Einleitung John R. Lucas argumentierte 1961 in seinem Artikel „Minds, Machines and Gödel“ 1 gegen die Auffassung, dass das Gehirn wie ein Computer funktioniert („computationalism“). Obwohl es nie überzeugende Indizien für diese Auffassung gab, wurde sie zu dieser Zeit von den Anhängern der „Künstliche Intelligenz“-Forschung gerne als Faktum hingestellt, auf dessen Grundlage ihre Behauptungen, in wenigen Jahrzehnten, wenn nicht Jahren einen Computer mit einer dem Menschen in allen Gebieten ebenbürtigen Intelligenz zu bauen, erst gemacht werden konnten. Weniger verständlich als solche durch Betriebsblindheit erklärbaren Äußerungen ist, dass viele Philosophen begannen, diese Auffassung zu übernehmen. Lucas’ Artikel löste daher nicht enden wollende Debatten aus, ebenso wie zwanzig Jahre später das „Chinese Room“- Gedankenexperiment von John Searle. 2 Roger Penrose veröffentlichte schließlich 1989 eine sehr detaillierte und fundierte Argumentation wiederum auf der Grundlage von Gödels Theorem, 3 die er 1994 noch einmal auf 200 Seiten unter Berücksichtigung aller bekannten Einwände präzisierte. 4 KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 212 Martin Siefkes Vielleicht der wichtigste Grund für die Überzeugungskraft, die der „computationalism“ gerade auf Geisteswissenschaftler ausübte, bestand darin, dass er überhaupt ein präzises Modell des Denkens anbot, auf dessen Grundlage Theorien entwickelt werden konnte. Im Moment sieht es für dieses Modell des Denkens nicht gut aus. Es sollten daher alle plausiblen Alternativen in Betracht gezogen werden. In dieser Arbeit möchte ich argumentieren, dass das Peircesche Zeichenmodell, verbunden mit seiner Logik, das Potential für ein solches Modell besitzt. Insbesondere werde ich versuchen, den Peirceschen Zeichen-„Dekalog“ mit den Existenzgraphen in Verbindung zu bringen und einige Hinweise auf die damit entstehenden Möglichkeiten zu geben. 2. Merrell und der Peircesche Zeichen-Dekalog 2.1 Denken in Zeichen Peirce geht davon aus, dass Denken generell in Zeichen stattfindet, die bei ihm „phanerons“ (‚Gedankenzeichen‘) genannt werden. In seinem „Zeichen-Dekalog“ konstruiert er eine Übersicht der Zeichen. Die Grundstruktur des Zeichen-Dekalogs basiert auf zwei triadischen Gliederungen: Zum einen der Aufteilung in Repräsentamen (R), Objekt (O) und Interpretant (I), zum anderen deren Unterscheidung nach den Peirceschen Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit. Durch zweimalige Anwendung der Savanschen Qualifikationsregel (siehe Abschnitt 2.3) entsteht eine Liste von zehn Zeichentypen. Das wichtigste Merkmal des Zeichen-Dekalogs ist daher tatsächlich sein fundamentales Verhältnis zu einem der zentralen Peirceschen Konzepte: der Dreigliederung aller Relationen in Monaden, Dyaden und Triaden. Zentral dabei ist die Peircesche Reduktionsthese, die zum einen aussagt, dass sich alle höherwertigen Relationen (Tetraden usw.) auf Triaden reduzieren lassen, zum anderen, dass es genuine Triaden gibt, die sich nicht weiter reduzieren lassen. Die Gültigkeit der Reduktionsthese ist wohl das wichtigste Merkmal dafür, ob man es bei einer entsprechenden Unterscheidung tatsächlich mit Monaden, Dyaden und Triaden im Peirceschen Sinne zu tun hat. Sie wird in Abschnitt 3.2 untersucht werden und uns eine Verbindung des Zeichen-Dekalogs zur graphischen Logik von Peirce aufzeigen. Floyd Merrell hat sich mit dem Zeichen-Dekalog auseinandergesetzt und einige seiner Möglichkeiten aufgezeigt. 5 In Abschnitt 2.3 wird eine Darstellung in Anlehnung an die Merrellsche Interpretation des Dekalogs gegeben. Dabei können wir zum einen seine Leistungsfähigkeit überprüfen: Wir werden sehen, dass er die Möglichkeit bietet, eine breite Palette von gedanklichen Zeichenphänomenen abzudecken, und dass sich die verschiedenen Zeichenkategorien recht präzise voneinander abgrenzen lassen. Zum anderen jedoch soll die Untersuchung des Zeichen-Dekalogs vor allem die Funktionsweise seines Konstruktionsprinzips beleuchten, die aus einer Anwendung der Peirceschen Kategorienlehre auf die drei Teile des Zeichens R, O und I besteht, und die Plausibilität des dadurch gewonnenen Ergebnisses betrachten. Logik und Freiheit 213 2.2 Die Rolle des Interpretanten Bevor wir den Zeichen-Dekalog untersuchen, ist eine klärende Anmerkung zum Verständnis des Peirceschen Zeichenmodells angebracht. In der Literatur zu Peirce erscheint die Deutung von Repräsentamen und Objekt des Zeichens als relativ einheitlich, weshalb ich auf eine Erläuterung verzichte.6 Leider gilt das nicht für den Interpretanten, so dass ich die in dieser Arbeit zugrunde liegende Auffassung dieses Teils der Triade kurz darstelle. Der Interpretant steht zwischen Repräsentamen und Objekt, er stellt die Beziehung zwischen ihnen her. Dabei geht Peirce von der Rolle des Interpreten aus: Er verweist darauf, dass erst eine bestimmte Information in einem Gehirn die Interpretation eines Zeichens möglich macht; diese nennt Peirce den Interpretant des Zeichens. Dabei kann es sich um eine spontane Assoziation handeln (Erstheit: eine Möglichkeit), um eine spezifische Erinnerung (Zweitheit: ein Einzelfaktum), oder um ein Wissen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten (Drittheit: eine Regel). 7 Bei einem Symbol (also im Bereich der Drittheit) lässt sich der Interpretant noch genauer beschreiben. Die Information eines Symbols (z.B. eines Begriffs, der bei Peirce zu den Symbolen gehört) 8 definiert Peirce als Produkt aus Extension und Komprehension. 9 Im Gegensatz zur Auffassung der logischen Positivisten ist hier die Komprehension (= Intension) nicht bloß ein Mittel zur Bestimmung der Extension; beide sind gleichermaßen Bestandteil der Information. Das lässt sich damit begründen, dass ein Zeichenbenutzer nie die gesamte Komprehension eines Symbols kennt - und selbst wenn, wäre er nicht in der Lage, sie auf alle Objekte nacheinander anzuwenden. So ist für einen Zeichenbenutzer das Wissen, welche Eigenschaften z.B. einem Auto zukommen („hat einen Motor“, „dient der Fortbewegung“) genauso wichtig wie das Wissen, welche Objekte Autos sind und welche nicht („ein PKW ist ein Auto“, „ein Motorrad ist kein Auto“). 10 Der Interpretant stellt nun die Information, die ein einzelner Zeichenbenutzer über ein Symbol hat, dar; diese Information kann sich von der konventionellen Information, die für die große Mehrheit der Zeichenbenutzer charakteristisch ist, unterscheiden. Es leuchtet ein, dass sich dadurch für unterschiedliche Zeichenbenutzer unterschiedliche Objekte ergeben. Hier zeigt sich der große Vorteil der Zeichendefinition von Peirce gegenüber der von Saussure: Sie ist in der Lage, das Verständnis eines Symbols bei verschiedenen Zeichenbenutzern als unterschiedlich, aber in wesentlichen Punkten übereinstimmend zu erklären. Kurz angemerkt sei, dass sie daher dem Widerspruch vieler Poststrukturalisten gegen das zu statische Saussuresche Zeichenmodell nicht unterliegt, ohne diesen Vorteil durch den Verzicht auf eine präzise Beschreibung der Zeichenfunktion zu erkaufen. 2.3 Der Zeichen-Dekalog In seinem Buch „Sensing Semiosis“ gibt Merrell Beispiele für die 10 Zeichentypen des Peirceschen Zeichendekalogs an. 11 Basierend auf dieser Darstellung soll im folgenden eine kommentierte, um Präzisierung und Kohärenz bemühte Version des Zeichen-Dekalogs entworfen werden. Die hinzugefügten Erläuterungen sollen hauptsächlich die Zuordnungen der drei Elemente des Zeichens zu den drei Kategorien plausibel machen. Ein Wort zur Konstruktion des Dekalogs: David Savan hat die dafür gebrauchte Regel als „Qualifikationsregel“ formuliert. 12 Sie besteht darin, dass wir die ‚Wertigkeit‘ des Zeichens, d.h. die Einordnung seiner drei Bestandteile entsprechend den drei Peirceschen Kategorien, in 214 Martin Siefkes der Reihenfolge R x O y I z mit } 3 , 2 , 1 { , , ∈ z y x ; z y x ≥ ≥ konstruieren. Beginnend beim Repräsentamen werden dabei die Wertigkeiten zunächst des Objekts und in einer zweiten Anwendung der Regel des Interpretanten bestimmt. Die Regel besagt, dass Erstheit nur durch Erstheit qualifiziert werden kann; Zweitheit durch Erstheit und Zweitheit; Drittheit durch alle drei Kategorien. Jede Kategorie kann also nur durch gleichwertige oder niedrigerwertige Kategorien qualifiziert werden. Es ergeben sich bei einmaliger Anwendung der Qualifikationsregel sechs geordnete Paare von Kategorienangaben: 1-1, 2-1, 2-2, 3-1, 3-2, 3-3. Durch erneute Anwendung der Regel gelangen wir zu zehn Tripeln von Kategorienangaben: 1-1-1, 2-1-1, 2- 2-1, 2-2-2, 3-1-1, 3-2-1, 3-2-2, 3-3-1, 3-3-2, 3-3-3. Diese Kategorientripel werden nun den drei Bestandteilen des Zeichens in der Reihenfolge R, O, I zugeordnet. 13 Es entstehen die folgenden Zeichen: 1. Qualizeichen (qualisign) Zusammensetzung: R 1 O 1 I 1 Beschreibung: ein Gefühl, eine Wahrnehmung Beispiel: die Wahrnehmung von „Bläue“, die ich von einem blauen Objekt erhalte Erläuterung: R, O und I befinden sich im Bereich der Erstheit, die Peirce mit Möglichkeit assoziiert. Möglichkeit bedeutet hier vor allem, dass noch keine klare Begrenzung des Objekts stattgefunden hat. Blauheit kann vielen Objekten zukommen; die Wahrnehmung von Bläue (R 1 ) zeigt mir, dass „da etwas ist“, doch es gibt viele Möglichkeiten, was das sein kann (O 1 ). 14 2. Ikonisches Sinzeichen (iconic sinsign) Beschreibung: etwas noch nicht klar Unterschiedenes Beispiel: ein Diagramm, solange ich noch nicht verstehe, was es bedeuten könnte Zusammensetzung: R 2 O 1 I 1 Erläuterung: Das Repräsentamen befindet sich im Bereich der Zweitheit, d.h. es ist ein spezifisches Ding mit einer spezifischen Form, ohne als Token eines allgemeinen Typs (z.B. als Darstellung eines Schaltkreises) erkennbar zu sein, was es in den Bereich der „Drittheit“ (der Regel) bringen würde. 3. Rhematisches indexikalisches Sinzeichen (rhematic indexical sinsign) Zusammensetzung: R 2 O 2 I 1 Beschreibung: ein plötzliches Erkennen oder eine überraschte Reaktion angesichts eines Zeichens Beispiele: ein Ausruf der Überraschung angesichts eines Bekannten; die plötzliche Ablenkung des Blicks durch eine Bewegung am Rand meines Blickfelds Erläuterung: Das plötzliche Aufleuchten einer Reflexion am Rand meines Blickfelds ist ein Zeichen für ein bestimmtes Objekt oder Ereignis, etwas Wirkliches und Konkretes mit festen „Raum-Zeit- Koordinaten“ und nicht etwas Unspezifisches wie der Sinneseindruck „blau“. Peirce spricht hier von Zweitheit, die bei diesem Zeichen dem Repräsentamen (dem Aufblitzen) wie dem Objekt zukommt. Logik und Freiheit 215 Warum wird dem Interpretanten, dem spontanen Hinwenden des Blicks, Erstheit zugeordnet? Es handelt sich um die einfachste aller Interpretationsformen, vergleichbar der spontanen Assoziation beim Gedankenzeichen. Sie gehört in den Bereich der Möglichkeit (also Erstheit), weil das Herstellen einer Verbindung sozusagen „ins Blaue hinein“, auf gut Glück erfolgt. Dabei ist nicht die Unbewusstheit entscheidend (der Blickwechsel kann auch mit Absicht erfolgen), sondern allein die Tatsache, dass ich das Ziel meines Blicks vor dem Hinschauen noch nicht kenne. 4. Dizentisches Sinzeichen (dicent sinsign) Zusammensetzung: R 2 O 2 I 2 Beschreibung: Ein der Erfahrung direkt zugänglicher Gegenstand, der auf etwas von ihm Verschiedenes verweist und Information darüber vermittelt. Dies gelingt ihm, da es durch sein Objekt beeinflusst wird und/ oder ihm benachbart ist (Kontiguität). Beispiele: Abbiegerpfeile auf Fahrspuren; Wetterhahn Erläuterung: Der Prototyp für „Benachbartheit“ ist der Pfeil oder auch der ausgestreckte Zeigefinger, die auf etwas hindeuten. „Beeinflussung“, d.h. Ursache-Wirkungs-Relationen, können z.B. der Schatten unter einem Baum sein, der mir signalisiert, dass es dort kühler ist (Ursache als R und Wirkung als O) oder der Regen auf dem Mantel einer Hereinkommenden, der mir signalisiert, dass es draußen regnet (Wirkung als R und Ursache als O). Die Verbindung lässt sich spontan erschließen, es bedarf dazu keiner konventionellen Regel; daher I 2 und nicht I 3 . 5. Ikonisches Legizeichen (iconic legisign) Zusammensetzung: R 3 O 1 I 1 Beschreibung: ein allgemeiner Typ von Zeichen, der auf etwas anderes unspezifisch verweist, dies aber unabhängig vom speziellen Kontext tut Beispiele: ein Diagramm oder Formalismus für einen Zeichenbenutzer, der seine formalen Bildungsregeln verstanden hat, so dass er es für verschiedene Kontexte zeichnen könnte, aber dessen Interpretation ihm nicht bekannt sind (z.B. ein formales System für jemanden, der weiß, nach welchen Regeln es funktioniert, aber nicht, für welche Interpretation diese Regeln entworfen wurden, 15 oder der Besuch eines Fußballspiels durch einen Außerirdischen, der die Regeln des Spiels schnell erfasst hat, aber nicht weiß, was ein Spiel überhaupt ist und wieso Menschen so etwas machen) Erläuterung: Dieses Zeichen ist einer der Schwachpunkte des Zeichen-Dekalogs; es ist schwer, dafür plausible Beispiele zu finden. Wie einem Repräsentamen Drittheit zukommen soll, dem Objekt aber Erstheit, ist schwer zu erklären. 6. Rhematisches indexikalisches Legizeichen (rhematic indexical legisign) Zusammensetzung: R 3 O 2 I 1 Beschreibung: ein Zeichentyp, bei dem jedes seiner Vorkommnisse auf ein kontextspezifisches Objekt verweist; die Interpretation erfolgt assoziativ, automatisch und kontextbezogen Beispiele: ein Demonstrativpronomen, eine Tasse als Zeichen für Kaffee auf einem Automaten Erläuterung: Die Kombination „R 3 O 2 “ kennzeichnet Phänomene der Deixis, die sich durch Drittheit des Repräsentamens (aufgrund der Konventionalität der Tatsache, dass es sich bei „dieser“ um ein Demonstrativpronomen handelt; dass ein Pfeil an einem Ende eine Spitze hat und ich in die 216 Martin Siefkes Richtung dieser Spitze zu sehen oder mich zu bewegen habe; usw.) sowie Zweitheit des Objekts (aufgrund der Kontextabhängigkeit des durch „dieser“ bzw. durch den Pfeil angegebenen Objekts) auszeichnen. 7. Dizentisches indexikalisches Legizeichen (dicent indexical legisign) Zusammensetzung: R 3 O 2 I 2 Beschreibung: ebenfalls ein Zeichentyp, bei dem jedes seiner Vorkommnisse auf ein kontextspezifisches Objekt verweist; die Interpretation erfolgt nach einer kurzen Analyse der Situation, jedoch abhängig vom Einzelfall Beispiele: ein Schritt oder eine Handbewegung, die andeuten, dass man jemandem den Vortritt lässt; der Ausruf „Vorsicht! “ auf der Straße Erläuterung: Die Zweitheit des Interpretanten erklärt sich daraus, dass er einerseits nicht unabhängig von einem Verständnis der Situation zustande kommt (wie es beim Anblick der dampfenden Tasse auf dem Kaffeemaschine der Fall ist), andererseits aber nicht über den Einzelfall hinaus auf eine Regel zurückgreift. Einer solchen Geste oder einem solchen Schrei kann ich die ihm zukommende konkrete Bedeutung nur nach Berücksichtigung gewisser Kontextfaktoren zuordnen: ich schaue mich um, berücksichtige die Personen in der Umgebung, ein sich näherndes Fahrzeug, das Wetter etc., bis ich der Meinung bin, dass ich die Bedeutung des Schreis zutreffend erkannt habe. Der Ausruf „Vorsicht! “ könnte wie ein typischer Index erscheinen, er unterscheidet sich aber z.B. vom Pfeil auf einer Abbiegespur (dizentisches Sinzeichen; R 2 O 2 I 2 ) durch seine konventionelle Bedeutungszuordnung (R 3 ). 8. Rhematisches Symbol (rhematic symbol), symbolisches Rhem (symbolic rheme) oder Term Zusammensetzung: R 3 O 3 I 1 Beschreibung: ein Zeichen, dessen Interpretant kontextunabhängig und ohne bewusste Anwendung einer Regel erfolgt (I 1 ) Beispiele: die Wörter der offenen Klassen jeder Sprache sowie einige der geschlossenen Klassen (z.B. Derivations- und Flexionsmorpheme), nicht aber deiktische Ausdrücke; mathematische und logische Operatoren; jedes Element eines formalen Systems, wenn diesem eine Interpretation zugeordnet ist Erläuterung: Die Erstheit des Interpretanten beruht darauf, dass die Zuordnung normalerweise durch reine Gedächtnisleistung erfolgt. Weder der Kontext des Einzelfalls (Zweitheit) noch eine Regel (Drittheit) spielen für die Bedeutungszuordnung eine Rolle. 9. Dizentisches Symbol (dicent symbol) oder Proposition (Satz) Zusammensetzung: R 3 O 3 I 2 Beschreibung: ein Zeichen, das auf einem oder mehreren rhematischen Symbolen basiert; sein Interpretant funktioniert zwar auf Basis der grammatischen Regeln, aber dennoch in Abhängigkeit von einer Welt (I 2 ) Beispiele: jede Proposition (in der Logik); jeder Satz (in natürlichen Sprachen); jeder wohlgeformte Ausdruck eines formalen Systems mit Interpretation Logik und Freiheit 217 Erläuterung: Konventionen sind zur Interpretation eines Satzes nicht erforderlich (nur idiomatische Wendungen basieren auf Konventionalität); wir interpretieren ihn aufgrund unseres grammatikalischen Wissens, im Falle natürlicher Sprachen aus seinen Lexemen, die als rhematische Symbole (R 3 O 3 I 1 ) die Einheiten des dizentischen Symbols bilden. Die Zweitheit des Interpretanten lässt sich so erklären: Die „Abhängigkeit von einer Welt“, die verhindert, dass es sich um eine nur regelbestimmte Interpretation handelt (I 3 ), liegt darin, dass jeder Satz einen Sachverhalt nur im Rückgriff auf eine bestimmte Welt beschreibt. 10. Argument Zusammensetzung: R 3 O 3 I 3 Beschreibung: ein Zeichen, das auf einem oder mehreren rhematischen Symbolen basiert; sein Interpretant ist konventionell (I 3 ) Beispiele: eine Argumentation; eine bestimmte Textsorte Erläuterung: Hier begegnet uns zum ersten Mal ein konventioneller Interpretant (I 3 ). Eine Argumentation folgt bestimmten Konventionen; sie kann nur nachvollzogen werden, wenn die Regeln des Denkens, auf denen sie basiert, bekannt sind. 2.4 Ein Modell des Denkens Der Zeichen-Dekalog bietet ein klar gegliedertes Modell der Zeichen. Vor allem aber ist seine Darstellung analytisch: Sie gibt die Bausteine der einzelnen Zeichentypen an, zeigt in Savans Qualifikationsregel eine Methode zu ihrer Konstruktion und begründet damit, warum es genau diese und keine anderen Zeichentypen gibt. Zwar lassen sich auch Schwachstellen finden, die teilweise in den Erläuterungen angesprochen wurden. Trotzdem bleibt der Dekalog aufgrund seiner präzisen Konstruktionsweise, die weit über ein bloß empirisch begründetes Postulieren einer Reihe von Zeichentypen hinausgeht, vorläufig das beste Modell für Gedanken-Zeichen (die Peirceschen „phanerons“), das wir besitzen. Aber wie können wir uns die Repräsentation dieser Zeichen im Gehirn vorstellen? Dieser Frage wird der Rest dieser Arbeit gewidmet sein. Im Mittelpunkt steht dabei die graphische Logik von Peirce: die Relationenlogik und die Existenzgraphen. Insbesondere die Existenzgraphen, ein System ikonischer Logik von der gleichen Ausdrucksstärke wie die Prädikatenlogik erster Stufe, demonstrieren eindrucksvoll, dass eine Repräsentation von logischen Propositionen keineswegs nur auf symbolischer Grundlage möglich ist. Und sie bieten auch noch weitere Eigenschaften, die für ein leistungsfähiges Modell der Repräsentation von Zeichen im Gehirn wünschenswert sind; diese Eigenschaften werden im nächsten Abschnitt diskutiert. Doch warum brauchen wir überhaupt ein solches Modell? Reicht es nicht, zu wissen, dass das Gehirn Inhalte mit Hilfe neurologischer Muster darstellt, und anzunehmen, dass die im Peirceschen Zeichendekalog enthaltenen Zeichen auf irgendeine Weise mit Hilfe dieser Muster repräsentiert werden? Nehmen wir den Zeichendekalog als Grundlage eines Modells des Denkens an, dann stellen sich sofort eine Reihe von Fragen der folgenden Art: 218 Martin Siefkes - Wie entstehen die einzelnen Zeichen? Wie gelingt eine sinnvolle Verbindung von Zeichen (gleich ob streng logisch oder assoziativ), wobei offensichtlich neue Zeichen auf eine sinnvolle Weise aus anderen hervorgehen? Welchen Regeln folgen diese Prozesse? - Wenn jedes Zeichen durch andere verursacht wird, wie gelingt es uns, aus dieser Kette auszubrechen und etwas Neues zu denken? Falls es aber Zeichen gibt, die nicht direkt durch andere verursacht werden, wie erkennen wir die Bedeutung dieser neuen Zeichen und ordnen sie in unsere Zeichensysteme ein? - Wie können wir Zeichen erzeugen, die sich auf die Wirklichkeit beziehen? - Wie können wir unser Denken bis zu einem gewissen Grad steuern, ohne zu willkürlichen Ergebnissen zu gelangen, die Nachvollziehbarkeit unseres Denkens für andere zu gefährden und in die Gefahr des Autismus zu geraten? Anders gesagt: Was ermöglicht uns zwischen der Determiniertheit der logischen Deduktion und der Subjektivität freier Assoziation ein Denken, das kreativ und doch für andere verständlich ist? Die folgende Diskussion wird die genannten Fragen nur implizit aufgreifen. Für ihre explizite Beantwortung ist es zu früh; außerdem müsste man jeder von ihnen ein Buch widmen, um sich nicht dem Vorwurf der Simplifizierung auszusetzen. Sie werden aber im Verlauf dieser Arbeit im Hintergrund präsent bleiben, und einige Anhaltspunkte für ihre mögliche zukünftige Beantwortung soll die folgende Diskussion der Peirceschen Logik aufzeigen. Sie haben auch einen Bezug zu den wesentlich spezifischeren Fragen, die im nächsten Abschnitt aufgestellt und in Abschnitt 3.1 bis 3.4 einzeln untersucht werden. Die Merrellsche Konzeption des Peirceschen Zeichen-Dekalogs kann soweit präzisiert werden, dass sie eine ausreichend präzise Erfassung unterschiedlicher Arten von Zeichen zu leisten imstande ist. Sie hat damit das Potential für ein plausibles Modell, um die unterschiedlichen Arten von Gedanken-Zeichen (die Peirceschen „phanerons“) auf ihre Bestandteile R, O und I hin zu überprüfen und jeweils nach den Peirceschen Grundkategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit zu unterscheiden. Damit ist es uns gelungen, die drei Bestandteile des Zeichens und die drei Grundkategorien als Bauteile aller Zeichendarstellung im Gehirn plausibel zu machen. Jetzt müssen wir uns fragen, wie eine Darstellung der auf diese Art gewonnenen Zeichen im Gehirn aussehen könnte. Ein Formalismus scheidet dabei aus zwei Gründen aus: a) Laut „Putnams Theorem“ ist die Bedeutungszuordnung in einem formalen System grundsätzlich auf viele Arten möglich, womit die Vorstellung der klassischen Modelltheorie, man könne die Bedeutung eines Satzes nur durch Angabe der Wahrheitswerte für alle vorstellbaren Situationen eindeutig festlegen, als widerlegt gelten muss: 16 Wüsste man nichts über diese Situationen als das wiederum durch den Formalismus selbst ausgesagte, könnte man der Vieldeutigkeit nicht entkommen. Die Auswahl einer spezifischen Bedeutungszuordnung kann daher immer nur mittels einer Konvention erfolgen. Konventionelle Zeichenbeziehungen setzen jedoch nach der Peirceschen Kategorienlehre Drittheit voraus und werden daher nur den Symbolen zugeschrieben. Damit müsste für die Darstellung auch der einfacheren Zeichentypen Ikon und Index eine Grundlagenebene der symbolischen Darstellung im Gehirn angenommen werden, die dann alle anderen Zeichentypen kodieren würde. Genau so funktioniert die Zeichendarstellung beim Logik und Freiheit 219 Computer, der jedes Zeichen, auch ein Ikon wie eine bildliche Darstellung oder ein Index wie einen deiktischen Ausdruck, letztlich nur symbolisch (über die Kodierung in binärer Logik) repräsentieren kann. Dies widerspricht jedoch der Peirceschen Konzeption, die die grundlegende Natur dieser Zeichen betont und davon ausgeht, dass sich Symbole aus einfacheren Zeichentypen aufbauen und nicht umgekehrt. Der Vorteil der Merrellschen Darstellung des Zeichen-Dekalogs und des von ihm angenommenen Prozesses der „Generierung“ (‚generation‘) der komplexeren symbolischen Zeichentypen aus den einfacheren ikonischen und indexikalischen besteht gerade darin, dass sie diese grundsätzliche Charakteristik bewahren. b) Jeder Formalismus lässt sich durch einen Algorithmus wiedergeben. Doch die Probleme des „computationalism“, der Annahme also, dass das Gehirn auf einem Algorithmus basiert, sind im Laufe der Zeit immer größer geworden und lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass eine solche Lösung tragfähig sein könnte. 17 Wenn wir die kognitive Realität der Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit annehmen wollen, um auf ihnen unseren Zeichen-Dekalog aufbauen zu können, aber keine (selbst wieder symbolische) Kodierung durch einen Formalismus möglich ist, müssen wir auf ein grundlegenderes Darstellungssystem zurückgreifen. Dieses Darstellungssystem sollte folgende Eigenschaften haben: 1. Es sollte nicht-symbolisch sein; 2. es sollte die Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit, die wir für den Aufbau des Zeichen-Dekalogs benötigen, in angemessener Weise unterscheiden; 3. es sollte zumindest teilweise analog sein, da sich analoge Systeme nicht verlustfrei berechnen lassen und daher einen Ausweg aus der Falle der Berechenbarkeit bieten; 4. es sollte die Übergänge zwischen verschiedenen Propositionen bzw. Sätzen darstellen können (logische Beweise bzw. natürlichsprachliche Argumente) und damit einen Ansatzpunkt für die Prozesse des logischen Denkens liefern. Es muss dagegen nicht die Eigenschaft haben, sich direkt auf neuronale Prozesse zu beziehen. Die neuronale Repräsentation eines solchen Modells muss separat betrachtet werden. Nur soviel sei angemerkt: Auf dieser grundlegenden Ebene tritt das Problem, wie das Denken nicht-algorithmisch modelliert werden kann, erneut auf. 18 Im folgenden werde ich zeigen, dass die Existenzgraphen von Peirce als Grundlage eines solchen Darstellungssystems in Frage kommen, da sie alle genannten Forderungen erfüllen. Diese werden in Abschnitt 3 einzeln behandelt: Zu 1: siehe Abschnitt 3.1 „Eine nicht-symbolische Logik“; zu 2: siehe Abschnitt 3.2 „Peirces Relationenlogik“; zu 3: siehe Abschnitt 3.3 „Analoges Denken“; zu 4: siehe Abschnitt 3.4 „Logisches Schließen“. 220 Martin Siefkes 3. Die Peirceschen Existenzgraphen Eine allgemeine Einführung in die Existenzgraphen (EG), das wichtigste System der graphischen Logik von Peirce, kann hier nicht gegeben werden; der Leser sei auf die entsprechenden Werke von Jay Zeman 19 und Don D. Roberts 20 verwiesen. Einen schnellen Einstieg in die Funktionsweise und die Besonderheiten des Systems bietet John Sowa anhand von MS 514, einem Manuskript, in dem Peirce selbst eine knappe Einführung in die Existenzgraphen aufgeschrieben hat, wobei er auf die gewöhnliche Unterscheidung zwischen Aussagen- und Prädikatenlogik verzichtet und die entsprechenden Teile seiner Logik (Alpha und Beta) gemeinsam präsentiert. Der Kommentar von Sowa stellt die Verbindungen zu anderen logischen Entwicklungen von Peirce her und gibt weitere Beispiele für die Möglichkeiten des Systems. 21 3.1 Eine nicht-symbolische Logik 3.1.1 Ikonizität Don D. Roberts betont in seinem Buch über die Existenzgraphen, 22 dass für Peirce die Ikonizität der EG eine wichtige Qualität darstellten. Dies lässt sich auf seinen Begriff des „diagrammatic reasoning“ zurückführen: By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a precept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same precept would have the same results, and expresses this in general terms. 23 Die Bedeutung von „diagrammatic“ beschreibt Peirce folgendermaßen: I dwell on these details […] because they go to show that this syntax is truly diagrammatic, that is to say that its parts are really related to one another in forms of relation analogous to those of the assertions they represent, and that consequently in studying this syntax we may be assured that we are studying the real relations of the parts of the assertions and reasonings; which is by no means the case with the syntax of speech. (MS 514: 15) 24 „Diagrammatisch“ bedeutet für Peirce also, dass die Teile einer Aussage auf der syntaktischen Ebene zueinander in denselben Relationen stehen wie auf der semantischen Ebene. Diese Eigenschaft bezeichnen wir heute als „Ikonizität“, weil sie für den von Peirce „Ikon“ genannten Zeichentyp charakteristisch ist. Die zitierte Beschreibung macht klar, dass sich bei ikonischen Systemen zusätzliche Informationen über die Relationen, in denen die Teile einer Aussage zueinander stehen, direkt ablesen lassen. Eine äquivalente nicht-ikonische Notation könnte zwar denselben Sachverhalt ausdrücken, doch müssten die bei einem ikonischen System direkt ausgedrückten Eigenschaften der semantischen Ebene hier erst erschlossen werden, da sie nicht auf der syntaktischen Ebene repräsentiert sind. 25 Hier zeigt sich ein weiterer Grund, warum eine ikonische Notation plausibler als Grundmodell des Denkens ist als eine symbolische: schließlich ist jenes „Erschließen“ selbst wieder ein Denkprozess. In einem ikonischen Modell stehen die zusätzlich repräsentierten Relationen dagegen ‚direkt‘, nämlich als bestimmte Eigenschaften der Repräsentation selbst zur Verfügung, auf die das Gehirn operieren könnte. Damit würden dem Gehirn mehrere Arten Logik und Freiheit 221 des Umgangs mit logischen Verhältnissen zur Verfügung stehen: die umformende, die durch die Regeln des logischen Schließens bestimmt ist (vgl. Abschnitt 3.4), sowie diejenige der Operation auf den ikonischen Eigenschaften (beispielsweise ein Vergleich bestimmter relationaler Verhältnisse innerhalb zweier komplexer Propositionen). Hier könnte ein Zusammenhang mit jener Denkweise bestehen, die wir als „intuitiv“ oder „assoziativ“ bezeichnen. Diese Überlegung ist jedoch spekulativ und muss hier nicht entschieden werden. Die Möglichkeit der direkten Operation auf den zusätzlich repräsentierten Eigenschaften macht ein ikonisches System für ein Modell des Denkens in jedem Fall interessant. An einigen Beispielen sollen die ikonischen Eigenschaften der EG dargestellt werden: 26 This syntax is so simple that I will describe it. Every word makes an assertion. Thus, man means „there is a man“ in whatever universe the whole sheet offers it. The dash before „man“ is the „line of identity“. this means „Some man eats a man“. 27 Es handelt sich um zwei voneinander getrennte Identitätslinien. Die beiden Vorkommnisse von „man“ sind zwei einstellige Prädikatoren, „eats“ ist ein zweistelliger Prädikator, und die Argumente der beiden einstelligen Prädikatoren werden mit je einem Argument des zweistelligen Prädikators gleichgesetzt. Die Aussage lässt sich genauer als „Es gibt einen Essvorgang, bei dem ein Mann identisch ist mit etwas, das isst, und ein Mann identisch ist mit etwas, das gegessen wird“ paraphrasieren. In Peirce-Peano-Notation 28 lautet die entsprechende Formel: ( ∃ x)( ∃ y)(man(x) ∧ man(y) ∧ eats(x,y)) 29 Ikonizität: Vergleichen wir die Ikonizität des Existenzgraphen (EG) mit der der Peirce-Peano- Notation (PPN): Beide repräsentieren die Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl von Termen ausgesagt wird, durch die entsprechende Anzahl von Symbolen. PPN benutzt zwei Existenzquantoren, EG zwei Identitätslinien. Auch die Übereinstimmung der beiden einstelligen und des zweistelligen Prädikats ist klar zu erkennen. - Bisher hat in punkto Ikonizität keine Notation einen Vorsprung. To deny that there is any phoenix, we shade that assertion which we deny as a whole: Thus what I have just scribed means „It is false that there is a phoenix“. 30 ~( ∃ x)phoenix(x) 222 Martin Siefkes Anmerkung : Meistens wird die Verneinung einfach durch eine geschlossene Linie ausgedrückt, den „cut“ (‚Schnitt‘); jedes ungerade Level lässt sich dabei als schattiert denken. Für die Einführung ist es hilfreich, diese Level tatsächlich zu schattieren. Peirce möchte, dass man sich den „cut“ als einen realen Schnitt durch die Assertionsfläche (‚sheet of assertion‘) denkt, der eine weitere Ebene öffnet. But the following: only means „There is something that is not identical with any phoenix“. 31 ( ∃ x)~phoenix(x) Ikonizität : Die beiden Graphen unterscheiden sich nur dadurch, dass die Identitätslinie im zweiten den „cut“ überschneidet und dadurch verneint wird. (Jede Identitätslinie, die ein offenes Ende hat, gilt als existentiell quantifiziert.) Hier zeigt sich der erste Vorteil gegenüber der PPN: In den EG kann ich sofort erkennen, dass eine Aussage über etwas gemacht wird, das nicht etwas anderes ist, dem ein bestimmtes Prädikat zukommt, während im ersten Fall eine Aussage über etwas gemacht wird, das etwas ist, dem ein bestimmtes Prädikat zukommt. Diese Eigenschaft wird klar im Schneiden der Identitätslinie durch den „cut“ ausgedrückt, die aus Identität eine Nicht-Identität macht. Gleichwertig bezüglich Ikonizität sind die beiden Notationen in punkto Negation, sofern man annimmt, dass die PPN eine implizite Klammerungskonvention enthält: Wenn ich diese Konvention kenne, wird offensichtlich, dass sich die Verneinung ~ in der ersten Formel auf die ganze Aussage bezieht. Die EG drücken dies dadurch aus, dass die ganze Aussage innerhalb des „cut“ steht. Fig. 3 denies fig. 4, which asserts that it thunders without lightening. For a denial shades the unshaded and unshades the shaded. Consequently fig. 3 means „If it thunders, it lightens“. 32 Fig. 4 in PPN: ( ∃ x)(thunder(x) ∧ ~lightening(x)) Logik und Freiheit 223 Fig. 3 verneint Fig. 4: ~( ∃ x)(thunder(x) ∧ ~lightening(x)) Dies lässt sich umformen zu: ( ∀ x)~(thunder(x) ∧ ~lightening(x)) Dies entspricht: ( ∀ x)(thunder(x) ⊃ lightening(x)) Wörtlich heißt dies: „Für jedes x gilt, wenn x donnert, dann blitzt x.“ 33 Ikonizität : Ein kleiner Vorteil kann auch hier gesehen werden. Die PPN hat zwei wichtige Möglichkeiten zur Darstellung der Implikation: als ~(p ∧ ~q) und als p ⊃ q. Letztere ist rein symbolisch; erstere ist ikonischer, da sie zusätzliche Eigenschaften offenbart, nämlich die eine Wahrheitswertezuordnung, die allein eine Implikation falsch werden lässt. 34 Dafür hat sie den Nachteil, drei Operatorensymbole zu benötigen: ~, ∧ , (). Die EG zeigen genau die erste Darstellungsmöglichkeit ~(p ∧ ~q), benutzen dabei jedoch nur zwei Operatorensymbole, den „cut“ und die Identitätslinie, sofern man von der impliziten Konjunktion aller Aussagen auf der Assertionsfläche absieht. 35 Zur Ikonizität der Assertionsfläche : Roberts betont anhand der Implikation den Vorteil, den die Assertionsfläche als ikonische Repräsentation hat: Alles, was darauf geschrieben wird, wird ausgesagt (implizite Konjunktion). In PPN unterscheiden sich p ∧ q und p ⊃ q nur nach Analyse des (symbolischen) Operators. Bei den EG, wo für p ∧ q einfach auf eine beliebige Stelle der Assertionsfläche p und auf eine andere q geschrieben wird, sehen wir sofort, dass beide unabhängig voneinander ausgesagt werden, während bei p ⊃ q weder p noch q ausgesagt wird, wie Fig. 3 zeigt. Der „cut“, der seinen Inhalt von der Assertionsfläche abgrenzt, ist damit eine ikonische Art, nicht ausgesagte Propositionen von ausgesagten abzugrenzen. 36 Die implizite Konjunktion ist nun aber eine Eigenschaft, die vielen der Medien, die wir für Zeichenprozesse benutzen, zukommt: Wenn wir zwei Aussagesätze nacheinander sagen, dann sagen wir für gewöhnlich beide aus. Dasselbe gilt, wenn wir sie nebeneinander auf Papier niederschreiben. Diese Eigenschaft unseres Kommunizierens, über nebeneinander bzw. nacheinander Ausgesagtes unabhängig vom Medium implizit zu konjugieren, ist uns so selbstverständlich, dass wir sie leicht übersehen. Dies könnte ein Hinweis auf die kognitive Realität der Assertionsfläche der EG mit ihrer impliziten Konjunktion sein. 3.1.2 Kontinuität, Symmetrie und Additivität Sowa demonstriert die ikonischen Eigenschaften der EG an einem eindrucksvollen Beispiel, das hier wiedergegeben und diskutiert werden soll. 37 224 Martin Siefkes Analyse der Kontinuität: Eine besondere Eigenschaft der Identitätslinien besteht darin, dass sie die Identität kontinuierlich darstellen: Jede Identitätslinie kann als Verkettung von Dyaden der Form —ist— dargestellt werden. Dadurch werden die folgenden beiden Graphiken von Sowa äquivalent: Im linken Graph wird die Identität der beiden durch je eine Identitätslinie angegebenen Individuen negiert, da diese nur auf der schattierten Fläche verbunden sind. Der Graph kann gelesen werden als „Es gibt zwei Dinge, die nicht identisch miteinander sind“. 38 Im rechten Graph wird eine Stelle der Identitätslinie durch die Dyade —is— („etwas ist identisch mit etwas“) ersetzt; dies kann an unendlich vielen Stellen jeder Identitätslinie erfolgen, ohne die Bedeutung des Graphen zu verändern. ( ∃ x)( ∃ y)x≠y Analyse der Symmetrie und Additivität: Die letzte Formel bezeichnete die Existenz von mindestens zwei Dingen. Im nächsten Beispiel steht der linke Graph für „Es gibt mindestens drei Dinge“, der mittlere Graph für „Es gibt höchstens drei Dinge“ und der rechte Graph für „Es gibt genau drei Dinge“. Dem linken Graph entspricht die Formel, die aussagt, dass ein x, ein y und ein z existieren, von denen jedes mit keinem der beiden anderen identisch ist: ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z) (x≠y ∧ y≠z ∧ x≠z) Dem mittleren Graph entspricht die Formel, die aussagt, dass ein x, ein y und ein z existieren, und dass es falsch ist, dass ein w existiert, dass nicht identisch ist mit x und nicht identisch ist mit y und nicht identisch ist mit z: ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z)~( ∃ w) (w≠x ∧ w≠y ∧ w≠z) Logik und Freiheit 225 Der rechte Graph ergibt sich durch Übereinanderlegen des linken und mittleren; er sagt also, dass es höchstens drei Dinge gibt und mindestens drei Dinge gibt: ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z) (x≠y ∧ y≠z ∧ x≠z ∧ ~( ∃ w)(w≠x ∧ w≠y ∧ w≠z)) Anhand dieses Beispiels zeigen sich mehrere ikonische Eigenschaften der Existenzgraphen: Symmetrie : Ein EG, dem ein symmetrisches Objekt entspricht, kann so gezeichnet werden, dass er diese Symmetrie wiedergibt (wobei eine solche Darstellung unter Umständen mehr als zwei Dimensionen benötigt, um die Kreuzung von Linien zu vermeiden). Additivität : Die (semantische) Konjunktion zweier EG kann durch (syntaktische) Kombination erzeugt werden, indem die ursprünglichen beiden EG übereinander gelegt werden, ohne dass etwas hinzugefügt, gelöscht oder umgestellt werden muss. Im obigen Beispiel ist darauf zu achten, dass die drei Individuenvariablen des einen EG denen des anderen EG durch Verbindung der Identitätslinien einzeln zugeordnet werden. Hierzu reicht es aus, dass die Größe und Ausrichtung der beiden EG zuvor richtig gewählt wurden (siehe Graphik). Die PPN erzeugt denselben Effekt durch Einfügung der zweiten Formel innerhalb des Skopus der drei Existenzquantoren, wobei die entsprechenden Existenzquantoren der eingefügten Formel wegfallen. Beide Formeln werden daher in ihrem Erscheinungsbild verändert. Symmetrische Ikonizität der Zahldarstellung: Jede natürliche Zahl n wird durch ein EG dargestellt, dass sich in n gleiche Untergraphen 39 aufteilen lässt. Die symbolische Notation besitzt keine dieser Eigenschaften. Besonders auffällig ist, dass sie für „mindestens drei“ mit drei Variablen und drei Existenzquantoren auskommt, während sie für „höchstens drei“ und „genau drei“ vier Variablen und vier Existenzquantoren verwenden muss! Ohne Kenntnis der EG könnte man zur Entschuldigung der symbolischen Notation argumentieren, dass die Aussage „höchstens drei“ eben etwas über ein weiteres von diesen drei verschiedenes Individuum aussagt, nämlich dessen Nichtexistenz, und dass ihr damit der Symmetriebruch gegenüber „mindestens drei“ inhärent ist. Der Vergleich mit den EG zeigt jedoch, dass dies falsch ist: Der Symmetriebruch liegt in der Notation begründet, nicht in der logischen Struktur der Wirklichkeit, die sie darstellen will. An anderer Stelle argumentiert John F. Sowa anhand vieler Beispiele, dass die Existenzgraphen in der Lage sind, die natürliche Sprache wesentlich direkter und einfacher wiederzugeben als die klassische Peirce-Peano-Notation der PL. 40 Natürliche Sprache ist aber nicht nur eine der komplexesten und erstaunlichsten kognitiven Leistungen des Menschen, sie ist auch ab einer gewissen Komplexitätsstufe die Voraussetzung vieler anderer Fähigkeiten des menschlichen Geistes. 41 Die Nähe der Existenzgraphen zur natürlichen Sprache kann daher auch als Hinweis auf ihre Nähe zur kognitiven Realität gelten. 226 Martin Siefkes 3.2 Peirces Relationenlogik Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit Forderung 2 aus Abschnitt 2.4: Das Darstellungssystem sollte die Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit, die wir für den Aufbau des Zeichen-Dekalogs benötigen, in angemessener Weise unterscheiden. Nun lassen sich viele Darstellungssysteme denken, die auf irgend eine Weise zwischen den drei Kategorien unterscheiden. Wichtig ist daher der Zusatz „in angemessener Weise“. Semantische Überlegungen kommen dabei nicht in Frage, da es ja um ein Darstellungsmodell unterhalb der semantischen Ebene geht (die Semantik beschäftigt sich mit dem Verhältnis von R und O; wir wollen jedoch R, O und I überhaupt erst repräsentieren). Eine solche Darstellung muss den formalen Kriterien genügen, die Peirce an seine Kategorien stellt. Das zentrale Kriterium ist hier die Peirce Reduktionsthese: Ob es sich einfach um „irgendwelche“ Monaden, Dyaden und Triaden oder aber um Monaden, Dyaden und Triaden im Peirceschen Verständnis handelt, lässt sich an der Gültigkeit dieser These erkennen, die Peirce in seinem Werk mehr als 20 Mal wiederholt. 42 3.2.1 Die Geltung der Reduktionsthese in der Relationenlogik Bevor wir uns der Reduktionsthese zuwenden, müssen wir zunächst sehen, an welcher Stelle in der graphischen Logik von Peirce die Dreiteilung in Monaden, Dyaden und Triaden vorkommt. Dies kann kurz und schmerzlos anhand eines Peirce-Zitats aus dem schon vielstrapazierten MS 514 geschehen: 43 Indivisible graphs usually carry „pegs“ which are places on their periphery appropriated to denote, each of them, one of the subjects of the graph. A graph like „thunders“ is called a „medad“ as having no peg (though one might have made it mean „some time it thunders“ when it would require a peg). A graph or graph instance having 0 peg is medad. A graph or graph instance having 1 peg is monad. A graph or graph instance having 2 pegs is dyad. A graph or graph instance having 3 pegs is triad. Der Medade entspricht in der Aussagenlogik die Proposition. Der Monade entspricht in der Prädikatenlogik das monadische Prädikat (oder die Eigenschaft). Der Dyade entspricht in der Prädikatenlogik das dyadische Prädikat (oder die binäre Relation). Der Triade entspricht in der Prädikatenlogik das triadische Prädikat (oder die ternäre Relation). 44 Jaqueline Brunning setzt sich mit der Peirceschen Reduktionsthese in Bezug auf die Relationenlogik auseinander, die später zur Basis der Identitätslinien der EG wurde. 45 Ausgangspunkt ist die von Peirce vorgenommene Unterscheidung zwischen der „degenerierten“ (‚degenerate‘) und der „genuinen“ (‚genuine‘) Triade. Eine degenerierte Triade ist eine, die durch die Zusammensetzung dreier Dyaden entsteht; sie wird von Peirce so eingestuft, weil sie seiner Reduktionsthese widerspricht, derzufolge eine genuine Triade nicht auf Dyaden reduziert werden. Nehmen wir an, wir haben drei dyadische Relationen mit einem über- Logik und Freiheit 227 einstimmenden Korrelat: D—A, D—B und D—C. Es scheint, als könne man sie zu einer Triade kombinieren: Peirce war es jedoch wichtig, dass diese Art der Kombination keine genuine Triade ergibt. Brunning erklärt dies damit, dass Peirce als Operation zur Kombination von Relationen nur das relative Produkt zuließ. Dieses Produkt, dass wir unten genauer betrachten werden, ist vom algebraischen Typ (n + m) - 1. „Algebraischer Typ“ meint hier die Formel, die die Anzahl der Korrelate der neuen Relation aus denen der alten Relationen errechnet. Zur Kombination dreier dyadischer Relationen müsste man es zweimal anwenden, was den algebraischen Typ (n + m + r) - 2 ergäbe. Die obige Graphik dagegen ließe sich aus D—A, D—B, D—C nur durch eine Operation des algebraischen Typs (n + m + r) - 3 erzeugen. Da Peirce nur das relative Produkt zur Erzeugung genuiner Triaden zulässt, kann eine solche, aus drei dyadischen Relationen zusammengesetzte Triade in seinem System nur eine degenerierte Triade sein. Wie aber kann man dann überhaupt eine Triade erzeugen? Peirce schreibt: „it is permitted to scribe an unattached line of identity on the sheet of assertion and to join such unattached lines in any number of spots of teridentity“ (MS 478). Als Teridentität bezeichnet Peirce jene Stellen einer Identitätslinie, an der sich drei Linien treffen. Es ist sofort einsichtig, dass man jede Anzahl von Termen verbinden kann, ohne eine höherwertige Art der Verbindung als die Teridentität zu benötigen, da ein Anschluss ja an jeder Stelle möglich ist. Damit ist jener Teil der Reduktionsthese, der besagt, dass jede höherwertige Relation auf eine genuine Triade zurückgeführt werden kann, in den Graphen unmittelbar einsichtig. Um den anderen Teil, die Nichtreduzierbarkeit genuiner Triaden, nachzuweisen, müssen wir zeigen, dass sich Teridentität nicht innerhalb der Graphen definieren lässt, sondern als Grundelement angenommen werden muss. Dies ist leicht zu zeigen, da Peirce, wie bereits erwähnt, nur das relative Produkt zur Verbindung zweier Terme zulässt. Betrachten wir zunächst die Funktionsweise des relativen Produkts. Eines seiner Beispiele ist „Lover of a woman“. Dies setzt sich nach Peirce aus „lover of something“ mit der PPN- Formel ( ∃ x)( ∃ z)(Lxz) und dem EG —lover— und „something is a woman“ mit der PPN-Formel ( ∃ t)(Wt) und dem EG —a woman zusammen. 228 Martin Siefkes Hier handelt es sich um ein monadisches Prädikat und eine dyadische Relation. Die Anwendung des relativen Produkts bewirkt, dass sie durch Gleichsetzung eines Korrelats verbunden werden: ( ∃ x)( ∃ z)(Lxz) ∧ ( ∃ t)(Wt) ∧ (z=t) Dies ergibt die Formel ( ∃ x)( ∃ t)(Lxt ∧ Wt) Dem entspricht in den EG die Verbindung zweier „hooks“ oder „pegs“ (offene Enden von Identitätslinien): —lover of— —a woman Dies ergibt den EG —lover of——a woman. Wie man sieht, ergibt sich aus der Zusammenfügung einer Dyade mit einer Monade keineswegs eine Triade. Auch durch die Zusammenfügung mehrerer Dyaden entsteht keine Triade, sondern nur eine längere Kette: —sister of——lover of——a woman Das folgende Beispiel, das Brunning nach MS 292 zitiert, zeigt zwei zusammenhängende Triaden: 46 „Somebody steals something from somebody and gives it back.“ Der rechte EG ist mit dem linken äquivalent. Beim linken EG verstecken sich Triaden in den Relationsausdrücken „gives (to)“ und „steals (from)“, an die ohne genauere Begründung je drei Existenzlinien angehängt werden, die für die drei Korrelate stehen: den Dieb, den Bestohlenen und das Gestohlene/ Zurückgegebene. Beim linken EG sieht man, dass für jede Triade drei Dyaden erforderlich sind, was eine Gesamtzahl von sechs dyadischen Ausdrücken ergibt. Diese werden paarweise durch Identifizierung je zweier Korrelate verbunden (dies ergibt die drei Identitätslinien auf der rechten Seite). Zwei neue Prädikate werden eingeführt („act of gift“ und „act of theft“), die mit Logik und Freiheit 229 je drei der freibleibenden Korrelate identifiziert werden (die beiden Existenzlinien auf der linken Seite). Die vierfache Kreuzung der Identitätslinien kann problemlos als zwei Teridentitäten erkannt werden (durch Verschiebung der von links kommenden Linien nach oben oder unten); für jede Triade sind hier also zwei Teridentitäten vonnöten! 47 Durch Umformungen solcher Art können die Verhältnisse explizit gemacht werden. Es ergibt sich die ausführliche Formel ( ∃ r)( ∃ s)( ∃ t)( ∃ u)( ∃ v)( ∃ w)( ∃ x)( ∃ y)[(ACTGIFT(x) ∧ Pxr ∧ Exs ∧ Oxt) ∧ (ACTTHEFT(y) ∧ Ryu ∧ Iyv ∧ Pyw) ∧ t=u ∧ s=v ∧ r=w] In Worten lässt sich der Graph wiedergeben als: Es gibt eine Schenkung und es gibt einen Diebstahl, und der Ausführende bei der Schenkung ist identisch mit dem Ausführenden beim Diebstahl, und der Empfänger bei der Schenkung ist identisch mit dem Bestohlenen beim Diebstahl, und das Geschenkte bei der Schenkung ist identisch mit dem Gestohlenen beim Diebstahl. Das Beispiel zeigt die Nichtreduzierbarkeit von genuinen Triaden. Im linken EG ist nichts Genaueres über die Natur der beiden Triaden zu erkennen. Doch die Umformung in den rechten EG zeigt es: Hier ist jede der beiden Triaden in drei Dyaden aufgelöst - doch die Drittheit verschwindet nicht! Sie drückt sich weiterhin in den Teridentitätspunkten aus, die notwendig sind, um die drei Dyaden jeweils miteinander zu verbinden. Kommen wir noch einmal zurück auf die Reduzierbarkeit höherwertiger Relationen, wozu wir am Anfang dieses Abschnitts bereits den algebraischen Typs des relativen Produkts betrachtet hatten. Für die graphische Darstellung der Reduzierung gibt uns Robert W. Burch 48 den entscheidenden Tipp. Die Relation R(x 1 x 2 ,…, x n ) lässt sich durch n dyadische Terme I 12 , I 22 , …, I n2 und einen neu definierten modadischen Term R 1 ersetzen, die sich nun durch relatives Produkt verbinden lassen: 49 ( ∃ y)[R 1 (y) ∧ I 12 (y,x 1 ) ∧ I 22 (y,x 2 ) ∧ … ∧ I n2 (y,x n )] Dies bedeutet, in der graphischen Syntax der Relationenlogik, dass der n-adische Term 230 Martin Siefkes ersetzt wird durch (Anmerkung: Der Trick besteht darin, dass eine Monade konstruiert wird, die, mit den anderen Dyaden relativ multipliziert, für Gleichsetzung von mehr als drei Variablen sorgt. Im obigen Beispiel von Brunning hatten wir für jede der beiden Triaden eine Monade konstruiert, die Prädikate „act of gift“ und „act of theft“). Zum Abschluss noch einmal je ein Beispiel für eine degenerierte und eine genuine Triade: „Bruder der Kollegin seiner Freundin“ ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z)(Bxy ∧ Kyz ∧ Fzx) „Diebstahl (durch jemanden, an jemandem, von etwas)“ ( ∃ u)( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z)(Du ∧ Rux ∧ Iuy ∧ Puz) 50 3.2.2 Die Reduktionsthese als Verbindung zwischen Existenzgraphen und dem Zeichen-Dekalog Die Gültigkeit der Reduktionsthese zeigt, dass die Monaden, Dyaden und Triaden, die wir in der Relationenlogik und in den EG finden, mit den Monaden, Dyaden und Triaden innerhalb des Zeichen-Dekalogs in enger Verbindung stehen. Nicht umsonst betont Peirce immer wieder, wie wichtig die Nichtreduzierbarkeit der Triadizität des Zeichens ist. Dies gilt auch für die Nichtreduzierbarkeit von genuinen Triaden auf Dyaden, und von genuinen Dyaden auf Monaden in der Relationenlogik, wobei letzterer Punkt hier nicht ausgeführt werden konnte. Damit ist die Unterscheidbarkeit zwischen Erstheit, Zweitheit und Drittheit in den Existenzgraphen gegeben. Hier muss jedoch gewarnt werden: Die Identitätslinien eines EG und die Tatsache, dass sie dasselbe Korrelat für einen, zwei oder drei Terme bezeichnen, ist nicht mit den Zeichentypen Index, Ikon und Symbol gleichzusetzen. Obwohl die Identitätslinien Grundlage der ikonischen Logik der EG sind, sind sie selbst als Symbole anzusehen; das gilt für unverzweigte Identitätslinien ebenso wie für verzweigte. 51 Jedes Ikon ist eine Monade, jeder Index eine Dyade, jedes Symbol eine Triade; doch nicht alle Monaden, Dyaden und Triaden sind Index, Ikon bzw. Symbol! Dennoch zeigt die Gültigkeit der Reduktionsthese für die Existenzgraphen, dass wir ein Experiment wagen können: Wir können versuchen, uns die EG als Denkmuster vorzustellen, die aus verschiedenen Zeichentypen zusammengesetzt sind. Wenn wir Peirce folgen, müssen Logik und Freiheit 231 wir annehmen, dass sich unser Denken aus den drei Grundtypen Index, Ikon und Symbol zusammensetzt, wobei es sich um eine Grobklassifikation handelt; wir erinnern uns, dass sie durch die Anwendung von Savans Regel weiter qualifiziert werden können, so dass wir schließlich zum Zeichen-Dekalog gelangen. Wenn Erstheit, Zweitheit und Drittheit der drei Teile jedes Zeichens (R, O und I) aber ausreichen, um es zuverlässig zu klassifizieren, dann könnten sich die Existenzgraphen als geeignet erweisen, die Syntax der Gedankenprozesse im Gehirn darzustellen. Dabei müssen wir uns jedoch zweierlei klarmachen: Zum einen, dass wir zwischen möglichen Repräsentationen für R, O und I einerseits und zwischen der (schwierigeren) Frage unterscheiden müssen, ob auch für diese Grundtriade des Zeichens selbst eine Repräsentation als EG vorstellbar ist. Zum anderen, dass das Gehirn mit Sicherheit keine Existenzgraphen, wie wir sie auf dem Papier sehen, repräsentiert und speichert. Hier geht es nicht um die Frage der Repräsentation auf neuronaler Ebene, sondern um ein semiotisches Modell des Denkens. Dieses Modell des Denkens soll einen Vorschlag machen für den Zusammenhang zwischen den Zeichentypen, mit denen sich die Semiotik beschäftigt, und den Denkinhalten, mit denen sich die Logik beschäftigt. Die Repräsentation dieses Modells auf neuronaler Ebene dagegen ist keine Frage, die allein aus semiotischer Sicht geklärt werden kann; hier müssen genauere Erkenntnisse der Hirnforschung abgewartet werden. 52 3.3 Analoges Denken In diesem Abschnitt wollen wir die Existenzgraphen als analoge Logik untersuchen. Nur eine nicht-berechenbare Logik kann unserem Denken gerecht werden, soviel ist sicher - aber bietet die Analogität hier einen Ausweg? Zu Beginn soll ein Vergleich zwischen den Peirceschen „Existenzgraphen“ (EG) und den „Conceptual Graphs“ (CG) von John Sowa gezogen werden. Er dient als Einführung zu einer Analyse eben jener Eigenschaft, die das System der EG ungewöhnlich machen: ihrer Analogität, die sich aus der Verwendung der Kontinuität (bei „cuts“, Identitätslinien und Assertionsfläche) ergibt. Die hier gegebenen Erläuterungen sind ergänzend zu den bereits in 3.1 gezeigten ikonischen Grundeigenschaften der EG gedacht. 3.3.1 Die Analyse von Identität und Kontinuität Peirce hielt seine EG für überlegen gegenüber der symbolischen Logik, die er selbst zuvor um den Allquantor und den Existenzquantor erweitert hatte. 53 Sehr aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Passage, in der Peirce die „selectives“ diskutiert. Dies sind Zeichen, die bei komplizierten Beta-Graphen zur besseren Lesbarkeit die Identitätslinien ersetzen können, indem sie jedes Ende einer Identitätslinie mit einem Buchstaben des Alphabets markieren und dann die Linien löschen. Peirce betont jedoch explizit, dass diese Zeichen eine zweitklassige Notation erzeugen und möglichst vermieden werden sollten. Für die meisten heutigen Logiker wird dies unverständlich erscheinen - schließlich sind die beiden Notationen von ihrer Ausdrucksstärke her äquivalent! Peirce erläutert dazu, dass die Identität der beiden Buchstaben nur durch eine spezielle Konvention für ihre Interpretation („convention of interpretation“) zustande kommt (CP 4.561). Dasselbe gilt natürlich auch für jede Variable in einer gewöhnlichen algebraischen Notation: Es kennzeichnet die Symbolizität von Variablen, bei dem die Bedeutungszuordnung 232 Martin Siefkes konventionell erfolgt und damit auch die Identität verschiedener Token desselben Typs konventionell gewährleistet wird. Man vergleiche dies mit einer ikonischen Darstellung, wo keine konventionelle Bedeutungszuordnung erfolgt und deshalb auch keine Token-Identität konventionell festgelegt werden muss: Sind die Token eines Repräsentamens (oder Signifikanten, in Saussurescher Terminologie) identisch, verweisen sie von alleine auf dasselbe Objekt (bzw. Signifikat). Es könnte vielleicht wie eine persönliche Vorliebe erscheinen, dass Peirce die Ikonizität der Symbolizität vorzieht, doch er kann gute Gründe dafür angeben: Die symbolische Darstellung ist weniger analytisch. „There is here no analysis of identity“ (CP 4.561). Peirce ging es aber bei seiner Logik um eine Analyse des „mathematical reasoning“, womit er allgemein das deduktiv schließende Denken bezeichnete. 54 Im Gegensatz zu manchem späteren Logiker verstand Peirce, dass dabei die Identität auch einer Analyse bedarf. Wir wissen heute, dass das Gehirn kein präzise arbeitender, mechanischer Apparat ist, eine Vorstellung, die sich seit dem 18. Jahrhundert und seiner Maschinengläubigkeit zunehmend verbreitet hatte. Würde das Gehirn symbolisch arbeiten, dann wäre auch die Darstellung der Identität kein Problem, da die angenommenen Symbole gewöhnlich als Bestandteile eines Kodes betrachtet werden und damit die Unterscheidung zwischen Token (dem Auftreten eines Kode-Elements) und Typ (dem Kode-Element selbst) wirksam wird. Wenn zwei Token auftauchen, verweisen sie als Bestandteile eines festgelegten Kodes auf das absolut Gleiche. Arbeitet das Gehirn aber „analog“ (oder ikonisch), muss dies keineswegs der Fall sein. Tatsächlich scheint es unwahrscheinlich, dass Menschen jemals zweimal den gleichen Begriff verwenden u nd absolut dasselbe darunter verstehen können (in der Realität ist eine Kontamination der Begriffe durch den jeweiligen Kontext wahrscheinlicher) - dies ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt noch Spekulation. Entscheidend ist, dass Peirce offenbar annahm, dass das Gehirn, wenn es in einer Proposition die Identität von Termen annehmen will, gut daran tut, diese direkt zu verbinden. Symbolisch zweimal dieselbe Variable zu schreiben, ist verglichen damit ein unsicheres Verfahren, weil es immer möglich ist, dass die Variablen doch nicht genau dasselbe bezeichnen. 55 Sollte diese Überlegung die Gründe, aus denen Peirce seine Existenzgraphen gegenüber der symbolischen Logik für überlegen hielt, zutreffend wiedergeben, dann ahnte Peirce, was uns die Neurologie heute nahe legt: Dass unser Denken ein höchst komplexer, immer von Interferenzen bedrohter Prozess ist, bei dem keine neuronale Repräsentation und keine mit Hilfe der Umformung neuronaler Repräsentationen erzeugte Argumentation vor Interferenzen durch zunächst unbeteiligte Neuronen sicher ist, die wir als „Assoziation“, „Konnotation“, „plötzliche Erinnerung“ usw. erleben. Nun besitzen die Existenzgraphen natürlich verschiedene Token eines Typs, z.B. zwei verschiedene Identitätslinien. Diese jedoch verweisen niemals auf ein- und dasselbe Objekt; dieses wird immer durch eine Identitätslinie verbunden. Damit analysieren die EG die Identität selbst, was in Peirce' Augen ein großer Vorteil war. Eng mit dem Problem der Identität verbindet sich das der Kontinuität. Peirce wollte eine Logik schaffen, die Kontinuität und Diskontinuität auch tatsächlich darstellt: Auch dies gelingt ihm mit den EG, wo eine Existenzlinie, die nicht von einem „cut“ gekreuzt wird, Kontinuität darstellt, eine Existenzlinie, die von einem „cut“ gekreuzt wird, dagegen Diskontinuität darstellt. Logik und Freiheit 233 Betrachten wir noch einmal einen Ausschnitt aus MS 514: 56 Thus fig. 5 denies that there is a man that will not die, that is, it asserts that every man (if there be such an animal) will die. It contains two lines of identity. Peirce spricht von zwei Linien, eine etwas unglückliche Ausdrucksweise; er sollte lieber von zwei Teilen einer Linie oder von einer durchgeschnittenen Linie sprechen, da zwei getrennte Existenzlinien zwei verschiedene Argumentvariablen für die beiden einstelligen Prädikate anzeigen würden. 57 It denies which fig. 6 asserts, „there is a man that is something that is something that is not anything that is anything unless it be something that will not die“. I state the meaning in this way, to show how the identity is continuous regardless of shading; and this is necessarily the case. In the nature of identity that is its entire meaning. For the shading denies the whole of what is in its area but not each part except disjunctively. Die etwas schwer verständliche Formulierung für die Existenzlinie könnte man auch so ausdrücken: „Es gibt etwas, das identisch ist mit etwas, das identisch ist mit etwas, das nicht identisch ist mit etwas, das identisch ist mit etwas, das sterben wird“. Jeder Punkt auf der Linie (und es sind natürlich unendlich viele) kann auf diese Weise beschrieben werden: Die Identität wird kontinuierlich auf der Existenzlinie weitergegeben. Zeman betont, dass die überlegenen analytischen Eigenschaften bezüglich Identität und Kontinuität für Peirce so wichtig waren, dass sie die Überlegenheit der EG gegenüber symbolischer Logik begründeten. 58 Leider bringt Zeman „diskontinuierliche“ und „geschnittene“ Existenzlinien durcheinander und missachtet dabei den mathematischen Begriff der Kontinuität. 59 Um das zu vermeiden, können wir den Sachverhalt so ausdrücken: - Identität von Individuen wird durch nicht (von einem „cut“) geschnittene Kontinuität angezeigt; - Nicht-Identität von Individuen wird durch (von einem „cut“) geschnittene Kontinuität angezeigt; - getrennte Untersuchung von Individuen wird durch Diskontinuität (oder Separation) angezeigt. 234 Martin Siefkes Ebenso nimmt Peirce für die Assertionsfläche zweidimensionale Kontinuität an, wie das folgende Zitat zeigt: 60 You may regard the ordinary blank sheet of assertion as a film upon which there is, as it were, an undeveloped photograph of the facts in the universe. I do not mean a literal picture, because its elements are propositions, and the meaning of a proposition is abstract and altogether of a different nature from a picture. But I ask you to imagine all the true propositions to have been formulated; and since facts blend into one another, it can only be in a continuum that we can conceive this to be done […]. Of this continuum the blank sheet of assertion may be imagined to be a photograph. Und wenn es um Gamma-Graphen geht, die alle möglichen Welten mit berücksichtigen sollen, ist sogar eine dreidimensionale Menge von Assertionsflächen, die durch „cuts“ miteinander verbunden werden können und auf die vierdimensionale Graphen geschrieben werden sollten, 61 vorgesehen! Dieses Projekt scheiterte jedoch daran, dass Peirce für die Gamma- Graphen keine vollständige Menge von Inferenzregeln mehr angeben konnte. 62 3.3.2 Analogität als Ausweg? Dass Peirce die Kontinuität als Darstellungseigenschaft der EG so wichtig war, erklärt sich daraus, dass er auch das Denken als kontinuierlichen Prozess ansah. 63 Und in der Tat hatte Peirce dieselbe Idee, die in dieser Arbeit vertreten wird, wenn er schreibt: „the system of existential graphs is a rough and generalized diagram of the Mind“. 64 Hier sind wir nun mit einem Mal wieder bei unserem Grundproblem angekommen: der Frage, wie das Gehirn denn Inhalte repräsentieren kann, wenn dem Denken kein Algorithmus zugrunde liegt. Eine plausible Interpretation dafür ist Analogität . Analoge Prozesse sind in der Regel nicht verlustfrei in digitale umsetzbar; diese können sie nur mehr oder weniger gut annähern. Eine solche Annäherung stellt bei linearen Prozessen in der Regel kein besonderes Problem dar; man muss nur wissen, wie genau man sie haben will, und entsprechend mehr oder weniger Rechenaufwand investieren. Bei nicht-linearen Prozessen dagegen addieren sich winzigste Abweichungen in nicht vorhersehbarer Weise auf. Diese extreme Sensibilität gegenüber den Anfangsbedingungen führt dazu, dass solche Prozesse überhaupt nicht mehr im strengen Sinne berechenbar sind, obwohl häufig ein typischer Verlauf berechnet werden kann. Analogität ist also eine Annahme, die eine Erklärung für das nicht-algorithmische Funktionieren des Denkens bieten könnte. 65 Und die von Peirce betonte Kontinuität seiner Logik ist natürlich nichts weiteres als Analogität! 66 Zu fragen ist allerdings, ob Analogität nicht eine zu schwache Form der Nicht-Berechenbarkeit erzeugt; so lassen sich, wie erwähnt, die Prozesse des Wetters nicht vorausberechnen, sie sind jedoch in ihrem typischen Verlauf durchaus berechenbar. Fassen wir zusammen : Peirce war der Meinung, dass die EG eine Analyse der Identität boten, während die zuvor von ihm selbst weiterentwickelte symbolische Logik diese unanalysiert voraussetzen muss. Dies geschieht über eine kontinuierliche Weitergabe der Identität auf der Identitätslinie. Aus unserer Sicht bedeutet das einen großen Schritt in Richtung „kognitive Realität“. Zwar ist es durch die in der Einleitung erläuterten Ergebnisse keineswegs ausgeschlossen, dass das Gehirn Inhalte symbolisch repräsentiert; doch die Tatsache, dass es nicht-algorithmisch arbeitet, schließt eine Funktionsweise auf rein symbolischer Basis aus. Logik und Freiheit 235 Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass analoge Prozesse in unserem Denken eine Rolle spielen. 3.4 Logisches Schließen In diesem Abschnitt soll die Möglichkeit zum logischen Schließen innerhalb der EG erläutert werden. Dabei wird uns nicht nur die Funktionsweise der Schlussregeln interessieren; wir werden vor allem sehen, dass mit ihrer Hilfe größere analytische Genauigkeit bei starker Vereinfachung des Schließens gegenüber konventioneller symbolischer Logik gegeben ist. Für unseren Gesichtspunkt des Vergleichs der kognitiven Realität der graphischen und der symbolischen Logik spielt es vor allem eine Rolle, dass ein kompliziertes „Neuschreiben“ bei den EG unnötig ist: Logisches Schließen wird zu einem Prozess der Umwandlung eines Graphen. Dies verwandelt den Schlussprozess in einen zeitlichen Ablauf (vgl. die Beispiele in Abschnitt 3.4.2); Peirce spricht von „Moving pictures of thought“. 67 Man vergleiche dies mit der konventionellen Methode zur Darstellung logischer Schlüsse, bei der die Stadien des Schlusses in tabellarischer Form aufgeschrieben werden. Da immer wieder auf frühere Stadien zurückgegriffen werden muss, ist eine Speicherung des ganzen Beweisprozesses notwendig. Dagegen erlauben es die Schlussregeln der EG, einfach so lange an einer Proposition ‚herumzuspielen‘, bis man das gewünschte Ergebnis hat. Auch hier zeichnet sich also ein Vorteil bezüglich der kognitiven Realität ab (vgl. Abschnitt 3.4.3). 3.4.1 Inferenzregeln Wie jede formale Logik besitzen auch die Existenzgraphen Schluss- oder Inferenzregeln, von Peirce „Permissions“ genannt. Sie sind erstaunlich einfach und übersichtlich. Dennoch haben sie gegenüber den Inferenzregeln der Prädikatenlogik verblüffende Vorteile. Dazu gehört die schnellere Ableitbarkeit; so ist die Ableitung des Leibnizschen Praeclarum Theorema in nur 7 Schritten möglich. 68 Neben diesem eher technischen Vorteil besitzen sie jedoch auch eine größere analytische Genauigkeit, wie ein Vergleich mit der Fregeschen „Begriffsschrift“ zeigt (Abschnitt 3.4.2). Peirce formuliert die folgenden Regeln: 1st Permission. Any graph-instance on an unshaded area may be erased; and on a shaded area that already exists, any graph-instance may be inserted. This includes the right to cut any line of identity on an unshaded area, and to prolong one or join two on a shaded area. (The shading itself must not be erased of course, because it is not a graph-instance.) 2nd Permission. Any graph-instance may be iterated (i.e. duplicated) in the same area or in any area enclosed within that, provided the new lines of identity so introduced have identically the same connexions they had before the iteration. And if any graph-instance is already duplicated in the same area or in two areas one of which is included (whether immediately or not) within the other, their connexions being identical, then the inner of the instances (or either of them if they are in the same area) may be erased. This is called the Rule of Iteration and Deiteration. 3rd Permission. Any ring-shaped area which is entirely vacant may be suppressed by extending the areas within and without it so that they form one. And a vacant ring shaped 236 Martin Siefkes area may be created in any area by shading or by obliterating shading so as to separate two parts of any area by the new ring-shaped area. 69 Die drei grundlegende Werke zu den Existenzgraphen von Don D. Roberts, 70 Sun-Joo Shin 71 und Jay Zeman 72 untergliedern die „Permissions“, um sie übersichtlicher zu machen; sie kommen dabei jedoch auf eine unterschiedliche Anzahl von Regeln. Für den vorliegenden Zweck können wir es jedoch bei der Wiedergabe der Peirceschen Formulierung belassen. 3.4.2 Die analytische Genauigkeit der Inferenzregeln Die analytische Genauigkeit ist für Peirce ein wichtiges Kriterium für die Qualität einer Logik. Wer das nicht beachtet, könnte zu der Überzeugung kommen, dass die Geschwindigkeit eines Beweises die Hauptsache ist: „Namely he would suppose the object was to reach the conclusion from given premises with the utmost facility and speed, while the real purpose is to dissect the reasoning into the greatest possible number of distinct steps and so to force attention to every requisite of the reasoning.“ 73 Die Existenzgraphen ermöglichen tatsächlich überraschend schnelle Beweise. Zu Recht weist Peirce jedoch darauf hin, dass ein wichtigeres Kriterium die analytische Genauigkeit der Darstellung ist (die natürlich nicht mit Umständlichkeit verwechselt werden darf); doch auch hier sind die EG anderen logischen Systemen überlegen. Sowa zeigt dies anhand der beiden Inferenzregeln aus Freges „Begriffsschrift“, deren Herleitung aus den Inferenzregeln der EG er demonstriert; 74 die Möglichkeit dieser Herleitung beweist die größere analytische Genauigkeit der EG. Die erste Inferenzregel ist der modus ponens , der voraussetzt, dass ein beliebiger Satz p und die Implikation p ⊃ q gegeben sind: Sowa orientiert sich an den Nummern für die Inferenzregeln von Peirce selbst, unterteilt diese aber in 1i, 2i, 3i und 1e, 2e, 3e. „i“ steht für „insertion“ und bezeichnet die jeweilige Unterregel zur Einfügung, „e“ für „erasure“ die Unterregel zur Löschung. Mittels 2e wird zunächst das innere Auftreten von p gelöscht. 1e ermöglicht auch die Löschung des äußeren p, das wir jetzt nicht mehr brauchen. Schließlich wird durch 3e die leere schattierte Fläche (doppelte Verneinung) gelöscht. Die andere Inferenzregel ist die Allquantor-Beseitigung. Sie ermöglicht die Einsetzung eines Terms t für eine universell quantifizierte Variable in einem Satz der Form ( ∀ x)P(x). Der Term t wird in EG durch den Graph —t ausgedrückt. Der Allquantor wird als eine Linie dargestellt, deren äußerer Teil sich in einer schattierten Fläche befindet: Logik und Freiheit 237 Im ersten Schritt wird durch 2i eine Wiederholung der äußeren Identitätslinie in der schattierten Fläche erzeugt. Da auch diese Wiederholung mit t verbunden sein muss, entsteht eine Verlängerung der Linie. 1i fügt eine Verbindung zwischen den beiden Identitätslinien im schattierten Bereich ein. 3e ermöglicht nun die Löschung der doppelten Verneinung. 3.4.3 Transformation statt Iteration: Die kognitive Realität rückt näher Der letzte Abschnitt hat einen wichtigen Unterschied zwischen den EG und der traditionellen symbolischen Notation deutlich gemacht: In den EG transformiert man zur Durchführung eines Beweises einen einzelnen Graph, indem man etwas dazutut (dazuschreibt) oder wegnimmt (löscht), während man in der traditionellen Notation viele Beweisschritte nacheinander schreiben muss. Dies ist beim gewöhnlichen Umgang mit einer Logik kein großer Vorteil, zum einen, weil man beim Durchführen eines Beweises nicht mit Bleistift und Radiergummi hantieren will, zum anderen, weil man Beweise nachvollziehbar machen möchte und dann eben doch neu schreiben muss, wie die obigen Beispiele zeigen. Für die Frage der kognitiven Repräsentation dagegen ist es eine faszinierende Eigenschaft. Aus mnemotechnischen Untersuchungen ist bekannt, dass das Gehirn nur wenige Elemente gleichzeitig zur sofortigen Verfügung halten kann; so kann man zwar große Mengen von Informationen im Langzeitgedächtnis speichern, versucht man aber nur drei Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu behalten und nimmt dann noch eine vierte hinzu, ist das Risiko groß, dass eine von ihnen verloren geht. Diese Tatsache spricht dagegen, dass ein klassisches Beweisschema mit seinen vielen Wiederholungen und der Notwendigkeit, sich immer wieder auf frühere Schritte zurückzubeziehen, kognitive Realität beanspruchen kann. - So denken wir ganz sicher nicht! 4. Fazit: Ein semiotisches Modell des Denkens Die Wiederentdeckung der Semiotik und ihre Neubegründung als moderne interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft, an der Peirce entscheidenden Anteil hatte, hat eine zentrale Erkenntnis gebracht: Allen Denkprozessen liegen Zeichen zugrunde. Ohne Zeichengebrauch ist keine Repräsentation der Wirklichkeit im Gehirn denkbar; eine solche Repräsentation bildet die Voraussetzung für eine sinnvolle Interaktion von Lebewesen mit der Welt. Diese Erkenntnis eröffnet die Möglichkeit, ein Modell zu entwerfen, dass den Aufbau der Zeichen im Gehirn und ihre Interaktion sowie den Aufbau von komplexen Zeichengebilden („Propositionen“) und deren Interaktion auf systematische Art beschreibt. Ein solches Modell darf mit Recht ein „Modell des Denkens“ genannt werden. In dieser Arbeit wurden Grundüberlegungen für ein semiotisches Modell des Denkens im Anschluss an C.S. Peirce vorgestellt, das nicht nur symbolische, sondern auch analoge 238 Martin Siefkes (ikonische) Repräsentationsweisen berücksichtigt. Es wurde davon ausgegangen, dass ein solches Modell ein Reservoir an verschiedenen Zeichen zur Verfügung stellen sollte, die einerseits systematisch begründet sind und sich andererseits zu empirisch nachweisbaren Zeichenarten in Bezug setzen lassen. Beides leistet der Peircesche Zeichen-Dekalog in der Interpretation von Floyd Merrell; er stellt eine überzeugende Bandbreite von Gedankenzeichen („phanerons“) zur Verfügung. Doch wie kann man sich die Repräsentation dieser Zeichen im Gehirn vorstellen? Einen interessanten Ansatz bietet hier die graphische Logik von Peirce. Dabei zeigt sich, dass Peirce seine Kategorienlehre nicht zufällig als theoretische Grundlage von Logik, Semiotik und Epistemologie formuliert hatte. Mit ihrer Hilfe gelingt es, eine Verbindung zwischen dem Zeichen-Dekalog als Grundlage der Semiotik und der graphischen Logik von Peirce herzustellen. Dazu musste nachgewiesen werden, dass Erstheit, Zweitheit und Drittheit im Bereich der Semiotik tatsächlich genau so funktionieren wie im Bereich der graphischen Logik. Als schlüssiges Indiz dafür kann die Gültigkeit der Reduktionsthese in dem jeweiligen Bereich gelten, eines zentralen Postulats von Peirce bezüglich seiner Kategorienlehre, das zum einen die Nicht-Reduzierbarkeit genuiner Triaden, zum anderen die Reduzierbarkeit jeder höherwertigen Relation fordert. Dieses Ergebnis wird in den zitierten Arbeiten von Brunning von Burch für die Relationenlogik gewonnen; es ist jedoch auf die Beta-Existenzgraphen übertragbar, wo die Identitätslinien die Analyse der kategorialen Wertigkeit übernehmen. Zwar handelt es sich bei den Existenzgraphen um eine Logik, die mit der Aussagenlogik (Alpha-EG) bzw. mit der Prädikatenlogik (Beta-EG) äquivalent sind, doch besitzt sie darüber hinaus weitere Aspekte. So liefert sie eine Analyse der Identität und Kontinuität innerhalb der Propositionen, die sie darstellt. Sie fußt nicht nur auf Symbolen, sondern besitzt auch ikonische und indexikalische Eigenschaften. Damit zeigt sie semiotische Merkmale, die weit über klassische symbolische Logik und deren Funktionsweise hinausgehen. Im Hintergrund steht dabei die Krise des „Computationalismus“, der Idee, dass das menschliche Denken fundamental berechenbar ist; sie macht es nötig, für die Grundlagen unserer Denkprozesse nach Alternativen zu suchen. Aber welche Prozesse bieten überhaupt die Möglichkeit, der Berechenbarkeit zu entkommen - und damit der Gödel-Falle, in die jedes ‚Computerhirn‘ tappen muss, weil sie der Erkenntnisfähigkeit mittels formaler Systeme prinzipielle Grenzen setzt? Hier bietet sich das Prinzip der Analogität an. Jedes formale System beruht auf Symbolen. Das Gehirn dagegen verfügt in seinen Mechanismen, die auf einander beeinflussenden Synapsen basieren, über ein analoges Rechensystem. Die gegenseitige Beeinflussung von Synapsen und die Frage, ob eine bestimmte Synapse letztendlich feuert oder nicht, lässt sich zwar digital simulieren, aber eine solche Simulation bleibt immer nur eine Näherung. Doch kann die Analogität des Denkens tatsächlich einen Unterschied machen? Um das festzustellen, wurden die nicht-symbolischen Eigenschaften der „Existenzgraphen“ ausgiebig untersucht und es wurde festgestellt, dass sie für das menschliche Denken entscheidende Vorteile bieten könnten. Obwohl wir sicher nicht ‚in Existenzgraphen denken‘, bietet dieses System der graphischen Logik eine Reihe von faszinierenden Eigenschaften, die auf seiner nicht-symbolischen Repräsentationsweise basieren. Sie zeigen die Richtung an, in der wir bei der Bildung von leistungsfähigen semiotischen Modellen des Denkens zu gehen haben. Logik und Freiheit 239 5. Literatur Brunning, Jaqueline (1994), Peirce’ Unterscheidung zwischen genuinen und degenerierten Triaden. In: Pape 1994: 114-125. Brunning, Jaqueline (1997), „Genuine Triads and Teridentity“. In: Houser u.a. 1997: 252-263. Burch, Robert W. (1997), „Peirce’s Reduction Thesis“. In: Houser u.a. 1997: 234-251. DeLong, Howard (1970), A Profile of Mathematical Logic. London u.a.: Addison-Wesley. Houser, Nathan, Don D. Roberts und James Van Evra (Hg.) (1997), Studies in the Logic of C.S. Peirce. Bloomington u.a.: Indiana University Press. Kappner, Stefan (2004), Intentionalität aus semiotischer Sicht. Berlin: Walter de Gruyter. 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Cambridge MA: Harvard University Press. Pietarinen, Ahti-Veikko (2003), „Peirce's Magic Lantern of Logic: Moving Pictures of Thought“. http: / / www.helsinki.fi/ science/ commens/ papers/ magiclantern.pdf. Einsicht am 26.02.05. Putnam, Hilary (1981), Reason, Truth and History. Cambridge: Cambridge University Press. Roberts, Don D. (1973), The Existential Graphs of Charles S. Peirce. Den Haag: Mouton. Savan, David (1988), An Introduction to C.S. Peirce's Full System of Semeiotic. Toronto: Toronto Semiotic Circle. Searle, John (1980), „Minds, Brains, and Programs“. Behavioral and Brain Sciences 3: 417-424. Shin, Sun-Joo (2002), The Iconic Logic of Peirce's Graphs. Cambridge MA: MIT Press. Sowa, John F. (1997), „Matching Logical Structure to Linguistic Structure“. In: Houser u.a. 1997: 418-444. Sowa, John F. (2003), „MS 514 by Charles Sanders Peirce with Commentary by John F. Sowa“. http: / / www.jfsowa.com/ peirce/ ms514.htm. Einsicht am 19.02.05. Zeman, J. 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Kappner klärt auch die Grundlagen des Zeichen-Modells und seine Einordnung in die Peircesche Philosophie und Semiotik: ebd.: 105-122. 7 Kappner 2004: 134. 8 Vgl. Abschnitt 2.3, Zeichen 8: rhematisches Symbol. 9 Peirce 1931-1958, Bd. 1: 465. 10 Kappner 2004: 133. 11 Merrell 1998: 2ff. Eine weitere Darstellung des Dekalogs findet sich in Merrell 1997. 12 Savan 1988: 14. 13 Merrell 1995: 97. 14 Ebenso gibt mir die blaue Farbe z.B. auf einem nicht-gegenständlichen Bild viele Möglichkeiten der Assoziation, und die blaue Farbe in einem Farbkasten zahllose Möglichkeiten ihrer Verwendung. 15 Als konkrete Beispiele lassen sich hier ein Algorithmus nennen, dessen Programmiersprache ich kenne, aber dessen Funktion nicht dokumentiert ist, oder Searles „Chinese Room“-Gedankenexperiment, in welchem der Zeichenbenutzer die Regeln kennt, aber nicht ihre Bedeutung. 16 Putnam 1981: 217f. Zur Auswirkung auf die modelltheoretische Semantik siehe Lakoff 1987: Kap. 15. 17 Vgl. die Einleitung. 18 Die Frage, auf welche Art neuronale Prozesse nicht-algorithmisch modelliert werden können, kann hier aufgrund ihrer Komplexität nicht erläutert werden, man vergleiche die Darstellung des Problems und die vorgeschlagene Lösung in Penrose 1989 und 1994. Sie braucht uns auch nicht zu beschäftigen, da jedes nicht-mentalistische Modell einer Zeichenrepräsentation im Gehirn natürlich auf einer grundlegenden Ebene neuronale Prozesse annehmen wird und sich daher dieser Frage stellen muss. Wichtig ist für den Versuch, ein tragfähiges Modell des Denkens zu finden, dass wir nicht schon auf einer höheren Ebene „in die algorithmische Falle“ tappen, wie es z.B. bei der Annahme eines Formalismus zur Darstellung von Denkprozessen geschehen würde. Um erklären zu können, wie Denken funktioniert, müssen wir erklären können, wie die Repräsentation von Zeichen möglich ist, und wie sich aus diesen Zeichen größere Zusammenhänge (Propositionen, Sätze und Argumente) ergeben. Einen ersten Ansatz dazu soll diese Arbeit liefern. Dass ein solches Modell des Denkens wiederum neuronal repräsentiert sein muss, ist sofort einsichtig; wir haben es also mit zwei verschiedenen Ebenen der Repräsentation zu tun, die sorgfältig getrennt werden müssen. 19 Zeman 2002. 20 Roberts 1973. 21 Sowa 2003. Diese nützliche Arbeit wird in der Folge wiederholt zitiert werden. Sie zeigt insbesondere auch die ikonischen Eigenschaften der EG auf. 22 Roberts 1973: 123ff. 23 Peirce, Charles Sanders (1976), New Elements of Mathematics. Hg. von Carolyn Eisele. 4 Bde. Den Haag: Mouton. Bd. 4: 47f. 24 Zitiert nach: Sowa 2003. 25 Peirce schreibt dazu an anderer Stelle: „A great distinguishing property of the icon is that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its construction“ (Peirce 1931-1958: 2.279; vgl. MS 650). 26 Die folgende Darstellung orientiert sich an Sowa 2003, dem auch die Zitate aus MS 514 und die Graphiken entstammen. 27 MS 514: 11. 28 Ich folge Sowa in dieser Benennung der häufig „Peano-Russell-“ genannten Standardnotation der Prädikatenlogik, die aber von Russell nur adaptiert wurde (vgl. Sowa 2003). 29 Peirce benutzte die Symbole Σ (Sigma für „(logische) Summe“) und Π (Pi für „(logisches) Produkt“), da die Quantoren als Kurznotation für logische Summe bzw. logisches Produkt über alle für eine bestimmte Variable einsetzbaren Terme verstanden werden können. Ich werde jedoch die heute gebräuchlicheren Symbole ∃ und ∀ verwenden. 30 MS 514: 11. 31 MS 514: 11. 32 MS 514: 11. Logik und Freiheit 241 33 Sowa 2003: Kommentar zu MS 514: 11. 34 Dies ist aus dem Zeichen ⊃ nicht zu erkennen, was vielleicht dazu beiträgt, dass Logik-Anfänger manchmal p ⊃ q irrtümlich als p ⇔ q interpretieren. Dass ~(p ∧ ~q) tatsächlich mehr Information über die Relationen zwischen den Teilen der Aussage enthält, also ikonischer ist, zeigt sich daran, dass es im Fall solcher Missverständnisse zur Erklärung benutzt werden kann. 35 Diese kann als Grundregel eingeführt werden, so dass sie automatisiert wird und als kognitiver Aufwand nicht ins Gewicht fällt, während das Symbol ∧ in ~(p ∧ ~q) natürlich gelesen werden muss. 36 Roberts 1973: 125. 37 Die Darstellung folgt Sowa 2003. 38 Diese Übersetzung betont die Tatsache, dass die Identität der beiden Individuen, die durch Identitätslinien auf einer weißen Fläche existentiell quantifiziert sind, negiert wird. Roberts gibt dagegen die Übersetzung: „There are two objects such that no third object is identical to both.“ (Roberts 1973: 53.) Diese Übersetzung betont die Tatsache, dass die Identitätslinie durch zweimaliges Überschreiten des „cut“ in drei Teile aufgeteilt wird, also drei Individuen bezeichnet, deren Relation zueinander dahingehend spezifiziert ist, dass das mittlere Individuum, das mit beiden anderen verbunden (also identisch mit ihnen) ist, nicht existiert: Es befindet sich in der schattierten (d.h. verneinten) Fläche. Dies entspricht der Formel: ( ∃ x)( ∃ y)~( ∃ z)(x=z ∧ y=z) 39 Der Begriff „Untergraph“ (‚subgraph‘) wird in der graphischen Logik in Entsprechung zu „Unterformel“ (‚subformula‘) in der symbolischen Logik gebraucht. 40 Sowa 1997. 41 Vertreter der KI-Forschung, aber auch Logiker vergessen bisweilen, dass ohne Einsatz der natürlichen Sprache noch kein Algorithmus erstellt und kein formales logisches System entwickelt wurde. 42 Brunning 1994: 114. 43 MS 514: 13. 44 Sowa 2003: Kommentar zu MS 514: 13. 45 Brunning 1997. Graphik: 256. (Die in diesem Abschnitt gezeigten Graphiken sind den zitierten Artikeln entnommen.) 46 Brunning 1997: 260f. Graphik: 260. 47 Das Beispiel zeigt, dass höherwertige Relationen auf eine zunehmende Anzahl von Teridentitäten reduziert werden. 48 Burch 1997. 49 Burch 1997: 250. Graphiken: 250 und 251. 50 R, I, P sind dyadische Relationen, deren Benennungen aus dem obenstehenden Beispiel von Peirce stammen und für „removing“ (‚entfernen‘), „impoverishing“ (‚bestehlen‘) und „performed by“ (‚ausgeführt von‘) stehen. Entscheidend ist, dass zur Verbindung dieser drei Relationen die Variable u eingeführt werden muss, die durch das Prädikat D („Diebstahl“) gekennzeichnet wird und mit dem ersten Korrelat der drei Relationen R, I, P identifiziert wird. Die Relationen werden dadurch zu „Diebstahl von x“, „Diebstahl an y“, „Diebstahl durch z“. 51 Man könnte sogar mit gewissem Recht behaupten, dass eine verzweigte Linie, also eine mit Teridentität, mehr ikonische Aspekte zeigt als eine unverzweigte. 52 Vgl. zu diesem Punkt Abschnitt 2.4, Fußnote 18. 53 Zeman 2002: Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“. 54 ebd. 55 Dies lässt sich nur dann vermeiden, wenn man bei einem Darstellungssystem genau weiß, was akzidentiell und was bedeutungsunterscheidend ist (wie wir bei einem Buchstaben wissen, was Merkmale der Schrift sind - z.B. die Serifen - und was bedeutungsunterscheidend ist - z.B. der Haken, der ein i von einem j unterscheidet). Doch solche Merkmale können sich ändern; z.B. kann die Veränderung der Schriftart, die bei einer wissenschaftlichen Arbeit irrelevant wäre, in einem fiktionalen Text oder bei einer Handschriftenprobe bedeutungsunterscheidend sein. Eines der Merkmale des kreativen Denkens besteht darin, dass es die Festlegung, welche Merkmale akzidentiell und welche für die Bedeutung relevant sind, ändern kann. 242 Martin Siefkes 56 Zitiert nach: Sowa 2003. 57 Die Formel für fig. 7 lautet: ( ∀ x)(man(x) ⊃ sterbenmüssen(x)) Wäre die Identitätslinie auf der schattierten Fläche unterbrochen, bedeutete fig. 7: „Wenn es einen Menschen gibt, dann muss alles sterben.“ ( ∀ x)( ∀ y)(man(x) ⊃ sterbenmüssen(y)) Wäre die Linie auf der weißen Fläche unterbrochen, bedeutete fig. 7: „Wenn es einen Menschen gibt, dann gibt es (irgend) etwas, das sterben muss.“ ( ∀ x)( ∃ y)(man(x) ⊃ sterbenmüssen(y)) 58 Die Analyse der Identität besteht darin, dass jeder Diskontinuität auf der Assertionsfläche eine Diskontinuität im Diskursuniversum entspricht (Zeman 2002: Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“). 59 In der Mathematik wird der Begriff „kontinuierlich“ gleichbedeutend mit „stetig“ gebraucht. Für reelle Funktionen (das sind Funktionen, bei denen der Definitionsbereich X und der Zielbereich Y Teilmengen der reellen Zahlen sind) gilt die folgende Definition: 60 Peirce 1931-1958: 4.512. Siehe Zeman 2002 (Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“) für Erläuterungen und weitere Peirce-Zitate zur Kontinuität der Assertionsfläche. 61 Eine zusätzliche Dimension ist, streng genommen, notwendig, um zwischen Abzweigungen einer Identitätslinie und Überkreuzungen verschiedener Identitätslinien zu unterscheiden. (Das gilt ebenso für die normale Assertionsfläche.) 62 Zeman 2002: Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“. 63 Roberts 1973: 113. 64 CP 4.582. Dabei darf aber nicht außer acht gelassen werden, dass Peirce nicht nur Deduktion, sondern auch Abduktion und Induktion als logische Prozesse ansah. Der Deduktion entsprechen in einer Logik die Inferenzregeln (vgl. Abschnitt 3.4); Induktion und Abduktion dagegen lassen sich nicht formalisieren. Peirce wurde damit zum Begründer einer tychistischen Logik, d.h. einer Logik der Kreativität. Vgl. dazu: Ana H. Maróstica, Tychistische Logik. In: Pape 1994: 126-143, sowie Helmut Pape, A Nonmonotonic Approach to Tychist Logic. In: Houser u.a. 1997: 535-559. 65 Im Unterschied dazu postuliert Penrose eine „neue Physik“, die Quantenphysik und konventionelle ‚Makrolevel‘-Physik (Relativitätstheorie) vereinigt und das an ihrer Schnittstelle stehende Phänomen der „Dekohärenz“ mit bislang noch unbekannten Gesetzen als nicht-deterministischen Prozess erklärt. Dies ist ein faszinierender Gedanke, doch die Analogität ist ein einfacherer Ausweg aus der „Gödel-Falle“. 66 Analogität ist auch notwendige Bedingung von Ikonizität und damit Voraussetzung für die wichtigste zusätzliche Eigenschaft der EG gegenüber der PPN. Der Zusammenhang kann hier nicht erläutert werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass eine nicht-analoge, aber scheinbar ikonische Logik in Wirklichkeit versteckt symbolisch sein wird, wie es z.B. der Fall wäre, wenn die Identitätslinien beim Versuch einer kontinuierlichen Interpretation, wie er oben dargestellt ist, Widersprüche zeigen würden. 67 Peirce 1931-58: Bd. 4, § 8. Auch MS 298: 1 und MS 296: 6. (Zitiert nach: Pietarinen 2003: 2.) 68 Vgl. Sowa 2003. 69 Peirce, MS 514: 17f. (zitiert nach: Sowa 2003) 70 Roberts 1973. 71 Shin 2002. 72 Zeman 2002 (erstmals veröffentlicht 1964). 73 MS 514: 21. Zitiert nach: Sowa 2003. 74 Die Darstellung in diesem Abschnitt folgt Sowa 2003.
