eJournals Kodikas/Code 28/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
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Das Leben der Vögel (1861) - Zur Anthropomorphisierung bei Tiervater Alfred Brehm (1829-1884)

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2005
Sebastian Schmiedeler
Im Prozess der Anthropomorphisierung werden menschliche Verhaltensweisen, Eigenschaften und Denkungsarten vor allem Tieren, aber auch Pflanzen und unbelebten Gegenständen zugeschrieben. Diese anthropomorphisierten Darstellungen gehören zunehmend dem Bereich der Popularkultur an. Die Wurzeln der populären literarischen Tierdarstellung liegen weit im 19. Jahrhundert. Einer ihrer entscheidenden Promotoren war der bekannte Zoologe und Tierschriftsteller Alfred Brehm, Erfinder und Vollender des literarischen Subgenres "Thierleben". Weil die literarische Tiergestalt durch die Popularisierung stärker sprachlich vermittelt erscheint, entsteht ein Abbild, eine Als-ob-Gestalt des Tieres. Das Tier tritt als etwas Spezifisches auf, indem es immer auch für etwas Menschliches steht. Damit wird das Anthropomorphe zeichenhaft. Die Analyse von Brehms erstem Hauptwerk "Das Leben der Vögel" von 1861 zeigt, dass das Anthropomorphe bei Brehm auf fünf Teilelementen beruht: einer biomorphen und zoomorphen Gestaltungsweise, einer poetomorphen Gestaltungsweise, einer scientiamorphen (wissenschaftssprachlichen) Gestaltungsweise und schließlich einer soziomorphen Gestaltungsweise, die dominiert.
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Das Leben der Vögel (1861) - Zur Anthropomorphisierung bei Tiervater Alfred Brehm (1829-1884) von Sebastian Schmideler Im Prozess der Anthropomorphisierung werden menschliche Verhaltensweisen, Eigenschaften und Denkungsarten vor allem Tieren, aber auch Pflanzen und unbelebten Gegenständen zugeschrieben. Diese anthropomorphisierten Darstellungen gehören zunehmend dem Bereich der Popularkultur an. Die Wurzeln der populären literarischen Tierdarstellung liegen weit im 19. Jahrhundert. Einer ihrer entscheidenden Promotoren war der bekannte Zoologe und Tierschriftsteller Alfred Brehm, Erfinder und Vollender des literarischen Subgenres Thierleben. Weil die literarische Tiergestalt durch die Popularisierung stärker sprachlich vermittelt erscheint, entsteht ein Abbild, eine Als-ob-Gestalt des Tieres. Das Tier tritt als etwas Spezifisches auf, indem es immer auch für etwas Menschliches steht. Damit wird das Anthropomorphe zeichenhaft. Die Analyse von Brehms erstem Hauptwerk Das Leben der Vögel von 1861 zeigt, dass das Anthropomorphe bei Brehm auf fünf Teilelementen beruht: einer biomorphen und zoomorphen Gestaltungsweise, einer poetomorphen Gestaltungsweise, einer mythomorphen Gestaltungsweise, einer scientiamorphen (wissenschaftssprachlichen) Gestaltungsweise und schließlich einer soziomorphen Gestaltungsweise, die dominiert. Life of Birds (1861) - On Anthropomorphisation in the Works of Alfred Brehm (1829-1884), the Father of Zoology In the process of anthropomorphisation human behavioural patterns, characteristics and ways of thinking are attributed to animals, first of all, but also to plants and inanimate objects. Since their beginning deep in the nineteenth century anthropomorphised representations have more and more become part of pop arts. A major promoter of this development was well-known zoologist and author of animal stories Alfred Brehm, inventor and accomplisher of the animal story as a literary sub-genre. Through becoming a literary hero the animal becomes more and more popular - but with a very specific linguistic representation and also standing for something specific, representing some human characteristic or behaviour. Thus the animal becomes some kind of „as if“-image, an anthropomorph character. An analysis of one of Brehm’s first major works, the Life of Birds of 1861, reveals that anthropomorphisation in Brehm’s work relies on five basic elements - namely biomorph or zoomorph imaging, poetomorph imaging, mythomorph imaging, scientiamorph imaging (use of scientific language) and finally sociomorph imaging, which dominates the others. KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 346 Sebastian Schmideler 1. Anthropomorphisierung, Popularkultur und Semiotik „Geben Sie Ihrer Katze niemals Aspirin! “ - Diese denkwürdige Warnung eines Veterinärmediziners in einem Ratgebervideo zeigt pars pro toto, was für skurrile Deformationen des Denkbaren der Zivilisationsprozess auslösen kann. Ausgehend von der eigenen Seinsweise, von deren Anschauungen und Bedürfnissen auf die der animalischen Mitgeschöpfe zu schließen, ist hingegen eine uralte menschlich-allzumenschliche Eigenschaft. Doch der anthropomorphisierende Fehlschluss, auf ähnliche Symptome bei Mensch und Tier dieselbe Therapie anwenden zu wollen und dabei von gleicher Wirkung auszugehen, wäre hier fatal: Was dem modernen Bürger bei Unwohlsein helfen kann, kostet die Katze das Leben. Nicht minder schwer wiegend stellt sich die Bedeutung der Vermenschlichung 1 in begrifflich-abstrahierender Hinsicht dar: Vor allem in religionsphilosophischer und geistesgeschichtlicher Dimension birgt Anthropomorphismus seit jeher hochexplosiven Zündstoff in sich. 2 So hoch hinaus braucht jedoch niemand zu greifen, um jenseits der langen, bis in die Urgründe der Menschheitsgeschichte zurückreichenden Tradition dieser Anschauungsweise 3 auf Phänomene der Anthropomorphisierung im alltäglichen Leben zu stoßen: Der Osterhase als Dekorationsartikel, graue Plüsch- Mäuse mit übermäßig mutierten rosafarbenen Gliedmaßen als säkulare Kultobjekte, eine dicke, zufrieden lächelnde Seerobbe aus Porzellan als Sparbüchse, geschnitzte und farbenprächtig bemalte Kohlmeisen als Bücherstützen, die werbeträchtige lila Kuh als Markenzeichen in der Süßwarenindustrie, ganz zu schweigen vom Heer der Plüschtiere und anderen anthropomorphisierten Produkten der Spielwarenindustrie - ungezählt sind solche mehr oder minder künstlichen Kunstprodukte, die eingefärbt durch den Blick und die Gestaltung des Menschen zwischen Kultur- und Naturanschauung oszillieren, wenn sie uns auf Schritt und Tritt in der Alltagswelt begegnen. Auch an Animationsfilme (bspw. die grotesk und einfallsreich anthropomorphisierten Knetfiguren Wallace and Gromit), Tier-Comics, Tiersendungen im Fernsehfunk, Computerspiele mit anthropomorphisierten Tieren und Tiere in Sach- und fiktionalen Kinder- und Jugendbüchern wäre zu denken. Selbst die alten Tierdarstellungen wie die seit der Antike zu hohen Ehren gekommene Charakterfabel oder die Tiersymbolik im heraldischen Zeichen bspw. von Stadt- oder Staatswappen wirken nach wie vor unverbrüchlich auf unsere zivilisiert alltagsweltliche Wahrnehmung von anthropomorphisierten Tieren ein. Weniger zivilisiert sind hingegen die immer noch gängigen tierischen Schimpfwörter, mit denen sich Menschen titulieren können (z.B. Grünschnabel oder Spinatwachtel). Selbst das Tier in der Musik wie etwa der beliebte Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns (1835- 1921) findet nach wie vor sein Publikum, wie die vielen Bearbeitungen dieses musikalischen Scherzes aus jüngerer Zeit, zum Beispiel von Loriot oder Roger Willemsen, beweisen. Es verwundert daher, wenn der verdienstvolle Herausgeber der handbuchähnlichen Monographie Mensch und Tier in der Geschichte Europas 4 , Peter Dinzelbacher, zur Jahrtausendwende mit kritischem Blick auf das Phänomen der Tierdarstellung und damit auch der Anthropomorphisierung für unsere Zeit feststellt: „In der Kunst und Literatur könnte man für die Gegenwart, verglichen mit Altertum und Mittelalter, ebenso eine Marginalisierung der Tier- Themen konstatieren.“ (Dinzelbacher 2000: XIII) 5 Diese Beobachtung mag in Hinsicht auf die Qualität der gewissermaßen „kanonisierten“ literarischen bzw. der bildenden Kunst zuzurechnenden Tierdarstellungen stimmen und auch als Zustandsbeschreibung für den Grad der Entfremdung zwischen Mensch und Tier in Literatur und Kunst zutreffend sein. Was die Quantität der anthropomorphen Erscheinungsformen in der Gegenwart betrifft, bleibt jedoch eindeutig Das Leben der Vögel (1861) 347 festzuhalten: Nie war die Menge und Vielfalt dieser spezifischen Erscheinungen von Anthropomorphisierungen größer als heute. Nur ist dabei auffällig, dass die Abwanderung dieser von Dinzelbacher Tier-Themen genannten Phänomene aus dem Bereich der sog. „Hochkultur“ in den Bereich der Popularkultur in unaufhaltbarer Beschleunigung begriffen ist. Wichtig erscheint nicht mehr primär die Verarbeitung der Tier-Themen in einer komplexen, selbstreflexiven und reflektierten künstlerischen Struktur als Zeichen der Selbstbestimmung des Menschen und seiner ihn umgebenden Kultur, insbesondere in seinem spezifischen Verhältnis zur animalischen Natur - wenngleich Ausnahmen auch hier die Regel bestätigen können. 6 Insofern ist Dinzelbacher zweifelsohne zuzustimmen. Es geht in Kunst und Kultur wohl in der Tat auch weniger um die erkenntnisgeleitete maximale Annäherung an das Verstehen des Tieres in seiner Eigenart etwa durch eine kunstfertig und gekonnt bewältigte literarische Form wie eine in diesem Sinne anspruchsvolle Tiererzählung. Statt dessen rückt ein anderer Aspekt in den Vordergrund: Der Grad der Anthropomorphisierung der Tierwelt, die Vermitteltheit der Tierdarstellung, die zunehmend ludophile Art der Konstruktion von mehr und mehr vermenschlichten Tieren oder anders gesagt: die Entfremdung von der „echten“, originalen und lebendigen biomorphen Tiererscheinung hat mittlerweile durch die Beschleunigung der popularen Massenkultur die abstrusesten Formen angenommen. 7 Interessanterweise erinnern jedoch auch diese Kreaturen der hoch industrialisierten Kultur nach wie vor an die mythologischen und gleichsam evolutionsbedingten Ursprünge der Anthropomorphisierungen als „besonders charakteristisch für das vorwiegend naiv-anschauliche Erleben und das geringe Abstraktionsvermögen von Kindern; ebenso für religiöse Vorstellungen in alten Religionen (Stammesreligionen).“ (Brockhaus 2006: 132) Karen Druve und Volker Thies stellen deshalb bereits im Vorwort ihres originellen Lexikon[s] der berühmten Tiere, das genau diesem erweiterten Begriff der Popularkultur verpflichtet ist, mit Blick auf das Verhältnis dieser Geschöpfe der Massenkultur zum menschlichen Rezipienten fest: Das Tier wird nicht als Tier in seinem eigenen Seinsbereich beliebt und berühmt, sondern als Freund aller Kinder, Schrecken aller Verbrecher und Beschützer von Witwen und Kleinsäugern. Comic-Tiere tragen sogar Kleidung, fahren Autos und können sprechen. Ihr Leben gleicht bis ins Detail dem in der Menschenwelt, nur daß es mit dem Zuckerguß einer Niedlichkeit überzogen ist, die das Kindchenschema bis zum Anschlag ausreizt. Wir haben den alten totemistischen Naturglauben, nach dem die Menschen von verschiedenen Tieren abstammen, umgekehrt und infantilisiert. Tiere, so wie sie in unserer Massenkultur dargestellt werden, stammen eindeutig vom Menschen ab. (Druve/ Thies 1997: 7) Wie widersprüchlich sich diese nicht mehr zu übersehende Tendenz zum Diminutiven und Infantilen gestaltet und dass die nur scheinbar ungebrochene, distanzlose Annäherung des Menschen an das Tier, ja die spielerische Verwechslung und Gleichsetzung des Anthropomorphen mit dem Kreatürlichen lediglich auf einer medialen Oberfläche existiert, beweist andererseits die Unfähigkeit des zivilisierten Staatsbürgers, seine weiterhin wachen und ihn jagenden instinktiven Urängste gegenüber dem noch immer unverstandenen Tier zu überwinden. Wenn nicht Kaninchen oder Eichhörnchen, sondern seit jeher stark mit abschreckenden Konnotaten stigmatisierte Bären oder Wölfe 8 in ihren natürlichen Lebensraum zurückdrängen und dabei mit menschlichen Interessen kollidieren, schlägt die diminutive Anthropomorphisierung in eine ebenso radikale Dämonisierung um, wie das unausweichliche Schicksal des zum „Problembären“ stilisierten Braunbären „Bruno“ auch noch im Jahr 2006 einmal mehr bewiesen hat. - Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen bewegt sich das 348 Sebastian Schmideler moderne anthropomorphisierte Verständnis des Tieres beim hoch industrialisierten Gesellschaftsmenschen. Das Phänomen der anthropomorphisierenden Popularisierung der Tierdarstellung, das sich zwischen den Extremen der Infantilisierung und der Dämonisierung bewegt, hat indessen seine Wurzeln bereits weit im 19. Jahrhundert - einmal abgesehen von einigen Vorläufern dieser Art popularer Tiergestaltungen in der Sachliteratur der Frühen Neuzeit. 9 Einer ihrer entscheidenden Promotoren war der bekannte Zoologe, Expeditionsreisende, Kulturgeograph und Tierschriftsteller Alfred Edmund Brehm, Erfinder und Vollender des literarischen Subgenres Thierleben. Er ist einer der ersten und erfolgreichsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts gewesen, denen die Beschreibung des Tierseins mit auffällig stark anthropomorphisierenden Mitteln als eine verstärkte Popularisierung gelang. 10 Sein erstes Hauptwerk Das Leben der Vögel von 1861, das einen ersten und besonders deutlich erkennbaren Einschnitt in diesem facettenreichen Bereich der Geschichte der Popularkultur darstellt, soll hier auf seinen projektiven Gehalt hinsichtlich der Anthropomorphisierung der Vogelwelt als Popularisierung des Tieres und damit als Teil eines Zeichen- und Kodierungsprozesses vorgestellt werden. 11 Diese Popularisierung ist dabei als ein verstärkter semantischer und literarischer Vermittlungsprozess zu verstehen. Denn durch die mehr oder minder bewusste und stark ausgeprägte Inklusion des vermenschlichenden Elements werden diese Darstellungen mit Hilfe eines höheren Grads an Vermitteltheit ausgedrückt. Damit geht überdies ein größtmögliches Maß an Simplifizierung von sich den Menschen nicht vollständig erschließenden tierischen Verhaltens- und Seinsstrukturen einher. Durch diese sprachliche Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit 12 wird zugleich ein Wiedererkennungseffekt beim Rezipieren evoziert. Und dieser Rezeptionsvorgang geschieht insbesondere durch die zeichenhaften Verbindungen zwischen Mensch und Tier. Damit ist das Anthropomorphe als das Zeichenhafte das entscheidende Charakteristikum der popularen Gestaltung dieser Tierschilderungen. Welche Teilaspekte dabei von entscheidender Bedeutung sind, soll im Folgenden gezeigt werden. Vowiegend in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus sind diese Darstellungen außerdem zunehmend und auffällig für ideologische Zwecke instrumentalisiert worden, sodass sie als Bereich der Massenkultur auch in politische Prozesse verstrickt waren und in der Vermittlung der verhängnisvollen und verderberischen Entgleisungen eine nicht unerhebliche Rolle spielten (cf. Nassen 1993). 13 Zunächst aber bedeutet dieser Prozess der Vermitteltheit ganz grundsätzlich Annäherung an sprachliche Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit, an Konstruktion von Analogien, die Anwendung von Metaphern, allegorischen Internalisierungen und anderen vornehmlich gestalterischen Mitteln des Sprachsystems, die bildhaften und illustrierenden Charakter tragen. Durch geringe Abstraktion, Einfachheit und Klarheit in stilistischer Hinsicht, vor allem auch durch das Mittel des Vergleichs, durch die Evotion des Spannenden, Fesselnden, Anziehenden und Pointierten, durch die durchaus didaktisch motivierte Reduktion komplexer Sachverhalte, kurz: durch diese meist sprachtechnische Zurücknahme der Mehrdeutigkeit des Tierverhaltens auf einzelne Aspekte wird durch Sprache das populäre Tier geboren. Durch Angleichung entsteht damit Vermenschlichung. Mit dieser Vermitteltheit der Tierdarstellungen durch die Einschaltung anthropomorphisierender Elemente - und dies ist eben meistenteils an Popularisierung gebunden - rückt das Phänomen der Anthropomorphisierungen verstärkt in den Gegenstandsbereich der Semiotik, die sich traditionell mit derartigen Zeichenprozessen beschäftigt und auseinandersetzt. 14 Für die Semiotik als Querschnittsdisziplin können Anthropomorphisierungen in Kunst, Literatur und Alltagskultur neue Horizonte eröffnen, denn die Semiotik Das Leben der Vögel (1861) 349 könnte die Anwendung ihres historisch gewachsenen Methodeninstrumentariums (cf. Posner u.a. 1996: 592- 667) daran erproben, um zumindest einige Teilbereiche des Phänomens zu beschreiben. Als ein Zeichen dafür, dass Anthropomorphisierungen innerhalb von Verstehens- und Semioseprozesse ganz grundsätzlich und buchstäblich über Leben und Tod entscheiden können, sollte das eingangs eingeführte Beispiel der deutlichen Warnung Geben Sie Ihrer Katze niemals Aspirin! zeigen. Es sollte deutlich werden, wie anthropomorphe Sichtweisen ganz grundsätzlich zu Fehlschlüssen führen. Doch für semiotische Fragestellungen weitaus interessanter sind die gestalteten Tierdarstellungen in Kunst und Literatur. Hier liegt zwar auch ein Fehlschluss vor, der aber zugleich ein Gestaltungsprozess ist, der sehr komplexe Strukturen beinhaltet und als zeichenhaft beschrieben werden kann. Dies soll im Folgenden thematisiert werden. Es ist vor allem der zunehmende Grad der Vermenschlichung, wie er sich innerhalb dieser Popularkultur in Tierdarstellungen ausdrückt, der von semiotischem Interesse sein kann. 15 Denn indem Tiere im Prozess der Darstellung spezifische - und hier gilt es zu betonen: auf den Menschen zurückgehende Eigenschaften, Funktionen, Attribute, Verhaltensweisen zugeschrieben bekommen, entsteht ein durch die menschliche Perspektive und an die Grenzen des menschlichen Erkennens gebundenes Abbild. Dieses Abbild kann durch die Wahrnehmungsdifferenz vom Menschen zum Tier niemals ganz und vollständig verstehbar das tatsächlich existierende Tier repräsentieren. 16 Die dargestellte Tiererscheinung wird folglich immer durch Anthropomorphisierung vermittelt sein. Dieses Abbild muss andererseits jedoch als conditio sine qua non unhintergehbar auch zoomorph charakteristische Wesenselemente des wirklich existierenden biologischen Tieres enthalten. Denn diese Ingredienz muss das Abbild immer auch deshalb repräsentieren, um ein Erkennen und Auflösen des Abbilds, mithin ein Verstehen als Tier, ungeachtet des vermenschlichenden Anteils ermöglichen zu können. Gemeint sind bspw. Schnabel, Bürzel und Schwimmfüße bei der Entenhausener Comicfigur Donald Duck, die sie - obwohl in ihrem anthropomorphen Verhalten ganz Mensch - als Erscheinung einer Ente erkennbar machen. Es ist hervorzuheben, dass Tiere in genuin anthropomorphisierten Darstellungen nicht als bloße Tiere in ihrem ureigenen Seinsbereich und in einer gewissermaßen realistisch abgeschilderten, mimetischen 17 . Darstellung vorkommen, die mit dem Anspruch einer bruchlos aufgehenden Eins-zu-Eins-Entsprechung zu ihrem zoomophen und biologischen Wesen zu verstehen wäre. Sie treten hingegen immer als etwas Spezifisches auf. Sie sind nicht nur Tier an sich, sondern sie stehen zugleich zeichenhaft mehr oder minder deutlich für etwas Menschliches. Denn dieses Spezifische wird ihnen vom Menschen durch einen Zeichenprozess zugeschrieben. Tiere müssen dabei dieses anthropomorphe Element von Natur aus nicht einmal inhärent repräsentieren, können es aber. Anders gesagt: Es müssen - und die Ergebnisse der Ethnologie wie der Religionsgeschichtsforschung (siehe Totem und Tierkult) bestätigen es nachdrücklich - Verbindungen zwischen Mensch und Tier bestehen, die einer allegorischen Konstruktion, wie sie in der Fabel vorliegt, Vorschub leistet. (Haas 1996: 4) Dieses Spezifische jedoch, das die Tierdarstellung erst zu einem Abbild macht, kann als das Anthropomorphe und damit als das Zeichenhafte solcher Tiergestaltungen verstanden werden. Denn es handelt sich um eine mit graduell abgestuften projektiven Gehalten aufgeladene Alsob-Gestalt des Tieres, die in verschiedenen Abtönungen mit dem zoomorphen Wesen korrespondiert. Deshalb oszilliert dieses Spezifische als Abbild zwischen dem Tatsächlich- Tierischen auf der einen und dem Genuin-Menschlichen auf der anderen Seite. Wenn das Für- 350 Sebastian Schmideler sich-Sein des Tieres zu einem Als-etwas-Sein konfiguriert, liegt eine anthropomorphisierte Darstellung vor. Gleichwohl können einzelne anthropomorphe Elemente unabhängig davon auch im Für-sich-Sein des Tieres selbst schon enthalten und präfiguriert sein, wie dies bspw. bei Affen der Fall sein kann. Gemeint ist dann aber nicht das vom Menschen gestaltete, sondern das menschgestaltige Anthropomorphe. Denn erst durch das anthropomorphisierte Abbild, durch das Als-etwas-Sein wird das Tierisch-Kreatürliche zeichenhaft vermenschlicht dargestellt. Erst unter dieser Bedingung erscheint das Tierische gebrochen durch das Bewusstsein des Menschen. Im Extremfall - so etwa bei den Tiercharakteren in der klassischen Fabel - kann dieser Prozess sogar insofern umgekehrt werden und die Hauptrichtung seiner Perspektive ändern, als das Tierische nur als Maske oder Chiffre dient und damit wiederum nur als ein verhüllendes Zeichen für das gilt, was im Grunde für den reinen Menschen steht, der hinter dieser Maske eigentlich gemeint ist und mit dem Tier als einem Zeichen kaschiert wird. Das Als-etwas-Sein des anthropomorphisierten Tieres ist dabei in jedem Fall eingebunden in das komplexe System menschlicher Konventionen, Kodes, Rollen und Rituale. Als besonders herausfordernde Schwierigkeit stellt sich hierbei die Beschreibung des Verhältnisses dieser verschiedenen Elemente zueinander dar, die zum zentralen Problem einer zu entwickelnden Phänomenologie der Anthropomorphisierungen avanciert. 2. Phänomenologie der literarischen Anthropomorphisierung bei Alfred Brehm 2.1 Typisierungen und Klassifikationen Trotz der bis in die Antike zurückreichenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Anthropomorphisierung sind bis heute Versuche philologischer Beschreibung und Erklärung eher spärlich ausgefallen. 18 So gut wie unbetretenes Neuland ist insbesondere die literarische Tier-Vermenschlichung aus literaturwissenschaftlicher Sicht. In der germanistischen Philologie ist bislang noch nicht einmal der Begriff des Anthropomorphismus oder der Anthropomorphisierung durchgehend etabliert. 19 Elaborierte Definitionen zur Anthropomorphisierung und einige nützliche Analysen findet man für die populären literarischen Tierdarstellungen inzwischen vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturforschung (cf. Metzker 1955 [mit Einschränkungen], Morgenstern 1984, Grieser 1991 [mit Schwerpunkt auf das Tierbuch für Kinder und Jugendliche], Nassen 1993, Haas 1996 [grundlegend, aber auf die Gattung Tierbuch bezogen] u.a.). 20 Eine als verbindlich anzunehmende Definition fehlt jedoch noch immer. Nützlich sind überdies einige wenige sprachwissenschaftliche Untersuchungen, die es seit längerem zu diesem Phänomen gibt. (cf. Krüger 1978 u.a.) Klaus Stetter unterscheidet in einer grundlegenden Untersuchung zu Hermann Löns zwei Stufen der Anthropomorphisierung: 1. die dem tierischen Verhalten noch verpflichtete, aber in der Darstellung stark vermenschlichte Prägung der Tiergeschichte, 2. die dem tierischen Verhalten und Wesen unangemessene Vermenschlichung. (Stetter 1969: 369) Als Mittel der Komik bei Löns, auf die Stetter den Hauptakzent seiner Klassifizierung lenkt und die aus jeder der beiden Darstellungsstufen entspringen, sind seiner Meinung nach zu nennen: 1. Namensgebung, 2. Individualisierung, 3. moralisch-sittliche Bewertung, 4. menschliche Charakterisierung, 5. Übertragung menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens auf das Das Leben der Vögel (1861) 351 Tier, 6. Sprache, 7. Reduzierung des tierischen Verhaltens auf familiäre Verhältnisse. (Stetter 1969: 369) Diese Stufen enthalten bereits einige wesentliche Aspekte der Anthropomorphisierungen. Die Kategorie der Angemessenheit halte ich für problematisch und für wenig sachdienlich, da mit ihr eine Phänomenologie der vielfältigen Anthropomorphisierungen innerhalb der Popularkultur kaum ermöglicht werden kann, weil eine solche rein bewertende Beschreibung graduelle Unterschiede und Mischformen nur unspezifisch erfasst. Denn Sonderformen der Anthropomorphisierung wie die Lykanthropie (Werwölfe) und die menschliche wie animalische Sphäre vermischende Gestaltung anderer Tiermenschen (bspw. Nixen oder Kentauren) lassen sich damit nicht beschreiben. (cf. Völker 1994: 409-443) 21 Anders als Stetter differenziert Meyer hingegen zwischen der „Dominanz der anthropomorphisierenden Darstellung gegenüber der naturwissenschaftlich orientierten“ (Meyer 2000: 485). Hiergegen lässt sich einwenden, dass auch naturwissenschaftlich orientierte Tierbücher einen anthropomorphisierten Charakter haben können. Alfred Brehm mit seiner literarisierten Beschreibungsweise von naturwissenschaftlichen Sachverhalten und Prozessen ist dafür ein Paradebeispiel, wie die folgende Analyse noch zeigen wird. Rolf Morgenstern klassifiziert ganz anders mit starker Betonung auf die narrative Gattungstektonik kinder- und jugendliterarischer Tierbücher zwischen einer „Teilanthropomorphisierung der belebten Welt mit einer gefühls- und erlebnisreichen Darstellung“ zum einen, der „Anthropomorphisierung der belebten Welt mit didaktischer Intention“ zum anderen und einer bloßen „Anthropomorphisierung der belebten Welt - bei banalem Übertragen menschlicher Verhaltensweisen auf Tiere und Pflanzen“ zum dritten. (Morgenstern 1984: 45f.) Am stärksten differenziert Gerhard Haas seine Typologie anthropomorpher Tierbücher. Seine Unterscheidungskriterien, die er eigentlich auf Kinder- und Jugendliteratur bezieht, betreffen insbesondere auch sog. nicht intentionale Tierdichtungen, die nicht eigens für Kinder und Jugendliche geschrieben worden sind, sodass die Haassche Typologie auch für Tierdarstellungen der Erwachsenenliteratur Gebrauchswert finden kann: Es gibt in der Kinder- und Jugendliteratur erzählerische Texte a) in denen ausschließlich Tiere auftreten (Typus ‚Konferenz der Tiere‘), b) in denen Tiere zusammen mit Menschen auftreten (Typus ‚Paddington der kleine Bär‘ und Typus ‚Dschungelbuch‘), c) in denen Menschen in einem intensiven Kontakt mit Tieren stehen (Typus ‚Krambambuli‘ und Typus ‚Pferdebuch‘), d) in denen Tiere neutral und allein unter sachlichen Gesichtspunkten beschrieben werden (= Sachtexte). (Haas 1996: 8) 22 Alle diese Typologien und Klassifikationen, so brauchbar sie auch für die konkrete Analyse und Interpretation sind und so viele richtige und wichtige Aspekte sie benennen, können doch den Zeichenprozess, das Für-etwas-Sein des Tieres noch nicht hinreichend bestimmen. Denn so eindeutig sind die einzelnen Bereiche in praxi nicht zuzuordnen: „Es handelt sich selbstverständlich zumeist um Mischformen“. (Nassen 1993: 95) Die Kriterien (z. B. Distanz und Nähe oder intensiver Kontakt mit Tieren) lassen außerdem noch nicht erkennen, für welchen Bereich das Zeichenhafte der Tierdarstellung, wofür mithin der anthropomorphe Gehalt steht. Unklar bleibt auch, wie das Anthropomorphe in seiner Spezifik sich konkret gestaltet, ausdrückt und künstlerisch materialisiert. Da die verwirrende Mannigfaltigkeit der einzelnen literarischen Tierdarstellungen summa summarum uferlos erscheinen muss, bestünde das Gelingen einer Phänomenologie mit zeichentheoretischem Hintergrund aus meiner Sicht deshalb darin, aus dem uferlosen Bereich ein klar konturiertes Eiland herauszuarbeiten oder anders gesagt: das Buch mit sieben Siegeln auf 352 Sebastian Schmideler sieben zu entschlüsselnde Siegel zu beschränken, die den größtmöglichen Bereich des Phänomens als Zeichenprozess erfassen und umfassen können, ohne den Charakter der Mischformen durch allzu-eindeutige Zuordnungen zu missachten. Dies bedeutet, das entstandene und fertige Abbild der Tierdarstellung als sprachliches Konstrukt in seine Teilbereiche zu zerlegen, aber möglichst so, dass eine überschaubare Anzahl von Teilklassen dabei entstehen kann. Speziell für die Mischform von Alfred Brehms Das Leben der Vögel ist der folgende Kriterienkatalog entwickelt, der die Gestalt des anthropomorphisierten Zeichens bei Brehm nicht durch Zuordnung, sondern durch Zerlegung der Struktur des Anthropomorphen in seine wesentlichen elementaren Bestandteile beschreiben soll. Ich zerlege die komplexe Gesamtbedeutung und Zeichenstruktur des Für-etwas-Seins des Vogels in dieser Tierdarstellung in die in meinen Augen am deutlichsten erkennbaren Hauptelemente und zwar nur insofern sie sich auf genuin Anthropomorphes in der Zeichengestalt beziehen, ohne dabei die ebenso wichtigen Semioseprozesse bei der Rezeption zu berücksichtigen. Es geht mir nur um die im Text angelegte inhaltliche und zeichenhafte Struktur der Anthropomorphisierung. Diese elementaren Bestandteile bezeichne ich jeweils als spezifische Gestaltungsweise des Anthropomorphen, das im Insgesamt dieser Teilaspekte das genuin Anthropomorphe in Brehms Leben der Vögel ergibt. Ich beschränke mich dabei auf folgende fünf Hauptgestaltungselemente des Anthropomorphen bei Brehm, die sich aus meiner Analyse ergeben: die biomorphe und zoomorphe Gestaltungsweise zum ersten, die poetomorphe Gestaltungsweise zum anderen, die mythomorphe Gestaltungsweise zum dritten, die scientiamorphe (wissenschaftssprachliche) Gestaltungsweise zum vierten und schließlich die soziomorphe Gestaltungsweise zum fünften, auf die der Hauptakzent der Brehmschen Form der Anthropomorphisierung liegt. 2.2 Kulturhistorische Schnittstellen: Alfred Brehm als Promotor der Popularisierung anthropomorpher Tierdarstellungen Das ausgeprägt Individuelle und Charakteristische des Anthropomorphen bei Brehm besteht in einem besonderen, kulturell und zeithistorisch geprägten Arrangement, das zwar Brehms eigene schöpferische Leistung war, aber zu gleichem Teil auch Ergebnis einer epochenspezifischen Sicht auf das Animalische und einer spezifischen Einstellung gegenüber Tieren gewesen ist. Um zu verstehen, wie Alfred Brehms wissenschaftlich-literarisch-populare Tierschilderungen sich mit jenem sagenhaften Erfolg und einer nicht wieder erreichten und so lang anhaltenden Breitenwirkung herausbilden konnten, dass der Name Brehm bis heute fest im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankert ist, und um zu ergründen, worin gewissermaßen das besondere Geheimnis von Brehms Tiergestaltung liegt, bedarf es einiger kulturhistorischer Hintergrundinformationen, die Teil der Spezifik des Anthropomorphen bei Brehm sind. Denn der immer wieder in den einschlägigen Studien deutlich hervorgehobene Befund, Alfred Brehms literarische Tierporträts würden mehr und in stärkerem Maße anthropomorphisieren, als es die Tierliteratur bis dahin gekannt hatte, ist zwar mittlerweile zu einer opinio communis avanciert, erklärt jedoch noch nicht hinreichend, welche historischen Konstellationen und zeitgenössischen Kodes und kultursemiotischen Elemente überhaupt erst zusammenwirken mussten, um diese erfolgreiche Mischform der Anthropomorphisierung ermöglichen zu können, die Brehm mit der Erfindung des Illustri[e]rten Thierleben[s] (1863-1869) geschaffen hat. Immerhin stellt Kehne 1992 mit Blick auf die langen Linien der europäischen Tierdichtung in einer nicht Brehm sondern Reineke Fuchs gewidmeten Analyse fest: Das Leben der Vögel (1861) 353 Brehms ausführliche, stark anthropomorphisierende Tierbeschreibungen zeigen ein neues Verhältnis von Mensch und Tier. Während in der Vergangenheit Tiere hauptsächlich als Zeichenträger für Gutes und Böses, als Heilmittel-Reservoir oder als in ihrem Verhalten exemplarisch für die Menschen dargestellt wurden, werden sie bei Brehm in noch stärkerem Maße mit menschlichen Attributen versehen. (Kehne 1992: 62) Als der junge, durch eine fünfjährige Afrikaexpedition weltgewandt gewordene und mit Scharfsinn, Fabulierlust und Abenteuermut reichlich ausgestattete, dem erlernten Maurerhandwerk entflohene, statt dessen promovierte Zoologe Alfred Brehm nach einem Studium in Jena und einer ersten, 1856 unternommenen Spanienreise in der Buch-, Messe-und Handelsstadt Leipzig eintraf, um dort - notgedrungen - am Privat-Gymnasium seines Onkels, des Pädagogen, Theologen und Dichters Moritz Zille (1814-1872) und an einer Schule für höhere Töchter Naturkunde und Geographie zu unterrichten (Genschorek 1984: 111), verknüpfte er mit der pragmatischen und zielgerichteten Wahl dieses Wohn- und Lebensortes ein ausgeklügeltes Kalkül. Als Sohn des weit über Deutschland hinaus renommierten Vogelpastors Christian Ludwig Brehm (1787-1864) aus dem thüringischen Renthendorf bei Gera - neben Johann Friedrich Naumann (1780-1857) der bedeutendste Gründungsvater der wissenschaftlichen Ornithologie in Deutschland - mit den besten Referenzen und Fachkenntnissen versehen, von seiner Mutter Bertha (1808-1877) mit gutbürgerlicher literarischer Bildung des 19. Jahrhunderts ebenso üppig ausgerüstet, strebte der zum hommes de lettres von Natur aus Begabte zur Verbindung von Wissenschaft und Literatur in neuartiger, populärer Form. Nach dem Erfolg seines ersten Buches, der zweibändigen Reise-Skizzen aus Nord-Ost-Afrika, erschienen 1854 und 1855, einem lebensvollen, feinsinnig und genau beobachteten Bericht über seine Afrikaexpedition, der schon den eleganten und versierten Stilisten erkennen ließ, und nachdem schon eine ganze Reihe ornithologischer Aufsätze von ihm publiziert worden war, machte der sehr selbstbewusste junge Naturwissenschaftler sich nichts weniger zur Pflicht und Aufgabe, als sich als freier Schriftsteller einen Namen zu machen. Das gehörte zum Programm. Schon 1849 hatten Vater und Sohn sich zur Maxime gesetzt: „Der Name Brehm soll mit Gottes Hülfe recht berühmt werden ...“ (Schneider 1988b: 52) So war Leipzig „ein Boden für eine Pflanze wie Alfred“ (Schneider 1988a: 29), weil die Stadt alles das bot, was Brehm benötigte, um sein Ziel zu erreichen, als populärer Tierschriftsteller berühmt und anerkannt zu werden: Leipzig war das pulsierende Zentrum des deutschen Buchhandels, sowohl ein Mekka der Verleger als auch der Distribution. Hier lebte Brehms Vorbild, der von ihm verehrte Tierschriftsteller, engagierte liberaldemokratische Zoologieprofessor und Politiker Emil Adolf Roßmäßler (1806-1867), 23 der sein Förderer, Berater, schließlich Kompagnon in dem gemeinsamen Buchprojekt von 1867 Die Thiere des Waldes wurde. Und hier in Leipzig fand Brehm das ihm unerlässliche liberale und neu erwachte demokratische Klima, hier gab es die bürgerlichen Bildungsvereine, die sich der von ihm forcierten Breitenbildung widmeten und - lust but not least - hier befand sich mit der Naturforschenden Gesellschaft auch ein geistig anregendes und respektables wissenschaftliches Diskussionsforum, das Brehm mit der Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882) bekannt machte - ein für Brehms Weltbild entscheidendes Bildungserlebnis. 24 Brehm hatte Glück: Seine Rechnung ging ohne Bruch auf. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ernst Keil 25 , der kluge Begründer und Leiter der damals ungeheuer verbreiteten und beliebten ‚Gartenlaube‘, begrüßte den jungen Afrika-Forscher und federgewandten Zoologen mit offenen Armen als Mitarbeiter, druckte Aufsatz um Aufsatz von ihm und sorgte so ebenso 354 Sebastian Schmideler für seine Zeitschrift wie für das Bekanntwerden Alfred Brehms. Freilich, was dieser Autor erzählte, stach von dem übrigen Text des Blattes nach Form und Inhalt so auffällig ab, daß selbst der philisterhafteste Leser sofort nach seiner Brille griff, wenn etwas von Brehm im Hefte stand. (Neumann 1929: 57) Dass es Brehm mit der Popularisierung der Tierschriftstellerei sehr ernst war und der Anspruch für Haus und Familie zu schreiben, kein peripherer Wesenszug gewesen ist, beweist eindrücklich ein Briefwechsel zwischen ihm und dem Ornithologen Carl August Bolle (1821- 1909), gewissermaßen einem „Bruder im Geist“, was die Haltung zur populären Darstellung betraf. Über eine geplante, aber schließlich nicht zustande gekommene populärwissenschaftliche zoologische Zeitschrift schreibt Brehm aus Leipzig am 6. Januar 1861 programmatisch: Die Zeitschrift darf nur volksthümlich gehaltene Aufsätze enthalten: alle aber müssen auf der strengsten Wissenschaftlichkeit gegründet sein. Eine geschmackvolle Schreibweise und etwas Mitgliedschaft am potsdamer Verein für deutsche Sprache sind erforderlich. 26 (Schneider 1988b: 67) Und weiter: Es ist - da wir volksthümlich sein wollen - gar nicht nöthig, nur Originalbeiträge zu bringen; sobald der betreffende Mitarbeiter geschmackvoll zu schreiben und hübsch zu sichten versteht, ist er willkommen. (Schneider 1988b: 68) Das Erfolgsrezept des Illustri[e]rten Thierleben[s] war damit schon ausgesprochen. Die semantische Verbindungslinie von Wissenschaft und Literatur über Popularisierung wurde das Geheimnis der anthropomorphen Mischung bei Brehm. Das Leben der Vögel ist unverwechselbar in diesem geistigen Klima entstanden. Der Plan eines populären Vogelbuches geht bis weit vor die Spanienreise 1856 zurück. Der Sohn des Vogelpastors war durch seine ornithologischen Sachkenntnisse, die er durch den in Systematik, Klassifikation und Vogel- Morphologie Maßstäbe setzenden Vater erlernt hatte, ebenso gut auf diese Arbeit vorbereitet wie durch das im 19. Jahrhundert zweifelsohne besondere Privileg, dass er nicht nur die europäischen Vogelarten, sondern auch die afrikanischen aus eigener Beobachtung und Präparation genau kannte. Eine von Ernst Keil finanzierte Reise nach Nordeuropa (Genschorek 1984: 220) ergänzte diese Kenntnisse um einen weiteren Landesteil. Dieses handwerkliche Können Brehms und sein Wissen koppelte sich nun mit der literarischen Ambition, die sich schon in der gesamten Anlage des Vogelwerkes zeigte. Im ersten Teil des Buches schildert Brehm in fünf ausführlichen Abschnitten die Lebensweise der Vögel, untergliedert in Das leibliche Leben, Das geistige Leben, Heimath und Beruf, Häusliches und geselliges Leben, gefolgt vom fünften Abschnitt Der Mensch und die Vögel. Daran schließen sich fünfzig kleine Charakterstudien an, Lebensbilder genannt, literarisch genrehafte Vogelporträts - eine Galerie, gewissermaßen en miniature in sprachliche Goldrähmchen gefasst. Erste Lieferungen des Werkes erschienen nach seperaten Vorabdrucken in der Zeitschrift Aus der Heimath bereits 1859 im Verlag von Meidinger Sohn & Comp. in Frankfurt am Main. (cf. Schneider 1989: 81 Anm. 15) Durch die Vermittlung Roßmäßlers, der auf der Leipziger Buchmesse den Glogauer Verleger Carl Flemming (1806-1878) kennengelernt hatte, wurde das Werk in dessen Verlag aufgenommen, da Roßmäßlers populäre Zeitschrift Aus der Heimath bereits dort erschien, auch Brehm hatte für das beliebte Blatt publiziert. Brehm bezeichnete sein erstes zoologisches Hauptwerk als sein literarisches Lieblingswerk. (Schneider 1988b: 58 und Schneider 1988a: 38 Anm. 22) „Dargestellt für Haus und Familie“ erschien es 1861 in einer buchkünstlerisch aufwändig gestalteten Prachtausgabe, mit einer goldverzierten, ornamentreichen allegorisch-emblematischen Einbandprägung in dunkel- Das Leben der Vögel (1861) 355 grünem Leinen (Abb. 1) 27 und mit 24 unter Brehms fachkundiger und kritischer Leitung angefertigten farbig unterlegten Holzschnitten (Abb. 2) sowie drei Farbtafeln mit Eierdarstellungen. Bereits 1867 wurde trotz des hohen Preises von 12 Mark für die einfachere Ausstattung und 16 Mark für die elegant gebundene Ausgabe mit Goldschnitt eine zweite Auflage notwendig. 28 Die für ihre aufwändigen Abbildungen, später kolorierten Illustrationen berühmten Bände machten auch in dieser Hinsicht kulturhistorisch Furore. (cf. Genschorek 1984: 211ff.) Insbesondere durch Entwürfe von der Hand von Brehms Reisekameraden der Afrika- Expedition, dem Leipziger Tierzeichner Robert Kretzschmer (1818-1872) hatte Brehm mit seinem Buch Das Leben der Vögel die Idee für sein berühmtes Illustriertes Thierleben präfiguriert. Jene berühmten Bände, die Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) mit einem Auszug aus der Beschreibung des Sperlings in seinem Deutschen Lesebuch (1929) zu der vielsagenden Charakterisierung Brehms animierten: A.E. Brehm, Naturforscher (1829-1884), der Sohn des unvergleichlichen Ornithologen Christian Ludwig Brehm und wie dieser ein so treuer als ausgezeichneter Schilderer des Tierlebens, insbesondere der Vögel und ihrer Lebensweise. Hauptwerk das illustrierte ‚Tierleben‘ 1876-1879 29 , ein Buch, das ins Volk gewirkt hat wie wenige und in einer der Natur sich entfremdenden Epoche den Sinn und die Sehnsucht nach den Naturwesen lebendig erhalten hat. (Hofmannsthal 1984 [1929]: 501) 30 2.3 Phänomenologie des Anthropomorphen in Alfred Brehms Das Leben der Vögel 2.3.1 Die biomorphe und zoomorphe Gestaltungsweise Die erste, dem Wesen des Tieres am nächsten liegende Kategorie des Anthropomrophen bei Brehm betrifft Elemente der Tierdarstellung, die das Tier in seiner Gestalt und Eigenschaft als Tier beschreiben und die mit den menschlichen Mitteln der Wahrnehmung eine Versprachlichung der äußeren formalen Tiererscheinung und ihrer typischen Eigenschaften und Verhaltensweisen betreffen. Blickperspektive ist die selbstvergessene Beobachtung des Tieres durch den Menschen, ein sprachlich anschauliches, aber gewissermaßen „neutrales“ bzw. um Neutralität bemühtes und distanziertes bloßes Feststellen des Tierverhaltens und dessen spezifischer Züge. Es sind hier allgemeine Beobachtungen des Tierverhaltens und der äußeren morphologischen Erscheinung gemeint, die nicht in den Kontext der genuin wissenschaftlichen Beschreibung und Klassifikation des Tieres gehören, als deren typische Merkmale z.B. die Fachsprachlichkeit zu nennen wäre oder ein wertender Vergleich auf der Grundlage eines auf einen wissenschaftlichen Sachverhalt bezogenen Kriteriums. Wichtig an diesem biomorphen Element ist das bloße Wahrnehmen des Tieres, ohne es mit bewusster Strategie in das Verhältnis zum Menschen zu setzen. Es handelt sich um eine Kategorie der Beobachtung, nicht um eine der bewertenden Beschreibung, obgleich innerhalb des Elements gleichwohl Wertungen auftreten müssen um das Gemeinte verständlich ausdrücken zu können. Denn anthropomorph ist diese Kategorie insofern, als sie stets des Analogons der Wahrnehmung des Menschen und der Grenzen und Möglichkeiten der prinzipiellen menschlichen Beobachtungsfähigkeit bedarf, aus der heraus die Beschreibung geschieht. Nur insofern ist die bio- und zoomorphe Gestaltungsweise konnotiert. Ein für Brehm typisches Beispiel für dieses Element findet sich in einer Passage über den Flug der Geier: 356 Sebastian Schmideler Abb. 1: Das Leben der Vögel. Die von Robert Kretzschmer für diese Prachtausgabe entworfene allegorischemblematische Einbandprägung stellt eine bemerkenswerte Leistung der Einbandkunst des 19. Jahrhunderts dar. (Quelle: Brehm 1861, Privatbesitz d. Verf.) Das Leben der Vögel (1861) 357 Abb. 2: Wintergäste im Dorfe heißt der Titel dieses Holzschnitts, entworfen von Robert Kretzschmer, geschnitten von Richard Illner. Das Bild zeigt programmatisch, wie stark in Brehms Auffassung Vogelwelt und Menschenwelt ineinander greifen. (Quelle: Brehm 1861: zw. 368f., Privatbesitz d. Verf.) 358 Sebastian Schmideler Der Flug der Geier ist eher ein Schweben zu nennen, als ein Fliegen. Beim Erheben von der Erde nehmen sie einen Anlauf in Sprüngen; sind sie aber einmal in hinreichender Höhe angelangt, dann sieht man oft mehrere Minuten lang keinen einzigen Flügelschlag. Dennoch bewegen sie sich rasch und ohne jede bemerkliche Anstrengung. Ihre ausgezeichneten Flugwerkzeuge setzen sie in den Stand, in wenig Stunden bedeutende Strecken zurückzulegen; ihr scharfes Auge läßt sie aus der größten Flughöhe das von ihnen durchkreiste Gebiet absuchen. (Brehm 1861: 437) Anthropomorph ist an dieser Passage, dass Brehm, indem er sagt, der Geier fliege ohne jede bemerkliche Anstrengung, eine durch die menschliche Wahrnehmung gespiegelte Aussage trifft, die durch das Adjektivattribut bemerklich deutlich als vom Menschen ausgehend betont wird. Wertend ist auch der technische Begriff Flugwerkzeuge und deren Attribuierung als ausgezeichnet - beides soll auf die gute Anpassung des Vogels an seine natürliche Umgebung hindeuten. Die charakteristische Benennung des Flugs der Geier als Schweben zeigt Brehms stilistische Genauigkeit und seine Sicherheit beim Benennen von Sachverhalten im Prozess der sprachlichen Wiedergabe von Naturbeobachtungen. Auffällig sind die Gleichmäßigkeit und das Ebenmaß, mit denen Brehm Tierbewegungen völlig unaufgeregt beschreibt. Die Schilderungen wirken athmosphärisch, dicht und eindrücklich. Ihre geschickte Dramaturgie, ihre syntaktische und semantische Eleganz, der Sinn für Dynamik und Satzrhythmus reichen bis hin zur Interpunktion. Brehm achtet auf alliterativen Sprachklang und komponiert gute Stellen so treffend, dass diese Passagen manchmal sogar wie ein Widerschein von Seele wirken können: In den Morgenstunden sieht man den Bartgeier, wie den Geier, selten oder gar nicht, er scheint bis geraume Zeit nach Sonnenaufgang auf seinem Schlafplatze zu verweilen. Etwa zwei Stunden nach Tagesanbruch beginnt er das Durchstreifen seines Gebiets. Beide Gatten des Paares fliegen in nicht allzugroßer Entfernung von oder dicht neben einander längs und über den hauptsächlichen Zügen des Gebirges dahin, gewöhnlich in einer Höhe von nicht mehr, als etwa 150 Fuß. Wird der Hauptzug des Gebirges durch Querthäler unterbrochen, dann werden diese überflogen, selten aber mit durchsucht. Bei diesem Streichen fliegen die Bartgeier äußerst schnell, und zwar ohne Flügelschlag; sie lassen dabei aber ihren Blick nach allen Seiten schweifen; denn sowie Einer etwas bemerkt, beginnt er sofort seine Schraubenlinien über dem Gegenstand zu drehen, der andere vereinigt sich mit ihm, und beide verweilen nun oft lange, beständig kreisend über einer Stelle, ehe sie ihre Wanderung fortsetzen. (Brehm 1861: 440f.) Hier zeigt sich Brehms Fähigkeit zur Naturschilderung durch ein Zurücknehmen des betont vermenschlichenden Anteils. Wie einatmendes Aufnehmen der kreatürlichen Bewegung durch die Sinne wirkt Brehms reflektiertes Empfinden der Tierbewegung. Durch genaue Beobachtung entsteht ein um Exaktheit und Natürlichkeit bemühtes Erkennen und Aussprechen des Empfundenen. Vermittelst eines sprachlich adäquat ausgewählten Zeichens wird das Empfundene und Erkannte so exakt wie möglich repräsentiert. Dabei versucht Brehm, die emotionale und die rationale Seite der Wirkung gleichwertig zu berücksichtigen. Das Besondere an diesen Passagen ist, dass sie einen Eindruck des unmittelbaren Nachempfundenhabens beim Rezipienten hinterlassen können. Denn in ihren gelungensten Teilen suggeriert die Schilderung ein Vergessen der Verstehensdistanz zwischen Mensch und Tier. In diesem Sinne wird hier die Als-ob-Gestalt der Tierdarstellung anthropomorphisiert. Diese Passagen wirken deshalb durch das scheinbare Vergessenlassen nolens volens verstärkt selbstreferentiell. Sie scheinen ein Für-sich-Sein des Tieres auszudrücken. 31 Das Leben der Vögel (1861) 359 2.3.2 Die poetomorphe Gestaltungsweise In dieser Kategorie rückt die Reflexion über den Formaspekt der Tierdarstellung verstärkt in den Vordergrund. Denn Anthropomorphisierung kann bis hin zur Gestaltung als reine Selbstreferentialität artikuliert werden, wie die onomatopoetischen Einlagen beweisen. Dabei werden Tierstimmen phonologisch imitiert und vermittelst des Alphabets transkribiert. Es geht jedoch in dieser Kategorie zunächst grundsätzlich um die poetische und ästhetische Gestaltetheit der Brehmschen Vogelporträts und die genuin poetischen Elemente des ersten Teils von Brehms Vogelwerk. Denn die Kategorie berücksichtigt denjenigen Teil der Ästhetisierung der literarischen Tierdarstellung, der vorrangig die literarische Form kennzeichnet. Es geht um die sprachliche Repräsentation dieser Form im Hinblick auf das Anthropomorphe. Damit soll aber auch das formale Arrangement in seiner Gesamtheit gemeint sein. Ebenso soll diese Kategorie die Spezifik der literarisch-narrativen Tektonik der Tierdarstellung erfassen. Brehms literarisches Lieblingswerk Das Leben der Vögel lässt sich mit guten Gründen als ein intendiert ästhetisches Gesamtkunstwerk bezeichnen, in das die Anthropomorphisierungen geschickt distribuiert und poetisch eingebettet werden. Nichts wird dabei dem Zufall überlassen. Bereits die äußere Ausstattung des Buches, der Anspruch, es „dargestellt für Haus und Familie“ als ein Hausbuch für Jedermann, für ein Publikum jeden Alters zu bestimmen, sprechen dafür, dass das anthropomorphisierende Element in einem formschön gestalteten Rahmen und als eine arrangierte Ganzheit gedeutet und rezipiert werden soll. Doch das Formschöne soll sich bei Brehm ausdrücklich mit dem Popularen verbinden: „Mein Buch soll ein Unterhaltungsbuch sein, wie unsre Zeit es verlangt“, sagt Brehm dazu selbst. (Brehm 1861: V) Schon hingewiesen wurde auf die elementare Bedeutung, welche die Illustrationen und sogar der beim Betrachten des Buches zuerst auffallende, prachtvoll gestaltete allegorisch-emblematische Bucheinband für Brehms Werk einnehmen (cf. Abb. 1 und 2). Diesem Element des ästhetischen Arrangierens seiner Tierdarstellungen mit Präferenz des Poesievollen räumt Brehm darum im Vorwort seines Vogelwerkes auch genügend Raum ein. Brehm spricht aus, wie er das Anthropomorphe als das Illustrative, das Literarische, das Poetische und das Buchkünstlerische mit großer Umsicht präzise berechnet und bis ins Detail hinein gewissenhaft geplant und inszeniert hat: Bädecker’s und Georgy’s [zwei bekannte Genremaler des Tierfaches im 19. Jahrhundert, Seb.Schm.] Meisterhand haben aus reiner Freundschaft für mich mitgewirkt; Robert Kretschmer [! ] ist auf alle meine Vorschläge bereitwillig eingegangen und hat mir vortreff- liche und richtige Zeichnungen geliefert, welche Illner 32 mit ebensoviel Lust und Liebe als Geschick geschnitten hat; Frauenhände haben mir geholfen, die Blüthen aus unserem Dichtergarten auszuwählen, welche ich über das Ganze gestreut habe: und als das Gefundene noch nicht ausreichen oder passen wollte, haben sich meine lieben Freunde Welcker 33 und Sturm 34 dieses Buches wegen sogar an ihre heitre Muse gewendet und deren Hilfe mir erbeten. Dem handlichen Gebrauche des Werkes wird das beigegebene alphabetische Verzeichnis gewiß einige Erleichterung gewähren; dasselbe danke ich meinem Freunde Albrecht, welcher auch für möglichste Reinheit des Druckes vom zweiten Bogen an Sorge getragen hat. (Brehm 1861: VIIf.) Ästhetisierung als Sinn für das Formschöne, für das formal Richtige (Reinheit des Druckes) und für das bildungsbürgerlich Angemessene vom Holzschnitt bis zur Fahnenkorrektur im Dienst der Brehmschen Tierdarstellung! Sogar das drucktechnische Erscheinungsbild ist Programm: Der erste Teil des Buches ist in großzügigem Zeilenabstand und mit verschwenderisch 360 Sebastian Schmideler mehraufwändiger Formatierung gedruckt, die Tierporträts hingegen deutlich davon abgehoben und enger, dichter gesetzt; beide Teile werden damit auch optisch ersichtlich von einander getrennt. Doch poetomorphe Gestaltungsweise bedeutete für Brehm mehr als dies. Denn besonderes Gewicht wurde auf den eingearbeiteten, eindrucksvollen lyrischen Vogel-Zitatenschatz gelegt, der in seiner Fülle als Kanon des bildungsbürgerlichen Blicks auf die Poesie über Vögel bis heute unübertroffen bleibt und für sich gesehen für eine Brehmsche Philosophie des Poetischen steht. Zu Beginn eines jeden einzelnen Unterkapitels des ersten Teils und je zu Anfang der fünfzig Vogelminiaturen hat Brehm eine intertextuell aufwändig eingeflochtene lyrische Einlage arrangiert, die das ganze Buch wie eine poetische Ranke durchzieht. Über hundert einzelne Gedichte, Strophen oder Sentenzen, jedes und jede individuell zugeschnitten auf eine Vogelart wird einem der zahlreichen Seitenaspekte des Vogellebens an die Seite gestellt. Doch damit nicht genug. Auch innerhalb der Lebensbilder genannten literarischen Tierporträts spart Brehm nicht mit Zitaten aus den abgelegensten Anthologien und Lyrikbändchen, sucht er nach typischen Sprichwörtern, Volksweisheiten, Volksliedern, Kinderreimen und spürt mit dem Kennerblick und der Akribie des ewig geduldigen Besessenen noch das letzte und unbekannteste Zitat aus der Schatztruhe der aus seiner Sicht Berufenen der Weltliteratur auf, das seine erklärten Lieblinge nur irgend vorteilhaft oder charakteristisch im Licht der Poesie erscheinen lässt. (cf. Brehm 1861: 481-487, das Porträt der Schwalbe) Das alles zu einer Zeit als an Suchmaschinen noch lange nicht zu denken war und Wissen immer auch Kennen bedeutete. Nicht selten kommentiert Brehm diese Tier-Lyrik aus der Sicht des Naturforschers, schaltet sie so als bedeutsam für die Gesamtrezeption ein, erhöht damit ihren Rezeptionswert. Er bestätigt die Richtigkeit der Beobachtung oder verweist auf große Namen. „Schon Anakreon besingt ihr Kommen und Gehen“, heißt es zur Schwalbe. „Die neueren Dichter preisen sie nicht minder und betrachten, wie die Alten, sie als einen Vogel des Segens“, kommentiert Brehm nur wenige Zeilen weiter. „Doch welchem von uns wäre das Gedicht nicht bekannt? “, so prüft er den bürgerlichen Bildungskanon seiner Leser, geht mit seiner Bildung hausieren und schwärmt erneut, nur eine nachfolgende Seite weiter: „Unser Rückert 35 hat ihn [den Gesang der Schwalbe] in dem schon angeführten Gedichte nicht minder treu wiedergegeben.“ - Kein Zweifel: Diese lyrischen Formzitate sind für Brehm keine nur peripher bedeutsamen Ingredientien, sondern elementarer Bestandteil seiner Art, Tiere zu anthropomorphisieren. Sie zeigen zunächst ganz formal einen nicht unerheblichen Sachverhalt an: Damit ein Buch (und nicht nur ein Tierbuch) im 19. Jahrhundert Hausbuch und Familienbuch werden konnte, gehörte diese schöngeistig-mütterliche Seite Brehms, die er mit großem Genuss überall anbringt, zu den Hauptbestandteilen des Anthropomorphen. Auch Brehms ziselierte, überwiegend rhythmische, äußerst geschliffene und hypotaktisch ausgefeilte Prosa ist stilistisch elaboriert. Mit großem Aufwand ist Brehm um Klarheit, semantische Eindeutigkeit der Begriffe und Anschaulichkeit bemüht. Dabei wirkt die Bedeutung seiner Worte immer auch aufgeladen mit Ergriffenheit und Begeisterung. Durch das gekonnte Gleich- und Ebenmaß seiner sich im Ton immer selbst treu bleibenden, den Anspruch haltenden Schilderungen lässt dieser Individualstil ein erstaunliches Quantum an poetisch-ästhetischer Gestaltetheit erkennen. Doch vor allem zeigt Brehm in seinem Buch eine Haltung zur Poesie, die wesentlich für seine gesamte Naturauffassung ist. Das Überschwängliche bis Pathetische des Poetisierens von Vögeln findet dabei seinen stärksten Ausdruck im Kapitel Der Vogelgesang und das Menschenherz. (cf. Brehm 1861: 357-368) Hier gibt Brehm den Schlüssel für sein Verständnis des Poetischen als sprachliche Wort- und Tondichtung im Das Leben der Vögel (1861) 361 Schlüssel für sein Verständnis des Poetischen als sprachliche Wort- und Tondichtung im Kontext des Anthropomorphen. Brehm geht darin implizit von einer pan-poetischen Ganzheitlichkeit der poetischen Ausdrucksform in der gesamten Natur aus und beschreibt das Poetische als das Naturschöne schlechthin. Denn unter ganzheitlich ist dabei zu verstehen, dass die Poesie eine allgegenwärtige Ausdrucksform der Natur ist, die als ein omnipräsentes Prinzip wirkt und die gesamte belebte Welt erfasst. So korrespondiert das Poetische als Prinzip des Kunstschönen beim Menschen mit dem Poetischen als Prinzip der Sangeskunst bei den Vögeln auf frappierend eindrücklich geschilderte Weise: So reich und begünstigt der Vogel durch seine ihm verliehenen mannigfachen Gaben auch ist, keine derselben erwirbt ihm in gleicher Weise des Menschen Liebe und Freundschaft, des Menschen ganzes, volles Herz, wie sein Gesang. Auch hier ist es wieder Dichtung, welche dieser Freundschaft Träger wird; denn der Gesang ist ja eben nur eine Dichtung in Worten und Tönen zugleich: - Sänger und Dichter sind unserer Sprache fast gleichbedeutend. Der singende Vogel tritt gleichsam selbst als Dichter auf; und wenn wir auch die Worte seiner Liebe nicht verstehen, wir ahnen sie wenigstens! Der Vogelgesang steht höher, als andere Musik: er paßt zu jeder Gemüthsstimmung, er weiß sich jedem Gefühl anzuschmiegen. Und wie viele Empfindungen erweckt er in dem Innern! Die Dichtung wird wach in ihm, regt sich und lebt auf in Gedanken und Worten, in Klängen und Reimen. (Brehm 1861: 357) Das Naturschöne findet sich in Brehms literarischen Vogelbildern nicht nur in der Stimme, 36 sondern ebenso auch im Bau des Körpers, in den Verhaltensweisen der Vögel, vor allem aber im Kapitel Dichtungen der Bewegungen des Vogels (cf. Brehm 1861: 346-356), in dem das poetische Wort vom Flugzauber fällt. In diesem Kapitel geht es um das Pan-Poetische des Vogelflugs vom Orient zum Okzident: Wenn der Lauf des Hirsches oder Rehes und noch mehr der der Gazelle Dichtung genannt werden kann, verdient das rasende Wettrennen des Straußes, der Reigen der Bachstelze, der Balztanz des Birk- und Felsenhahnes diese Deutung gewiß in ebenderselben Ausdehnung. […] [Der Vogel] ist es, dem der Himmel offen steht! Sein Fliegen allein heißt Fliegen […] Der Vogelflug ist die herrlichste, die vollendetste aller Bewegungen des thierischen Körpers; denn sie vergeistigt gleichsam den sterblichen Leib. (Brehm 1861: 346f.) Für den Zeichenaspekt sind die onomatopoetischen Einschübe von besonderem Interesse. Hier konifguriert die Anthropomorphisierung als gewissermaßen selbstreferentielle Form des sprachlichen Zeichens, das nichts geringeres bedeutet will als einen reinen, puren Versuch einer menschenlautlichen Nachahmung der Vogelstimme. Diese Nachahmung kann natürlich nicht die Bedeutung des Vogelgesangs semantisch aufnehmen und wiedergeben. Das sprachliche Zeichen ist lediglich Lautkörper. Es dient dem Ziel, den Klang der Vogelstimme als menschlichen Sprachklang zu verschriftlichen. Das ganze Alphabet der Vogelstimmen ist vertreten, bspw. für A wie Ahu, kuh, kuha, E wie Ehrr, für G wie Gättgättgättgätt, Gih, Gih, Gih, Goh-ääää, Göp, Göp, Göp, für H wie Hip, Hip, Hu, Hu, Hupp, Hupp, für K wie Kix, Kix, Kix, Kloog, Kloog, Krach, Krach, Kruch, Kurre usw. reicht es über Quak, Quäht, Quäht, Ruckediguck, Schuschuhu, Sih, Sih, Sih, Tak, Tak, Tellterelltelltelltell, Uä, Uä; Weck, Weck, Weck, Whib, Whib, bis hin zu Zäkzäkzäk, Zgäzgäzgä, Zerr und Zikzikzik. Selbst Präfigurationen der konkreten Poesie finden sich bei dieser onomatopoetisch anthropomorphisierten Lyrik, gesammelt 1861. 37 Diese poetomorphen Elemente können unter Umständen von großer Skurrilität sein, insbesondere wenn sie zwischen Autoreferentialität und semantischer Bedeutung spielerlisch oszillieren. Etwa, wenn Brehm den „Schlag der Singdrossel“ (Zippe), eine antike 362 Sebastian Schmideler onomatopeotische Spielerei in lateinischen Versen, genüßlich vor seinem Leser ausbreitet und in der die Tonmelodie der Vogelstimme im Sprachspiel durch Modulation der Vokale, Konsonanten und der Satzmelodie imitiert wird (am wirkungsvollsten laut und nicht zu langsam zu lesen): Quis quis arat/ quis quis arat? / Vir arat, vir arat./ Tpo prope, tpo, prope,/ Corpusculum in gutture meo,/ Corposculum in gutture meo./ Quomodo hoc ex illo emoliendum est? / Quomodo hoc ex illo emoliendum est? / Consiliis, consiliis, consiliis! / Quo vero consilio? / Quo vero consilio? / Tir…ri-ll-itt. (Brehm 1861: 56) 2.3.3 Die mythomorphe Gestaltungsweise Die Kategorie der mythomorphen Gestaltungsweise ist eingeschaltet, um diejenigen Elemente des Anthropomorphen erfassen zu können, die auf mythologische Wurzeln zurückzuführen sind, die Mythen des Volks- und Aberglaubens o.ä. betreffen oder sich auf religionsphilosophische Grundlagen der Anthropomorphisierung beziehen. Angewandt auf den Spezialfall von Brehms Werk bedeutet dies auch, die spezifischen Einschlüsse aus der christlichen Religion in seinen anthropomorphen Darstellungen zu berücksichtigen. Es zeigt sich auch in dieser Kategorie, dass die Entstehung der anthropomorphen Zeichenstrukturen vorrangig über semantische Bedeutungszuschreibungen vollzogen wird, die insbesondere kulturhistorisch konnotiert sind. Die mythomorphe Gestaltungsweise bedient sich zum Teil uralter, bis hin zu totemistischen Tierdarstellungen reichenden Traditionen und Anschauungsweisen und trägt vor allem dazu bei, die Tierdarstellung animistisch erscheinen zu lassen. Dieser animistische Anteil rührt von semantischen Äquivalenzen zwischen der tiermythologischen Vorstellung der Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Tier sowie dem ernstzunehmenden Anspruch Brehms her, mit der sprachlichen Gestaltung seine Tiere plastisch, anschaulich, lebensecht zu präsentieren. Die mythologische wird in die aktuelle Bedeutung eingebettet und bekommt dadurch eine verstärkte Autoritäts- und Wahrhaftigkeitsfunktion. Die darwinistisch-evolutionäre, ganzheitliche Sicht Brehms, den Menschen als Maß aller Dinge anzusehen, hatte eine tiefe religiöse Wurzel, die den Schöpfungsgedanken so definierte, dass alle Wesen in einer graduellen seelischen Verwandtschaft als Ausdruck einer Weltseele zu verstehen seien. Auch Brehm vertrat die Auffassung, das zwar Seelen- und Wesensverwandtschaft der Arten bestehe, doch der Mensch als Krone der Schöpfung den Höhepunkt und Ausgangspunkt dieser Betrachtung bilden müsse. Diese mythologisch-religionsphilosophische Wurzel wird bisweilen von der Materialismusdiskussion übersehen oder von der Beschreibung der naturwissenschaftlichen Übergangsperiode zwischen spekulativer Tierseelenkunde auf der einen und naturwissenschaftlicher Tierpsychologie sowie exakter vergleichender Verhaltensforschung auf der anderen Seite verdeckt, die als alleinige Ursache von Brehms lediglich als psychologisierend charakterisierten Anthropomorphisierungen erörtert wird. 38 Doch Brehm deutete Instinkte des Tieres noch als allen Wesen gleiche Seelenentäußerungen, nutzte dieses Potential für ebenso „seelenvolle“ Ausdeutungen, die von einer prinzipiellen emotionsgeleiteten, durchaus christ- lichen Liebe (und dem kontradiktorisch implizierten Hass) bestimmt waren. Er entzweite nicht, sondern versöhnte damit im Grunde mehr oder minder bewusst die Evolutionslehre mit dem Mythos und mit der christlichen Religion - eine für ihn noch ganz selbstverständliche Tröstungsweise, die schon wenige Jahre später durch die Brechungen dieses Weltbildes durch die exakten und trennscharf operierenden Naturwissenschaften nicht mehr möglich war. Ganz Das Leben der Vögel (1861) 363 abgesehen davon, dass Brehm von Seiten orthodoxer Kirchenanhänger, die sich nicht scheuten, ihn in Verkennung seiner eben gerade nicht reinen, radikal-naturwissenschaftlichen Absichten einen „inhumanen, intoleranten Schimpansen“ zu nennen (Genschorek 1984: 210), seit jeher ein sehr scharfer Wind entgegenwehte. Doch so primitiv diskriminierend sind die komplexen anthropomorphen Strukturen im Werk Brehms jedenfalls nicht zu desavouieren gewesen. Brehm, als schwieriger Mensch gefürchtet, mochte durch seinen selbstbewusst überzeugten und schonungslos liberalen Stil gerade im Umgang mit der zeitgenössischen Theologie ein paar unbeholfene und starrsinnige Züge an den Tag gelegt haben, die dem Gusto und guten Ton des 19. Jahrhunderts nicht angemessen waren und Empfindliche zum Widerspruch reizten, aber er war vor allem ein hochgebildeter Grenzgänger zwischen Human- und Naturwissenschaften, ein praktischer Schöngeist und religiös empfindsamer, eloquenter und exakter Beobachter von hohen Gnaden, mit beeindruckendem enzyklopädisch-naturhistorischen, literarischen und zoologischen Wissen. Weder diese von fast grenzenlosem Interesse zeugende, vielfältige Fülle, noch die pathetisch-engagierte Art, in der dieses Wissen zumeist vermittelt wurde, kann als atheistisch oder als pur materialistisch eingestellt bezeichnet werden. Brehm war kein Renegat, sondern versuchte Mythos und Religion durch Evolution zu vereinen. Dies war für Brehm ein hermeneutischer und semiotischer Prozess. 39 Vielmehr ist daher die mythomorphe Gestaltungsweise das eigentliche Fundament von Brehms Tierbeschreibungen, eine zoologisch-naturwissenschaftliche Sicht aber an keiner Stelle das alleinige Ziel seiner anthropomorphen Tierdarstellungen. Im Grunde ist Brehms Anthropomorphisierung eine Evolutionsmythologie, die insbesondere Das Leben der Vögel als das erscheinen lässt, was Brehm von seinem Vater, dem Vogelpastor, von Haus aus „verordnet“ worden war: ein „Mischtrank aus Theologie und Naturwissenschaften“, wie Brehm es selbst einmal treffend bezeichnete (Schneider 1988a : 43). Dieser Mischtrank schmeckte wie die Essenz aus einer mythologischen Wurzel, von der aus entschieden christlich gewachsene Hauptabzweigungen abgingen. Das Populäre des Mythomorphen zeigt sich in Brehms - innerhalb der konkreten Formulierung erkennbaren - Vorgehen, das Althergebrachte, die traditionell überkommenen urmythischen, kultischen, bisweilen zum Totemistischen neigenden Tiervorstellungen aus eurozentristischer Perspektive überwiegend zu übernehmen. Durch diesen pragmatischen Trick gelang es, der Vorstellungswelt seiner Leser einen erleichterten Zugang zu seinen Tierdarstellungen zu ermöglichen. Dabei ging Brehm von einem religiösen Anthropomorphismus aus, den er mitttels des Darwinistischen Evolutionsprinzips zu einer neuen, vornehmlich immer noch christlich-eurozentristisch geprägten Evolutionsmythologie umdeutete: Man nennt mich Materialist, man hat mich schon Atheist gescholten, man hat mich als bitteren Feind der Priester bezeichnet. Wahr ist, daß ich einem gesunden Materialismus huldige, für ihn eingetreten bin, für ihn gekämpft habe. Wahr ist, daß ich mir die Gottheit gestalte nach meinem Verständnis, nach meinem Erkennen und Ermessen. Wahr ist endlich, daß ich auch solchen, welche sich Priester nennen, den Fehdehandschuh hingeworfen habe. Niemals aber habe ich das Urbild dem Zerrbild, niemals den Priester mit dem Pfaffen verwechselt, niemals dem ersteren entgelten lassen, was der letztere verschuldet. (Genschorek 1984: 210) Denn den Darwinismus hält Brehm, der nicht zuletzt auch Meister einer Freimaurerloge war, für eine Anschauung, die sich mit den sittlich-ethischen und religiösen Grundanforderungen seiner Zeit, freilich nicht immer mit den zeitgenössischen Institutionen, die ihre Positionen von Amts wegen verwalteten, in Übereinkunft bringen ließ, wie er in einem Aufsatz in der Gartenlaube des Jahrgangs 1872 freimütig bekannte: 364 Sebastian Schmideler Und was den sittlichen Gehalt des Darwinismus anlangt, so meinen wir, daß es keine mehr erhabene und veredelnde Anschauung geben kann als diejenige, welche im Sein und Walten der Natur nur eine ununterbrochene, unaufhaltsame Entwicklung und Weiterbildung vom Niedrigen zum Höheren sieht, eine Fortentwicklung, welcher sich der Mensch ebenso wenig entziehen kann wie jedes andere lebende oder belebte Wesen. […] Der Strenggläubige sieht in jedem Naturforscher der Neuzeit, insbesondere in jedem Tierkundigen, welcher ebenso spricht und schreibt, wie er denkt, einen berechtigten Anwärter auf das höllische Feuer, wenn nicht mehr. Er überlegt sich nicht oder vergißt, daß der Mensch seine Götter und Götzen nach seinem eigenen Bilde sich erträumte und gestaltete, ... und hängt deshalb mit Inbrunst an dem Wahne der gerade ihm gewordenen Ebenbildlichkeit. Nur hierdurch finde ich Erklärung des Entsetzens, welches die Lehren Darwins in gewissen Kreisen hervorgerufen haben, wie der geradezu kindischen Furcht vor dem sogenannten ‚Materialismus‘ und seinen Anhängern. (zitiert nach Schneider 1988a: 40) 40 Es mutet erstaunlich an, mit welcher offen-schonungslosen Konsequenz Brehm die Grenzen der Gottesebenbildlichkeit im Anthropomorphismus des Menschen erkennt und auszusprechen wagt - er, der doch selbst diesem Anthropomorphismus bis ins Detail verhaftet war. Der christlich mythomorphe Aspekt zeigt sich am deutlichsten in Brehms Charakteristiken, die sich in der Einschätzung zwischen diabolischen Tieren und königlichen Tieren bewegen. Die durch den Sündenfall der Eva und des Adam als teuflisches Wesen verdammte Schlange findet vor den Augen von Brehm keine Gnade, und es ist nicht nur Pragmatismus (die Gefahr der Schlangenbisse), der ihn dazu treibt, die Tötung von Giftschlangen mit Eifer zu fordern: ‚Nur frisch zu Steinen und Knütteln gegriffen und wacker losgeschlagen auf das Gezücht, wie es auch drohend sich hebe und mit schwellendem Halse zische‘, räth schon Virgil, und wir schließen uns ihm an. Wir schlagen die Giftschlangen todt und thun recht, indem wir so verfahren. Ihnen gegenüber dürfen vernünftige Menschen von Schonung nicht reden; denn nur ein unerbittlicher Vernichtungskrieg fördert unser Wohl. (Brehm 1878: 404) Besser ist es, ich wiederhole es, daß sie alle, die schuldigen wie die unschuldigen, vernichtet werden, als daß […] das Leben eines einzigen Menschen durch das höllische Gift in eine ununterbrochene Qual verkehrt werde. (Brehm 1878: 464) […] sie sind nicht bloß stumpfsinnig, sondern, wie bemerkt, auch stumpfgeistig. (Brehm 1878: 275) Das schuldige Tier, das höllische Gift, der Vernichtungskrieg als Wohl. Ganz unverkennbar ist diese Anthropomorphisierung christlich-mythologisch konnotiert. Dieses mythologisierende anthropomorphe Element hat wiederum einen scharfen Kontrast. Wie ganz anders ist es um den Jagdedelfalken und den Adler bestellt. Sie sind keine Kriechtiere, sondern werden als veredelte Himmelsvögel stilisiert, weil sie als solche Vorformen des Herren der Schöpfung sind, überdies dem himmlischen Vater gewissermaßen geistig und optisch viel näher. Denn sie sind nach Brehm evolutionärer Ausdruck eines Höherentwickelten, zugleich aber mythologisch und christlich-religiös besetzte Vorstufen des Menschen als der Krone der Schöpfung: Diese herrlichen Thiere [Edelfalken, Seb.Schm] […] sind unzweifelhaft die Könige aller Falken. (Brehm 1861: 459) Jeder einzelne Edelfalke ist, wie ich schon sagte, ein Bild des Adels; aber unter allen Falken gebührt dem Jagdedelfalken die Krone. Der Mensch muß seine Freude haben an diesem kühnen, edlen Gesellen. Das Luftmeer ist seine Heimat, die Jagd seine Lust; sein Leben ist voller Kampf, voller Mühe und dennoch unendlich schön. Außer dem Menschen hat er keinen Feind; er aber ist der Schrecken aller schwächeren Thiere. Seines Herrschers Macht drückt ihn nicht, er dünkt sich dem Könige der gefiederten Schaaren, Das Leben der Vögel (1861) 365 dem stärksten Adler, ebenbürtig. Hohe Gebirge sind sein Haus, Felsenzimmer seine Warte. Nur nach den höchsten Orten strebt er; er verachtet das Niedere. Adel und Raubgier vereint er in glücklichster Weise in sich: kurz er ist ein vollendetes Thier. (Brehm 1861: 460) Die Jagd seine Lust - mythomorphe Gestaltungsweise heißt bei Brehm allzuoft auch Mythos der Jagd. In seinen Tierschilderungen stellen sie eine ganz zentrale Katgeorie des Anthropomorphen dar (Abb. 3). Der Vogelfang, den schon der Vogelpastor, der nach seinem Tode 15.000 überwiegend selbst erlegte und präparierte Bälge hinterließ (Genschorek 1984: 10), zum Gegenstand seiner Gelehrsamkeit machte 41 und die mythisch begeisterte Tötung des Vogels haben in Brehms Anthropomorphisierungen zweifelsohne ausgeprägt triebhafte Züge, sodass Hanns Zischler zu einer kritischen aber nur allzuwahren Bewertung dieser mythomorphen Gestaltungsweise kommt: Brehm hat den Trophäen und Bälgen in seinen Texten zu einer kleinen Ewigkeit verholfen. Er war kein birder, sondern erzählender Jäger […] Aus seinen blutverkrusteten „Schmuckstücken“ [zieht er] moralische Bilanzen, die er an jedem Tier neu anstellt […] so wie er unverhohlen sadistisch seine Abschüsse kolportiert, als wären es gelungene Pointen. (Zischler 2002: ohne Paginierung) Brehms ungezügelter, ebenso blutiger wie mythologisch besetzter und stilisierter Jagdeifer findet im Kapitel Der Jäger und die Jagd seine widerspruchsreiche anthropomorphe Entsprechung (cf. Brehm 1861: 395-407): Ich kenne noch ein Band, welches Mensch und Vögel zusammenschlingt, ein frisches, grünes, heitres Band: die Jagd! Wenn ich das eine Wort höre, klingt es in mir, wie Hörnerton, Peitschenknall und Freischütz. Ich kenne die Freuden des Jägerlebens; denn ich habe Länder durchjagt und monatelang ohne Unterbechung dem Waidwerk obgelegen, und möchte es wohl gerne sagen, was Jagd- und Waidmannsleben ist: aber wie soll ich Das in Worte kleiden, was Männerherzen erfaßt und fesselt, so lange Männerherzen schlagen werden. (Brehm 1861: 395) Das Gewehr zittert mir in der Hand vor Jagdbegierde. Hundert Gefühle bestürmen mich, bald Hoffnung, bald Enttäuschung, bald die Furcht, daß der Hahn lebend vom Platze komme, bald unendliche Freude, wenn er sich wieder nähert. […] Der Schuß donnert durch den Wald - der Hahn hat aufgehört zu spielen; im Todeskampfe zuckt er bloß noch mit den Flügeln. (Brehm 1861: 402) Der triebhafte Abschuss der Kreatur als frisches, grünes, heitres Band zwischen Mensch und Vogel verdeutlicht eindeutig die semantische Aufladung der Jagd zu einem geradezu heiligen, menschheitsumfassenden Opfer- und Männlichkeits-Mythos. Widersprüchlich ist diese Mythologisierung, weil Brehm andererseits den Gedanken des Vogelschutzes immer wieder betont, denn schon im Vorwort fällt das Schlagwort „Schutz den Vögeln! “ (Brehm 1861: VII), sodass man zunächst annehmen könnte, dass die willkürliche Tötung des Vogels ein Tabu darstelle. Doch Vogelschutz betrachtet auch Brehm als Jagd aus Bestandsschutzgründen, die ausschließlich der Hege und Pflege diene. Damit soll die Jagd als Vogelschutz gerechtfertigt werden. Aber der mythologisch aufgeladene, triebhafte Aspekt der Jagd ist dadurch lediglich in den Hintergrund verschoben. Die Tendenz des triebhaften Tötens flackert allzu deutlich wieder auf, auch wenn Brehm auf den ersten Blick ganz rational argumentiert: Ich glaube, daß nunmehr die Worte verstanden worden sind: die Jagd befreundet Mensch und Vogel. Einen Widerspruch könnte man vielleicht gegen sie erheben: die Jagd auf der Krähenhütte, weil man gewöhnlich glaubt, daß diese einzig und allein betrieben werde, um 366 Sebastian Schmideler Abb. 3: Alfred Brehm als Jäger. Diese Atelieraufnahme des erfolgreichen Autors entstand während der Leipziger Zeit. (Quelle: Schmitz 1986: 155) Das Leben der Vögel (1861) 367 zu tödten, um nach dem Ziel zu schießen. Aber auch diese Jagd verfolgt einen edlen Zweck: sie will durch Ausrottung des Raubgesindels andere, wehrlose Vögel schützen. Die Jagd bei der Krähenhütte gehört zu den angenehmsten und edelsten Vergnügungen im Waidmannsleben; denn der Schütz wirkt hier nicht für sich selbst, sondern tritt als Rächer und Beschützer der Bedrängten auf. (Brehm 1861: 405) Das Anthropomorphisierende dieser Begründung ist frappant: Der Jäger dient in diesem Beispiel sowohl als Zeichen für die Rechtfertigung eines zum Mythos stilisierten menschlichen Triebs als auch als Zeichen für den Schutz einiger Tiere, denen andere mit eindeutig auch mythologischem Einschlag geopfert werden: Raubgesindel, Rächer und Schützer der Bedrängten. Hier ist das Tier ein rein rhetorisches Instrument der moralisch aufgeladenen Rechtfertigung und insofern anthropomorphisiert. Überdies zeigt sich in der christlichen Konzeption der Vogelehe ein weiterer mythomorpher Zug, der aber verstärkt zur soziomorphen Gestaltungsweise gehört. 2.3.4 Die scientiamorphe (wissenschaftssprachliche) Gestaltungsweise Wenn es um wissenschaftliche Beschreibung geht, dreht es sich immer auch um die Versprachlichung von Verhältnissen, die in einer wissenschaftssprachlichen oder scientiamorphen Gestaltungsweise ihren Ausdruck finden. Brehms Tierdarstellungen sind auch in dieser Hinsicht anthropomorphisierend und stehen auf der Höhe der Wissenschaftlichkeit der Disziplin in seiner Zeit. Doch gehörte es zu den Eigenarten der zoologischen Wissenschaftssprache der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genau mit denjenigen sprachlichen Mitteln und Darstellungsweisen zu operieren, die im Ergebnis eine verstärkt anthropozentrische Sicht auf das Tier zeigten. 42 Damit zog die Wissenschaftssprache der Zoologie den Prozess der Popularisierung der Tierdarstellungen nachgerade auf sich. Dieser Effekt ergab sich gewissermaßen nolens volens von selbst. Neben der von dem Zoologen Brehm sozusagen als „Evolutionsmythologie“ gedeuteten darwinistischen Evolutionstheorie, die unhintergehbarer Kernbestand seiner Wissenschaftlichkeit darstellt, ist Brehm ein popular und wissenschaftlich zugleich denkender Sprachexperte gewesen, der sich um die Ausdrucks- und Inhaltsseite seiner Tierdarstellungen immer wieder erneut ernsthafte, prinzipiell-programmatische Gedanken gemacht hat. 43 Die heute gemeinhin als leichtfertig anthropomorphisiert erscheinenden Tierschilderungen sind jedoch vor der Folie des Wissenschaftsverständnisses der Zoologie dieser Zeit auch als Versuche zu verstehen, die Sprache der Tierwelt in eine anschauliche, klar verständliche und damit in diesem Sinne populare Sprache zu übersetzen. Denn da der Mensch in dieser Brehmschen Sicht als Krone der Schöpfung und als Maße aller Dinge das höchstentwickelte Lebendige auf Erden darstellt, muss alle Tierdarstellung in seinem Dienst stehen. Die Stufen der evolutionären Entwicklung müssenn sich damit auch innerhalb der menschlichen Sprache in Form von parallelen Simultanübersetzungen ausdrücken lassen. Denn der Aspekt einer Tiersprache, wie sie im Prinzip schon im Märchen rätselhaft mythisch auftaucht, 44 ist bei Brehm eine grundsätzliche Verstehenskategorie - und diese Tatsache ist wahrhaftig absolut anthropomorph gedacht. Der Mensch und die Menschensprache sind höchste Form einer tierischen Sprache. Dass Brehm einen so großen Wert auf geschliffenen Stil und verständliche Sprache legte, war seine Art, den hohen Wert, den er dieser aus seiner Sicht höchstentwickelten evolutionsgeschichtlichen Erscheinungsform beimaß, zu würdigen. Brehm hat diesen Zusammenhang 1873 sogar in einem knappen Programm explizit ausgesprochen: 368 Sebastian Schmideler Alle Tierkunde ist ein Beitrag zur Kunde des Menschen, denn sie geht von diesem aus oder richtet sich nach ihm hin. Durch Erkenntnis des Seins und Wesens der Tiere lernen wir die Bedeutung des Menschen verstehen und bestimmen damit fest und unwandelbar dessen natürlich[e] Stellung. Wer es versucht, das am höchsten entwickelte Tier von den übrigen zu trennen, würdigt den Menschen herab, anstatt ihn zu erheben. Denn der Mensch im Spiegel eitler Selbstüberschätzung, dünkt sich wohl ein Halbgott, ist aber nicht mehr als ein Zwitterwesen, zum Gott zu erbärmlich, zum Tier zu erhaben. Der Mensch im Auge des Tierkundigen dagegen ist das am höchsten entwickelte, also vollkommenste und edelste aller Tiere, die Krone und Spitze sämtlicher Gebilde der Erde. Mehr sein zu wollen, erscheint dem Denken als kindischer Wahngedanken - und urteilslose Träumerei. Dr. A. E. Brehm Zwischen Lehrstuhl und Volk stehender Dolmetscher der Tierkunde. Berlin, am Jultage 1873 (Schneider 1989: 71) Tierverstehen war deshalb für Brehm als ein intendierter sprachlicher Prozess zu begreifen. Die Grenzen der Erfassbarkeit des Tierischen waren Brehm dabei durchaus bewusst. Der Anspruch aber als zwischen Lehrstuhl und Volk stehender Dolmetscher der Tierkunde zu wirken, begegnet schon in Brehms erstem zoologischen Hauptwerk. Brehms sieht bereits hier seine Aufgabe darin, die Sprache der Vögel in die Sprache der Menschen zu übersetzen: Ja, wer doch ihre Sprache verstände! Gewiß erzählen sie uns singend gar mancherlei von ihrem Leben und Treiben in der Fremde: wir verstehen es nur nicht. Drum will ich versuchen ihr Dolmetsch zu werden. (Brehm 1861: 291) Dies bedeutete eine größtmögliche Annäherung an das Tiersein durch die Sprache und somit eine anthropomorphe Darstellungsweise! Das Bild des Naturforschers oszilliert bei Brehm zwischen poetischer, mythomorpher, soziomorpher und scientiamorpher Hinsicht und stellt auch hier eine Mischform dar: Der Naturforscher von Geist und Gemüth ist es, welcher den zwischen Mensch und Vogel bestehenden Freundschaftsbund am besten erkennt und am treuesten hält. Denn er ist es, welcher die Deutsamkeit der Vogelgestalt würdigt; er ist es, dem der Flug zwar nicht als ungelöstes Räthsel, wohl aber noch immer als herrliches Gedicht erscheint; er ist es, welcher zum Jäger und Fänger des Vogels wird, um ihn und sein Leben zu erforschen und dann ihm Gastfreund und Beschützer sein zu können; er ist es, welcher mit dem Vogel ein eignes Leben lebt, einen eignen Umgang mit ihm pflegt; er ist es, welcher ihn einen ‚Jubelruf der Natur‘ nennen darf, weil dieser Jubelruf in seinem Innern freudig widerklingt. Die Forschung ist das End- und Schlußglied jener Freundschaftskette zwischen Mensch und Vogel: sie vereinigt alle übrigen Glieder in sich. (Brehm 1861: 421) Auf der reinen Beschreibungsebene war Brehm andererseits ein exakter und zoologisch versierter Kenner. 45 Als Hauptcharakteristikum dieser Seite der scientiamorphen Gestaltungsweise fällt sicher das hohe Maß an Intertextualität innerhalb der Schilderungen auf. 46 Viele und weite Passagen hat Brehm großzügig ausgeschrieben und zitiert, er schöpfte dabei schon durch die Kontakte seines Vaters aus einem beeindruckendem Schatz an persönlichen Verbindungen mit namhaften Forschern und teils sehr gebildeten Laien, die mit ihm korrespondierten, und er konnte zweifelsohne auch verschwenderisch von einer enormen Fachkenntnis zehren, von den bis zur Antike reichenden Quellen bis zur zeitgenössischen Literatur der Natur- und Kulturgeschichte. Indem er diese Zitatbeispiele großzügig in seine Darstellung einbaute, nutzte er seine eigene Popularität aber zugleich auch zur Popularisierung anderer Fachliteratur. Dass die Vorbilder der wissenschaftlichen Schilderungen der zeitgenössischen Tierpsychologie für diesen Das Leben der Vögel (1861) 369 nicht zuletzt wissenschaftlich gemeinten Anthropomorphismus eine Rolle spielten, liegt auf der Hand. Deshalb wäre der Ausdruck des Befremdens über Brehms allzu menschliche Tier- und Vogeldarstellungen eine ahistorische Würdigung dieser wissenschaftlichen Ambitionen. Brehm trieb nur auf die Spitze, was im Wissenschaftsverständnis seiner Zeit schon in nuce angelegt war. Darum ist das Anthropomorphe brei Brehm immer auch wissenschaftssprachlich zu verstehen. 2.3.5 Die soziomorphe Gestaltungsweise Alfred Brehm hat den Schlüssel zu dem bei ihm dominierenden anthropomorphen Element - der soziomorphen Gestaltungsweise - im Leben der Vögel selbst gegeben: Der Mensch konnte sich nur mit geistig hochstehenden Thieren befreunden; denn von den niederen Klassen trennt ihn eine gar zu tiefe Kluft. Er sucht immer zuerst seine geistige Verwandtschaft mit den Thieren auf, und er muß sie gefunden haben, wenn er sich mit ihnen verbinden will. (Brehm 1861: 333) Das Menschliche durch geistige Verwandtschaft im Tierischen zu suchen, ist darum auch der entscheidende anthropomorphisierende Ausgangspunkt, von dem aus Brehm den Weg zur soziomorphen Gestaltung seiner Tierdarstellungen einschlägt. Es liegt nahe, dass er auf diesem Weg durch semantische Zuschreibungen auf gesuchte Parallelen stößt, die er zwischen der menschlichen und der tierischen Lebensweise hinsichtlich der Ontogenese des Menschen in ihrem Verhältnis zu Vergesellschaftungsprozessen sieht. Auch dieser Prozess ist genuin zeichenhaft, denn er vollzieht sich eben in der Tat auf geistigem Gebiet, weil er eine versprachlichte Annahme darstellt, die durch hypothetisch und zeichenhaft verbundene Elemente ein anthropomorphisiertes Abbild des Tieres auf der Grundlage der geistigen Verwandtschaft mit den Thieren assoziiert und formuliert. Brehm konzipiert bewusst soziomorphe Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der bürgerlichen Welt und dem in Bezug auf das zivilisierte Menschenleben neutralen Tierverhalten. Der Vogel ist bei Brehm nicht Teil einer fremden, andersartigen Natur. Vielmehr reüssieren er und seine Natur über den Weg der zeichenhaften Versprachlichung seines Verhaltens zum Bestandtteil der hoch zivilisierten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Diese soziomorphe Gestaltungsweise vollzieht sich zum einen auf der Ebene des Privaten (Ehe - Häuslichkeit - Familie) im Kontrast zum Öffentlichen (Beruf - Handwerk) und hat damit Bezug zur Lebensweise von Mensch und Vogel. Hinzu kommt die Ebene des Ästhetischen (der Vogel als Künstler), die mit der poetomorphen Gestaltungsweise eng verknüpft ist In der Ebene des ethisch-moralischen und christlichen Urteils unterstellt Brehm vermenschlichend den Vögeln ein eigenes Urteilsvermögen und psychologisiert damit das Vogelverhalten. Diese Ebene stellt damit eine psychologisierende, eben die von Brehm geistige Verwandtschaft genannte Ähnlichkeitsbeziehung dar. Soziomorph sind schließlich auch diejenigen anthropomorphisierenden Elemente, welche die Art und Weise des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier bezeichnen. Zu nennen sind hier insbesondere der Aspekt der Gastfreundschaft gegen die Vögel (cf. Brehm 1861: 369-380), indem die „lieben Gäste“ vom Storch bis zum Haussperling beschrieben werden, „wie sie allesammt um unsere Freundschaft werben“ (cf. auch Abb. 2), sowie das Phänomen der Vogelhaltung, das Brehm im Kapitel Die Stubenvögel und ihre Freunde (cf. Brehm 1861: 381-394) beschreibt. Die Jagd des Tieres ist hingegen, obgleich ein soziales Phänomen, in der Gestaltungsweise ähnlich wie auch der Vogelfang dominant mythomorph. 370 Sebastian Schmideler Systematisch wird zunächst das „leibliche Leben“ untersucht. Dann betrachtet Brehm in einem eigenen Abschnitt das „geistige Leben“ des Vogels, beschreibt in Unterkapiteln „seinen Charakter“, seinen „Natur- und Kunsttrieb“, seinen „Verstand“ und sein „Gemüth“. Auch „Heimath und Beruf“ der Vögel, dem der dritte Abschnitt gewidmet wird, sind dem bürgerlichen Leben angeglichen, der „Beruf“ der Vögel wird geschildert, ihre „Ausrüstung zum Gewerbe“ in einem Unterkapitel abgehandelt. Vollends soziomorph gestaltet sich der vierte Abschnitt unter der programmatischen Überschrift „Häusliches und geselliges Leben“. Der Vogelalltag wird als „Tägliches Leben“ geschildert. Kapitel für Kapitel wird das Vogelleben mit Hilfe des Vokabulars des Zivilisationsprozesses semantisch übertragen. Brehm verdolmetscht „Liebe und Ehe“ als Äquivalent zur Familie, überträgt den „Nestbau“ mit dem Hausbau, das „Brutgeschäft“ mit der Wohnungseinrichtung, „Brutansiedlungen“ mit dem Verstädterungsprozess, „Wanderschaft“ mit dem logistischen Verkehr. Den als „Fremdenleben“ bezeichneten Vogelzug überträgt er auf das menschliche Reise- und Abenteuerbedürfnis. Sogar die hoch komplexe Vergesellschaftungsform des zivilisierten modernen Menschen ist bei Brehm in der Vogelwelt dergestalt ausgeprägt, dass die Lebensform der von Brehm so genannten „Gesellschaftsvögel“ als Vorbild für die Lebensform des Bürgers dienen kann: Der wahre Naturfreund kann schwerlich ein entsprechenderes Bild des Friedens einer Gemeinde finden, als er es hier vor Augen hat. Die buntfarbigen, zierlichen Thiere leben in innigster Gemeinschaft höchst gemüthlich zusammen; jedes einzelne Glied der Ansiedelung achtet und ehrt Recht und Eigenthum des anderen: es ist ein wahrhaft erhebendes Bild des geselligen Lebens. (Brehm 1861: 271) So übernimmt hier die ganze Gesellschaft die Sorge für das Fortkommen der Hilfsbedürftigen in ungleich menschlicherer Weise, als es in der menschlichen Gesellschaft zu geschehen pflegt. (Brehm 1861: 283) Der Vogel geht einer „Arbeit“ und einem „Gewerbe“ nach (Nahrungsbeschaffung), er bringt die „ans Licht getretenen kleinen Weltbürger hervor“, er frönt dem „Spatzirenfliegen“, er hat „Wanderlust und Heimweh“, und er führt nach dem vollendeten Nestbau eine bürgerliche Ehe mit viktorianisch konditioniertem Trieb, denn er lebt „in geschlossener Ehe auf Lebenszeit“: Der letzte Halm ist zum Neste getragen und kunstreich verwebt; - ein Jubelgesang des Männchens krönt sein Werk. Traulich sitzt nun das Pärchen beisammen und kost und plaudert, vielleicht über die künftig kommende Schaar der Kleinen, zu welcher das Weibchen bereits den ersten befruchteten Keim unter seinem warmen Herzen trägt. Zärtlich treibt es der Gatte, doch nun bald das fertige Nest zu betreten und sein Auge durch den Anblick der zierlichen Eier zu erfreuen. Er selbst singt hell und fröhlich seine schönsten Lieder, und seine Gattin lauscht diesen mit stiller Lust. Dann fliegen beide wieder und immer wieder an das Nest hin, und schauen da still vergnügt hinein, als müßten sie es noch sorgfältig prüfen, ob es auch wohl recht sei. Und während dieses Geschäftes regt sich die Liebe in Beider Herzen, und sie beginnen wiederum die herzigen Spiele derselben, das Werben und Versagen, Bitten und Sprödethun, bis dem begehrenden Männchen endlich doch der Sieg und die Gewähr zum Lohne wird. Das klingt wie Dichtung und ist doch die lautere Wahrheit. (Brehm 1861: 256f.) Auch die klassisch-christlichen und bisweilen etwas chauvinistisch anmutenden Rollenmuster des Bürgers werden dem von Brehm anthropomorphisierten männlichen Vogel im Vergleich zum weiblichen angedichtet, 47 auch wenn Brehm am Ende folgender Passage diese kokette Assoziation chevaleresk zurechtrückt: Das Leben der Vögel (1861) 371 Trotz der schönen und tiefsinnigen Gedanken zarter Dichterinnen, welche die Vogelmütter unter Anderm reizende Wiegenlieder singen lassen, müssen wir der Wahrheit die Ehre geben und dabei beharren, daß blos die Männchen der Vögel singfähig sind, niemals die Weibchen. Die Armen versuchen zwar zuweilen eine einzige, kurze Strophe abzusingen, aber es kommt nie zum Gesange, sondern bleibt immer bei’m Stümpern. Das Vogelweibchen mag die ganze kleine Brust voll dichterischer Liebesgedanken haben: es kann dieselben doch nur in einfachen, obgleich zärtlichen Tönen seinem Geliebten und der Welt mittheilen. Von dem männlichen Vogel allein sagt man, daß er ‚dichte‘; denn nur der im Gesang ausgesprochene Gedanke wird Dichtung genannt, obgleich das emsige Streben des Weibchens, das Haus zu bauen und die Brut groß zu ziehen, Manchem noch dichterischer erscheinen mag, als das nur Wenigen gegebene Lied. So wie das Weibchen an körperlicher Schönheit zurücksteht, kann es sich auch an dichterischer Begabung nicht mit dem Männchen messen - und das ist ein deutlicher Fingerzeig nach der Höhe, welche der Mensch im Verhältniß zu den Vögeln einnimmt. Denn bei ihm heißt das schöne Geschlecht bekanntlich schon seit alten Zeiten ‚das schönere oder das schöne‘ und steht auch an dichterischen Gaben, wie der Dichtungsschatz der Neuzeit hinlänglich beweist, keineswegs hinter dem männlichen zurück. (Brehm 1861: 46) Der Vogel ist sogar (Nestbau-, Sanges- und Lebens-) Künstler: Seine Kunst hat immer einen ganz bestimmten Zweck: sie will die Gefühle der in ihm erlebten Liebe ausdrücken. Der männliche Vogel dichtet, um seinem Lieb das ihm durch dasselbe gewordene höchste Lebensglück kundzugeben; der weibliche bildet, um der Mutterliebe Genüge zu leisten: der eine wirkt für die Gattin, der andere für die Kinder. (Brehm 1861: 242) In der bürgerlichen Liebeskonzeption der „Vogelehe“ gibt es „alte Hagestolze“ und „betrübte Witwer“, und es gilt: In der Vogelehe spielt die weibliche Hälfte eine durchaus leidende Rolle dem Eheherrn gegenüber, welcher immer als Herr auftritt, zumal im Anfange des Beisammenseins. [...] Hierin liegt auch kein Widerspruch mit Dem, was wir beim menschlichen Geschlechte zu beobachten gewohnt sind: bei den Vögeln ist das ‚schöne Geschlecht‘ ebenfalls vorzugsweise das eifersüchtige. (Brehm 1861: 226) Und: Obgleich sich die Weibchen den Tod ihres Gatten nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, und ihre Liebe bald auf ein anderes Männchen übertragen, bewahren sie doch während der Ehe selbst ihrem Herrn und Gebieter die unwandelbarste Treue, nehmen keinen Hausfreund an, schielen nicht nach Anderen, sondern bleiben hübsch sittsam zu Haus und ehrbahr. (Brehm 1861: 236) Über die Kinder heißt es: Junge Vögel werden von ihren Eltern hübsch ordentlich zu Bett gebracht. (Brehm 1861: 213) Das semiotische Prinzip dieser Anthropomorphisierungsweise ist stets dasselbe: Der Vogel steht wie in der Fabel als Maske und Chiffre für den Menschen; ist Schauspieler im bürgerlichen Welttheater. Denn durch diese Szenen aus dem bürgerlichen Leben des 19. Jahrhunderts entsteht eine Brehmsche Comédie animale. Die von Brehm apostrophierte geistige Verwandtschaft dieser Komödie sowohl mit der göttlichen als auch mit der menschlichen sorgte für den nötigen Unterhaltungswert. Dass diese Inszenierung der Tierwelt, das Rollenspiel der Vögel eine Grundvoraussetzung war, damit diese Vorstellungen als Darstellungen popular werden konnten, offenbarte schon Brehms schriftstellerischer Lehrmeister Roßmäßler im Vorwort zu Die Thiere des Waldes mit Verweis auf seine Vorlagen: 372 Sebastian Schmideler Und doch ist zwischen beiden [Friedrich von Tschudi (1820-1886) Das Thierleben der Alpenwelt (1853) und Brehm/ Roßmäßler Die Thiere des Waldes (1867), Seb. Schm.] der erhebliche Unterschied, daß Tschudi nicht blos die Miemen des gewaltigen Alpentheaters vorführen, sondern daß er dieses selbst schildern durfte, welches Letzteres uns versagt war […], wir also den Schauplatz des Lebens und Treibens unserer Thiere durch genanntes Buch als bekannt voraussetzen mußten. […] So von der einen Seite gefordert […], Rückblicke auf die Waldscenerie unerläßlich waren, sich so zu sagen von selbst aufdrängten, da sie in diesem eine so stark hervortretende Rolle spielen, daß wir uns den Wald ohne diese Belebung gar nicht denken und hinwiederum diese Belebung nicht schildern konnten, ohne auf den Wald Bezug zu nehmen. (Brehm/ Roßmäßler 1867: IIIf.) Gewaltiges Alpentheater, Schauplatz des Lebens und Treibens, Waldscenerie, stark hervortretende Rolle - deutlicher lässt sich der Inszenierungsaspekt der Natur, der auch Brehms soziomorpher Gestaltungsweise anhaftet, nicht ausdrücken. Er ist Dreh- und Angelpunkt dieser Schilderungen und machte ihren besonders populären Charakter aus. Fragt man nach der Dominante von Brehms Art der Anthropomorphisierung, wird der Ausschlag eindeutig auf die soziomorphe Gestalt seiner Tier-Zeichen hinweisen. So lässt sich konstatieren, dass das Für-etwas-Stehen des Tieres eine hochkomplexe anthropomorphe Struktur haben kann, die in ihre Teilaspekte zergliedert werden muss und nicht ohne ihre kulturhistorischen Voraussetzungen beschrieben und gedeutet werden sollte. Dabei zeigte sich auch, dass es effizienter sein kann, den Prozess der Anthropomorphisierung mit Kategorien der semantischen Zuschreibung zu verifizieren, anstatt lediglich mit graduellen Abtönungen (Teilanthropomorphisierungen) zu klassifizieren. Denn auf diese Weise lässt sich die besondere Schwierigkeit des Umgangs mit Mischformen besser handhaben. Ebenso zentral bleibt festzuhalten: Dieser Prozess der semantischen Zuschreibung von anthropomorphen Bedeutungen ist genuin zeichenhaft und geht im Fall von Alfred Brehms zoologisch kuriosem Leben der Vögel mit einer bis dahin noch nicht gekannten Popularisierung einher, die mit dem Thierleben nur wenige Jahre später ihren ersten Höhepunkt erreichte. Deutlich sollte auch geworden sein, dass man, indem man mit dem Aussprechen der Worte das Tier steht als Zeichen für etwas Spezifisches, schon in einem einzigen Werk eines einzelnen Autors einen ganzen Kosmos an Konnotationen, semantischen Projektionen, Kodes und Semioseprozessen berührt, der durch seine Mannigfaltigkeit ein reizvolles Terrain für einen noch zu ordnenden und denkbar lebhaften interdisziplinären Diskurs bilden könnte. Quellen- und Literaturverzeichnis Brehm, Alfred Edmund 1861: Das Leben der Vögel. Dargestellt für Haus und Familie. Prachtausgabe, Glogau: C. Flemming. [Erstausgabe] Brehm, Alfred, Roßmäßler, Emil Adolf 1867: Die Thiere des Waldes. Zweiter Band. Die wirbellosen Thiere des Waldes, Leipzig; Heidelberg: C. F. Wintersche Verlagshandlung Brehm, Alfred Edmund 1878: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs. Dritte Abtheilung. Erster Band: Die Kriechthiere und Lurche. 2. umgearbeitete und vermehrte Ausgabe, Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts Brockhaus 2006: Art. Anthropomorphismus. In: Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 2. 21. völlig neu bearbeitete Aufl., Leipzig; Mannheim: Brockhaus: 132f. Dinzelbacher, Peter (Hrsg.) 2000: Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart: Alfred Kröner Das Leben der Vögel (1861) 373 Druve, Karen, Thies, Volker 1999: Lexikon der berühmten Tiere. Von Alf und Donald Duck bis Pu der Bär und Ledas Schwan. Durchgesehene Taschenbuchausgabe, München: Piper Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: Wilhelm Fink Verlag Genschorek, Wolfgang 1984: Fremde Länder - Wilde Tiere. Das Leben des „Tiervaters“ Brehm. 2. Aufl., Leipzig: Brockhaus Grieser, Dietmar 1991: Im Tiergarten der Weltliteratur. Auf den Spuren von Kater Murr, Biene Maja, Bambi, Möwe Jonathan und anderen, München: Langen Müller Gruber, J. G. 1820: Art. Anthropomorphismus. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J.S. Ersch und J.G. Gruber Professoren zu Halle. Vierter Theil. Anaxagoras - Appel, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch: 287-288 Haas, Gerhard 1996: Das Tierbuch. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. 2. Erg.-Lfg. September 1996: 1-26 Hofmannsthal, Hugo v. (Hrsg.) 1984 [1929]: Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosa aus dem Jahrhundert 1750 - 1850, Leipzig: Reclam Kehne, Birgit 1992: Formen und Funktionen der Anthropomorphisierung in Reineke Fuchs-Dichtungen, Frankfurt am Main; Berlin u.a.: Peter Lang (= Deutsche Sprache und Literatur Serie 1 Bd. 1348) Krüger, Evelin 1978: Sprache über Tiere. Zur kommunikativen Funktion von Stil und Semantik in der Sachliteratur, Bochum: Studienverlag Dr. N. Brockmeyer. (= Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Bd. 16) Mazouer, Charles (ed.) 2003: L’animal au XVIIe siècle. Actes de la 1ére journée d’études (21 novembre 2001) du Centre de recherches sur le XVIIe siècle européen (1600-1700), Tübingen: Gunter Narr Verlag (= Biblio 17 Beilage 146) Meyer 1890: Art. Anthropomorphismus. In: Meyers Konversations-Lexikon. Bd. 1. 4. Aufl., Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut: 631 Meyer, Heinz 2000: 19./ 20. Jahrhundert. In: Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart: Alfred Kröner: 404-568 Metzker, Otto 1955: Die Gestalt des Tieres in der Literatur, besonders im Jugendschrifttum. In: Das gestaltete Sachbuch und seine Probleme. Das geschichtliche und erdkundliche Jugendbuch, das Tierbuch. Jahresgabe 1955, Reutlingen: Enßlin & Laiblin: 57-80 Morgenstern, W. Rolf 1984: Art. Anthropomorphismus. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1, Weinheim; Basel: Juventa: 44-46 Nassen, Ulrich 1993: Trieb, Instinkt, Politik. Einige Tierdarstellungen und -projektionen in fiktionalen Tiererzählungen für Kinder und Jugendliche 1918 - 1945. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien. 4. Beiheft: 95-106 Neumann, Carl W. 1929: Brehms Leben. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Ludwig Heck. Hrsg. v. d. Brehm- Gesellschaft e.V., Berlin: Brehm Verlag Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik. 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage mit 89 Abbildungen, Stuttgart; Weimar: Metzler Posner, Roland u.a. (Hgg.) 1996: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 1. Teilband,. Berlin; New York: de Gruyter Röhrich, Lutz 1973: Mensch und Tier im Märchen. In: Wege der Märchenforschung. Hrsg. v. Felix Karlinger, Darmstadt: WBG: 220-253 (= Wege der Forschung CCLV) Schalow, Herman 1919: Beiträge zur Vogelfauna der Mark Brandenburg. Materialien zu einer Ornithologie der norddeutschen Tiefebene auf Grund eigener Beobachtungen und darauf gegründeter Studien, Berlin: Deutsche Ornithologische Gesellschaft Schmitz, Siegfried 1986: Tiervater Brehm. Seine Reisen, sein Leben, sein Werk. Lizenzausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag Schneider, Bernhard 1988a: Leipzig - ein Boden für eine Pflanze wie Alfred. Der Leipziger Aufenthalt (1858- 1862) von Allfred Edmund Brehm und seine Freundschaft mit dem Naturforscher und naturwissenschaftlichen Volkslehrer Emil Adolf Roßmäßler. In: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge zur Stadtgeschichte 5, Leipzig: Fachbuchverlag: 29-67 374 Sebastian Schmideler Schneider, Bernhard 1988b: Drei Briefe von A. E. Brehm und Carl Bolle im Zusammenhang mit dem Entstehen des „Thierlebens“, geschrieben im Jahre 1861 von Leipzig aus. In: Veröffentlichungen Naturkundemuseum Leipzig Heft 5: 51-64 Schneider, Bernhard 1989: Weitere A. E. Brehm-Handschriften aus seinen Leipziger Jahren entdeckt. In: Veröffentlichungen Naturkundemuseum Leipzig Heft 6: 65-82 Stetter, Klaus 1969: Hermann Löns - Der Übersetzer. In: Annali Sezione Germanica XII. Neapel: 351-371 Toynbee, J.M.C. 1983: Tierwelt der Antike, Mainz: Philipp von Zabern (= Kulturgeschichte der Antiken Welt Bd. 17) Völker, Klaus (Hrsg.) 1994: Werwölfe und andere Tiermenschen. Dichtungen und Dokumente, Frankfurt am Main: suhrkamp (= Phantastische Bibliothek 312) Wuketits, Franz M.: Anthroposemiose. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 1. Teilband, Berlin; New York: de Gruyter: 532-548 Zimen, Erik 2003: Der Wolf. Verhalten, Ökologie und Mythos. Das Vermächtnis des bekannten Wolfsforschers, Stuttgart: Franckh Kosmos Zischler, Hanns 2002: Neuigkeiten aus dem Land der Väter. Über Alfred Brehm und „Das Leben der Vögel“ (1861). CD-Booklet zu Hanns Zischler liest Alfred Brehm Aus dem Leben der Vögel, München: Antje Kunstmann Verlag Notes 1 „Anthropomorphismus, hat Campe [Joachim Heinrich Campe (1746-1818) Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (1801, 2. Aufl. 1813), Seb.Schm.] sehr treffend mit Vermenschlichung übersetzt; anthropomorphisiren, vermenschlichen.“ (Gruber 1820: 287) Zitate werden in originaler Orthographie wiedergegeben. 2 „Der eleatische Philosoph Xenophanes fand diese Vorstellungsweise [die Vorstellung von etwas Übermenschlichem in menschlicher Gestalt, Seb.Schm.] so naheliegend, daß, wenn Tiere überhaupt eine Vorstellung von etwas ‚Übertierischem‘ haben könnten, Löwen ihre Götter in Löwen-, Stiere die ihrigen in Stiergestalt denken würden. Da das einzige äußere und innere Wesen, welches der Mensch aus eigner Erfahrung besser als jedes andre kennt, sein eignes, dieses aber zugleich infolge sehr natürlicher Eigenliebe in seinen Augen auf Erden wenigstens das vollkommenste ist, so ist es begreiflich, daß er das Vollkommene, dessen Gedanken er faßt, nur unter der allerdings über das Maß seiner an sich erfahrenen Beschränktheit hinaus gesteigerten Form seiner selbst vorzustellen vermag. Statt zu lehren, der Mensch sei nach Gottes Ebenbild geschaffen, wäre es daher richtiger (mit Schleiermacher) zu sagen: der Mensch schaffe Gott (d.h. seine Vorstellung Gottes) nach dem seinigen.“ (Meyer 1890: 631) 3 Von Anthropomorphismus als einer „Anschauungsweise, die menschliche Eigenschaften oder menschliches Verhalten Außermenschlichem zuschreibt (vermenschlicht)“, spricht auch die 21. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie von 2006, die damit die Definition aus den älteren Ausgaben übernimmt (Brockhaus 2006: 132). 4 Hier auch erstmals ein ausführlicheres Literaturverzeichnis zum Thema (cf. Dinzelbacher 2000: 617-648). 5 Zu der von Dinzelbacher völlig zurecht hervorgehobenen Tierwelt der Antike cf. insbes. Toynbee (1983). 6 Zu denken ist bspw. an Irene Disches und Hans Magnus Enzensbergers poesievoll melancholische und historisch-politische Hasengeschichte Esterhazy oder an die raffinierten Tierbücher des New Yorker Cartoonisten William Steig (1907-2003) wie die Geschichten um die Zahnarztmaus Doktor De Soto. 7 Dass Tiere überdies auch weiterhin Interesse in weitesten Kreisen der Bevölkerung finden, zeigt bspw. die aus Nordamerika nach Deutschland als Subkultur eingebürgerte und organisierte Furry-Bewegung. 8 Wie die Stigmatisierung insbesondere des Wolfes als böse seit der Antike bis heute fortwirkt, beschreibt eindrücklich das 12. Kapitel „Der Wolf - verehrt, verkannt, verleumdet“ in Ziemen (2003: 381-435). 9 Populärwissenschaftliche Vorläufer von Tierschilderungen waren die von dem Züricher Stadtarzt, Linguisten, Polyhistor und Professor der Naturgeschichte Conrad Gesner (1516-1565) verfasste Historia animalium (1551-1558). Weitere Vorläufer stammen von den durch die französische Aufklärung beeinflussten Zoologen George Buffon (1707-1788) und Goerge Cuvier (1769-1832). „Neben der Eleganz der Sprache rühmte der namhafte deutsche Zoologe und Ornithologe Erwin Stresemann (1889-1972) an Buffon die Das Leben der Vögel (1861) 375 Wiedererweckung des Verständnisses für das Lebendige in seiner natürlichen Umwelt.“ (cf. Schneider 1988a: 59) 10 „Alfred Brehm hat das unsterbliche, epochemachende, kulturgeschichtliche Verdienst, die weitesten Kreise, das ganze Volk für die höhere Tierwelt, insbesondere die Vögel und Säugetiere, gewonnen zu haben. Und das gelang ihm, weil er nicht nur ein weitgereister Sammler, Forscher und Beobachter war, sondern auch ‚ein genialer Tiermaler mit Worten‘. Diesen Ehrentitel habe ich wohl zuerst für ihn geprägt, und ich möchte auch glauben, daß er den Kern seines Wesens und dessen wirksamste Ausstrahlung zutreffend bezeichnet.“ (Neumann 1929: 6) So voller Begeisterung und Pathos der Berliner Zoodirektor Ludwig Heck (1860-1951) im Jahre 1929 zum 100. Geburtstag Brehms. 11 „Die Semiotik interessiert sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte.“ (Eco 1972: 73) 12 Zu denken ist insbesondere an Metaphern (cf. Nöth 2000: 342-248). Des weiteren spielen an erster Stelle semantische Grundbegriffe (cf. Nöth 2000: 147-151) und das Verhältnis von Semantik und Semiotik entscheidende Rollen (Nöth 2000: 158-161). 13 Das den „Rassegedanken“ allegorisch deutende, grob verunglimpfende antisemitische Bilderbuch Der Pudelmopsdackelpinscher ist eines der abgeschmacktesten Beispiel hierfür. 14 „Was bewirkt die Einführung eines Codes? Die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den beteiligten Elementen und die Anzahl der Elemente, die das Repertoire bilden, werden eingeschränkt.“ (Eco 1972: 56) Man könnte den Prozess der Popularisierung auch dergestalt deuten, dass der Grad der semantischen Vielbedeutungen dadurch eingeschränkt, die Rezeptionsbedingungen dadurch erleichtert werden - ein semiotischer Zeichenprozess. 15 Denn hier wäre auch das gewährleistet, was Eco kritisch als Voraussetzung der Zeichenhaftigkeit in der Natur erkennt: „Eco [vermag] Zeichenhaftes in der Natur nur dort zu sehen, wo der Mensch und seine Konventionen zu einer bestimmten Sichtweise dieser Prozesse geführt haben.“ (cf. Nöth 2000: 130) 16 Dabei ist noch nicht intendiert, in welchem Verhältnis sich die anthropomorphisierende Darstellungsweise zur Anthroposemiose verhält, die biologische und soziokulturelle Ebenen untersucht. (cf. Wuketits 1996: 532-548) „Anthroposemiosen sind damit Gegenstand einer umfassenden Theorie der organischen Evolution.“ (Wuketits 1996: 532) 17 Cf. Diegesis und Mimesis in Nöth (2000: 402). 18 Vor allem die religionsphilosophisch intendierten Definitionen in der älteren Literatur überzeugen. (cf. Gruber 1820; Meyer 1890) Zu einigen Gattungen der Tierdichtungen (insbes. Märchen, Fabel und Epos) gab und gibt es eine lebhafte Diskussion mit einigen Höhepunkten (cf. bspw. Röhrich 1973). 19 In großen gängigen Literatur-Lexika (z.B. Kilys Literatur-Lexikon) sucht man vergbens nach einer brauchbaren Beschreibung. Innovative Arbeiten dazu sind eher Ausnahmen (cf. Kehne 1992), originelle Sammelbände wie Mazouer (2003) liegen für das 19. Jahrhundert in Deutschland noch nicht vor. An gängigen Klassifikationskriterien mangelt es gänzlich, obwohl auch hier einige Versuche vorliegen. 20 „Das Genre ‚Tierbuch‘ rangiert […] an vierter Stelle; doch da das Thema ‚Tier‘ wie kein anderes die einzelnen Genres übergreift […], rückt es im Vergleich eindeutig an die erste Stelle.“ (Haas 1996: 1) „Von besonderer Relevanz ist die Bedeutung des Tieres im Jugendbuch der Gegenwart. […] Die Analyse [von 251 Kinder- und Jugendbüchern, Seb.Schm.] ergab, daß in 76 % der Bücher der Themenbereich ‚Natur und Tiere‘ erwähnt und dargestellt war. Dieses Resultat bedeutet, daß in diesen Büchern ‚Natur und Tiere‘ das am häufigsten behandelte Thema bildete“. (Meyer 2000: 484) 21 Zu diesem wichtigen Aspekt ist auch Völkers Bibliographie zu Rate zu ziehen. (cf. Völker 1994: 444-451) In Betracht kommen auch die Anthropomorphisierung von Himmelskörpern, von Maschinen und die insbesondere in der Jugendstil-Buchkunst zu großer Kunstfertigkeit entwickelte Anthropomorphisierung von vegetabilen Erscheinungsformen wie Blumen, Pflanzen und Früchten (vor allem Obst und Gemüse). Zu denken wäre bspw. an den Schweizer Ernst Kreidolf (1863-1956), an die Ostpreußin Sibylle von Olfers (1881-1916) und die Schwedin Elsa Beskow (1874-1953). 22 Zugleich entwickelt Haas nicht immer ganz konsequent und logisch bei der Formulierung der Typologie verschiedene „Typen des Verhältnisses von Tier und Mensch im Tierbuch“: Erstens „Die Figur des Tieres ist Chiffre für den Menschen“, zweitens „Das Tier - die Herausforderung an den Menschen“ (das Tier als Vorbild), drittens „Freundschaft mit Tieren“, viertens „Das Tier als das dem Menschen gegenüberstehende Andere, Fremde“, fünftens „Mensch und Tier in kreatürlicher Genossenschaft: Distanz und Nähe“, sechstens „Eine Welt: Mensch und Tier in selbstverständlicher Gemeinschaft“, siebentens „Die Welt des Tieres“, achtens „Berichte über das Tier“. (cf. Haas 1996: 8-25) 376 Sebastian Schmideler 23 „Durch Roßmäßler und seinen bürgerlich-demokratischen Kreis sowie den von der Darwinschen Evolutionstheorie beeinflußten Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft in Leipzig wurde er [Brehm, Seb.Schm.] mit dem Konzept einer naturwissenschaftlichen Volksbildung, die Bestandteil eines umfassenden humanistischen Bildungsideals ist, vertraut gemacht. Das geschah so gründlich und kongruierte so mit seinen Veranlagungen, daß sein ganzes späteres Leben davon geprägt wurde. In Leipzig erfolgte der ‚Umbau‘ des Naturforschers Brehm vom naturwissenschaftlichen Autor zum naturwissenschaftlichen Volkslehrer.“ (Schneider 1989: 68) 24 Darwin seinerseits hat später das zu internationalem Ruhm gelangte Thierleben genau gekannt. 25 Ernst Keil (1816-1878), liberaldemokratischer Verleger. 26 „Im Zusammenhang mit dem immer wieder aufgelebten Bestrebungen, die deutsche Sprache durch Gesellschaften und Vereine bewußt zu pflegen und - vor allem von Fremdwörtern zu reinigen, hat Friedrich Karl Keil, der wohl aus der Jahnschen Turnbewegung stammt, am 3.6.1848 den Potsdamer Verein für deutsche Sprache gegründet.“ (Schneider 1988b: 67) 27 Es handelt sich um eine „Repräsentation als ikonisches Zeichen“. Nach Godmann sind „Repräsentationen […] Bilder, die annähernd dieselbe Art von Funktionen haben wie Deskriptionen.“ (cf. Nöth 2000: 162- 168) Der ornamentale, reich vegetabil verzierte Einband kontrastiert in der Form eines angedeutet konischen Ovals Repräsentanten von einheimischen mit exotischen Vögeln. Es wird in der fließend übergehenden vegetabilen Auszier der linken unteren Ecken, seitlich eines Sockels, in den ein stattliches, bärtigmythologisches Götterhaupt eingearbeitet ist, ein Widehopf als Vertreter der teils unterirdisch lebenden, erdbewohnenden Vögel dargestellt, rechts ein weiterer Erdbewohner, links aufsteigend Repräsentanten der Schwimmvögel. Umgeben von blühenden Seerosen zunächst ein Höckerschwan, rechts von ihm ein Pelikan. Stockente und Haubentaucher gespiegelt vom Rücken des Pelikans entlang eines aufsteigenden Schilfrohrs dargestellt, das als mittig raumteilendes Ornament fungiert. Flamingo links und Graureiher rechts an den Außenseiten des Ornaments als je exotischer und einheimisch europäischer Vertreter der Ufervögel, kunstvoll verschlungen mit den nach oben strebenden vegetabilen Auszierungen, dazwischen links eine freifliegende Schwalbe. Jeweils rechts und links von den Außenseiten rankt sich das vegetabile Ornament nach innen bis zur Mitte des Schilfrohrs. Diese Verbindungslinie symbolisiert gleichsam den Übergang von der Strauchzur Baumzonengrenze. Die Auszierung wandelt sich sodann links oben in ein Laubgehölz, um Auerhahn und Birkhuhn als Vertreter des Mischwaldes zu zeigen, rechts oben im Kontrast Uhu und zwei Kreuzschnäbel auf einem Tannenornament als Repräsentanten der Vögel der Nadelgehölze. Darüber breitet als linke und rechte Seite verbindendes Schlussornament ein Adler als die Vogelwelt beherrschender König der Vögel und Repräsentant der Raubvögel seine weiten Schwingen aus. In das Initial des V im Buchtitel sind zwei Kanarienvögel als Vertreter der Stuben- und Singvögel integriert. - Summa summarum: Der von Robert Kretzschmer entworfene Einband für Das Leben der Vögel ist in seiner Verbindung von sinnfällig aufsteigenden metamorphosen Übergängen der vegetabilen Auszier mit den allegorisch platzierten Vogelrepräsentanten eine beeindruckende Leistung der Einbandkunst der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Ähnlich aufwändige und semiotisch bedeutsame allegorische Emblemata hat Brehm als Holzschnitt für den Frontispiz des Illustri[e]rte[n] Thierleben[s] in der 2. Auflage in zehn Bänden von 1876 und für den Einband von Die Thiere des Waldes anfertigen lassen. 28 20 Mark waren ein Goldstück. 29 Gemeint ist die Ausgabe letzter Hand, die auf zehn Bände erweiterte 2. Auflage. 30 Noch 1929 kennt die Begeisterung der Leser in der Tat kaum Grenzen. Das Thierleben „war als echtes Volksbuch gedacht, und da sein Verfasser, der Forscher und Jäger, der Kenner und Freund der Tiere, zugleich ein Meister der Feder war, so wurde auch ein Volksbuch daraus. Uns Deutschen ist es das Tierbuch schlechthin, die meisterliche Naturgeschichte, die Hunderttausenden von Lesern nicht nur reiche Belehrung gespendet und den Naturgenuß vertieft, sondern sie durch ihre schöne Sprache und ihre lebendigen Tierschilderungen auch gut unterhalten, gepackt und erbaut hat. Noch nie war einer Naturgeschichte gleich dauernder großer Erfolg beschieden wie diesem vortrefflichen Tierwerke Brehms.“ (Neumann 1929: 63) Metzker (1955: 56) hält dem zurecht entgegen, dass das Thierleben erst 1914, als die Urheberrechte fielen, richtig populär werden konnte und durch die oft bearbeiteten billigeren Volksausgaben wirkliche Breitenwirkung erreichte. 31 Eine wesentliche charakteristische Eigentümlichkeit von Brehms zoomorpher Gestaltungsweise ist in seiner Eigenart zu sehen, Tiere durch Tiere zu charakterisieren. In diesen Passagen wird der evolutionsbiologische Zusammenhang anthropomorphisiert, denn Brehm gelingt es, die „Verwandtschaftsbeziehungen“ Das Leben der Vögel (1861) 377 innerhalb der Tierwelt originell und einprägsam zu veranschaulichen. Das Für-sich-Sein der Tiere wird durch eine semantische Verbindungslinie auf der Grundlage der von Brehm akzentuierten Analogiebeziehungen zeichenhaft zu einem Als-etwas-Sein. Auf diese Weise steht ein Säugetier für einen Vogel. Brehm spricht es exakt wie ein Semiotiker aus: „Jeder Unbefangene erkennt in dem Adler das Bild (oder die treue Uebersetzung dieses Bildes) des Löwen, in der Eule das der Katze wieder; der Rabe vertritt den Hund, der Geyer die Hyäne, der Sperber den Fuchs, der Papagei den Affen und der Kreuzschnabel das Eichhorn, der Zaunkönig die Maus, der Würger das Wiesel, der Finke den Nager, der Trappe den Hirsch oder die Anthilope, der Strauß das Kamel, der Kasuar das Llama, der Wasserschwätzer die Wasserratte, die Ente das Schnabelthier, der Taucher den Fischotter, der Alk den Seehund u.s.w. Trotz aller dieser Anklänge, welche sich nur auf die äußere Gestalt beziehen, ist der Vogel stets wesentlich von dem Säugethiere verschieden.“ (Brehm 1861: 16)32 Richard Illner (1831-1895), gelernter Holzschneider, Maler, Zeichner, Graphiker. 33 Philipp Welcker (1794-1871), Lehrer, Bibliothekar, Schriftsteller. 34 Julius Sturm (1816-1896), Pfarrer, Erzieher, (religiöser) Dichter. 35 Friedrich Rückert (1788 - 1866), Orientalist, Dichter, Nationalliberaler - der Name ist zugleich (politisches) Bekenntnis Brehms: unser Rückert. 36 Auch der Gesang der Nachtigall wird - selbstverständlich - poetisiert: „daß in der Nachtigall Lied Alles liegt, was nur immer Liebe bieten und gewähren mag, daß es verständlich spricht von Sehnen und Hoffen, Bangen und Fürchten, Bitten und Flehen, Schmachten und Klagen, Jubel und Glück, Muth und Kampfeslust, daß der Nachtigallgesang nichts Anderes ist, als Morgen- und Abendroth in Töne und Klänge gefaßt, Rosenduft im Liede wiedergegeben.“ (Brehm 1861: 366) Hier zeigt sich Brehms ganzheitlich gedachte Naturpoesie paradigmatisch. 37 Schlag der Nachtigall (Auszug): „Tiuu tiuu tiuu tiuu,/ Spe tiu squa,/ Tiō tiō tiō tio tio tio tio tix, / Quito quito quito quito, / Zquō zquō zquō zquō, / Tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzi, / Quorror tiu squa pipiquisi,/ Zozozozozozozozozozozozo zirrgading! “ (Diese Texte eignen sich hervorragend zur Sprecherziehung und zur Förderung der sprachlichen Musikalität.) 38 „Die Brehm angelastete ‚Vermenschlichung‘ der Tiere resultierte aus verschiedenen Ursachen. Sie war zum einen eine aus der Abstammungslehre abgeleitete Tendenz, nicht nur in anatomisch-physiologischer Hinsicht, sondern auch im Bereich des Psychischen keine unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier bestehen zu lassen und einen kontinuierlichen Abstammungszusammenhang nachzuweisen; sie war vor allem durch die tiefe, emotional geprägte Liebe Brehms zum Tier bedingt und hatte ihre Quellen auch in seinem Studium einschlägiger Literatur. Brehm wurde stark von dem ‚Versuch einer vollständigen Tierseelenkunde‘ (1840) des Gallener Professors P. Scheitlin, einer überschwenglich-schwärmerischen Vermenschlichung tierischer Psyche, beeinflußt.“ (Genschorek 1984: 210) Zu denken ist aber auch an die Illustri[e]rte Naturgeschichte des Thierreiches (1851) in vier Bänden des Naturforschers, Reiseberichterstatters und Leipziger Zoologieprofessors Eduard Friedrich Pöppig (1798-1868). Mit über 2000 Abbildungen war hier die Idee der bildlichen Anschaulichkeit des Illustri[e]rten Thierleben[s] präfiguriert (cf. auch Schneider 1988a: 61). 39 „In der kindlichen Erzählung der biblischen Schöpfungssage liegt eine dunkle Ahnung des wirklich Geschehenen. ‚Tage‘ mußten in der That vorübergegangen sein, ehe unsere Erde die lieblichsten ihrer Geschöpfe empfangen konnte: die ‚Veste‘ mußte heraus getreten sein aus den ‚Wassern‘; das Licht mußte den Dunstmantel durchdrungen haben; Baum und Pflanze mußten sein, lange gewesen sein, bevor der Vogel, das leichte Kind des Lichts und der geläuterten Luft, auf unserem Wandelsterne seine Wohnung nehmen konnte. Es ist alles wahr, was hier erzählt wird: wir müssen die Wahrheit nur verstehen, die Erzählung zu deuten wissen. Der Wissenschaft unserer Zeit ist diese Deutung vollkommen gelungen. Ihr sind die verschiedenen Schichten der Erdrinde zu den Blättern eines Buches geworden, welches der Kundige mit Lust und Verständniß durchliest.“ (Brehm 1861: 3) 40 Brehms als Materialismus gedeuteter Darwinismus ist, wie Schneider beweist, eindeutig von Roßmäßler beeinflusst. Gegen dessen ideologiekritische Haltung etwa in Der Mensch im Spiegel der Natur muten Brehms Äußerungen jedenfalls bisweilen noch harmlos an: „Wenn sich aber der Mensch bemüht, sich in und an der Natur richtig zu erkennen, so wird er bald eine bessere Meinung als bisher von sich gewinnen. Er wird finden, daß er nicht der arme, elende, sündhafte Mensch, der unnütze Knecht ist, den die Kirche aus ihm gemacht hat, um ihn leichter beherrschen zu können, er wird sich im Gegenteil als ein Wesen kennenlernen, das, mit herrlichen Gaben ausgerüstet, sich zu einem hohen Grade von Vollendung ausbilden 378 Sebastian Schmideler kann und soll.“ (Schneider 1988a: 37). - Dieser positivistische Fortschrittsoptimismus lässt sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts schwerlich teilen. 41 Christian Ludwig Brehm schrieb „eine gründliche Anleitung, alle europäischen Vögel […] zu fangen“, die 1855 unter dem Titel Der vollständige Vogelfang erschien. 42 Der verdienstvolle Ornithologe Herman Schalow (1852-1952) hat diese Eigentümlichkeit der zoologischen Wissenschaftssprache in einer treffenden Charakteristik zusammengefasst: „Die Zoologie wanderte damals auf anderen Wegen, auf den Bahnen reiner Beschreibung. Die Schilderung der wunderbaren Mannigfaltigkeit der Formen befriedigte lange Zeit vollauf den Systematiker [...] Die Erforschung des Lebens der höheren Tierwelt erschien den Zoologen jener Tage nebensächlich, wenn nicht gar unwissenschaftlich und überflüssig. […] Die biologischen Schilderungen des Lebens der Vögel standen in jenen Zeiten unter dem Einfluß einer sentimental-poetischen Anschauung […]. Es war nicht eine lässige Bequemlichkeit […] die diese uns oberflächlich erscheinende Form der Beobachtung und Darstellung wählte, sondern sie lag in der allgemeinen Zeitströmung begründet, in welcher die Bewunderung der herrlichen Naturumgebung in schwärmerischer Vertiefung Jean Jacques Rousseau’schen Empfindens zum Ausdruck kam. Viele spätere Ornithologen und wahrlich nicht die schlechtesten wie Naumann, Ludwig Brehm, Baldamus, Thienemann, Alfred Brehm und Radde standen, mehr oder weniger bewußt, in dem Bann dieser Art biologischer Darstellung. Es war oft nichts als Kleinmalerei des landschaftlichen Milieus, in welch letzteres die Tiere in ihren Daseinsgelegenheiten, soweit man dieselben zu erkennen glaubte, als fühlende, handelnde und denkende Wesen hineingesetzt wurden.“ (Schalow 1919: 546f.) 43 Brehms Interesse an der Sprache zeigte sich übrigens auch in seinen Bemühungen um die Entwicklung der Stenographie. 44 „Wie viele verschiedene Entwicklungsschichten der Einstellung des Menschen zum Tier im Märchen selbst nebeneinander möglich sind, zeigen etwa die Erzählungen, in denen das Verstehen der Tiersprache eine Rolle spielt. In manchen Märchen ist dieses Motiv noch gar nicht zum ‚Motiv‘ geworden, sondern es wird als selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig hingenommen, daß man die Tiere in ihrer Sprache verstehen kann. In anderen Märchen dagegen hat allein ein auserwählter Held diese Fähigkeit, mit der er dann sein Glück macht. Das Problem hat zwei Seiten, die man gut auseinanderhalten muß: Entweder versteht der Held die Tiersprache, oder es spricht ein Tier in menschlicher Sprache.“ (Röhrich 1973: 227) 45 So beim Leben der Vögel: „Sachlich exakt die in den Abschnitten der Körper und ihrer Organe, die Bewegungen, die Stimme und ihre Entwicklung gegebenen Informationen.“ (Genschorek 1984: 113) 46 Zischler (2002: ohne Paginierung) bemerkt diesbezüglich für Das Leben der Vögel: „Die wunderliche Geschichte des haus- und hofverwesenden Kranichs schließlich hat er komplett von seinen Kollegen [Herrn von, Seb.Schm.] Seyffertitz übernommen.“ Das Beispiel ließe sich zu einer Reihe fortsetzen. 47 An anderer Stelle noch deutlicher: „Das männliche Geschlecht [der Vögel, Seb.Schm.] ist bestimmt, zu ringen und zu kämpfen, um zu erzeugen, das weibliche, um zu vermehren und zu erhalten.“ Aber Brehm gibt auch zu: „Es ist wirklich auffallend, wie rasch das Männchen eines Paares ersetzt werden kann.“ (Brehm 1861: 217)